Das gebrochene Pentagramm - Dania Mari Hugo - E-Book

Das gebrochene Pentagramm E-Book

Dania Mari Hugo

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Beschreibung

In Salina überschlagen sich die Ereignisse. Die Vampirgesellschaft hat ihren Schutz verloren und braucht dringend Unterstützung von befreundeten Clans. So begibt sich eine ausgewählte Gruppe von Vampiren und Mädchen auf eine gefährliche Reise in die Wildnis mit unbekanntem Ziel. Chenna und Sonny sind mittendrin und kämpfen dabei weiter um ihr Leben und um die Gunst ihrer Vampirfreunde. Doch um ihre Ziele zu erreichen, müssen sie einen steinigen Weg gehen.

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Das gebrochene Pentagramm
Das gebrochene Pentagramm
Snappy Kisses - Band 2
Was bisher geschah:
1
99 Jahre zuvor
2
Zwei Jahre zuvor
3
Heute
4
Auge um Auge
5
Wo sind meine Mädchen?
6
Das Leben geht weiter
7
Was zur Hölle willst du?
8
Himmel, sieht der gut aus
9
Er ist nicht mal anwesend
10
Du erinnerst dich also noch an mich?
11
Wen hast du geküsst?
12
Mach einfach, dass sie stillhält
13
Wir machen einen kleinen Ausflug
14
Finger weg von Danil
15
Schsch! – Sie können dich hören
16
Wir sind hier mitten in der Pampa
17
Wegsperren!
18
Jetzt reicht es aber!
19
Dies war kein guter Tag
20
Es ist etwas schief gegangen
21
Willst du mich küssen?
22
Ich stelle dir meine Jungs vor
23
Ich bin geliefert!
24
Könnte sie nicht hierbleiben?
25
Sag nicht, wir sind gesperrt?
26
Vielleicht irrst du dich
27
Das warst du?
28
Mogeln ist durchaus erlaubt
29
Ich will jetzt meinen Kuss
30
Lust auf Pizza?
31
Dachterrasse
32
Ich will nicht vergessen
Liste der Charaktere

Das gebrochene Pentagramm

Dania Mari Hugo

Buchbeschreibung:

In Salina überschlagen sich die Ereignisse. Die Vampirgesellschaft hat ihren Schutz verloren und braucht dringend Unterstützung von befreundeten Clans. So begibt sich eine ausgewählte Gruppe von Vampiren und Mädchen auf eine gefährliche Reise in die Wildnis mit unbekanntem Ziel. Chenna und Sonny sind mittendrin und kämpfen dabei weiter um ihr Leben und um die Gunst ihrer Vampirfreunde. Doch um ihre Ziele zu erreichen, müssen sie einen steinigen Weg gehen.

Über den Autor:

Dania Mari Hugo ist mit Stift und Papier zur Welt gekommen. Schon als Kind hat sie mit größter Fantasie Geschichten erfunden. Die Begeisterung fürs Schreiben hat sie nie im Stich gelassen. Sie lebt allein mit ihren Figuren in einem Penthouse in Salina.

'Das gebrochene Pentagramm' ist Band 2 der Snappy-Kisses-Reihe. Außerdem von ihr erschienen: 'Bissige Küsse' (Band 1 der Snappy- Kisses-Reihe) und 'Emerald Beach', ein Liebesroman.

Hinweis:

Zur Übersicht der Vampire, Clans und Häuser befindet sich am Ende des Buchs eine Liste der in diesem Band vorkommenden Charaktere.

Triggerwarnung:

Folgende Themen kommen in diesem Buch in unterschiedlicher Intensität vor: Gewalt, Androhung von Gewalt, Blut, Verführung, sexuelle Handlungen, sexuelle Übergriffe, Liebeskummer, Trauer, Alkoholkonsum, Krankheit, Tod.

Das gebrochene Pentagramm

Snappy Kisses - Band 2

Dania Mari Hugo

Books on Demand GmbH

22848 Norderstedt

[email protected]

www.daniamarihugo.de

1. Auflage, 2023

© 2023 Alle Rechte vorbehalten.

Books on Demand GmbH

22848 Norderstedt

Books on Demand GmbH, Norderstedt

[email protected]

www.daniamarihugo.de

Umschlaggestaltung: inspirited books Grafikdesign | www.inspiritedbooks.at

Lektorat: Manu Hansen und John Reimer

Bild: Kapitelzierden gestaltet von Sora

ISBN: 978-3-7481-6760-0

Und endet dein Weg hier,

bleibe auch ich stehen.

Wenn ich dir nicht folgen kann,

muss ich auf ein Wunder hoffen.

Mein Blut kann dich nicht retten.

Mein Sein ist entbehrlich,

deines unendlich.

Chenna Park

Was bisher geschah:

Chenna Park und Sonny Kim, zwei junge Studentinnen, sind beste Freundinnen. Bis vor kurzem haben sie noch ein völlig normales Leben geführt. Doch innerhalb der letzten Monate hat sich bei ihnen so viel verändert, dass sie sich kaum noch vorstellen können, wie es vorher gewesen war. Während ihre Kommilitonen gewöhnlichen Freizeitaktivitäten nachgehen, wie Tanzen, Musik hören oder Sport machen, haben die beiden Mädchen sich ein ganz besonderes Hobby zugelegt. Und das hat vor allem mit Jungs zu tun. Mit Jungs und Küssen.

Chenna hat dadurch ihren neuen Freund kennengelernt. Und obwohl sie sich anfangs noch mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hat, sich in ihn zu verlieben, ist er jetzt doch zu ihrem Lebensmittelpunkt geworden. Sein Name ist Yesse und er ist kein gewöhnlicher Freund. Er ist ein Vampir. So wie alle seine Freunde.

Alles hat damit begonnen, dass Chennas Freund Mike sie betrogen hat und sie mit Sonny aus Frust darüber die Einladung eines Clubs für enttäuschte Mädchen angenommen hat. So sind sie in den Snappy-Kisses-Club aufgenommen worden. Sie sind beide noch Anfängerinnen, aber sie tun bereits alles dafür, in den Insiderstatus zu gelangen. Das ist die nächste Stufe im Club. Der Club besteht aus vier Grundhäusern und einem Haupthaus, dem Haus Zero, in dem die Ur-Vampire leben, die als Beschützer der Vampirgesellschaft gelten. Als Mädchen hält man sich jedoch besser von ihnen fern, denn sie sind unberechenbar und manchmal grausam. Durch sie haben Chenna und Sonny vor wenigen Wochen ihre Freundin Yuri verloren. Dieser Vorfall hat die gesamte Vampirgesellschaft von Salina erschüttert und die Nachwirkungen sind bis heute noch spürbar. Besonders hat es sich natürlich auf Yuris Freund Kiniah – ebenfalls ein Vampir – ausgewirkt, der unverändert trauert und sich von den gemeinsamen Partys zurückgezogen hat. Chenna und Sonny versuchen, ihm zu helfen, so gut sie können.

Auch Sonny hat im Club bereits ihr Herz verloren. Jedoch ist ihr Auserwählter, Jacco, nicht bereit, mit ihr eine enge Beziehung einzugehen. Noch nicht. Sonny ist überzeugt, dass er nur noch nicht weiß, dass er es will und sie arbeitet weiter daran, seine Meinung zu ändern. Er ist der Leader des Jioty-Clans aus Haus 4 und er ist entstellt. Daher lebt er zurückgezogen und meidet die offene Gesellschaft. Sonny hat bisher nicht herausgefunden, was mit ihm geschehen ist, und sie hat auch noch nie sein Gesicht gesehen, da er sich immer vermummt. Aber es hält sie nicht davon ab, sich weiter um ihn zu bemühen. Ihr Herz sagt ihr, dass diese Äußerlichkeiten für sie keine Rolle spielen.

1

99 Jahre zuvor

Als Yuri den Debütraum betrat, zog sie alle Blicke auf sich. Sie war ein ungewöhnlicher Anblick und wirkte so gar nicht wie eine Debütantin. Selbstsicher und stolz stand sie da und sah sich um. Sie trug ein weinrotes Paillettenkleid mit schwarzen Fransen, das gerade geschnitten war und kurz über dem Knie endete. Dazu lange, schwarze Seidenhandschuhe und eine Perlenkette. Ihre modisch kurzen Haare hatte sie mit einem Stirnband gebändigt. In der Hand eine lange Zigarettenspitze und ihre goldverzierte Handtasche. Eine Augenweide.

Von der Aufmerksamkeit der anwesenden Gäste nahm sie keine Notiz. Langsam schritt sie durch die Menge. Es waren mehr Mädchen als Männer auf dieser Party. Wo war denn da der Spaß?

An der Bar entdeckte sie einen der fast ausschließlich dunkel gekleideten Männer. Sie ging auf ihn zu und tippte ihm auf die Schulter. Dieser drehte sich langsam zu ihr um und sah sie abschätzig an. Obwohl sie ein Stück kleiner war als er, baute sie sich vor ihm auf und fragte: »Was ist das hier für eine Party?«

»Hattest du keinen Einweiser?«, gab er verächtlich zurück, drehte sich aber nicht wieder weg.

Sie betrachtete ihn ebenso hochmütig und überlegte kurz, weiterzugehen. Doch etwas in seinem Blick ließ sie stehenbleiben. Er hatte eine Ausstrahlung, die sie fesselte, und sein arrogantes Benehmen zog sie irgendwie an.

»Doch, den hatte ich durchaus. Aber der hat nur wirres Zeug gefaselt. Ich dachte, du könntest mir das genauer erklären.«

Er seufzte. Sein Blick drückte aus, dass er bereute, hierhergekommen zu sein, aber dann entschied er wohl, sich zu opfern.

»Also schön. Was soll's?« Er klopfte auf den Tresen, um die Barkeeperin auf sich aufmerksam zu machen. »Aber erstmal brauche ich etwas zu trinken. Willst du auch?«

»Natürlich, was denkst du denn?«

Er musterte sie von oben bis unten. »Ich denke, du wirst uns noch viel Kummer bereiten«, erklärte er, dann nahm er von der Barkeeperin die Gläser entgegen und reichte ihr eins.

»Was ist da drin?«

»Trink einfach!«, sagte er schlicht und leerte sein eigenes Glas in einem Zug.

Sie nippte nur daran und stellte das Glas zurück. »Das ist gut«, konnte sie gerade noch sagen, dann beugte er sich vor und überrumpelte sie mit einem Kuss.

Yuri war wie vom Donner gerührt. Sie brauchte einen Moment, die Situation in ihrem Kopf ankommen zu lassen. Dann gab sie sich der Liebkosung hin. Nach einigen Minuten rissen sie sich voneinander los.

»Wow!«, machte er.

Sie atmete schwer und sah ihn erstaunt an.

»Das hätte ich nicht erwartet«, gab er zu und reichte ihr eine Karte. Sie nahm sie und sah zu, wie er durch die Menge im Raum verschwand. Dann blickte sie auf die Karte. Zayne, ihr Einweiser, hatte von Küssen gesprochen und ihr erklärt, dass sie dafür Karten bekam. Sie hatte das zunächst für so eine Art Scherz gehalten und nicht weiter zugehört. Doch jetzt wo sie die Karte von diesem 'Yesse' in der Hand hielt, versuchte sie sich zu erinnern, was Zayne noch gesagt hatte. Aber es blieb irgendwie in ihrem Kopf verschwommen wie in einer Wolke.

Als sie wieder nach ihrem Drink griff, hörte sie ein Stück neben sich eine Frau leise lachen. Sie blickte auf. Eine weitere Debütantin mit auffällig roten Haaren betrachtete sie spöttisch. Sie trug ein extrem kurzes, goldenes Trägerkleid, ebenfalls mit Fransen und einem unanständig weiten Ausschnitt. Um den Hals hatte sie sich eine voluminöse Federboa geworfen.

Yuri wandte sich ihr zu. »Was ist so lustig?«

Die Rothaarige schüttelte den Kopf und lehnte sich lässig mit den Armen auf den Tresen. Sie rührte mit einem Strohhalm in ihrem Cocktail herum. »Gar nichts«, gab sie zurück, doch am Ton ihrer Stimme erkannte Yuri, dass das eine Lüge war.

»Und du bist?«

»Das hast du ziemlich geschickt angefangen«, antwortete sie, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Aber glaub bloß nicht, dass diese Masche immer funktioniert.«

Yuri blickte sie kühl und ein wenig konsterniert an. Sie entschied in diesem Moment, dass sie dieses Mädchen nicht mochte. Nicht ein kleines bisschen. »Das lass mal meine Sorge sein«, murmelte sie in ihren Drink und wollte sich schon abwenden, als die Andere vom Barhocker sprang und sich vor sie stellte.

»Wir sollten vielleicht besser von vornherein klarstellen, wer hier das Sagen hat«, hauchte sie ihr entgegen.

Yuri lachte kurz auf. »Und wer soll das sein? Du etwa?«

»Ich war vor dir hier. Ich schlage vor, du ziehst dich freiwillig zurück, bevor du noch zu Schaden kommst.«

»Oh, wirklich? Ja, wie viel vorher warst du denn hier?«, Yuri stemmte die Hände in die Seiten, »fünf Minuten?« Dann fing sie an zu lachen. Während die Rothaarige sie böse anstarrte, wurde Yuri wieder ernst: »Schlag dir das aus dem Kopf, Schätzchen. Gegen mich hast du keine Chance.«

»Ach, meinst du?« Sie machte eine schnelle Handbewegung zu ihrem Glas auf dem Tresen und stieß es um, so dass sein Inhalt in Yuris Richtung spritzte. »Ups!«, machte sie dann und während Yuri eilig nach einer Serviette vom Tresen griff, um die Flecken von ihrem Kleid aufzusaugen, stolzierte ihre neue Rivalin an ihr vorbei.

Yuri fluchte leise und betrachtete eingehend den Fleck, den der farbige Cocktail hinterlassen hatte. Sie musste das sofort auswaschen, sonst würde es nicht mehr rausgehen. Sie blickte ihr noch einmal nach, doch die Rothaarige mischte sich bereits wie selbstverständlich unter die Gäste.

Eilig verließ Yuri den Saal und sah sich im Flur um. Hatte sie nicht im Eingangsbereich ein Zeichen für die Waschräume gesehen? Sie folgte dem Gang bis zur Eingangshalle. Dort fand sie tatsächlich die Tür und betrat den Raum. Es war ein großer Waschraum mit Toilettenkabinen wie in öffentlichen Gebäuden. Sie stellte sich ans Waschbecken und rieb mit einem Tuch etwas Seife in den Stoff.

Nachdem sie dabei noch weiter über die Rothaarige vor sich hingeschimpft hatte, dachte sie wieder an ihren Einweiser. Was immer dieser Zayne ihr alles erzählt hatte, war ein wenig an ihr vorbeigeplätschert. Sie hatte ihn nur angestarrt und gehofft, er würde annehmen, sie höre ihm zu. In Wahrheit konnte sie an nichts anderes denken, als daran, wie gut er aussah. Er war einmal ziemlich nahe an sie herangekommen, da hatte sie außerdem feststellen können, wie gut er roch. Dieser Yesse mochte ja ein guter Küsser sein, aber sie hätte zu gerne gewusst, wie es war, Zayne zu küssen.

Sie entschied, dass sie nicht eher gehen würde, bis sie es herausgefunden hatte. Ihr neues Kleid war nicht mehr zu retten, stellte sie schließlich fest. Aber darauf kam es ihr jetzt gar nicht mehr an. Sie warf noch einen letzten, prüfenden Blick in den Spiegel, bevor sie sich umdrehte und dann wie angewurzelt stehenblieb. In der Tür war ein Vampir erschienen, der sie keuchend anstarrte. Um seine Augen hatte sich die Haut tiefschwarz verfärbt. Kleine dunkle Äderchen verteilten sich über das halbe Gesicht.

»Oh mein Gott!«, rief sie aus. »Was ist denn mit dir passiert?«

Er antwortete nicht. Stattdessen warf er sich auf sie und riss sie zu Boden. Sie schrie erschrocken auf und schlug dann hart auf die Fliesen. Mit rasendem Herzschlag rang sie nach Atem. Ihre Arme versuchten automatisch, ihn abzuwehren, doch er war so stark wie ein Bär. Sie konnte eben noch sehen, wie sich zwei seiner Vorderzähne zu spitzen Reißzähnen verformten, dann schlug er diese Zähne auch schon in ihren Hals. Ihr Herz setzte einen Schlag aus und von dem Schmerz wurde ihr schwarz vor Augen. Ein lautes Pfeifen breitete sich in ihrem Kopf aus. Sie wollte ihn noch immer wegdrücken, doch die Kraft in ihren Armen schwand. Dann ließ er genauso plötzlich von ihr ab, wie er sie angegriffen hatte. Sie konnte nur langsam die Augen wieder öffnen.

Nur allmählich verstand sie, dass jemand in den Raum gestürmt war und ihren Angreifer mit einem Schlag gegen den Kopf ausgeschaltet hatte. Dieser war daraufhin in sich zusammengesackt. Yuri war weiterhin arg benebelt und der Schmerz in ihrer Schulter breitete sich weiter in ihrem Körper aus. Das Denken fiel ihr schwer und erst als sich jemand direkt über sie beugte und sich seine Lippen stumm bewegten, wurde ihr klar, dass das Pfeifen in ihren Ohren bedeutete, dass sie nichts hören konnte. Außerdem schien sich alles auch nur noch in Zeitlupe zu bewegen.

Sie hatte Schwierigkeiten, sich zu rühren, und sie bekam kaum Luft. Nur allmählich ließ das Ohrgeräusch nach und die Stimme ihres Helfers drang wie von ferne an ihr Ohr: »Kannst du dich aufsetzen?«

Sie schloss kurz die Augen und griff nach seiner Hand. Der Raum drehte sich um sie, als er ihr jetzt hochhalf. Er stützte ihren Rücken und langsam ließ der Schwindel wieder nach.

»Was ist passiert?«, presste sie zwischen den Zähnen heraus und hielt sich den Kopf. Sie war nicht einmal sicher, ob er überhaupt ein Wort verstand oder ob sie nicht viel zu undeutlich sprach. Ihre Zunge fühlte sich wie geschwollen an.

Sie bekam keine Antwort. Stattdessen hörte sie jetzt eine weitere Stimme, die ihr entfernt bekannt vorkam: »Wieso ist sie hier draußen alleine?« Aber sie schaffte es nicht, den Kopf zu heben, um nachzusehen, wer es war. Das Licht der Deckenleuchten tat ihr weh und sie schloss wieder die Augen.

Ihre beiden Helfer unterhielten sich über sie hinweg: »Er ist im Fieberwahn. Es ist mir ein Rätsel, wie er in seinem Zustand überhaupt hier rumlaufen konnte.«

»Bringt ihn sofort weg!« Sie hörte weitere Stimmen, die sich aber entfernten.

»Das sieht übel aus«, meinte der Vampir, der als Erstes bei ihr gewesen war. »Kannst du sie entgiften?«

»Ja, das werde ich müssen.« Seine Anzugjacke fiel neben sie auf den Boden. »Halt sie fest!« Vor ihrem inneren Auge erschien das Gesicht ihres Einweisers Zayne, dessen Stimme sie nun doch wiedererkannte, als er mit ihr sprach: »Hör mir zu! Ich kann dir helfen, aber du musst stillhalten, verstanden?«

Noch bevor sie darauf reagieren konnte, spürte sie erneut diesen lähmenden Schmerz an ihrem Hals. Sie fühlte sich jedoch zu schwach, um aufzuschreien. Sie wollte nur noch in Ohnmacht fallen. Ihre Finger krallten sich um seine Hand, die er ihr anbot. Für Sekunden glaubte sie, dass sie gleich den Verstand verlor, doch dann rollte sich die Schmerzwelle rückwärts. Es fühlte sich an, als würde er die Schmerzen einfach aus ihr heraussaugen. Ganz langsam und fließend wurde es wärmer und weicher um sie herum. Ihr Kopf wurde klarer. Das Pfeifen ließ nach und dann überkam sie plötzlich eine sanfte Welle der Erlösung und sie atmete erleichtert auf.

Schließlich ließ Zayne von ihr ab und als sie nun die Augen öffnete, blickte sie direkt in sein Gesicht, das sie prüfend betrachtete. Yuri sah, wie sich seine Zähne wieder zurückzogen, und sie konnte nicht verhindern, dass ihr der Anblick einen leichten sinnlichen Schauer bescherte.

»Ich bring dich hier weg«, nickte er ihr zu und hob sie auf seine Arme. Sie hielt sich an ihm fest und er trug sie aus dem Waschraum durch den Flur in sein Büro. Dort setzte er sie auf ein antikes Sofa und schloss die Tür, damit sie allein waren. Er hockte sich vor sie.

»Was war das gerade?«, fragte sie vorsichtig.

»Das passiert, wenn man seinem Einweiser nicht richtig zuhört«, maßregelte er sie verärgert. »Ich hatte dich doch angewiesen, den Raum nicht alleine zu verlassen.«

»Es tut mir leid«, gab sie kleinlaut zurück. Dann griff sie sich an die Stelle, wo er zugebissen hatte. Die Haut war glatt wie eh und je. Es kribbelte nur noch ein bisschen bei der Berührung.

Zayne ging auf die andere Seite und öffnete eine Schranktür. Dahinter standen Flaschen und Gläser. Er füllte zwei mit einer goldenen Flüssigkeit. Dann kam er zu ihr zurück und reichte ihr eins. Er nippte selbst an seinem Glas, während er nachdenklich auf sie hinabblickte. Mit einer Hand öffnete er seine Weste und gab den Blick auf sein hautenges, weißes Hemd frei.

Yuri trank zunächst nur einen kleinen Schluck und erwiderte dabei seinen Blick. Dann trank sie das Glas leer. Der Alkohol rann ihr die Kehle hinab und wärmte sie augenblicklich von innen. Sie fühlte sie erleichtert, hatte aber ein schlechtes Gewissen wegen des Vorfalls. Hatte er ihr tatsächlich gesagt, sie solle nicht hinausgehen? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Aber es war ja wahr gewesen – sie hatte ihm nicht zugehört.

»Kann ich das irgendwie wieder gutmachen?«

Es gab eine einfache Antwort auf diese Frage. Doch er zögerte, sie ihr zu geben. Sie war ein Neuling. Und Neulingen gegenüber war man immer ein wenig nachsichtig. Zayne war für gewöhnlich kein sehr geduldiger Mensch. Er hatte genau zwei Möglichkeiten: Entweder er warf sie unverzüglich aus dem Haus und sperrte sie für den Club auf Lebenszeit oder er drückte beide Augen zu und vergaß den Vorfall.

Ihre mandelförmigen Augen schauten beinahe flehend zu ihm auf. Es machte ihn mürbe. Was tat sie denn? Er fühlte sich ein bisschen wie berauscht – nur von ihrem Anblick. Dann stellte er sein Glas ab und setzte sich neben sie. Es war nicht erlaubt, was er jetzt tat, aber der Drang danach war zu stark. Er beugte sich vor und sie kam ihm entgegen. Der Kuss war stürmisch und leidenschaftlich.

Er küsste tatsächlich noch besser, als sie es sich ausgemalt hatte. Sie fühlte sich beinahe schwerelos in seinem Arm. Der Moment war unvergleichlich. Ihr Ehrgeiz schlief jedoch nicht. Sie wollte nicht nur genießen, sie schwor sich auch, ihn diesen Kuss niemals mehr vergessen zu lassen. Und das gelang ihr durchaus. Nur, das ahnte sie in diesem Moment noch nicht.

Schließlich löste er sich von ihr und erhob sich sofort wieder. Er räusperte sich und wandte sich dem Schreibtisch zu. Ohne eine Erklärung nahm er den Hörer ab und wählte eine kurze Nummer. »Ja. Komm rüber zu mir! – Dann meinetwegen auch ihr beide. Aber gleich, nicht erst morgen, klar?« Er legte auf.

Sie sah ihn fragend an.

»Wir machen jetzt etwas, was wir hier normalerweise nicht tun. Aber durch diesen kleinen Vorfall sollten wir lieber vorsichtig sein. Ich gehe davon aus, dass du dem Club beitreten willst?«

Yuri sah zu ihm auf. Sie berührte ihre Lippen mit den Fingerspitzen. Immer noch war sie verzaubert von der Energie dieser Küsse. Sie nickte nur. Wer würde das ablehnen?

»Wir werden ein Ritual durchführen, so dass dir das nicht noch einmal passieren kann. Bist du damit einverstanden?«

Noch bevor sie antworten konnte, ging die Tür auf und Yesse trat ein. Hinter ihm ein zweiter Mann. Yuri blickte von einem zum anderen. Moment, dachte sie, wer von denen ist jetzt Yesse? Die sahen völlig gleich aus. Zwillinge?

»Das sind Luis und Yesse. Ich selbst kann das Ritual heute nicht mehr durchführen. Einer von ihnen wird das tun.« Er erklärte ihnen sein Vorhaben und Yesse drehte sich zu seinem Bruder: »Mach du nur. Ich hatte heute schon das Vergnügen, sie zu küssen.«

Luis zog sein Sakko aus und legte es beiseite. Er trug ein beiges Hemd und Hosenträger. Mit einem Lächeln trat er auf Yuri zu und nahm ihre Hand, als er sich setzte. »Ich werde dich jetzt beißen, aber es wird nicht lange wehtun. Das verspreche ich dir. Bist du so weit?«

Sie blickte ihm in die Augen. Machte er Scherze? Verwirrt sah sie zu Zayne auf. Der stand mit verschränkten Armen gegen den Schreibtisch gelehnt und sah ihnen zu. Dann wanderte ihr Blick zu Yesse. Der hatte sich abgewandt und schenkte sich einen Drink ein. Sie wusste immer noch nicht, wo sie hier hineingeraten war. Aber bevor sie darauf reagieren konnte, beugte Luis sich über ihren Hals und biss zu. Das Gefühl war tatsächlich nicht so unangenehm wie die beiden Bisse davor. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Luis hielt sich nicht lange auf. Er erhob sich schnell und ging zu Zayne rüber. Die beiden hantierten einander zugewandt an etwas, das Yuri nicht sehen konnte.

Sie tastete ihre Schulter ab, fühlte aber nichts als glatte Haut. Dann fing sie Yesses Blick auf, der sie über den Rand seines Glases weiter gelangweilt beobachtete. Sie konnte ihn nicht einschätzen, das verunsicherte sie ein wenig. Luis drehte sich wieder zu ihr und reichte ihr eine Kette mit einem blutroten Anhänger. Sie nahm sie. Es war ein winziges Fläschchen mit einem Korken. Erst beim näheren Betrachten stellte sie fest, dass sich Blut darin befand.

»Das ist eine Phiole. Sie enthält dein Blut, gemischt mit dem Blut von Luis. Wir bezeichnen das als Schutz der Stufe 4. Es wird dich vor jedem Vampir hier auf den Partys schützen«, erklärte Zayne streng. »Trag sie! Immer!«

Sie nickte brav und legte sie sich um den Hals.

»Und jetzt nehmt sie mit. Ich habe hier noch Arbeit zu tun.«

Ein bisschen enttäuscht warf Yuri einen letzten Blick auf den mürrischen Vampir. Dann folgte sie den Zwillingen hinaus.

2

Zwei Jahre zuvor

Maknaes nannte man die jüngsten Mitglieder der Clans. Sie hatten nicht immer die beste Position innerhalb ihrer Familie. Es gab Clans, die ihre Maknaes wie Nesthäkchen hüteten und verwöhnten, doch es gab auch andere Methoden. Manchmal musste der Maknae sich seinen Platz erst mit vielen Fußtritten und Entbehrungen verdienen.

In Haus 4 war das so. Alle drei Maknaes hatten einiges durchzustehen, bis sie von den übrigen Mitgliedern ernst genommen und als vollwertig akzeptiert wurden. Darum taten Yoshi, Rafal und Ivory sich schon sehr früh zusammen, um ihre Schmach besser ertragen zu können.

Eines Nachts hatte Ivory mal wieder einen richtig miesen Tag gehabt und beschwerte sich bei den beiden anderen. Diese waren ähnlich schlecht drauf und strebten nach Zerstreuung. So schlug Yoshi vor, sich mit einem Zug durch die Stadt abzulenken. Wenn sie hier im Haus nicht erwünscht waren, sollten sie vielleicht besser woanders ihr Glück suchen. Der Alkohol, den Rafal organisiert hatte, half ihnen bei der Entscheidung. Und so zogen die drei kurz vor Mitternacht los und streiften durch die Straßen der Unterstadt von Salinas nördlichsten Stadtteil Valmont.

Mehrere Male entgingen sie nur knapp einer direkten Konfrontation mit anderen jungen Männern, die sich ebenfalls austoben wollten. Sie hätten natürlich niemals den Kürzeren gezogen, doch wollten sie auch keine blutige Spur durch die Straßen ziehen. Anfangs hatten sie dabei noch jede Menge Spaß, aber ihnen wurde mit der Zeit langweilig und Yoshi vermisste die warmen Räumlichkeiten der Häuser und die Liebe, die die Mädchen der Gesellschaft ihnen entgegenbrachten. »Ich will ein Mädchen, das mich anhimmelt und nicht eine, die schreiend wegläuft. Dieses Gekreische tut mir in den Ohren weh«, maulte Yoshi.

»Du hast recht«, stimmte Rafal zu und sie wandten sich an Ivory. »Wir wollen zurück. Es ist kalt hier draußen und ich hab echt Blutdurst.«

»Ja, schon gut. Gehen wir hier lang«, entschied Ivory und sie ließen die Unterstadt hinter sich. Sie kamen durch ein Viertel, dass einem Slum alle Ehre machte.

Die engen Straßen lagen voller Unrat und Dreck. »Bist du sicher, dass du den richtigen Weg kennst?«, fragte Rafal und sah sich angewidert um. Sie waren nicht weit von der Nansa entfernt. Der Fluss strömte an dieser Stelle einen moderigen Geruch aus.

»Halt mal die Klappe! Was weißt du schon?«

»Hört ihr das?« Yoshi streckte den Arm aus und brachte sie zum Schweigen.

Sie lauschten und vernahmen alle drei das Gleiche: Jemand wurde geschlagen und an einem Aufschrei konnten sie sofort erkennen, dass es sich um ein Mädchen handeln musste. Ivory war der Erste, der losstürmte. Sie fanden sie in einer Seitenstraße. Allein. Sie lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, doch sie lebte noch. Der Angreifer war geflüchtet.

Ivory beugte sich über sie und drehte sie herum. Ihr Gesicht war blutüberströmt. Ihre Augen waren nur halb geöffnet und starrten glasig ins Nichts. Sie schien nicht einmal wahrzunehmen, dass Hilfe gekommen war.

Augenblicklich regten sich seine Instinkte und er verwandelte sich, doch er biss sie nicht. Die anderen beiden kamen näher und auch sie waren blutdürstig. Dieses Mädchen war eine große Versuchung. Sie trug natürlich keine Phiole und darum war sie Freiwild. Doch Ivory sprang auf und hielt die beiden zurück. »Sie wird nicht angerührt«, bellte er sie an.

»Was ist los mit dir?«, jaulte Rafal. »Ich hab Hunger. Nur einen kleinen Schluck. Was kann es noch schaden?«

Yoshi war ebenso angepisst. »Du willst sie nur für dich alleine. Jetzt sei nicht so. Sie macht es ohnehin nicht mehr lange – sieh sie dir doch an.«

Ivory schüttelte stur den Kopf. »Auf keinen Fall. Wir sind doch keine Wilden. Außerdem ist sie ja fast noch ein Kind. Wir müssen sie retten.«

»Was?«, riefen Yoshi und Rafal gleichzeitig und wechselten einen vielsagenden Blick. »Der ist ja völlig durchgeknallt.«

»Was stimmt nicht mit dir? Hat Joaquin dir wieder eins mit dem Baseballschläger übergezogen? Oder warst du schon wieder am Medikamentenschrank?«

»Weder noch«, antwortete Ivory ruhig. Die drei standen da und blickten auf das Mädchen auf dem Boden.

»Und was machen wir jetzt mit ihr?«

Noch bevor er antworten konnte, hörten alle gleichzeitig die Schritte näher kommen. Sie sahen sich an und es gab für sie keinen Zweifel. Der Täter kam zurück.

In Sekundenbruchteilen machten sie sich praktisch unsichtbar, indem sie in Vampirgeschwindigkeit hinter einem breiten Busch verschwanden. Da schlurfte ein heruntergekommener Kerl bereits aus dem Schatten heran. Er hatte einen Sack und ein Seil dabei. Vor dem Mädchen blieb er stehen und sah sich auf der Straße um. Er hob sein Opfer hoch und quälte sich mit ihr die Böschung hinauf. Als er dabei so dicht an Rafal vorbeikam, dass sie sich sogar streiften, hielt er kurz inne und fuhr unsicher herum. Dann schüttelte er den Kopf und kletterte weiter. Die drei folgten ihm in Schutz der Dunkelheit.

Nachdem der Mann ein paar dicke Steine in den Sack geworfen hatte, stopfte er mit viel Mühe auch das Mädchen hinein. Ivory wollte dazwischengehen, doch Yoshi hielt ihn zurück. »Warte!«, ließ er ihn in Gedanken wissen.

»Sie lebt noch«, antwortete Ivory auf die gleiche Art.

»Ich weiß. Trotzdem. Vertrau mir! Es ist besser, wir warten noch.«

Es war schwer für Ivory zu ertragen, doch sie sahen zu, wie der Mann den Sack zuknotete und das Paket dann an das Ufer der Nansa trug. Das Ufer war an dieser Stelle befestigt. Der Sack schlug mit einem lauten Klatschen auf der Wasseroberfläche auf und versank. Unerträglich lange stand der Mann noch dort. Dann drehte er sich endlich um und buckelte denselben Weg zurück, den er gekommen war.

Ivory stürmt aus seinem Versteck und sprang, ohne zu zögern, in den Fluss. Yoshi folgte ihm nach. Die beiden tauchten durch die Kälte und Dunkelheit hinab, die ihnen nichts ausmachten. Sofort hatten sie den Sack erspäht und Ivory packte ihn, um ihn wieder nach oben zu ziehen. Yoshi half dabei, Rafal den Sack hinaufzureichen, und gemeinsam wuchteten sie das nasse Paket ans Ufer zurück. Sie machten sich nicht die Mühe, die Knoten aufzupulen. Rafal nahm einen seiner langen Fingernägel, um den Jutestoff einfach zu zerreißen. Sie hustete bereits, noch bevor sie sie herausgezogen hatten.

Die drei waren so betroffen von der Abgebrühtheit des Täters, dass keiner von ihnen mehr daran dachte, sich an ihr gütlich zu tun. Sie sahen zu, wie sie keuchend Wasser spuckte und langsam die Augen öffnete.

Ivory griff nach ihrer Hand. »Hab keine Angst!«, erklärte er ihr sanft. »Wir tun dir nichts.«

Sie blickte verwirrt von einem zum anderen. Es war offensichtlich, dass sie nicht verstand, was passiert war. Dann blickte sie wieder zu Ivory.

Er fragte besorgt: »Wie geht es dir? Hast du Schmerzen?«

Sie nickte nur stumm und schloss die Augen. Ivory hielt sie fest, als sie nach hinten sank.

»Ohnmächtig?«, fragte Yoshi.

Ivory nickte und hob sie hoch.

»Was hast du vor?«, wollte Rafal wissen.

»Ich nehme sie mit.«

»Wohin?«

»Nach Hause.«

»Das geht nicht«, widersprach Yoshi. »Wie willst du das erklären?«

»Sie wird eines unserer Mädchen. Hier kann sie nicht bleiben.«

»Aber sie ist höchstens fünfzehn. Sie muss mindestens achtzehn sein, um eins unserer Mädchen zu werden.«

»Das weiß ich auch«, murrte Ivory stur, »und sie ist mindestens sechzehn.«

Yoshi verdrehte die Augen. »Das macht jetzt alles besser.«

»Ich werde sie verstecken.«

»Und wo?«

»In der Kammer hinter meinem Zimmer.«

Rafal zuckte mit den Schultern. »Das könnte vielleicht sogar klappen.«

»Seid ihr verrückt? Das wird niemals funktionieren.« Yoshi schüttelte den Kopf. »Wieso sollte sie sich in dieses kleine Loch einsperren lassen – für zwei Jahre?«

»Wo sollen wir sie sonst hinbringen?«

»In ein Krankenhaus natürlich. Da gehören verletzte Menschen hin.« Für Yoshi gab es da keine Zweifel.

»Ich will lieber mit euch gehen«, murmelte die schwache Stimme des Mädchens auf Ivorys Arm, ohne dass sie die Augen öffnete. Ihre dünnen Arme legten sich um seinen Hals und klammerten sich fest.

»Was?«

»Bitte nehmt mich mit.« Sie blinzelte kurz und eine Träne rann ihr übers Gesicht. »Sonst wird er mich wiederfinden. Ich kann alles besser ertragen, als weiter hier zu leben.«

Ivory blickte die anderen an. »Nur, bis es ihr besser geht, danach können wir immer noch entscheiden, was weiter passieren soll.«

»Ich bin dafür«, meldete Rafal an.

Yoshi seufzte. »Wenn ihr es denn alle wollt, bin ich wohl überstimmt.«

Auf ihren Lippen formte sich ein angedeutetes Lächeln.

»Wie heißt du?«, fragte Ivory.

»Deborah. Und ich werde bald siebzehn.«

»Schön, kleine Debby. Dann behalte jetzt deine Augen geschlossen, wir werden sehr schnell reisen. Halt dich fest, wenn du kannst. Es dauert nur einen Moment.«

3

Heute

Chenna betrat noch vor Morgengrauen das weiße, villenähnliche Haus durch einen schmalen Seiteneingang und schloss die Tür so leise wie möglich. Als sie sich umdrehte, um den Flur entlangzuschleichen, stand Yesse bereits direkt vor ihr. Sie stieß einen leisen Schrei aus und er hielt ihr eilig den Mund zu.

»Schsch! Die Mädchen können dich hören«, raunte er und ihre Gesichter waren ganz dicht voreinander. Sie blickte in seine dunkel umrandeten Augen, die frech funkelten, und ihr Herz machte einen Hüpfer. Sie sahen ein wenig müde aus, aber sie hatten noch immer dieselbe Wirkung auf sie, wie bei ihrer allerersten Begegnung. Er nickte ihr zu und sie nickte zurück. Dann nahm er die Finger von ihrem Mund und griff nach ihrer Hand, um sie hinter sich herzuziehen. »Komm hier lang!«

»Wo gehen wir denn hin?« Es war nicht der Weg in sein Zimmer, den sie bereits blind und im Schlaf kannte.

Er drehte sich im Gehen mit einem Schmunzeln um. »Lass dich überraschen!«

Eilig führte er sie an der Küche vorbei, in der bereits Hochbetrieb herrschte. Sie konnte die verführerischen Düfte aufnehmen, die dort herausströmten. Vermutlich wurde das Frühstück von den Insiderinnen für alle im Haus Wohnenden vorbereitet.

Yesse öffnete eine andere Tür, die sie noch nie bemerkt hatte. Erst, als sie eingetreten waren und er die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte, schaltete er das Licht an. Vor ihnen lag eine robuste Steintreppe, die in den Keller führte.

Sie zog die Stirn kraus. »Ist das deine Überraschung?«

Er küsste sie flüchtig auf den Mund und drückte ihre Hand, dann ging er hinab. Sie folgte ihm dicht auf. »Was ist denn hier unten?«, wollte sie misstrauisch wissen.

Er führte sie den Gang entlang. Die Wände waren grob aus Stein gehauen, aber der Korridor war breit und angenehm ausgeleuchtet. Er zeigte auf die einzelnen Türen, die davon abgingen. »Hier sind die Wein- und Whisky-Lager, Vorratsräume, die Waffenkammer und – wir haben sogar einen Folterraum.«

Sie riss die Augen auf. »Kein Witz?«

»Nein.« Er drehte sich zu ihr um. »Aber erst zeige ich dir was anderes.«

Sie hielt sich an seinem Arm fest und folgte ihm. Er ging bis zum Ende des Gangs und betätigte einen Hebel an der Wand. Der Mechanismus gab ein modernes Display frei, in das er jetzt eine lange Zahlenfolge eintippte. Neugierig blickte sie ihm über die Schulter.

»3-8-5-14-14-1. Das ist dein Name in Zahlen«, erklärte er und gab ihr einen Stups auf die Nase.

Sie staunte. »Mein Name? Wirklich?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich sollte mir einen Code ausdenken.« Dann lächelte er verschmitzt. »Jetzt weißt du, was das Einzige ist, woran ich die ganze Zeit denken muss.«

Sie blinzelte verlegen. »Ach, hör doch auf!«

Die Wand vor ihnen schob sich beiseite und gab einen weiteren Gang frei. Hier war es dunkler und deutlich kühler, aber nicht feucht. Die Kälte war sogar beinahe angenehm auf der Haut. Es leuchtete ein sanftes blaues Licht.

Er wandte sich zu ihr: »Was ist? Hast du Angst?«

»Pff!« Sie pustete mit einem leisen Geräusch Luft durch die Lippen. »Nein!«

»Warum entspannst du dich dann nicht endlich?«

Erst jetzt bemerkte sie, dass sie sich wie ein Kind an seinen Arm geklammert hatte, und ließ ihn los. Er nickte amüsiert, als er weiterging. Sie blieb dicht bei ihm. Die Wand schloss sich automatisch wieder hinter ihnen. Sie kamen an Räumen vorbei, die mit Glastüren verschlossen waren. Zunächst dachte Chenna, dass es sich um Gefängniszellen handeln könnte, und sie überkam ein leichter Schauer. Sie gingen um mehrere Ecken, mal rechts, mal links, und er führte sie immer weiter in ein unterirdisches Labyrinth, das überall Abzweigungen und dunkle Ecken hatte. Schließlich blieb er vor einer der Zellen stehen und öffnete die Tür mit einem Knopfdruck. Sie glitt geräuschlos beiseite. Chenna stockte, als er eintreten wollte.

»Keine Angst!« Er griff wieder nach ihrer Hand und zog sie sanft mit sich. Mitten im Raum stand ein edler Sarg auf einem Podest. Feine Verzierungen rund um das glänzende Holz und goldene, verschnörkelte Griffe zeugten von einem teuren Modell. Er trat an ihn heran und öffnete den Deckel. Ein blasser Leichnam kam zum Vorschein. Er lag da mit geschlossenen Augen und einer altertümlichen Münze auf der Stirn.

Chenna blickte darauf. »Wer ist das?«, fragte sie heiser.

Yesse ließ sie stumm noch einen Moment im Unklaren.

Sie beugte sich ein wenig vor und betrachtete die Züge des Mannes genauer. »Der sieht ja aus wie du«, flüsterte sie.

»Das liegt vermutlich daran, dass er mein Zwilling ist.«

Sie blickte auf Yesse und dann wieder in den Sarg. »Du hast einen Zwillingsbruder?«

Er nickte. »Aber ich sehe natürlich viel besser aus.«

»Okay«, antwortete sie gedehnt.

»Sein Name ist Luis. Er starb vor beinahe einem ganzen Jahrhundert.«

Chenna blickte Yesse einen Moment lang betroffen an. Dann trat sie noch etwas näher an den Sarg und beugte sich über das fahle Gesicht des toten Vampirs. »Darf ich ihn anfassen?«

Er trat zur Seite. »Nur zu!«

Sie legte ihre Hand auf seine Schulter. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber er fühlte sich an wie jeder andere Vampir auch. »Hallo Luis. Ich bin Chenna.«

Yesse lächelte amüsiert. Er blickte ebenfalls auf Luis hinab. »Ich denke, er hätte dich gut leiden können. Vermutlich hättest du ihn auch sehr gemocht. Aber seine Art hätte dich vielleicht manchmal ein bisschen in den Wahnsinn getrieben.«

Sie zog die Nase kraus. »Was war denn mit ihm?«

»Er war einfach nervtötend perfekt. Und alle waren verrückt nach ihm.«

Chenna überlegte einen Moment. Dann blickte sie Yesse schief an. »Bindest du mir hier gerade einen Bären auf? Vampire können doch gar nicht sterben.«

Er seufzte. »Das ist nicht ganz richtig. Es gibt ein paar Ereignisse, die uns nicht gut bekommen.«

»Komm mir jetzt nicht mit dieser Holzpflock-ins-Herz-stechen-Nummer.«

Er legte sich eine Hand auf die Brust und sagte mit einem Lächeln »Autsch!«

»Nun sag schon«, forderte sie ihn auf. »Ich will es ehrlich wissen.«

»Ich weiß nicht, ob der Holzpflock mir ernsthaft Schaden zufügen kann. Aber ich habe noch nie gehört, dass das jemals vorgekommen wäre. Es dürfte allerdings wirklich sehr, sehr schmerzhaft sein. Ich will es nicht ausprobieren. Ich glaube aber auch nicht, dass ein Mensch tatsächlich so viel Kraft aufbringt, so etwas umzusetzen, bevor der Vampir sich dagegen wehren kann. Also das haken wir mal als Mythos ab.«

Sie nickte.

»Die anderen Filmmythen wie Knoblauch, Kreuze oder Weihwasser sind natürlich großer Quatsch. Aber die Sonne ist unser Feind. Das weißt du ja schon. Keiner von uns geht gerne am Tag raus. Hat nicht Sonny auch schon diese Erfahrung gemacht?«

Chenna dachte an ihre Freundin, die auf einer ihrer ersten Partys tatsächlich etwas übertrieben hatte und mit einem Vampirkater bestraft wurde.

»Sollte ich mich ohne Kleidung längere Zeit der prallen Sonne aussetzen, würde ich wohl komplett verbrennen. Und dann wäre auch nichts mehr von mir übrig.«

»Aber Luis ist ganz offensichtlich nicht verbrannt. Er ist noch da. Was ist mit ihm passiert?«

»Vor langer Zeit hat es eine Epidemie gegeben. Die Gesellschaft hat sich mit einem Virus infiziert. Ein Virus, das Menschen nichts anhaben kann, für Vampire aber höchst gefährlich ist.«

Yesse hielt inne und atmete mit einem Blick auf seinen Bruder tief durch. »Es hat die beiden Clans aus Haus 5 ausgelöscht.«

»Wirklich?« Chenna war entsetzt.

»Das Haus steht seither leer.«

»Es gibt ein Haus 5?«

Yesse nickte. »Ist dir schon mal aufgefallen, wie verteilt die Häuser stehen?«

»Ja, manchmal ist es sehr lästig, wenn man durch die ganze Stadt muss, um zu den Häusern zu gelangen. Ist das so besonders?«

»Die fünf Häuser sind so aufgestellt, dass sie die Eckpunkte eines Pentagramms bilden. Wenn du sie auf einer Karte einzeichnest, findest du im Zentrum Haus Zero.«

»Wow. Das wusste ich nicht.«

Er nickte. »Dieses Pentagramm ist eine unserer wichtigsten Schutzmaßnahmen vor Gefahren von Außen. Das funktioniert eigentlich am besten, wenn das Pentagramm vollständig ist. Also wenn alle fünf Häuser von Clans besetzt sind, und in Haus Zero Ur-Vampire leben.«

»Heißt das dann, wir sind gar nicht wirklich geschützt?«

»Doch, einen gewissen Schutz bietet auch ein gebrochenes Pentagramm. Außerdem haben wir ja noch unsere Ur-Vampire.«

»Und das Virus?«

»Inzwischen gibt es ein Mittel gegen das Virus. Wir erkranken jetzt nicht mehr daran.«

Sie blickte wieder zu Luis. »Kann er nicht wiedererweckt werden?«

Yesse folgte ihrem Blick. »Es müsste schon jemand ein Wundermittel entwickeln, dass Tote wieder zu Untoten verwandeln kann.«

»Und wieso verwest er nicht?«

»Das liegt am Klima hier unten. Vampire, die hier aufbewahrt werden, bleiben immer so, wie sie bei ihrem Tod waren. Nur dieses Haus hat so eine geheime Gruft.«

Chenna nickte, dann stutzte sie. »Moment. Geheim? Das heißt doch wohl hoffentlich nicht, dass wir gar nicht hier sein dürften?«

Er grinste sie an: »Also, ich schon!«

Sie presste die Lippen zusammen und gab ihm einen leichten Knuff. »Wieso bringst du mich hierher, wenn es für Menschen verboten ist?«

Er trat auf sie zu und umarmte sie. »Weil du mein Privileg bist. Und als solches, solltest du meine Familie kennen.«

»Das dauert aber noch eine ganze Weile. Ich komme mit meinen Karten nicht besonders schnell voran.«

Er sah sie erbost an: »Und wieso nicht? Streng dich gefälligst ein bisschen mehr an!«

»Machst du Witze? Wir sind doch ständig zusammen. Wie soll ich da andere küssen?«

»Rede nicht davon, andere zu küssen.« Er senkte seine Lippen auf ihre und drehte sie im Kuss herum. Dann blickte er sie an und gestand: »Das macht mich fuchsteufelswild.«

Sie genoss seinen Kuss für einen Augenblick, dann drehte sie ihren Kopf zum Sarg: »Sag's mir ehrlich, Luis: Ist Yesse als Kind auf den Kopf gefallen?«

Yesse kniff sie in die Taille, so dass sie hochsprang und lachend seine Hände wegschlug.

»Nimm das zurück!«, verlangte er.

»Aber es stimmt doch: Wie soll ich Karten sammeln, wenn du mich nicht auf Partys gehen lässt? Ich will doch auch endlich Insiderin werden. Dafür brauche ich eine Karte von jedem Vampir, weißt du doch. Sonny hat schon viel mehr Karten als ich.«

»Sie hat ja auch keinen Freund.«

»Willst du denn nicht, dass ich Insiderin werde?«

»Na klar will ich das, aber jetzt will ich dich erstmal für mich allein.«

»Wenn ich erst Insiderin bin, hast du viel mehr von mir und wir müssen uns auch nicht mehr heimlich treffen«, argumentierte sie dagegen.

»Das kann schon sein, aber wenn ich mir vorstelle, wie viele Vampire diese Lippen noch berühren müssen, bis es so weit ist«, murmelte er schmollend.

Sie seufzte und streichelte sein Gesicht. »Ich bin doch auch lieber mit dir zusammen, als mit den anderen. Aber ich habe Sonny versprochen, nächstes Wochenende mit ihr auszugehen. Und auf keinen Fall gehen wir dann in Haus 2.«

Er verdrehte die Augen. »Wenn's denn sein muss. Aber du kommst nach der Party noch zu mir. Versprich es!«

Sie küsste ihn. »Ich versprech's.«

»Lass uns zurückgehen.« Er schloss den Sarg und führte sie zielsicher aus dem Gruftlabyrinth des Kellers. Als sie wieder in den vorderen Kellergang traten, merkte Chenna erst, wie kalt es wirklich in der Gruft gewesen war.

»So, wie war das jetzt nochmal mit der Folterkammer?«, lenkte sie nun das Thema in eine andere Richtung.

»Willst du sie sehen?«

»Natürlich.«

Er nickte ihr zu und öffnete eine Tür auf der linken Seite. Dann ließ er sie zuerst eintreten. Hinter ihnen lehnte er die Tür wieder an. Sie sah sich um. Es gab eine Streckbank, daneben stand ein riesiges Brett an die Wand gelehnt, auf dem die unterschiedlichsten Waffen aufgereiht waren, vom Messer bis zum Beil, alles, was das Folterherz begehrte. Ein menschengroßer, metallener Käfig hing von der Decke, es gab eine Feuerschale und daneben stand ein Korb mit einem ganzen Sammelsurium von Langwaffen. An der Wand waren Ketten und Fesseln angebracht. Auf der anderen Seite befand sich ein altertümlicher Zahnarztstuhl und das Herzstück des Raums war eine Guillotine.

Chenna ging darauf zu. »Ist die echt?«

Yesse nickte. »Ja. Was hast du denn wohl gedacht? Das hier ist alles echt. Dies ist doch keine Touristenstätte.«

»Funktioniert die noch?«

»Willst du es probieren?«

Sie fasste sich an den Hals. »Himmel, nein!«

Er kam lachend auf sie zu und küsste sie wieder, während er ihr mit dem Finger sanft über ihre Kehle strich. »Natürlich nicht mit deinem schönen Hals.« Er drehte sich um und holte eine Melone aus einer Kiste neben der Tür. »Hiermit.«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, legte er die Frucht in die Kuhle, die für den Kopf vorgesehen war und entriegelte dann die Guillotine. Er zog sie zu sich in den Arm und sie sahen gemeinsam zu, als das Beil herabsauste und die Melone durchteilte. Das Geräusch war lauter, als sie es erwartet hatte, und verursachte ihr eine Gänsehaut, obwohl es nur eine Frucht war. Der Saft spritzte in alle Richtungen und sie bekamen auch reichlich davon ab. Yesse lachte auf und dann drehte er sie in seinem Arm. Er senkte seine Lippen auf ihre und seine Finger fuhren in ihre kurzen Haare. Er küsste sie verlangend und gierig. Chenna drängte sich an ihn und erwiderte den Kuss. Sie gingen gemeinsam in die Knie.

»Der Boden ist schmutzig«, murmelte er entschuldigend, doch sie hielt ihn weiter fest und gab keuchend zurück: »Ist mir egal.« Sie zog ihm das Shirt über den Kopf und ließ ihn ihres ausziehen, dann zerrte sie seine Jogginghose herunter. »Es wird hart auf dem Boden sein.« Sein Blick war ungläubig.

»Ich will dich jetzt sofort.« Sie öffnete sich auch schon ihre Jeans. »Lass mich nicht betteln.«

Er verzog amüsiert den Mundwinkel. »Reizvolle Vorstellung.«

Dann schreckten beide zusammen, als sie von draußen ein lautes Geräusch hörten. Sie blickten sich in die Augen. Yesse hielt seinen ausgestreckten Zeigefinger vor die Lippen und sie nickte. Er zog sich die Hose wieder hoch, während er gleichzeitig aufsprang und an die Tür eilte, um das Licht auszuschalten. Schnell griff sie sich die Shirts. Dann lauschten sie. Sie kam zu ihm geschlichen und drückte ihm sein T-Shirt in die Hand. Sie zogen sich wieder an und dann schmiegte sie sich im Dunkeln an ihn. Sein Arm legte sich um ihre Schulter. Beide hielten inne. Es rumorte ganz offensichtlich im Inneren eines anderen Raums.

»Vielleicht besorgen die Mädchen frischen Wein«, vermutete er flüsternd.

Sie begann leise zu kichern und er stimmte mit ein. Sie küssten sich im Dunkeln. »Wir sollten hier verschwinden.« Er drehte sich zur Tür, doch sie hielt ihn zurück. »Warte! Was wenn sie genau in dem Moment wieder herauskommen?«

»So schnell sind die Mädchen nicht«, sagte er zuversichtlich und griff nach ihrer Hand. »Das schaffen wir.«

Sie schlichen sich hinaus und folgten dem Gang zurück zur Treppe. Chennas Herz schlug bis zum Hals. Sie sah sich nach rechts und links um. In welchem Raum waren sie wohl? Es gab so viele Türen. Und es war nun bedrohlich still geworden. Yesse beeilte sich und zog sie hinter sich her. Endlich an der Treppe angelangt, hörten sie das Quietschen einer Türklinke und sie flohen die Stufen hinauf. Oben angekommen, liefen sie den Flur entlang und nahmen die Treppe zu seinem Zimmer im zweiten Stock.

Er schloss die Tür hinter ihnen und sie mussten beide erleichtert lachen, dass sie es geschafft hatten, nicht erwischt zu werden. Chenna warf sich auf den Boden und atmete tief durch, damit sich ihr Herzschlag wieder normalisieren konnte. Yesse ließ sich aufs Bett fallen und sah zu ihr rüber. Seine Arme baumelten herunter und er streckte sie nach ihr aus. »Komm hoch zu mir!«

Sie schüttelte den Kopf. »Komm du zu mir!«, erwiderte sie schelmisch.

Er streckte sich, so gut er konnte, ohne aus dem Bett zu fallen, um sie zu erreichen. Er erwischte jedoch nur ihren Finger und als er daran zog, rutschte er ihr weg. Sie rückte ein kleines Stück näher und wieder reckten sie sich nacheinander. Diesmal ergriff er ihre Hand und zog sie über den Boden zu sich heran. Sie lachte auf. Er beugte sich kopfüber zu ihr herab und küsste sie. Ihre Arme legten sich um seinen Hals, aber dadurch rutschte er nun doch vom Bett und fiel auf sie. Wieder mussten sie lachen. Jemand hämmerte an die Tür.

Yesse hielt inne und blickte auf. Sie schauten beide zum Eingang, dann sahen sie sich gegenseitig an.

»Versteck dich!«, flüsterte er ihr zu und zeigte auf die Ecke hinter dem Bett, wo sie von der Tür nicht zu sehen war. Er stand auf, verstrubbelte sich die Haare und öffnete gähnend die Tür. »Was ist denn?«

»Jemand hat sich wegen Lärm beschwert. Hast du was gehört?« Das Mädchen vor der Tür sah ihn ein wenig unsicher und ehrfürchtig an.

Yesse drehte sich um und ließ sie ins Zimmer blicken. »Ich habe geschlafen, bis du mich geweckt hast. Was für ein Lärm soll das denn gewesen sein?«

Sie wich seinem Blick aus. »Ich habe nur den Auftrag, für Ruhe zu sorgen.«

»Vielleicht möchtest du hereinkommen und dich umsehen?«, schlug er ihr vor und blickte sie lüstern an. Chenna in ihrem Versteck hielt die Luft an.

»Nein, ist gut. Ich werde die Quelle schon finden. Bitte entschuldige die späte Störung.«

Er blieb noch in der Tür stehen, bis das Mädchen den Gang entlang zum nächsten Zimmer gegangen war. Erst dann schloss er die Tür wieder hinter sich. Chenna kam über das Bett auf ihn zugekrabbelt.

»Bist du wahnsinnig, sie einzuladen?« Sie packte ihn am Shirt und zog ihn heran. »Was, wenn sie tatsächlich reingekommen wäre?«

»Denkst du wirklich, ich bin so dumm?« Er schüttelte den Kopf und griff nach ihren Handgelenken, damit sie ihn wieder losließ. »Ich kenne doch meine Mädchen. Diese wäre niemals hereingekommen. Sie hat Panik, wenn sie mit einem Vampir alleine ist.«

Chenna schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Du bist ja eine linke Bazille.«

»Wie redest du denn mit deinem Lover?«

Sie sah sich um. »Wo?«

Wieder kniff er sie beleidigt in die Seite. »Nimm dich ja in Acht, kleine Hexe!«

»Hey! Ich dachte, ich bin deine kleine Fee.«

»Das dachte ich auch, aber offenbar hab ich mich geirrt.«

Noch immer kniete sie auf dem Bett. Er stand direkt vor ihr. Chenna beugte sich vor und küsste ihn. »Ich bin lieber wieder deine Fee«, flüsterte sie an seinen Lippen.

Er schloss die Augen und erwiderte ihre Küsse. »Willst du jetzt endlich weitermachen, wo wir im Keller aufgehört haben?« Seine Hände legten sich behutsam auf ihre Hüften.

»Wofür wäre ich wohl sonst zu dieser unchristlichen Zeit zu dir gekommen, hm?« Sie lehnte sich zurück, um ihn wieder ansehen zu können. Ihre Hand strich langsam über seine Brust. Ihre Augen versanken in seinen, während ihre Finger zart seinen Nacken streichelten und ihm einen Schauer bescherten. Mit einem tiefen Lachen musste er sich schütteln. Er ließ sie aber gewähren und dann zog er ihr das Shirt über den Kopf. Sie tat das Gleiche mit seinem. Die Kleidungsstücke flogen in hohem Bogen durchs Zimmer.

Lachend fiel Chenna zurück in die Kissen und zog ihn mit sich. Er landete halb auf ihr und küsste ihr Dekolleté. Seine Hände waren heiß auf ihrer Haut, während seine Lippen bis zu ihrem Bauch hinunterwanderten. Sie legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Ihre Arme streckte sie zu den Seiten aus. Sie spürte, wie er sich an ihrem Hosenknopf zu schaffen machte, dann zog er an ihrer Jeans. Die Hose landete auf dem Boden. Seine Jogginghose wurde er mit einer blitzschnellen Bewegung ebenfalls los und gleich darauf war er auch schon bei ihr. Sie schloss ihre Arme um ihn und nahm seine Nähe mit allen Sinnen auf.

Seine Haut auf ihrer, sein Atem an ihrem Hals, sein verführerischer Duft, seine gierigen Küsse. Ihre Hände erforschten seinen Körper, als sei dies ihre erste Begegnung. Gemeinsam verfielen sie in einem Rausch der Leidenschaft. Bis er schließlich mit einem Seufzen von ihr abließ. Wieder fiel ihr auf, wie müde er heute wirkte. Bildete sie sich das nur ein?

Als er sich nun neben sie fallen ließ und mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen dem Schlaf entgegentrieb, blieb sie still liegen und betrachtete noch lange sein Gesicht.

4

Auge um Auge

Kiniah schlief nicht mehr. Seit der verhängnisvollen Nacht, in der Yuri in seinen Armen gestorben war, war er ruhelos geworden. Er hatte diese viel zu menschlichen Gefühle der Trauer in sich anwachsen gespürt, bis er sich wie versteinert fühlte. Sie waren ein glückliches Paar gewesen, bis diese Schwierigkeiten aufgetaucht waren. Im Nachhinein hatte es sich nur um lächerliche Kleinigkeiten gehandelt. Doch in seiner Wut und Missgunst hatte er das damals nicht sehen können. Yuri hatte sich für Chenna eingesetzt. Beim ersten Mal hatte sie ihn ohne böse Absicht damit eifersüchtig gemacht und seinen Stolz verletzt. Er hatte ihr zähneknirschend verziehen. Beim zweiten Mal hatte sie sogar ihr eigenes Leben für Chenna aufs Spiel gesetzt. Er hatte den Gedanken nicht ertragen können, dass wieder etwas Ähnliches passieren könnte, und hatte sie fortgeschickt. Daraufhin hatte sie den Anführer der Ur-Vampire darum gebeten, sie zu verwandeln. Doch, anstatt sie einfach abzuweisen, hatte der sie tödlich verletzt und sie wie Müll vor seinem Haus ablegen lassen.

Immer wieder hatte Kiniah sich innerlich zerfleischt. Warum war er so egoistisch gewesen? Wieso nur hatte er sie fortgeschickt? Er hätte doch wissen müssen, dass sie Dummheiten machen würde. Er kannte sie seit Jahrzehnten. Sie hatte nie vor außergewöhnlichen Handlungen zurückgeschreckt. Doch hatte er ihr wirklich zugetraut, so ein großes Risiko für ihre Liebe einzugehen? Als er entschied, mit ihr Schluss zu machen, hatte er einfach nicht weiter gedacht. Heute wusste er, dass er sie sowieso früher oder später wieder zurückgeholt hätte. Er hatte kein Leben ohne sie führen wollen. Auch wenn er das ihr gegenüber behauptet hatte. Da hatten nur der Groll und die Angst in ihm gesprochen. Sie hatte sein Dasein bereichert wie niemand anderes.

Jetzt saß er hier und starb innerlich. Jeden Tag ein wenig mehr. Er wäre längst verhungert, wenn Chenna und Sonny sich ihm nicht angeboten hätten. Mittlerweile hatte er ihnen verboten, weiter zu ihm zu kommen. Er hatte versprochen, sich Blutkonserven geben zu lassen, bis es ihm besser ging. Doch es würde ihm nie wieder besser gehen. Yuri war alles, was sein Kopf als Gedanke zuließ. Yuri lief als Geist durch den Raum, war da, wenn er wach war, wenn er schlief. Es war beinahe, als würde sie ihn ununterbrochen rufen. Er durchschritt seine persönliche Hölle. Aber heute würde er dem Leiden ein Ende bereiten. Er hatte längst die Grenze des Erträglichen überschritten.

Kiniah hatte bis zum Morgen gewartet, bis alle Vampire des Nachbarhauses 2 in ihren Zimmern verschwunden waren. Dann stahl er sich in das fremde Haus und schlich unbemerkt zur Kellertür. Er stutzte, als er sah, dass das Licht brannte. War noch jemand hier oder hatten die Mädchen nur vergessen, es auszuschalten? Nachdem er einen Moment von der obersten Stufe aus gelauscht hatte, war er sich sicher, dass er alleine war. Er ging die Treppe hinab und schritt entschlossen den Gang entlang. Mit einem Schlüssel, den er sich heimlich besorgt hatte, öffnete er das Schloss der schmalen Tür gegenüber der Folterkammer. Leise zog er die Tür wieder hinter sich zu. Hier war es dunkel, doch er wollte kein Licht machen. Das brauchte er nicht. Als Vampir konnte er auch ohne Probleme im Dunkeln alles sehen. Langsam ging er durch die Reihen und sah sich gründlich um. Was würde er brauchen?

Der Raum war voll von Schränken und Regalen, die in Reihen aufgestellt waren. Hier gab es Waffen aller Art: Messer, Dolche, Schwerter, Äxte, Wurfsterne, Pfeile, Bögen, Armbrüste, Schleudern, aber auch Pistolen, Revolver, Gewehre, Granaten und Minen. An einer Wand standen Fässer mit Schießpulver und Kisten mit Munition, die bis unter die Decke reichten. Haus 2 war das Einzige der Häuser mit einer Waffenkammer, deshalb hatte er sich hier Zutritt verschaffen müssen, obwohl er selbst Bewohner von Haus 4 war. Diese kleine Hürde sollte seine Pläne nicht durchkreuzen. Er drehte eine Runde durch den überdimensionalen Raum und ließ seine Finger über die einzelnen Stücke gleiten. Sie zu berühren war tröstlich und verstärkte sein inneres Verlangen. Kiniah nahm einen Langdolch in die Hand, wog ihn hin und her und machte ein paar zustechende Bewegungen, um die Handhabung zu prüfen. Dann legte er ihn wieder fort. Mit einer kurzen Axt versuchte er das Gleiche, aber auch die stellte ihn nicht zufrieden. Ein Stück weiter zog er ein Katanaschwert aus seiner blau lackierten Holzscheide und betrachtete die Klinge aus Damaszener Stahl kritisch. Er hob das Schwert mit zwei Händen über den Kopf, dann stellte er es senkrecht vor seinem Oberkörper auf und hielt inne. Mit einem schnellen, geübten Schwung ließ er es durch die Luft sausen und verursachte damit ein pfeifendes Geräusch. Erst nur einmal, dann machte er einen Schritt nach vorne, wiederholte die Bewegung, drehte sich zur Seite, schlug vor, dann zurück. Er betrachtete das Schwert nachdenklich. Wie gut, dass sein jahrelanges Training sich endlich bezahlt machen würde. Er band sich den Schwertgürtel um den Oberkörper und steckte das Samuraischwert über die Schulter zurück in die Scheide. Dann wandte er sich wieder den Regalen zu. Revolver und Gewehre waren ihm eher unsympathisch und er ging an ihnen vorbei. In der nächsten Reihe kam er zu den Bögen. Zielsicher griff er sich den Jagdbogen, mit dem er das Schießen gelernt hatte. Er lag perfekt in seiner Hand, war ihm vertraut. Der Köcher dazu war mit fünf Holzpfeilen gefüllt. So viele würde er nicht brauchen, doch er nahm sie trotzdem mit.

Aus einem Schrank an der linken Wand suchte er sich mehrere Wurfsterne heraus, die er auf Gewicht und Schärfe prüfte. Einen ließ er durch den Raum fliegen, doch der hielt die Flugbahn nicht und schlug mit einem lauten Rums in die Holztür ein. Er schüttelte den Kopf und holte ihn wieder heraus. Dann entschied er sich für zwei andere, die er sich in seinen Gürtel steckte.

Neben der Tür stand eine halboffene Box. Mit einer Hand ließ er den Deckel aufspringen und blickte abschätzig auf ein paar billige Feuerwerkskörper, die eigentlich als Partyspaß genutzt wurden. Doch drei bunte Rauchbomben, die er zwischen den Raketen und Böllern hervorzog, würden heute auch für ihn ihren Zweck erfüllen. Er steckte sie in die Jackentaschen.