Goethe und die Juden - W. Daniel Wilson - E-Book

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W. Daniel Wilson

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Beschreibung

Goethe und die Juden – das heikle Thema wurde allzu lange gemieden. Dabei war Goethes Verhältnis zu den Juden seiner Zeit mehr als zwiespältig. Neben einer gewissen Faszination standen Vorurteile und – besonders in Goethes späteren Jahren – eine regelrechte Feindschaft, die er jedoch bewusst kaum öffentlich äußerte. Auf Grund von bisher ungenutzten Quellen deckt der bekannte Goethe-Forscher W. Daniel Wilson diese schwierige Seite von Goethes Leben und Wirken auf. «In Jena darf nach alten Gesetzen kein Jude übernachten. Diese löbliche Anordnung dürfte gewiß künftig hin besser als bisher aufrecht erhalten werden.» So schrieb Goethe 1816 in einem Brief. In seinen öffentlichen Äußerungen und Tätigkeiten stellte er sich meist als Freund der Juden dar, auch um seine vielen jüdischen Verehrer und Verehrerinnen nicht zu verlieren. Doch besonders ab 1796 ging er in harte Opposition gegen die Emanzipation der Juden. Diese Haltung stand auch nur scheinbar in Widerspruch zu seinen freundschaftlichen Kontakten mit einigen gebildeten Juden. Im zeitgenössischen Kontext fragt W. Daniel Wilson, wie Goethes Einstellungen zu bewerten sind und wen er überhaupt als «Juden» betrachtete. Wilson zeigt uns den Schriftsteller und Politiker, denn Theaterdirektor und den Privatmann Goethe und zeichnet ein differenziertes Bild, das dennoch klare Urteile nicht scheut.

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W. DANIEL WILSON

GOETHE UND DIE JUDEN

Faszination und Feindschaft

C.H.BECK

Zum Buch

Goethe und die Juden — das Thema wurde in den letzten Jahrzehnten weitgehend gemieden. Dabei war Goethes Verhältnis zu den Juden seiner Zeit mehr als zwiespältig. Neben einer gewissen Faszination standen Vorurteile und — besonders in Goethes späteren Jahren — eine regelrechte Feindschaft, die er jedoch nur privat äußerte. Aufgrund von bisher ungenutzten Quellen deckt der bekannte Goethe-Forscher W. Daniel Wilson diese schwierige Seite von Goethes Schaffen und Wirken auf.

«In Jena darf nach alten Gesetzen kein Jude übernachten. Diese löbliche Anordnung dürfte gewiß künftig hin besser als bisher aufrecht erhalten werden.» So schrieb Goethe 1816 in einem Brief. In seinen öffentlichen Äußerungen und Tätigkeiten stellte er sich meist als Freund der Juden dar, um seine vielen jüdischen Verehrer und Verehrerinnen nicht zu verlieren. Doch besonders ab 1796 ging er in harte Opposition gegen die Judenemanzipation. Diese Haltung stand auch nur in scheinbarem Widerspruch zu seinen freundschaftlichen Kontakten mit einigen gebildeten Juden. Im zeitgenössischen Kontext fragt W. Daniel Wilson, wie Goethes Einstellungen zu bewerten sind und wen er überhaupt als «Juden» betrachtete. Wilson zeigt uns den Schriftsteller und Theaterdirektor, den Politiker und Privatmann Goethe und zeichnet ein differenziertes Bild, das dennoch klare Urteile nicht scheut.

Vita

W. Daniel Wilson lehrte als Professor für Germanistik von 1983 bis 2005 in Berkeley und von 2006 bis 2019 an der Universität London. Er hat vielbeachtete Bücher zu Goethe geschrieben, darunter sein aufsehenerregendes Buch über Goethe als Politiker: «Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar».

Inhalt

Vorwort

1: Einleitung

Ein heikles Thema

‹Antisemitismus› und Judenfeindschaft

Die Emanzipation und ihre Gegner

2: Zwischen Faszination und Abscheu

Selbstzeugnisse als Öffentlichkeitsarbeit

Assimilation und Häme: Jüdische Sprache und Aussprache

Vorurteile und Gefühle

Schwierige Toleranz

Anwalt der Juden?

Das Jahrmarktsfest der Zweideutigkeit

Ambivalenz

3: Juden in Weimar

Der Geheimrat

Goethe als Kunde und Spender

Goethes Erfahrungen mit Juden in Sachsen-Weimar

«die niedrigste Klaße meiner Nation»: Ein Appell an Goethe

4: Judenemanzipation: Das Frankfurter Ghetto 1796–1817

Die gescheiterte Emanzipation in Frankfurt

Humanitätssalbader

«Juden und Judengenossen»

5: Rückschläge der Emanzipation in der postnapoleonischen Ära

Goethe und ein «löbliches» Aufenthaltsverbot

Der Dichter und der Brandstifter

Die Kritiker

«… dulden wir keinen Juden unter uns»: Wanderjahre der Erlesenen

Mordgeschichten

Mischehen

Juden als Rasse?

6: Gebildete, Konvertierte, Satirisierte

Gebildete Juden

Karlsbad: «Brunnenfreiheit»?

Die Konvertiten

Späte Begegnungen: Künstler, Wissenschaftler und Schriftsteller

Juden auf der Bühne

Der Theaterdirektor

7: Fazit

Anhang

Siglen

Anmerkungen

1. Einleitung

2. Zwischen Faszination und Abscheu

3. Juden in Weimar

4. Judenemanzipation: Das Frankfurter Ghetto 1796–1817

5. Rückschläge der Emanzipation in der postnapoleonischen Ära

6. Gebildete, Konvertierte, Satirisierte

7. Fazit

Bibliographie

Quellen

Forschung

Bildnachweis

Personenregister

Register der Werke Goethes

Vorwort

Jedes Buch hat seine Geschichte, heißt es. Um dieses Projekt habe ich lange einen Bogen gemacht. Nicht nur ist das Thema selbst heikel; ich hatte auch die Sorge, dass ein Buch, das Goethe mit dem ‹Antisemitismus›, wie auch immer, in Verbindung setzt, modernen Antisemiten Stoff und Legitimation verleihen könnte. Mehrere – teils jüdische – Fachkollegen konnten mir dieses Bedenken ausreden. Ihnen erschien das Thema wichtig und überfällig. Mein erster Versuch war im Goethejahr 1999 ein Tagungsvortrag im Jüdischen Museum Frankfurt, der zu einem Aufsatz erweitert und im folgenden Jahr publiziert wurde. Doch sah ich, dass das nur ein Anfang war und das Thema eine umfangreiche Untersuchung erforderte. Mein 2018 erschienenes Buch über Goethe und die Goethe-Gesellschaft im ‹Dritten Reich› hat mich dem Gegenstand wieder nähergebracht. Bei den erneuten Recherchen, die von Archivbesuchen begleitet und von modernen Hilfsmitteln unterstützt wurden, war ich zunehmend überrascht über einige Aspekte, die in diesem Zusammenhang noch nie behandelt worden waren. Nach drei Jahren Arbeit kann ich nun nichts mehr tun, als die Reaktionen der Leserinnen und Leser abzuwarten.

Dank gebührt allen, die diese Arbeit großzügig bereichert haben. Teile des Manuskripts haben sehr kenntnisreiche Fachleute gelesen: Jens Jörg Riederer (Historiker und Leiter des Stadtarchivs Weimar), Ritchie Robertson (Germanist in Oxford), Stephanie Schüler-Springorum (Leiterin des Instituts für Antisemitismusforschung, Berlin), Daniel Wildmann (Jüdisches Museum Berlin) und last but not least meine Frau, die Historikerin und Leiterin des Deutschen Historischen Instituts London, Christina von Hodenberg. Außerdem konnte ich zwei hervorragende Partner, die sich bei Goethe und dem Judentum gleichermaßen gut auskennen, als kritische Leser des ganzen Manuskripts gewinnen: Karl Koch, den Autor mehrerer erfolgreicher Bücher zu Goethe und zum klassischen Weimar, und Horst Lange, einen originellen Denker und amerikanischen Fachkollegen, dessen Buch über Goethe und die Religion mit Ungeduld erwartet wird. Alle haben sehr wertvolle Hinweise gegeben. Andere Gesprächspartner und -partnerinnen halfen mit ausgezeichneten Kenntnissen und Einsichten: Hendrik Birus, Andreas Gestrich, Rüdiger Haufe, Stefan Höppner, Paul Kahl, Astrid Köhler, Charlotte Lee, T. J. (Jim) Reed und Karin Schutjer. Ein weiteres Mal haben die Weimarer Archivare und Bibliothekare im Goethe- und Schiller-Archiv, im Thüringischen Hauptstaatsarchiv, im Stadtarchiv Weimar und in der Anna-Amalia-Bibliothek über das erforderliche Maß hinaus zuvorkommend und effizient geholfen, zumal in Pandemiezeiten, als ich lange Zeit nicht nach Deutschland reisen durfte. Besonderen Dank für Unterstützung in dieser schwierigen Zeit verdienen die Leiterin des Stadtarchivs Jena, Constanze Mann, und der Leiter des Universitätsarchivs Jena, Stefan Gerber.

Ich habe mich sehr gefreut, den renommierten Verlag C.H.Beck für das Projekt zu gewinnen. Die erfahrene Lektorin Stefanie Hölscher hat das Manuskript erheblich verbessert und gestrafft; mit kritischem wissenschaftlichen Scharfsinn konnte sie einsichtsvolle Vorschläge und anregende Fragen beisteuern sowie peinliche Fehler beheben. Durch ihre Hilfe hat ein Buch Gestalt angenommen, das Fachleute und ein allgemeines Publikum zugleich als Leser gewinnen möchte. Ihre Kollegin Laura Ilse hat rasch und genau viele Aufgaben erledigt, besonders in der Endphase der Arbeit. Es versteht sich, dass der Autor allein für das Endergebnis verantwortlich zeichnet.

Über Jahre hat mein bester Freund aus Berkeley-Zeiten, Robert C. Holub, neben vielem anderen ein angesehener Heine- und Nietzsche-Forscher, mit ebenso scharfsinniger wie jüdisch-humorvoller Anteilnahme meine Auseinandersetzung mit diesem Thema begleitet. Umso trauriger ist es, dass er das Ergebnis nicht erleben konnte: Im Sommer 2023 erlag er einem kurzen, schweren Leiden. Seinem Gedächtnis ist das Buch gewidmet.

Twickenham/London, Februar 2024

1

Einleitung

Was sollen wir von einem Dichter denken, der das «göttliche Duldungs- und Schonungs-Gefühl» preist, das man bei der Lektüre von Lessings Nathan der Weise empfinde, aber einen wichtigen jüdischen Denker einen «Humanitätssalbader» nennt? Der mit einigen der bedeutendsten Juden seiner Zeit verkehrte, aber mit Wortverbindungen wie «Juden und Schelmen», «Juden und Huren» hantierte? Oder der aus Heilbronn schreibt, die Menschen seien «durchaus höflich und zeigen in ihrem Betragen eine gute natürliche stille bürgerliche Denkart», und dann im gleichen Atemzug mitteilt: «Es werden keine Juden hier gelitten»?

Ein heikles Thema

Goethe steht für viele Widersprüche; auch die Fachleute können nicht alle auflösen. Seine Haltungen zu zeitgenössischen Juden ändern sich ganz offensichtlich im Verlauf seines langen Lebens, vor allem unter dem Druck der erschütternden Revolutionsjahre mit ihren Folgen: Krieg und Nationalismus. Goethe hat sie aber auch – das wird auf den folgenden Seiten gezeigt – für die Öffentlichkeit anders als gegenüber Vertrauten ausgedrückt. Das Thema ist jedoch nicht nur ein biographisches oder literarisches (das zeitgenössische Judentum hat Goethe in verschwindend wenigen Werken behandelt). Denn Goethe ist nun einmal die wichtigste identitätsstiftende Figur der deutschen Kultur, so dass seine Haltung zu einer der brisantesten Fragen unserer – und seiner – Zeit ins Herz des deutschen Selbstverständnisses dringt.

Dass dieses Thema nie gründlich erforscht wurde, ist daher doppelt rätselhaft. Das letzte deutsche ‹Buch› über Goethe und die Juden, ein gedruckter Vortrag von 37 Seiten, erschien 1937. Sogar viele Goethe-Forscher halten das Thema für erschöpft, aber wenige haben genau hingeschaut – ein Phänomen mit einer eigenen Geschichte. Heute gibt es im Vergleich zu 1937 reiche Quellen und Hilfsmittel, doch kein Forscher hat sich mit den einschlägigen Archivquellen oder mit bestimmten Bereichen von Goethes amtlicher Tätigkeit befasst, etwa als Direktor des Weimarer Hoftheaters, wo jüdische Figuren auf der Bühne dargestellt wurden, oder als Mitverantwortlicher für diskriminierende Judengesetze.[1] Dabei geht es nicht allein um die Konsequenz oder Inkonsequenz von Goethes Aussagen und Handlungen, sondern auch um die große Frage, wie tief sich die Wurzeln der deutschen Judenfeindschaft im Boden der geistigen Kultur verzweigen. War Goethe wirklich die ‹große Ausnahme› in der langen Geschichte des ‹Antisemitismus› in Deutschland, wie man oft gemeint hat?

Um zu verstehen, warum dieses gewichtige, aber aufgeladene Thema seit den 1930er Jahren lediglich in einigen wenigen Aufsätzen in entlegenen Fachbüchern oder -zeitschriften behandelt wurde, muss ein Blick in die nicht allzu ferne Vergangenheit geworfen werden. Wie bei vielen deutschen Kontroversen führt die Spur zunächst zum Nationalsozialismus und dessen Auswirkungen zurück.

In der neueren Geschichtsschreibung wurde der Begriff ‹sekundärer Antisemitismus› oder ‹Schuldabwehrantisemitismus› für die Animosität erfunden, die auf eine angebliche Ausnutzung der Shoah durch Juden vor allem in den ersten Nachkriegsjahrzehnten zielt.[2] Einen neuen Nährboden dafür gaben das Ende der deutschen Teilung und die Anfänge der Berliner Republik. Damals erntete die Rede des Schriftstellers Martin Walser bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Oktober 1998 stehenden Applaus und bedenklich viel Zustimmung in den folgenden Monaten; Walser selbst bezeichnete die Rede zwanzig Jahre später als «menschliches Versagen».[3] Doch obwohl das große Goethe-Jubeljahr 1999 vor der Tür stand, wurden Walsers Äußerungen zum Weimarer Klassiker kaum beachtet.

Die Walser-Kontroverse entfachte sich an seinen Äußerungen, er habe «lernen müssen wegzuschauen», nämlich von «den schlimmsten Filmsequenzen aus Konzentrationslagern», von Auschwitz. Er protestierte gegen die «Dauerpräsentation» oder «Instrumentalisierung unserer Schande», gegen den «Verdacht», der aufkomme, «wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk». Walser gestand, er habe beim Wegschauen «mehrere Zufluchtswinkel». Und der am ausführlichsten beschriebene Winkel, offenbar das Aushängeschild für die ‹Normalität› der deutschen Geistesgeschichte, war Goethe, und zwar in Walsers «Lieblingsjahrzehnt, 1790 bis 1800», als die anderen führenden Geister «Befürworter der Französischen Revolution» gewesen seien, Goethe jedoch ein Revolutionsgegner. Mitten im heißen politischen Streit sei Goethe souverän seiner Dichtung und seinen naturwissenschaftlichen Studien nachgegangen. Goethe, den Walser irrtümlich als politikabgewandt schilderte, und Schiller, den er irrtümlich zu den Revolutionsfreunden rechnete, hätten in einer zerrissenen Zeit gegenseitig «Toleranz» geübt.[4] Goethe und Schiller, so die Implikation, drückten in ihrer Politikverdrossenheit dem deutschen Volk das ersehnte Gütesiegel der ‹Normalität› auf.

Walser folgte einem seit 1945 bewährten Muster der sogenannten Vergangenheitsbewältigung. In der verzweifelten Zeit nach dem militärischen und moralischen ‹Zusammenbruch› wurde nach den Wurzeln der nationalsozialistischen Ideologie gesucht – oft in sehr unhistorischer Weise. Neben Nationalismus, Militarismus, Junkertum und Untertanenmentalität setzte man sich mit dem Judenhass in der deutschen Geschichte auseinander. Damals und seitdem wurden Geistesfiguren wie Martin Luther, Johann Gottlieb Fichte, Ernst Moritz Arndt, Achim von Arnim, Arthur Schopenhauer, Gustav Freytag, Richard Wagner, Friedrich Nietzsche und andere mit Blick auf ihre antijüdischen (und teils nationalistischen) Haltungen unter die Lupe genommen. Doch aus dieser dunklen Flut politischer Verstrickung ragte immer die schimmernde Insel der Weimarer Klassik empor.

Dabei richtete sich die Sehnsucht nach ‹Normalität› mehr auf Goethe als auf Schiller, den die Nationalsozialisten zu einem der ihren zu machen suchten (das taten sie auch im Fall Goethes, aber später und weniger nachdrücklich).[5] Goethe galt fortan als politisches Alibi der Deutschen, zumal mit Blick auf das Ausland, wo er durch die ganze NS-Zeit hoch im Kurs gestanden hatte. Der ehemalige Nationalsozialist Erich Trunz, der in den späten 40er Jahren die jahrzehntelang populäre Hamburger Goethe-Ausgabe in die Wege leitete, bezeichnete Goethes Werk als «ein Kernstück des humanen Erbes der deutschen Kultur».[6] Später drückte er im Rückblick auf das Jahr 1949 die kulturpolitische Sendung seiner Edition deutlicher aus: «Es war das Jahr von Goethes 200. Geburtstag. Für viele Menschen war dies die Gelegenheit, auf Goethe und die große deutsche Tradition hinzuweisen, während rings in der Welt nur auf Deutschland geschimpft wurde und immer nur von Hitler geredet wurde.»[7]

Dass Goethes Alibifunktion bestimmte Bereiche seines politischen Lebens – vor allem die Verletzung von anerkannten Menschenrechten in Sachsen-Weimar[8] – nach 1945 zur Tabuzone machte, ist durchaus verständlich, förderte aber die Zuwendung zu unserem Thema nicht. Im Zeitraum bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1949 erschienen Hunderte von Goethe-Büchern – nach Hans Robert Mandelkow eine «fast süchtige Hinwendung zu Goethe als dem höchsten Repräsentanten eines besseren und humanen Deutschland im Moment seiner tiefsten Erniedrigung».[9] Doch wurde kein einziger wissenschaftlicher Aufsatz – geschweige ein Buch – zum brennend aktuellen Thema seiner Haltung zu Juden publiziert. In den Jahren 1945–1950 erschienen ganze drei Zeitungsartikel darüber, vorwiegend in jüdischen Zeitschriften und von Juden verfasst.[10] Es war generell eine Zeit des Schweigens zum Thema der Judenfeindschaft, aber zum Beispiel für Nietzsche und Luther herrschte ein solches Tabu seit etwa 1950 nicht mehr, für Goethe überdauerte es noch die 70er Jahre.[11] Auch vielen Juden galt Goethe als der Vertreter humaner Werte par excellence, seit der Gründerzeit das bevorzugte Vehikel der jüdischen Assimilation,[12] so dass jüdische Autoren (noch) nicht geneigt waren, Widersprüche an ihm zu erkennen – zumal der ‹Sekundärantisemitismus› lauerte. Der Mainstream und die Wissenschaft schwiegen ohnehin.

Doch wie in vielen Bereichen dieser Zeit wusste man mehr, als man zugab. Bis 1935/36 hatte das Nazi-Regime eine widersprüchliche Einstellung zu Goethe gezeigt: Hitler hatte schon in Mein Kampf auf Goethes wütende Ablehnung der Ehe zwischen Juden und Nichtjuden hingewiesen. Die judenfreundlichen Äußerungen des Dichters, die Hitler aussparte, wurden dagegen von nationalsozialistischen Goethe-Kritikern immer wieder gegen den Dichter angeführt. Am wirksamsten geschah das in den rasch um sich greifenden abstrusen Verschwörungstheorien der völkischen Ärztin Mathilde Ludendorff, Ehefrau des Weltkriegsgenerals Erich Ludendorff, die seit 1928 den Freimaurer Goethe als Mitwisser des angeblichen Giftmords an Schiller beschuldigte. Dann aber mobilisierte Goebbels, von der Goethe-Gesellschaft angetrieben, das Ansehen Goethes vor allem im Ausland, um die Überlegenheit der deutschen Kultur und damit die Berechtigung der deutschen Hegemonie in einem ‹neuen Europa› zu beweisen. Das gipfelte Ende 1936 in Goebbels’ (vergessenem) Bekenntnis des nationalsozialistischen Staates – in Anwesenheit Hitlers – zu den großen Kulturträgern der deutschen Vergangenheit, allen voran Goethe, und in seinem Verbot der Diskussion von Ludendorffs Thesen. Im nächsten Jahr, 1937, folgte dann die große, wissenschaftlich auftretende Rede des nationalsozialistischen Berliner Ordinarius Franz Koch vor dem ‹Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands› unter dem Titel «Goethe und die Juden», die bald darauf als eigenständige Broschüre veröffentlicht wurde. Damit wurde Goethe quasi offiziell zum Judenfeind erklärt. Und noch während des Krieges und des Holocaust lancierte Goebbels eine breite Zeitungskampagne mit angeblich judenfeindlichen Texten Goethes, die freilich aus dem Kontext gerissen worden waren.[13]

Doch auch vor Koch war Goethe und die Juden mehrmals als Titel gewählt worden. Alle Verfasser dieser Bücher outeten sich von vornherein als Nicht-Germanisten: der antisemitische Pfarrer und Politiker Max Maurenbrecher (1874–1930) und dessen jüdische Widersacher, die beiden Dramatiker Heinrich Teweles (1856–1927) und Julius Bab (1880–1955). Der Pfarrer rühmte 1921 einen judenfeindlichen, Teweles 1925 («eine Huldigung für Goethe»[14]) und Bab 1926 einen judenfreundlichen Goethe. Diese Einseitigkeit und die wissenschaftliche Unzulänglichkeit beeinträchtigen den Wert dieser konkurrierenden Studien. Aber schon im späten 19. Jahrhundert, als Goethe zum nationalen Heiligtum avancierte und die Juden verzweifelt um ihre Akzeptanz in einem zunehmend judenfeindlichen Deutschland rangen, war seine Haltung zu Juden in der Publizistik und in Büchern heftig diskutiert worden. Dabei war Goethe meist für den ‹Antisemitismus› vereinnahmt worden. Nach der Eröffnung des Goethe-Archivs im Jahr 1885 antwortete der habilitierte Historiker und autodidaktische Literaturwissenschaftler Ludwig Geiger (1848–1919), Sohn des berühmten Reformrabbiners Abraham Geiger, in mehreren fundierten Arbeiten auf die Judenfeinde. 1887 veröffentlichte er einen längeren Aufsatz nicht im Goethe-Jahrbuch, das er für die neue Goethe-Gesellschaft herausgab, sondern in der gleichfalls von ihm gegründeten Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland. (Im Goethe-Jahrbuch und in den nachfolgenden Zeitschriften der Goethe-Gesellschaft erschien in 137 Jahren kein eigener Aufsatz zu Goethe und den Juden, nur ein paar Briefeditionen. Auch Teilaspekte – Goethes Haltung zu Salomon Maimon und Heinrich Heine – wurden im Jahrbuch erst seit 1954 selbständig behandelt.[15])

Durch die Werke vor allem von Geiger, Maurenbrecher, Teweles und Bab, mehr noch aber durch Franz Kochs nationalsozialistische Broschüre und Goebbels’ Propaganda in den Zeitungen wurden vor 1945 die gelehrte Welt und Teile der Öffentlichkeit mit Goethes pro- und antijüdischen Äußerungen bekannt. Deutsche Leser werden das einzige umfangreiche Buch zum Thema, Goethe and the Jews. A Challenge to Hitlerism (1934) des amerikanischen Germanisten Mark Waldman, natürlich nicht wahrgenommen haben, und das ist bis heute so geblieben.[16] Die Zitate, die Koch – der einzige Fachgermanist unter jenen deutschen Autoren – und andere anführten, waren aber nicht immer aus dem Kontext gerissen. Auch die Verfechter eines philosemitischen Goethe unterschlugen die unbequemen Stellen keineswegs alle, obwohl sie sie im Großen und Ganzen zu bagatellisieren suchten und andere einschlägige Passagen offenbar nicht kannten. Nach dem Zweiten Weltkrieg aber, als der Weimarer Klassiker – besonders im Goethejahr 1949 – im großen Stil zur Galionsfigur des ‹anderen›, des ‹guten Deutschland› stilisiert wurde, wurden die bekannt gewordenen heiklen Zitate verdrängt. Es wäre in diesem Zeitraum ein gewagtes Unterfangen gewesen, sich mit Goethes judenfeindlichen Äußerungen auseinanderzusetzen und damit gleichsam als Bauchredner der Nationalsozialisten zu erscheinen.

Erstaunlicher ist es, dass das Tabu noch nach der ‹Gründerzeit› der Bundesrepublik und der DDR schwer auf den wissenschaftlichen Gemütern lag. Ausgerechnet in den auch in der Germanistik turbulenten 1960er und 1970er Jahren erschien keine eingehende deutschsprachige Behandlung des Themas ‹Goethe und die Juden›. Erst seit den 80ern wurde es in Forschungsaufsätzen vorsichtig aufgegriffen.[17] Kritische Stimmen meldeten sich fortan gelegentlich in abgelegen publizierten Aufsätzen, die sich meist marginalen Themen aus der jüdischen Rezeption Goethes, kaum je aber Goethes eigener Einstellung zu Juden zuwandten.[18] Es dominierte die Tendenz, die Bedeutung von Goethes gelegentlich angeführten negativen Aussagen über Juden auf seine Abwehr der Judenemanzipation einzuschränken. Zudem rechnete man diese Aussagen gegen seine Freundschaften zu Juden und seine wenigen positiven Äußerungen, vor allem über das Alte Testament, auf. In dieser Hinsicht hat sich bis heute die Situation seit Geigers Arbeiten am Ende des 19. Jahrhunderts kaum geändert.

Der damit bezeichneten Aufgabe stellt sich das vorliegende Buch. Doch ist es wichtig vorauszuschicken, dass es nicht in erster Linie Goethes intensives Verhältnis zur jüdischen Bibel und Religion untersucht. Die amerikanische Germanistin Karin Schutjer hat dieses Thema in einem sehr verdienstvollen Buch, Goethe und das Judentum, behandelt (2020, zuerst 2015 auf Englisch). Gustav Seibt setzte seinem Lob in der Süddeutschen Zeitung hinzu: «Schutjers Buch behandelt allerdings nicht Goethes gut dokumentierte Ablehnung der jüdischen Emanzipation, die in auffallendem Kontrast zu seinem Interesse am zeitgenössischen jüdischen Leben steht», und schloss mit der Anregung: «Was nun noch folgen müsste, wäre eine gleich umfassende Darstellung von Goethes Beziehungen zu jüdischen Zeitgenossen und Mitmenschen, zu ihren Rechtsverhältnissen und ihren Bestrebungen im revolutionären Umbruch der Epoche. Dieses Bild würde dunkler geraten.»[19] Die nachfolgenden Seiten widmen sich der Haltung Goethes zu «jüdischen Zeitgenossen und Mitmenschen», und zwar mit unbekannten Aspekten des historisch-biographischen Kontexts. Das bedeutet, dass die Ausstrahlung großer jüdischer Figuren aus vergangenen Jahrhunderten – vor allem das vieluntersuchte Thema Goethe und Spinoza – ausgeblendet wird. Es geht um Juden, die für Goethe lebende, zutiefst problematische Zeitgenossen waren.

War Goethe judenfeindlich, und in welchem Maße ist ihm seine Haltung zur Last zu legen? Die Antwort ist nicht eindeutig und muss neben Goethes Motiven auch das zeitgenössische Umfeld und Goethes Erfahrungen einbeziehen. Wie ungewöhnlich waren seine Haltungen? Welche Rolle spielten seine Erfahrungen in seiner Heimat Frankfurt mit einer der größten und bedeutendsten jüdischen Gemeinden in deutschen Städten? Wie schwer wogen die politischen Ereignisse, besonders die Französische Revolution, die napoleonische Judenemanzipation und die ‹nationale Erhebung› 1813? Welche Bedeutung hatte die Aufklärung – auch die sogenannte jüdische Aufklärung, die Haskala – für die Einstellung Goethes und anderer? Wie gewichtig sind Goethes Beziehungen zu einzelnen Juden für ein Gesamtbild? Wie verhielt er sich als weimarischer Geheimrat – und als Kunde – zu jüdischen Händlern, Hofjuden und anderen? Welche Rolle spielten kindliche Erfahrungen, christliche Einstellungen, zeitgenössische Vorurteile und vor allem die von Goethe nachweislich benutzten Schriften über Juden und Judentum? Wie handelte er in seiner amtlichen Tätigkeit? Diese und verwandte Fragen leiten die Untersuchung.

Ein besonderes Anliegen dieses Buches ist es, die Ansichten, Erlebnisse und die Kultur der betroffenen Juden zu beachten, die allzu oft in Studien über Antisemitismus zu kaum profilierten Objekten und Opfern verblassen. In diesem Zusammenhang kommt auch die Beziehung von Goethes jüdischen Bekannten zu ihrem eigenen Volk zur Sprache, wobei die häufige Bekehrung zum Christentum eine wichtige Rolle spielt – auch in Goethes Erwägungen. Denn mit Blick auf ein Zeitalter, wo Juden von den meisten Menschen nicht als ‹Rasse›, sondern als Religionsgemeinschaft verstanden wurden, fragt es sich, ob Konvertierte überhaupt als Juden galten, nämlich für die christliche Umwelt, für die jüdische Gemeinschaft und besonders für Goethe. Diese Frage wird anhand seiner jüdischen Bekanntschaften zu beantworten sein.

‹Antisemitismus› und Judenfeindschaft

Der Begriff ‹Antisemitismus› wird im Folgenden weitgehend vermieden. Die Unangemessenheit, ja der Unsinn dieses Begriffs wurde längst – auch schon im 19. Jahrhundert – erkannt, doch hat er sich so sehr eingebürgert, dass Versuche, sich davon zu verabschieden, keinen großen Erfolg zu versprechen scheinen.

Das Wort ‹Antisemit› wurde von Wilhelm Marr (1819–1904) am wirksamsten verwendet. Aus linken, demokratisch-anarchistischen Wurzeln entwickelte Marr sich zum Ahnherrn des modernen politischen Antisemitismus. Er kündigte den Weg zum Siege des Germanenthums über das Judenthum an – so der Titel seines Buches, das im Erscheinungsjahr 1879 zwölf Auflagen erlebte und die Gründung seines ‹Bundes der Antisemiten› einläutete. Marr hat die Juden vom nicht confessionellen Standpunkt aus betrachtet (so sein Untertitel), als ‹Rasse›, die er nicht für integrierungsfähig hielt, und nannte sie ‹Semiten›. ‹Semitisch› bezeichnet jedoch eine Sprachgruppe, zu der außer Hebräisch auch Arabisch und andere Sprachen gehören (die Nationalsozialisten untersagten 1943 die Bezeichnung ‹Antisemitismus›, um nicht auch ihre neuen arabischen Verbündeten zu beleidigen). Heute wird der Begriff ‹semitisch› von Sprachwissenschaftlern kaum noch verwendet. Im Versuch, seinen Ansichten einen wissenschaftlichen Firnis zu geben, zeigte Marr ungewollt die Widersprüche einer rassischen Festlegung von Juden.

Nun haben sich verschiedene Forscher und Kommentatoren Ersatzbegriffe überlegt. Gelegentlich wird im Englischen der Begriff ‹judeophobia› verwendet, also Judenangst.[20] Die eigentlich Freudsche Bezeichnung ‹Phobie› hat sich auch im Deutschen in Begriffen wie ‹Homophobie› durchgesetzt, zeichnet sich aber nicht durch unmittelbare Anschaulichkeit aus und ist in ihrem wörtlichen Sinne (Angst statt Hass) wohl fehl am Platz. Das Deutsche hat hier den Vorteil, über unmittelbar verständliche Wörter wie ‹Judenhass›, ‹Judenfeindschaft›, ‹antijüdisch› und ihre Ableitungen zu verfügen. Immer häufiger setzen sich diese Begriffe in Buchtiteln durch, in denen ‹Antisemitismus› jedoch manchmal im Untertitel erscheint.[21]

Es gibt aber auch einen historischen Grund dafür, bei unserem Thema den Begriff ‹Antisemitismus› zu vermeiden: Er ist anachronistisch, weil er meist den ‹rassisch› definierten politischen Judenhass meint, von dem eine direkte Entwicklungslinie zum Holocaust führt. Zu Goethes Zeit dagegen wurde die Judenfeindlichkeit noch religiös begründet, wenn auch erste Anzeichen der Auffassung von Juden als ‹Rasse› erkennbar waren (siehe Kapitel 5). Ausgesprochene Rassenfanatiker gab es kaum; Goethe hatte jedenfalls keinen belegbaren Kontakt zu ihnen und besaß keine Schriften von ihnen. Diese Unterscheidung gilt es im Folgenden zu beachten. Neben einigen bedeutenden Gemeinsamkeiten fand ein grundlegender Wechsel der Begrifflichkeit zwischen dem hauptsächlich konfessionsorientierten Judenhass der ‹Goethezeit› und dem rassenorientierten, radikalen ‹Antisemitismus› des späteren 19. und vor allem des verheerenden 20. Jahrhunderts statt.

Für die ältere Judenfeindschaft, die von der Antike über einen Höhepunkt im Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit reichte, wird schon längst der Begriff ‹Antijudaismus› verwendet, obwohl ihre Kontinuität, Parallelität bzw. völlige Abgrenzung zum modernen ‹Antisemitismus› umstritten ist.[22] Frühe Theologen versuchten, Antijudaismus in der Diffamierung von Juden als ‹Christusmörder› zu begründen. Das wurzelte zum Teil in der Konkurrenz zwischen frühem Christentum und Judentum um die Auszeichnung, die allein gültige biblische, monotheistische Religion zu sein, vor allem in der christlichen «Selbstdefinition durch Abgrenzung» unter «Legitimationsdruck».[23] Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit gingen daraus wahnhafte Beschuldigungen hervor: Angeblich paktierten Juden mit dem Teufel, vergifteten Brunnen, schändeten die Hostie, übten Ritualmord an Kindern und verwendeten alljährlich deren Blut beim Backen des Matzenbrotes zum Pessachfest. Diese Vorwürfe überlebten die Aufklärung, die ihnen aber einen schweren Stoß versetzte und sie höchstens in säkularisierter Form verwendete. Bei Goethe gibt es für diese Legenden keine Belege. Als «dezidirter Nichtkrist»[24] konnte er mit solchem Aberglauben offenbar nichts anfangen. Das heißt aber nicht, dass er keine Kritik an der jüdischen Religion und vor allem am jüdischen ‹Charakter› übte.

Die Emanzipation und ihre Gegner

Die ‹Goethezeit› ist auch in der Frage der Judenfeindschaft eine hochinteressante Epoche und mehr als nur eine Übergangszeit. Zwischen dem vorwiegend christlich-theologischen Antijudaismus oder ‹vormodernen Antisemitismus› – ein Begriff, den viele Forscher unbedacht auch auf diese Zeit anwenden – und dem vorwiegend politisch-rassistischen, ‹modernen› Antisemitismus gab es in Goethes Epoche eine Zwischenstufe. Sie ist nicht sauber von den anderen Erscheinungsformen zu trennen und wird in der Historiographie zum ‹Antisemitismus› als eigenständiges Phänomen stiefmütterlich behandelt. Wo sie überhaupt zur Geltung kam, wurde sie manchmal ‹Proto-› und häufiger ‹Frühantisemitismus› genannt.[25] Das Unbefriedigende dieses Begriffs liegt auf der Hand: Bezeichnet er ein Phänomen vor dem um 1880 sich etablierenden ‹Antisemitismus› oder eine erste Phase davon? Im ersten Fall ist er teleologisch – das heißt nur mit Bezug auf eine spätere Entwicklung, ein Ziel definiert –, im zweiten ungenau. Denn jene Zwischenstufe teilt einige der wichtigsten Aspekte des politischen ‹Antisemitismus› nicht, vor allem den damals nur in Ansätzen vorhandenen Aspekt der ‹Rasse›.

Dieser ‹Frühantisemitismus› kam um 1815 energisch zum Ausdruck, als der Nationalismus das politische Denken stärker zu prägen anfing. Doch Jacob Katz, Reinhard Rürup und andere haben den Anfang des Phänomens überzeugend früher angesetzt, in den heftigen Reaktionen auf das zweite Toleranzpatent von Kaiser Joseph II. (1782) und besonders auf die weithin beachtete zweibändige Schrift Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781, 1783) des preußischen Juristen Christoph Wilhelm Dohm (siehe zu beiden Kapitel 3).[26] Die Juden wurden allerdings in dem theoretisch der Judenemanzipation verpflichteten Plädoyer Dohms sowie in der josephinischen Praxis starken Einschränkungen unterworfen. Das Ziel beider war ausdrücklich, aus den Juden «nützlichere», «brauchbarer[e]» Teile der Gesellschaft zu machen, wenngleich sie auch «glücklicher» werden sollten (so Dohm in der «Vorerinnerung»).[27] Nach Dohms Einschätzung würde der von ihm propagierte Emanzipationsprozess «erst in der dritten oder vierten Generation» zur Beseitigung mancher «Fehler» im jüdischen Charakter führen. Im Gegensatz zum herrschenden Diskurs betont er jedoch, dass diese ‹Fehler› ein Ergebnis der Unterdrückung, nicht der jüdischen Religion oder des angeblichen Wesens der Juden seien.[28] Joseph II. führte 1789 eine sehr bedingte Judenemanzipation in der neu durch die polnische Teilung gewonnenen Provinz Galizien ein – Synagogen sollten zum Beispiel für Christen weitgehend unsichtbar sein. Selbst sie wurde nicht konsequent umgesetzt, zumal der Kaiser im folgenden Jahr starb.[29]

Der gemeinsame Nenner der Gegenbewegung vor und nach 1815 war die Ablehnung der gesetzlichen Emanzipation der Juden oder auch nur kleiner Schritte dorthin. Daher leuchtet für diese Art Judengegnerschaft der Begriff ‹antiemanzipatorische Judenfeindschaft› ein.[30] Diese Variante mobilisierte einige alte judenfeindliche Vorurteile, doch zielte sie hauptsächlich darauf, die Gleichheit zu verhindern oder die während der napoleonischen Besatzung erreichten Fortschritte rückgängig zu machen. Hier wurden neue Begründungen für den Status quo erfunden: Juden wurde zum Beispiel das physische Unvermögen oder der Unwillen zugeschrieben, Waffen zu tragen – die jüdischen Freiwilligen im Aufstand gegen Napoleon widerlegten diese Behauptung. Wird der provisorische Endpunkt dieser Phase meist mit der verfehlten Revolution von 1848 gesetzt, die die Judenemanzipation auf das Programm vieler deutscher Staaten setzte, so gibt es eine relativ große Schnittmenge des daraus resultierenden Zeitraums (etwa 1780–1850) mit der sogenannten Goethezeit (1770–1832).

Der Hauptmotor der Judenemanzipation (auf die in Kapitel 4 ausführlicher eingegangen wird) war in Deutschland die Aufklärung und nach der Anfangsphase der Französischen Revolution die begrenzte napoleonische Emanzipation in den besetzten deutschen Territorien. Hier sahen einige Aufklärer ein großes Defizit an Menschenrechten. Aber die Aufklärung verstrickte sich, wie in anderen Aspekten, auch bei der Judenemanzipation in Widersprüche. Mit ihrer Religionskritik trafen die Aufklärer neben dem Christentum nämlich auch das Judentum. Voltaire schlug zwar auf die Juden, wie der Aufklärungshistoriker Peter Gay schreibt, um die Christen zu treffen,[31] aber seine Haltung gegenüber den Juden war nichtsdestoweniger gehässig. Bei einer fiktiven Figur von Lessing begegnet uns diese ‹aufgeklärte Judenfeindschaft› (ein widersprüchlicher Begriff!), wie man sie etwa auch bei Kant und Friedrich dem Großen findet. In Nathan der Weise (1779) lässt Lessing nämlich den Tempelherrn, einen christlichen Kreuzfahrer, gegen seine eigene intolerante christliche Erziehung aufbegehren. Dabei macht der Templer im Gespräch mit dem aufgeklärten Juden dessen Religion dafür verantwortlich: «kennt Ihr auch das Volk, | Das diese Menschenmäkelei zu erst | Getrieben? Wißt Ihr, Nathan, welches Volk | Zu erst das auserwählte Volk sich nannte?»[32] Die Fehler des Christentums wurzelten nach dieser ‹aufklärerischen› Meinung im Judentum. Für viele Aufklärungsdenker war die jüdische Religion «barbarisch», «moralisch verkommen, starr und intolerant», und Philosophen wie Kant fanden bei den Juden keine «Menschheits- oder Weltreligion, da ihnen der Jenseitsglaube fehle. Sie würden unterwürfig den geoffenbarten Gesetzen gehorchen und seien dadurch unfähig, autonom zu denken und zu handeln.»[33] Damit verkörperten sie geradezu antiaufklärerische Werte: Aberglauben und «fanatische Irrationalität». Der angebliche Hass der Juden gegen Christen war aber ein sehr altes Stereotyp, «der Inbegriff der Intoleranz», das nun von der Aufklärung reaktiviert wurde.[34]

Das ‹orthodoxe› Judentum, um das es sich am Anfang der ‹Goethezeit› noch handelte, entsprach in der Tat einigen ihm vorgeworfenen Eigenschaften, die einer Integration in die Mehrheitsgesellschaft im Wege standen. Dazu gehörten vor allem die Selbstisolierung der jüdischen Gemeinde, die soziale Kohäsion, ein unbefragtes, absolutes Befolgen der Ritualgesetze als Kern der Religion und der Ausschluss von Frauen aus den meisten religiösen Funktionen.[35] Allerdings begann parallel zur Emanzipationsdebatte eine aus der Aufklärung gespeiste, erfolgreiche Reformbewegung im Judentum, die sich stark an protestantischen Erscheinungen orientierte (Predigt in deutscher Sprache, Gesang mit Orgel, Betonung des Gefühls im Gottesdienst usw.). Das änderte jedoch wenig an den Vorurteilen von Beobachtern wie Goethe.

Sogar einige vermeintliche Verbündete der Juden forderten, dass diese sich der christlichen Mehrheitsgesellschaft anpassen sollten, um gesetzliche Emanzipation zu verdienen – anders als im Modell der Französischen Revolution, die zunächst keine Bedingungen stellte. In diesem Punkt unterschieden sich die deutschen Emanzipationsbefürworter meist nicht von den Gegnern: Nur dann, wenn die Juden ‹verbessert› wären – und das hieß oft, wenn sie ihre Religion und damit einen großen Teil ihrer Identität aufgegeben hätten –, könnten sie in die christliche Mehrheitsgesellschaft integriert werden und gleiche Rechte erhalten. Es war eine jüdische ‹Emanzipation› um den Preis des Judentums. Diese Bedingung schwächte die ganze Grundlage der Befreiung. Die Gegner der Judenemanzipation, deren Denken sich aus antiaufklärerischen und dann gegenrevolutionären Impulsen speiste, gewannen vor und nach dem Sieg über Napoleon im Zeichen des Nationalismus rasch die Oberhand.[36]

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Goethes Geschichte mit den Juden fängt mit seinen jugendlichen Erfahrungen und Texten an. Davon handelt Kapitel 2, einer Phase, in der er, angeregt durch Erfahrungen in der Frankfurter Judengasse, von Juden fasziniert war. Es geht aber auch um seine nicht ganz zuverlässigen späteren Beschreibungen davon. Danach (Kapitel 3) werden seine Erfahrungen in Weimar – als Geheimrat, als Dichter, als Gesprächspartner und auch als Kunde – näher beleuchtet; hier wird einiges Archivmaterial erstmals herangezogen. In den beiden darauffolgenden Kapiteln geht es um die Judenemanzipation, zunächst in der aufklärerischen und revolutionär-napoleonischen Frühphase, die dazu führte, dass Goethe sich erneut mit der jüdischen Bevölkerung seiner Vaterstadt und ihren Bestrebungen nach Emanzipation beschäftigte (Kapitel 4). In der postnapoleonischen Zeit gilt besondere Aufmerksamkeit Goethes Begrüßung der Berufung eines judenfeindlichen Professors nach Jena sowie seiner zornigen Ablehnung von Ehen zwischen Christen und Juden in Sachsen-Weimar und der Frage, ob er Juden für eine ‹Rasse› hielt (Kapitel 5). Zuletzt werden Goethes Beziehungen zu gebildeten Juden und vor allem Jüdinnen, auch die Frage der Konvertiten sowie Goethes Theaterleitung behandelt (Kapitel 6). Im Fazit (Kapitel 7) werden dann die verschiedenen Stränge zusammengezogen und ein Vergleich mit Goethes Zeitgenossen angestellt, um seine Haltung abschließend zu beurteilen.

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Zwischen Faszination und Abscheu

Goethe wuchs als privilegierter Sohn eines Großbürgers der Freien Reichsstadt Frankfurt auf, die stolz darauf war, keinem Fürsten zu unterstehen, sondern einem bürgerlichen Rat und dem Kaiser. Der Jurist und spätere Privatier Johann Caspar Goethe konnte sich den Luxus einer breitgefächerten Privaterziehung durch Hauslehrer – inklusive in ‹Judendeutsch›, wie wir sehen werden – für seinen neugierigen Sohn leisten. Frankfurt hatte eine der wichtigsten und größten jüdischen Gemeinden in den deutschen Territorien. Doch alle Juden, reiche wie arme, waren seit 1462 im berüchtigtsten Judenghetto deutscher Lande eingesperrt. Es war eine lange Gasse mit hohen Mauern und zeitweise mehr als 3000 Menschen; abends wurden die Tore an beiden Enden der Gasse und einer Seite verschlossen (siehe Abb. 1). An Sonn- und Feiertagen durften die Juden in der Stadt nicht spazieren gehen. Die Judengasse, die trotz wiederholter Brände nicht wesentlich verändert oder gar aufgelöst wurde, war «der steinerne Beweis für die in Frankfurt von Obrigkeit und weiten Teilen der Bürgerschaft seit dem 15. Jahrhundert gehegte ablehnende und ausgrenzende Haltung gegenüber der jüdischen Bevölkerung».[1]

In diesem überwiegend judenfeindlichen Klima wuchs Goethe auf. Dass seine Familie «vergleichsweise judenfreundlich» gewesen sei, weil die Bibliothek des Vaters «viele Judaica enthielt», ist eine verkehrte Schlussfolgerung, denn unter den wenigen Judaica befanden sich die beiden berüchtigtsten judenfeindlichen Schriften des Jahrhunderts: Johann Andreas Eisenmengers Entdecktes Judenthum (1700) und Johann Jacob Schudts Jüdische Merckwürdigkeiten (1714).[2] Die «Judenstadt», wie Goethe das Ghetto nannte, zog ihn trotzdem – oder gerade deswegen – an. Das beschreibt er kurz in seiner Autobiographie.

1   Die Judengasse in Frankfurt am Main, Gemälde von Anton Burger (1824–1905), 1883, Hamburger Kunsthalle

Selbstzeugnisse als Öffentlichkeitsarbeit

Dichtung und Wahrheit ist – wie viele Autobiographien – ein Werk der Öffentlichkeitsarbeit. Wenn die von Goethe autorisierten Gesprächsberichte von Eckermann und Riemer «auf eine glatte Fassade bedacht» sind,[3] dann gilt das erst recht für seine Autobiographie. Die im Siebten Buch enthaltene kleine deutsche Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts schreibt Goethe zum Beispiel «als Teil seines Bildungsganges, in konsequenter Ausrichtung auf die eigene Entwicklung»[4]: Die Literatur führt zielstrebig zum Genie Goethe. Damit prägte er die spätere Literaturgeschichtsschreibung.[5]

In ähnlicher Weise inszenierte er Anfang August 1811 im Vierten Buch von Dichtung und Wahrheit eine teleologische Sichtweise auf seine Haltung zu Juden.[6] Seine bisherige Entwicklung stellt er aus der Perspektive der Entstehungszeit der Autobiographie so dar, als wäre sie durch seine jugendliche Begegnung mit den Bewohnern der Frankfurter Judengasse vorgeprägt:

Zu den ahnungsvollen Dingen, die den Knaben und auch wohl den Jüngling bedrängten, gehörte besonders der Zustand der Judenstadt, eigentlich die Judengasse genannt, weil sie kaum aus etwas mehr als einer einzigen Straße besteht, welche in frühen Zeiten zwischen Stadtmauer und Graben wie in einen Zwinger mochte eingeklemmt worden sein. Die Enge, der Schmutz, das Gewimmel, der Akzent einer unerfreulichen Sprache, alles zusammen machte den unangenehmsten Eindruck, wenn man auch nur am Tore vorbeigehend hineinsah. Es dauerte lange bis ich allein mich hineinwagte, und ich kehrte nicht leicht wieder dahin zurück, wenn ich einmal den Zudringlichkeiten so vieler etwas zu schachern unermüdet fordernder oder anbietender Menschen entgangen war. Dabei schwebten die alten Märchen von Grausamkeit der Juden gegen die Christenkinder, die wir in Gottfrieds Chronik gräßlich abgebildet gesehen, düster vor dem jungen Gemüt. Und ob man gleich in der neuern Zeit besser von ihnen dachte, so zeugte doch das große Spott- und Schandgemälde, welches unter dem Brückenturm an einer Bogen-Wand, zu ihrem Unglimpf, noch ziemlich zu sehen war, außerordentlich gegen sie: denn es war nicht etwa durch einen Privatmutwillen, sondern aus öffentlicher Anstalt verfertigt worden.

Indessen blieben sie doch das auserwählte Volk Gottes, und gingen, wie es nun mochte gekommen sein, zum Andenken der ältesten Zeiten umher. Außerdem waren sie ja auch Menschen, tätig, gefällig, und selbst dem Eigensinn, womit sie an ihren Gebräuchen hingen, konnte man seine Achtung nicht versagen. Überdies waren die Mädchen hübsch, und mochten es wohl leiden, wenn ein Christenknabe ihnen am Sabbat auf dem Fischerfelde begegnend, sich freundlich und aufmerksam bewies. Äußerst neugierig war ich daher, ihre Zeremonien kennen zu lernen. Ich ließ nicht ab, bis ich ihre Schule [Schul, d.h. Synagoge] öfters besucht, einer Beschneidung, einer Hochzeit beigewohnt und von dem Lauberhüttenfest mir ein Bild gemacht hatte. Überall war ich wohl aufgenommen, gut bewirtet und zur Wiederkehr eingeladen: denn es waren Personen von Einfluß, die mich entweder hinführten oder empfahlen.[7]

Dies ist Goethes ausführlichste schriftliche Darstellung seiner Haltung zu den Juden. Sie wird in der Forschung zunehmend kritisch gesehen. Jürgen Stenzel meldet Skepsis an der Wahrheit der Erzählung an, vor allem weil aus dem Kind, das über Grausamkeiten gegen Christenkinder liest, so mühelos ein Jugendlicher wird, der mit jüdischen Mädchen flirtet.[8] Außerdem ist nicht erkennbar, wieso die schachernden Juden plötzlich «gefällig» wurden.

Die Judengasse war so bekannt, dass sie Touristen anzog. Gabriela Schlick vermutet nach der Analyse der zahlreichen Berichte, dass Goethe «lediglich kompilierte, was andere schon vor ihm ausgeführt hatten».[9] Die Parallelen sind in der Tat frappierend – und das würde die erwähnte Dissonanz erklären –, aber die analysierten Reiseberichte tauchen unter Goethes eigenen oder entliehenen Büchern nicht auf.[10] Dennoch schließt Schlick aus dem Vergleich nicht zu Unrecht, dass Goethe «in seiner Beschreibung dieselben Stereotypen aneinanderreiht wie die auswärtigen Reisenden, die der Gasse nur einen kurzen Besuch abgestattet hatten». Sie fährt fort:

Von dem Knaben Goethe hätte niemand erwartet, daß er seine Gefühle hinterfragte, geschweige denn nach den Gründen für die Zustände der Gasse und ihrer Bewohner suchte. Die Tatsache, daß er später […] weder das eine noch das andere tat, zeigt jedoch, wie sehr er in der Tradition der von der Frankfurter Bürgerschaft gepflegten judenfeindlichen Haltung stand. Die Banalität seiner Zugeständnisse ist frappierend. «Außerdem waren sie ja auch Menschen […]». Es bleibt bei der oberflächlichen Betrachtung. Eine Auseinandersetzung mit dem Judentum findet nicht statt.[11]

Auch der Erzähler lässt gegenüber den geschilderten Phänomenen keine kritische Reflexion erkennen – zum Beispiel darauf, dass die «Zudringlichkeiten» (das Schachern) für die Juden wegen der eingeschränkten Verdienstmöglichkeiten eine Lebensnotwendigkeit waren oder dass man Juden auf dem Fischerfelde vor der Stadt begegnete, weil die öffentlichen Promenaden ihnen versperrt waren.

Wolfgang Bunzel betrachtet die Passage vor dem Hintergrund von Goethes ablehnender Haltung gegenüber den Freiheitsansprüchen der Ghetto-Bewohner im Jahre 1808: Den Ich-Erzähler interessierten die Juden «nicht als Individuen, sondern nur als Vertreter des ‹auserwählten Volkes Gottes›», als «menschliche ‹Andenken der ältesten Zeiten› fungieren sie für ihn wie naturwissenschaftliche Relikte, die Auskunft geben über längst vergangene Phasen der Geschichte […], gewissermaßen Studienobjekte, die sowohl in der simulierten Erlebnisweise des Kindes als auch in der aktuellen Haltung des Schreibenden mit einer gewissen – man könnte sagen: für den Beruf des Dichters unabdingbaren – Neugier betrachtet werden, ohne dass das Registrierte in nennenswertem Umfang Empathie auslöst». Es sei der Blick «eines Ethnologen», «der Gegenstand seiner Beobachtung [bleibt] etwas dem eigenen Ich Fremdes».[12]

Doch Goethe will offenbar auch ein Narrativ über seine angeblich zunehmend aufgeklärte Haltung zu den Juden aufbauen. In der Bewertung der Menschen in der Judengasse schwankt er: Sie widern ihn an, doch denkt man «in der neuern Zeit besser von ihnen» – ein Hinweis auf die Aufklärung und wohl insbesondere auf Lessings Lustspiel Die Juden (1749, 1754 publiziert). Die ekelhafte Darstellung einer ‹Judensau› (siehe Abb. 2) mit der wie gewohnt unterstellten Gier der Juden nach den Exkrementen des Tieres wird dezent als «das große Spott- und Schandgemälde» beschrieben. Sie genießt jedoch die Genehmigung der Ratsherren und erregt im Kind offenbar die Frage, ob die Abbildung nicht auf tatsächlichen jüdischen Eigenschaften gründet.[13] Dann aber äußert der Autor seine Bewunderung für ein Volk, das irgendwie überlebt und seine Gebräuche erhalten hat, sowie sein Interesse an diesen Sitten und den menschlichen – unter anderem erotischen – Qualitäten der Juden.

Es fällt auf, dass die Teile des Textes, die sich mit der Abneigung gegenüber Juden befassen, hauptsächlich mit Gefühlen und damit zusammenhängenden sinnlichen Eindrücken zu tun haben: Die Rede ist von Enge, Schmutz, Gewimmel, von einer unerfreulichen Sprache, dem unangenehmsten Eindruck, von Zudringlichkeiten, grässlichen Bildern und düsteren Märchen. Die positiven Merkmale von Juden sind dagegen abstrakt, gedacht, sie hätten in der Tat einem Buch entstammen können: Man (!) dachte in der neueren Zeit besser von ihnen, sie waren das auserwählte Volk, sie waren auch Menschen, man musste ihnen Achtung zollen … bis der Erzähler zu den hübschen Mädchen und seinen Erfahrungen von jüdischen Gebräuchen kommt. Wie Bunzel festgestellt hat, fehlt im Gefühl die Empathie oder ein anderes positives Empfinden mit Ausnahme der etwas eigenartig begründeten Achtung. Daher geht der Erzähler nicht zu der großen Frage über, was dazu geführt habe, dass die Juden eingesperrt wurden, und ob sie – «auch Menschen» – nicht befreit werden sollten. Gefühle haften fester im Gemüt als Gedanken, zumal Gefühle aus der Kindheit, und sie gewinnen auch bei Goethe schließlich die Oberhand – ja, sie haben zum Zeitpunkt dieser Niederschrift schon gesiegt, wie wir in Kapitel 4 sehen werden.

2   ‹Judensau› mit Simon von Trient (oben), früher am Brückenturm in Frankfurt am Main, aus: Jüdische Merckwürdigkeiten, 1714–1717, Teil 2, vor S. 257. Das Werk befand sich in der Bibliothek von Goethes Vater

Trotz seines Lavierens gibt der im siebten Lebensjahrzehnt zurückblickende Autobiograph den irreführenden Eindruck, dass er inzwischen zu einer aufgeklärteren, judenfreundlichen Haltung gelangt sei. In einem etwa gleichzeitigen Gespräch befestigte er diesen Eindruck für die Nachwelt. In Karlsbad lernte Goethe im Sommer 1812 einen geadelten Juden kennen und begegnete ihm freundlich: Simon Edler von Lämel (auch Laemel/Lämmel, 1766–1845). Das Bad wurde von vielen wohlhabenden Juden frequentiert (siehe Kapitel 6). In den ersten Begegnungen auf Spaziergängen gab Lämel nicht zu erkennen, dass er um Goethes Identität wusste, doch fand der Weimarer Gefallen (so ein Berichterstatter aus zweiter Hand) an «dem lebenserfahrenen Gespräche des feingeistigen Mannes, der in seiner Aussprache die jüdische Herkunft merken ließ». Als Lämel sich als Prager Bankier vorstellte, sprach Goethe sofort ein jüdisches Thema an (die dortige Synagoge), und Lämel kritisierte dann Schillers verkehrte Darstellung des Judentums in Die Sendung Moses. Darauf ging Goethe gar nicht ein, sondern erzählte unvermittelt seinen eigenen Werdegang gegenüber den Juden:

Der Eindruck, den ich in früher Jugend in meiner Vaterstadt empfing, war mir ein mehr erschreckender. Die Gestalten der engen und finsteren Judenstadt waren mir gar befremdliche und unverständliche Erscheinungen, die meine Phantasie beschäftigten und ich konnte gar nicht begreifen, wie dieses Volk das merkwürdigste Buch der Welt aus sich heraus geschrieben hat. Was sich allerdings in meiner früheren Jugend als Abscheu gegen die Juden in mir regte, war mehr Scheu vor dem Räthselhaften, vor dem Unschönen. Meine Verachtung, die sich wohl zu regen pflegte, war mehr der Reflex der mich umgebenden christlichen Männer und Frauen. Erst später, als ich viele geistbegabte, feinfühlige Männer dieses Stammes kennen lernte, gesellte sich Achtung zu der Bewunderung, die ich für das bibelschöpferische Volk hege, und für den Dichter, der das hohe Liebeslied gesungen hat. Beide Bücher haben mich mannigfach beschäftigt.[14]

Dies ist die wichtigste Aussage Goethes über seine von der Kindheit bis ins fortgeschrittene Alter sich hinstreckenden Beziehungen zu den Juden. Die Authentizität des Gesprächs, das Ludwig August Frankl (von Hochwart) fast vierzig Jahre nach Lämels Tod überliefert hat, wurde – schon von Geiger, aber dann auch in der NS-Zeit, da die angebliche Judenfreundlichkeit die Vereinnahmung Goethes durch das Regime durchkreuzte – mit nicht unerheblichen Gründen angezweifelt: «Lämmel selbst hat über dieses Gespräch nie berichtet, sondern 1882 ein anderer Jude, den niemand mehr kontrollieren kann. Goethe ist nie mit Lämmel befreundet gewesen.»[15] Doch auch wenn sie nicht befreundet waren, pflegte Goethe gesellschaftlichen Verkehr mit Lämel und dessen Frau. Er hatte vor, ihn in Prag zu besuchen, und führte Geldgeschäfte mit ihm durch.[16] Schließlich mussten sie nicht befreundet sein, wenn Lämel Goethes Ruf als Judenfreund verbreiten sollte. So ist dieses Gespräch wie die Stelle in Dichtung und Wahrheit Öffentlichkeitsarbeit für einen angeblich zum Judenfreund gewandelten Dichter, die entweder ihm selbst, Lämel oder Frankl zuzuschreiben ist. Die offensichtlichen Parallelen zwischen der autobiographischen Passage und dem Gesprächsbericht lassen sogar die Vermutung aufkommen, dass Letzterer wenigstens teilweise auf Dichtung und Wahrheit basiert.

Die Aussagen Goethes in der Begegnung mit Lämel erscheinen deswegen – oder trotzdem – als halbwegs glaubwürdig: Auch bei anderen Gelegenheiten kontrastierte er die zeitgenössischen ‹Schacher-› und ‹Betteljuden› einerseits mit den alttestamentlichen sowie den neueren assimiliert-kultivierten Juden andererseits, die er in diesem Gespräch als «gebildete, feinfühlige Männer» bezeichnet. (Dass die gebildeten Jüdinnen, mit denen Goethe gerade in Karlsbad verkehrte und auf die wir in Kapitel 6 zu sprechen kommen, nicht genannt werden, sondern nur die Männer, ist wohl eine Diskretion Goethes oder des Berichterstatters.)

Laut dem Gesprächsbericht legte Goethe nahe, dass erst die Begegnung mit diesen gebildeten Männern seine «Achtung» für das «bibelschöpferische Volk» erweckte – man beachte: für das Volk als ganzes, auch für die ‹unschönen› Judengassen-Bewohner. Das allerdings ist nicht richtig: Für die übrigen Juden aus den unteren Schichten, die große Mehrheit, blieb die «Verachtung» bestehen, wie wir gleich sehen werden. Das Narrativ ist um einiges gröber als in Dichtung und Wahrheit, vor allem wenn das Wort «Abscheu» fällt. In beiden Fällen aber, dem autobiographischen Rückblick und dem aufgezeichneten Gespräch, wird der selbstkonstruierte Goethe den aufklärerischen Forderungen nach einer neuen Schätzung des Judentums gerecht. Dass dies wirklich ein Konstrukt ist, wird dadurch klar, dass zum Zeitpunkt des Gesprächs Goethes Bekanntschaft mit nur einem oder zwei gebildeten Juden nachgewiesen ist.[17]

Aber schon in demselben Buch von Dichtung und Wahrheit, in dem sich auch die Stelle zur Judengasse findet, wird Goethes Konstrukt widerlegt. Dort schreibt Goethe in einem Exkurs zur Geschichte des Judentums über den Streit zwischen dem biblischen Jakob und dessen Schwiegervater Laban: «wie er [Jakob] durch ein schlechtes Gericht die Erstgeburt, und durch eine Vermummung den väterlichen Segen gewonnen, so versteht er nun durch Kunst und Sympathie den besten und größten Teil der Herde [Labans] sich zuzueignen, und wird auch von dieser Seite der wahrhaftig würdige Stammherr des Volkes Israel und ein Musterbild für seine Nachkommen» (meine Hervorhebung).[18] Wie Horst Lange erkannt hat, handelt es sich hier um die kaum verschleierte Behauptung, dass alle Juden von der Antike bis in Goethes Gegenwart Lügner und Betrüger seien.[19]

Im weiteren Verlauf dieser Untersuchung wird deutlich werden, dass die Entstehung von Goethes Darstellungen seiner Haltung zu Juden in Dichtung und Wahrheit und (mit Fragezeichen) im Lämel-Gespräch zeitlich zwischen zwei heftigen Ausfällen Goethes gegen die Judenemanzipation liegt. Wenn aber die Judenemanzipation nicht stattfand, wenn die Juden sozusagen aus dem Ghetto nicht befreit wurden, dann hatten sie größere Schwierigkeiten, sich «geistbegabt» und «feinfühlig» zu entwickeln. Solche Eigenschaften hingen auch davon ab, ob sie sich auf Augenhöhe mit Christen bilden konnten und die Freiheit der Berufswahl und der Lebensgestaltung genossen. Dass das Gespräch mit Lämel ein Baustein in Goethes – erfolgreicher – Strategie war, sich in der Öffentlichkeit als Judenfreund zu stilisieren, geht auch aus seiner Gesprächstaktik hervor: Auf die Kritik an Schillers weithin als antijüdisch verstandener Schrift ging er gar nicht ein und konzentrierte sich auf seine eigene angebliche Entwicklung zum Judenfreund. Darauf kam es ihm an. Lediglich an einzelnen Stellen wie der über Jakob rutschte Goethe sein Vorurteil heraus.

Assimilation und Häme: Jüdische Sprache und Aussprache

Der Bericht über die ‹Judenstadt› in Dichtung und Wahrheit und das Lämel-Gespräch widersprechen sich keineswegs, da beide auf Goethes zunehmende Wertschätzung von assimilierten Juden in seinen reifen Jahren hindeuten und seine negative Haltung zu Juden nur als Entwicklungshürde auf dem Weg zum Ziel des Judenfreunds hinstellen. Doch haben die beiden Texte andere Akzentsetzungen. Vor allem fehlt in der autobiographischen Erzählung erwartungsgemäß jeder Hinweis auf assimilierte Juden, da der Knabe oder Jugendliche wohl keine kannte. Wenn aber der lebenserfahrene und feingeistige Prager Bankier sich ein halbes Jahrhundert später wie viele seiner Glaubensgenossen weitgehend an die christliche Mehrheitsgesellschaft angepasst hatte, blieb er durch eines erkennbar: Er ließ – so Frankl – «in seiner Aussprache die jüdische Herkunft merken». Das gehört zum «Unschönen», vor dem der jugendliche Goethe «Scheu» empfindet und wohl doch auch «Abscheu». Und ein Rest wenigstens von Abneigung bleibt Goethe auch im Alter, und zwar auch gegenüber den gebildeten Juden. Wenn wir im autobiographischen Rückblick die für Goethe unangenehmen Merkmale der Judengasse betrachten – die «Enge, de[n] Schmutz, das Gewimmel, de[n] Akzent einer unerfreulichen Sprache», die «Zudringlichkeiten so vieler […] Menschen» –, dann blieb nach der Befreiung aus dem Ghetto und der dann oft einsetzenden Assimilation (mit entsprechender Namensänderung) meist nur eines übrig: die «unerfreuliche» Aussprache. Sie wurde um 1800 auf der Bühne in der neu aufkommenden ‹Judenposse› mobilisiert, um das angebliche Versagen der Akkulturation zu veranschaulichen: Eine schöne Jüdin mag noch so gebildet sein, sie verfällt immer wieder «in den Jargon» – so wird sie in diesen Stücken dargestellt.[20]

Es überrascht nicht, dass ein Mensch mit einer Sensibilität für die Sprache wie Goethe diese in seiner Beschreibung des jüdischen Auftretens hervorhob. Vermutlich akzeptierte Goethe bei Lämel und anderen feinsinnigen Juden unwillig den Akzent und fand ihn doch «unerfreulich» und unschön. Das war natürlich sozial bedingt, da er seine eigene Mundart und auch andere, die er in seinen Dichtungen darstellte, offenbar nicht unerfreulich fand. In der Tat bilden der Akzent und auch die Wortwahl einen durchgehenden Zug in Goethes Darstellungen des Jüdischen. Das fängt im großen Stil schon in der Jugend an, als er durchsetzte, dass er Unterricht im Hebräischen bekam, und dabei seinen eigentlichen Zweck verheimlichte, nämlich das in hebräischen Buchstaben geschriebene «barocke Judendeutsch» zu erlernen. Goethes Ausdruck «barock» ist hier «eindeutig pejorativ», im Sinne von «ungereimt, verschroben, ausschweifend, regelwidrig»; mit Goethes Worten war es die «moderne verdorbene und verzerrte» Version des Hebräischen.[21] Dies war die bei Nichtjuden übliche verächtliche Ansicht zum Jiddischen.

Doch warum wollte der junge Goethe überhaupt ‹Judendeutsch› erlernen? Nach Dichtung und Wahrheit soll das Vorhaben aus einem angefangenen, nicht erhaltenen Roman des sehr jungen und ambitionierten Dichters hervorgegangen sein, in dem sieben Geschwister in verschiedenen Sprachen miteinander korrespondierten. Zuletzt, weil alle anderen Sprachen schon besetzt waren, wählt «der jüngste, eine Art von naseweisem Nestquackelchen», das ‹Judendeutsch›. Und dieses habe sich der ehrgeizige Romanschriftsteller erst aneignen müssen. Das Begehren unterstreicht wohl das Gefühl der Auflehnung des hochbegabten Knaben gegen die Erwachsenen, aber auch seine Faszination für die Juden im Ghetto. Über das Haushaltsbuch von Goethes Vater wissen wir, dass dieser für den elfjährigen Jungen in der Tat einen Lehrer, «Christamicus», für ‹Judendeutsch› anheuerte, vermutlich den Sohn eines Konvertiten, den Stadtsergeanten Carl Christian Christfreund (1723–1801).[22] In Dichtung und Wahrheit erzählt Goethe allerdings nichts von diesem Unterricht, der nach den Zeugnissen kurz gewesen sein mag.[23]

Angeblich auf ‹Judendeutsch› – eigentlich jedoch in Frankfurter Mundart, mit einigen aus dem Jiddischen bzw. Hebräischen entlehnten Vokabeln[24] – gestaltete der jugendliche Goethe in diesem Zusammenhang eine kurze Judenpredigt. Die ältere Bezeichnung als ‹Scherz› lehnt die neuere Forschung ab.[25] Da die ‹Predigt› von Goethe in geselliger Runde vorgetragen wurde, und zwar als sechzehn- bis neunzehnjähriger Leipziger Student, dürfte das scherzhafte Element jedoch nicht auszuschließen sein; bei naiver Aufnahme wirkt die Absicht sprachlich und rhetorisch durchaus spaßhaft:

JUDENPREDIGT

Sagen de Goyen, wer hätten kä König, kä Käser, kä Zepter kä Cron; do will ich äch aber beweise daß geschrieben stäht: daß mer haben äh König, äh Käsr, äh Zepter äh Kron. Aber wo haben wer denn unsern Käser? Das will ich äch och sage. Do drüben über de grose grause rothe Meer. Und do wäre dreimalhunerttausend Johr vergange sey, do werd äh groser Mann, mit Stiefle und Spore grad aus, sporenstrechs gegange komme übers grose grause rothe Meer, und werd in der Hand habe äh Horn, und was denn vor äh Horn? äh Düt-Horn. Und wenn der werd in’s Horn düte, do wären alle Jüdlich die in hunerttausend Johren gepöckert [krepiert] sind, die wären alle gegange komme an’s grose grause rothe Meer. No was sogt ähr dozu? Un was äh gros Wonner [Wunder] sey werd, das will ich äch och sage: Er werd geritte komme of äh grose schneeweise Schimmel; un was äh Wonner wenn dreymalhunertunneunun neunzigtausend Jüdlich wäre of den Schimmel sitze, do wären se alle Platz habe; un wenn äh enziger Goye sich werd ach drof setze wolle, do werd äh kenen Platz finne. No was sogt ehr dozu? Aber was noch ver äh greser Wonner sey werd, das well ich äch och sage: Un wenn de Jüdlich alle wäre of de Schimmer sitze, do werd der Schimmel kertze gerode seine grose grose Wätel [Wedel] ausstrecke, do wären de Goye denken: kennen mer nich of de Schimmel[,] setze wer uns of de Wätel. Un den wäre sich alle of de Wätel nuf hocke; Un wenn se alle traf setzen, und der grose schnee weise Schimmel werd gegange komme drochs [sic] grause rothe Meer zorick, do werd äh de Wetel falle laße, un de Goye werde alle ronder falle in’s grose grause rothe Meer.

No was sogt ehr dozu?[26]

Jürgen Stenzel hat sich am ausführlichsten mit dem Text beschäftigt und durch Nachweis einer textlich verblüffend ähnlichen Quelle jeden Zweifel an Goethes Autorschaft definitiv ausgeräumt. Er nennt die Judenpredigt treffend eine «Triumph-Phantasie», also eine Darstellung des messianischen Triumphs unterdrückter Juden über «die Verfolgungen und Verleumdungen der christlichen Mehrheit».[27] Doch entsteht ein übles Gefühl beim Versuch eines nichtjüdischen Autors, den Ton eines Juden nachzuahmen. Nach dem jüdischen Historiker Paul Arnsberg liegt in Goethes Text «eine Verhöhnung der Juden in ihrer Denkweise».[28] Denn der dargestellte imaginierte jüdische Triumph ist eine Massentötungsphantasie, die Vernichtung aller Christen – nicht von Juden durchgeführt, aber von einem fiktiven Juden als Endzeitvergeltung ausphantasiert.

Es ist kein Zufall, dass die Judenpredigt auf Quellentexten von drei Judenfeinden gründet. Die beiden für Goethe bedeutendsten Zeugnisse stammen von Konvertiten, die besonders heftig gegen ihre ehemaligen Glaubensgenossen, die «verblenten Juden», eiferten.[29] Nach Goethes von Stenzel entdeckter Hauptquelle, einer antijüdischen Schmähschrift aus dem Jahre 1619 von Dietherich Schwab, sind die Juden «ein verblend/verstockt/und nun etliche Saecula vnder Heyden/Türcken vnnd Christen zerstrewet Vngeziffer/welches sich noch heutigs Tags vor das außerwehlt Volck Gottes helt vnnd rühmt/wartet noch auff einen Erlöser und Messiam/mit verwerfung deß rechten und wahren Messiae Jesu Christi».[30]

Diese religiöse Begründung der Judenfeindlichkeit lag Goethe fern. Trotzdem mobilisierte er – wie Schwab und die anderen Vorgänger – das gängige Stereotyp der jüdischen Rachsucht an den eigenen Verfolgern.[31] Vor allem Schwab schreibt, die Juden seien «ein Tyrannisch Blutdürstig Volck», das «ein sonderliche frewd an der vergiessung deß Christlichen Bluts hat/und nimmer dardurch kan ersättiget werden», ja, ihr Zweck sei es, «die ganze Christenheit zu verderben und außzurotten».[32] Danach erzählt auch Schwab «die alten Märchen von Grausamkeit der Juden gegen die Christenkinder, die wir in Gottfrieds Chronik gräßlich abgebildet gesehen» (so Goethe in Dichtung und Wahrheit). Die von Goethe in die Judenpredigt übernommene Tötungsgeschichte benutzt Schwab, um Legenden von Ritualmorden glaubwürdig zu machen; die entsprechende Erzählung stellt er als eine Art von Prolog vor den Anfang seiner Hetzschrift.