Gogols Disko - Paavo Matsin - E-Book

Gogols Disko E-Book

Paavo Matsin

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Beschreibung

Europa in wenigen Jahren: Das neugegründete Zarenreich Russland hat das gesamte Baltikum gewaltsam annektiert und dabei jede Spur estnischer Kultur ausgelöscht. Viljandi, ein vormals gemächliches Städtchen im Herzen Estlands, wurde so zum Sammelbecken für allerlei Bohemiens und gescheiterte Existenzen aus dem neuen Zarenreich. Eines Morgens raubt der Meisterdieb Konstantin Opiatowitsch in der Straßenbahn einen Mann aus, der sich als der große russische Literaturklassiker Nikolai Gogol entpuppt, nach rund 170 Jahren von den Toten zurückgekehrt. Zusammen mit einem Haufen so zwielichtiger wie charmanter Kleinkrimineller und Tagediebe versucht Opiatowitsch den Wiedergänger für seine Zwecke einzuspannen – doch der will sich nicht in ihren Plan fügen und entfesselt für seine Entführer einen albtraumhaften Reigen, der ganz Viljandi ins Chaos stürzt. In Gogols Disko nimmt Kultautor Paavo Matsin nicht nur die Angst der Esten vor dem mächtigen Nachbarn aufs Korn, sondern auch ihre Zerrissenheit zwischen östlicher und westlicher Kultur. Mit seinem anarchischen Humor und zahlreichen Bezügen zur Popkultur der Beatles-Ära gelingt es ihm, eine Atmosphäre heraufzubeschwören, in der diese Angst greifbar und zugleich ad absurdum geführt wird.

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PAAVO MATSIN, *1970 in Tallinn, Estland, lebt in der Nähe von Viljandi. Der Schriftsteller und angesehene Literaturkritiker gilt als eine der schillerndsten Künstlerpersönlichkeiten seines Heimatlandes. Mit seinen Themen ist er ein Solitär der estnischen Literaturszene: Alchemie, Wahrsagerei, Mystik und deren Parodie. Legendär sind seine Lesungen, bei denen er selbst Musik auflegt und bisweilen eigens abgefüllten Gogol-Wodka kredenzt. 2016 erhielt er für Gogols Disko den Jahrespreis des Estnischen Kulturkapitals sowie den Literaturpreis der Europäischen Union. Mit dem Roman erscheint zum ersten Mal eine deutsche Übersetzung eines Werks von Paavo Matsin.

MAXIMILIAN MURMANN, *1987 in Treuchtlingen, studierte in München, Helsinki und Budapest Finnougristik, Allgemeine Sprachwissenschaft und Germanistische Linguistik. 2018 promovierte er mit einer Arbeit über Emotionswörter im Finnischen zum Dr. phil. Inzwischen übersetzt er hauptberuflich aus dem Finnischen und Estnischen ins Deutsche. Zuletzt erschienen seine Übersetzungen von Karl Ristikivis Die Nacht der Seelen (Guggolz Verlag, 2019) und Juha Hurmes Der Verrückte (Kommode Verlag, 2019).

AUS DEM ESTNISCHENVON MAXIMILIAN MURMANN

Inhalt

TEIL I

KONSTANTIN OPIATOWITSCH

DER FREMDE

ADOLF ISRAILOWITSCH GEYER

ARKADI DMITRIJEWITSCH SEWERNY

WALERI MAMMUTOW

BUCHARD LENZ

WASJA KOLJUGIN

PÉLADAN MCCARTNEYWITSCH PLATON

NATASCHA UND PETRUSCHA

PETRUSCHAS LICHTERCHEN

GRIGORI MANSCHETTOWITSCH MANSCHETTE

FEISTE MUMIEN

TEIL 2

DIE VERSAMMLUNG

KONSTANTIN OPIATOWITSCHS WACHE

WASJA KOLJUGINS WACHE

BUCHARDS WACHE

ADOLF ISRAILOWITSCH GEYERS UND ARKADI DMITRIJEWITSCH SEWERNYS WACHE

TEIL 3

IM PARADIESGARTEN

GRIGORI MANSCHETTOWITSCHS KRISE

AUSZUG AUS DEM PARADIES

KOTELETTS FÜR GOGOL

BEI GEYER

DAS HAUSKONZERT

IM RESTAURANT

DER TOD DES TEMPELBAUERS

DAS DUELL IM RESTAURANT

UNTER DEM KREUZ

DIE LETZTEN EREIGNISSE

EPILOG

ENDE

GLOSSAR

ALLES FLOG UND FLATTERTE HIN UND HER UND SPÄHTEÜBERALL NACH DEM PHILOSOPHEN.

NIKOLAI GOGOL, »DER WIJ«(AUS DEM RUSSISCHEN VON LOLLY KÖNIG)

HERBEI, HERBEI!GEKOCHT IST DER BREI,DEN TISCH LIEß ICH DECKEN,DRUM LASST ES EUCH SCHMECKEN.

WILHELM HAUFF, »DER KLEINE MUCK«

TEIL I

KONSTANTIN OPIATOWITSCH

Der Taschendieb Konstantin Opiatowitsch pflegte jeden Tag bestimmte Gewohnheiten, die er sich mit den Jahren in diversen Haftanstalten angeeignet hatte. Morgens bügelte er seine Hose mit einer heißen Blechtasse, polierte seine Schuhe mit einem zerschlissenen Samtlappen, den er stets bei sich trug, befüllte seine Taschen großzügig mit Brotrinden, die er auf der Fensterbank getrocknet hatte, und fuhr üblicherweise zeitig mit der Straßenbahn bis zur Endhaltestelle. Den Pfützen ausweichend trat er vorsichtig vom Asphalt auf den schmalen Weg aus Steinplatten und lenkte seine Schritte beschwingt zum Alten Jüdischen Friedhof. Die Juden waren bekannt für ihren Starrsinn und dafür, dass sie ihre Traditionen bewahrten. Sie hielten an einer Menge uralter Regeln fest, und deshalb war der schattenreiche Friedhof für einen ehrwürdigen Dieb bestens geeignet, um dort den Tag zu beginnen. Sein einstiger Zellengenosse, ein Jude aus Odessa, hatte ihm so manch Interessantes über die geheimen Bräuche dieses von Verfolgung geplagten Völkchens erzählt. Er erinnerte sich nicht mehr an alles, aber die Steine, die anstelle von Blumen auf die Gräber gelegt wurden, und die Märchenwelt mit dem kleinen Tor, das dem Rabbi vorbehalten war, wirkten belebend auf Opiatowitsch, ehe er sich an sein Tagewerk machte. Später, nach getaner Arbeit in der Straßenbahn, wäre es sogar gefährlich gewesen, bloß um des Spazierens willen an die Endhaltestelle zurückzukehren. Wenn er am Tag der lärmenden Massen und des Klauens von Handtaschen überdrüssig wurde, ruhte sich Opiatowitsch für gewöhnlich aus, indem er zwischen den Haltestellen umherspazierte und mit den getrockneten Brotrinden Tauben fütterte. Doch hier, in der menschenleeren Stille hebräischer Steine, hatte er bisweilen Gelegenheit, sich in Ruhe auf die anstehende Arbeit vorzubereiten. Seinem Bauchgefühl folgend machte er bei einem beliebigen Grab halt und legte ein beiläufig vom Weg aufgelesenes Steinchen auf das taunasse Grabmal. Auf diese Weise trainierte Opiatowitsch eine bestimmte und für einen Karmanschtschik essenzielle Eigenschaft: Fingerfertigkeit. Dabei lauschte er der Stille und sich selbst. Ebenso wenig brach er beim Aufheben der Kiesel eine unter Dieben eherne Regel: Nur zu gut wusste er, dass selbst der sentimentalste Taschendieb nie etwas anheben durfte, das schwerer war als eine Geldbörse.

Infolge der jüngsten Ereignisse, als das russische Zarenreich abermals Estland, Lettland und Litauen annektiert hatte, machten sich selbst im Provinznest Viljandi Veränderungen bemerkbar. Selbstverständlich gute wie schlechte. Nehmen wir zum Beispiel die bereits erwähnte Straßenbahn, die nach den großen Kämpfen mit Polen als Kriegsbeute samt Schienen und Betriebsmaschinen irgendwo aus Krakau oder Warschau hergebracht worden war. Die Kleinstadtpensionäre klatschten in die Hände, und bald hatten sich alle an die kostenlose Benutzung des bislang unbekannten Verkehrsmittels gewöhnt, welches im Schnabel des zweiköpfigen Adlers hier gelandet war. Nach sorgfältiger Installation durch Moskauer Metrospezialisten bewegte es sich in Anbetracht der topografischen Eigenheiten Viljandis nun äußerst geschmeidig von einem Ende der Stadt zum anderen, es tauchte am See in einem modernen durchsichtigen Tunnel ab und rauschte mit der Kühnheit einer amerikanischen Eisenbahn über die Burghügel, um die fortwährend steigende Zahl von Bewohnern in die umliegenden Neubaugebiete zu bringen. Opiatowitsch scherte sich nicht um Politik – ein wahrer Dieb kooperierte nie mit der Macht –, aber die Straßenbahn war in vielerlei Hinsicht praktisch. So konnte er unter Verwendung seines Berufsjargons stolz behaupten, dass er, seitdem der Adler des Zaren hierzulande wieder Fuß gefasst hatte, als einstiger Sident (nicht zu verwechseln mit dem Begriff Dissident) und nach Kräften jetziger Stiljaga (also Mann mit Stil) nicht mit Depressnjak (das von den verschwundenen Esten so geliebte Kopfzerbrechen) zu kämpfen hatte, sondern exakt das tat, was er am besten konnte. Dafür musste das Pendel der Geschichte im Laufe seines Lebens erst viele Male umschwingen. Zudem hatte er nette Freunde in einem zentral gelegenen Antiquitätenladen gefunden, wo es angenehm war, sich nach dem Gewühl in der Straßenbahn zurückzulehnen und wie ein Mensch zu unterhalten.

Während er so im Stillen sinnierte, drehte Opiatowitsch eine kleine Runde, um die verstreuten, an ein unterbrochenes Dominospiel erinnernden Grabsteine zu bewundern, die ihn mal nach vorne, mal nach hinten gesunken an die guten alten Zeiten erinnerten, als er noch zur schicken Truppe Rigas gehörte, die sich die Nächte mit jenem endlosen, schwarz-weißen Spiel vertrieb. Außerdem hatte auch das echte Domino oft mit Toten zu tun. In einem Bunker im Rigaer Viertel Pārdaugava hatte er sich beispielsweise einmal hinter einem Spieltisch wiedergefunden, an dessen Unterseite ein Holster angebracht war, damit man heimlich nach einem Messer greifen konnte, wenn es abwärtsging. Auch Opiatowitsch trug in seiner Jugend für kurze Zeit einen weißen Schal und ein Finnenmesser, kurz Finka, aber gegen einen Menschen hatte er nie eine Klinge erhoben. Abgesehen natürlich von den angeschärften Münzen, mit denen er Handtaschen aufschnitt. Jetzt hatte er nur noch die Straßenbahn und die alten Mütterchen, die vom Markt kamen mit ihren Scherflein …, und zum Glück auch die Volksweisen! Wie wunderbar war es doch, beim Spaziergang im Reich der Schatten Klassiker vor sich hin zu pfeifen wie »Murka«, »Die Tochter des Prokurors« oder das thematisch besonders passende »Süße Beere«. Das Leben war im Grunde gar nicht so mies! Gegen eine Frau hätte er nichts einzuwenden gehabt, aber wie sagt man, Pech in der Liebe, Glück im … Erst gestern hatte ihn eine junge Diebin mit dem bedeutungsvollen Spitznamen Murka aufgesucht und ihn, die hiesige Autorität, um Erlaubnis gebeten, in der Stadt auf Diebeszug gehen zu dürfen. Schön war sie, wie eine verdorbene Prinzessin, und man erzählte sich, die Jungspunde hätten schon Bammel vor ihr, sie würde einem das Brot aus der Hand stehlen und sei so geschickt wie der Teufel persönlich … Ja, in Opiatowitschs Leben wäre Platz für so eine Frau! Natürlich bekam sie seine Erlaubnis, keine Frage.

Von dort wanderten Opiatowitschs Gedanken weiter zur Königin unter den Spielen, zum Billard. Eine wahrhaft große Philosophie, größer als sich irgendein bebrillter Universitätsprofessor vorzustellen vermochte. Nehmen wir zum Beispiel den sogenannten Durak oder Trottel, eine Kugel, die aus Versehen eingelocht wird. So konnte auch im wahren Leben jeder an den falschen Ort geraten, einen vernichtenden Schlag bekommen und … sogar sterben! Oder andersherum betrachtet eines großen, nie da gewesenen Glücks habhaft werden, obwohl er dabei selbst keine erwähnenswerte Rolle spielte, sondern lediglich blökte und glotzte wie ein Schaf auf dem Weg zur Schlachtbank. Aber Zack … und schon schwimmst du in Gold oder liegst unter der Erde. Opiatowitschs einstiger Zellengenosse hatte ihm erzählt, dass die Juden ihre Toten schnell begruben, und zwar immer sitzend. Abermals, was für ein interessanter Fakt! Wie reich das Leben doch war! Es stellte sich also heraus, dass alle Juden gewissermaßen unter der Erde saßen wie in einer Straßenbahn und unterwegs waren zum Jüngsten Gericht, nach Jerusalem oder was auch immer sie am Ende erwartete. Diebe gab es in den unterirdischen Straßenbahnen freilich nicht … Doch, Moment, was waren dann die Grabräuber? Erst kürzlich stand in einem zweisprachigen Provinzblatt, dass die Kirche im nahegelegenen Suure-Jaani von Restauratoren der Petersburger Eremitage renoviert wurde und selbige auf dem Friedhof ein Glasgefäß mit Alkohol geleert hatten, in dem das Herz eines alten Baltendeutschen aufbewahrt worden war. Ja, das Leben auf Erden war in der Tat interessant, keine Frage! Äußerst unerwartet! Äußerst reich!

Während er so vor sich hin sinnierte und über den schönen Tag schmunzelte, der in der zaristischen Kleinstadt namens Viljandi anbrach, lenkte der Taschendieb Konstantin Opiatowitsch seine Schritte zurück zur Haltestelle. Für einen Moment blieb er noch bei einem monumentalen Grabmal stehen, auf dem eine Menora, ein siebenarmiger Leuchter, abgebildet war. Hier scheuerte er stets mit dem kleinen Lappen seine Schuhe. Heute musste er einen Schuh sogar ausziehen, weil sich im Profil der Sohle ein winziges Steinchen verfangen hatte. Als er den Blick hob, erschrak Opiatowitsch angesichts der ungewöhnlichen Farbe eines Strauchs. Vor dem grünen Hintergrund loderte er rot wie Feuer!

DER FREMDE

Die Straßenbahn kam mit einem fürchterlichen Poltern und Klirren an, wie ein Bandit, der nach einer durchzechten Nacht ein Tamburin um den Hals hängen hatte. Zu seiner Überraschung fiel dem Taschendieb auf, dass der Waggon gar nicht leer war: Bei der mittleren Tür saß eine männliche Person, gehüllt in einen zerfransten bräunlichen Schal. Auf dem Kopf trug der seltsame Stiljaga eine mit Karakulpelz besetzte Schirmmütze, die aussah wie eine altmodische Ziehharmonika oder ein riesiges Schneckenhaus aus Stoff. Obwohl die Straßenbahn gerade ihre erste Runde drehte, war der gesamte Boden rund um den Platz schon entsetzlich voll Sand, sodass Opiatowitsch beim Passieren des Kuriosums einen flinken Rumbaschritt machen musste, um seine Schuhe zu schonen. Solche Spinner waren nicht seine Spezialität, denn ihre Unberechenbarkeit konnte nur Probleme verursachen. Doch es war offensichtlich, dass dieses Gespenst an der Haltestelle zuvor, am Neuen Orthodoxen Friedhof, zugestiegen war, und deshalb beschloss Opiatowitsch als Profi, es zu riskieren. Schließlich war niemand auf der Welt zerstreuter und nachlässiger als jene, die mit Verstorbenen und Beisetzungen zu tun hatten. Hinterbliebene und Trauernde ließen sich von allen an der Nase herumführen – vom Bestatter und dem Totengräber bis hin zum alten, vor Eau de Cologne triefenden Tubaspieler, der wieder und wieder sein Honorar einforderte. Und diese armen Tröpfe zahlen natürlich! Sie heulen und zahlen! Ganz zu schweigen von den zynischen Gastronomen und all den anderen, die sich berufsmäßig um die Trauergäste scharten. Das war ein hartes Geschäft. Bei diesen gottlosen Schakalen blieb für einen ehrwürdigen Dieb nichts mehr zu holen. Aber versuchen musste man es!

Opiatowitsch setzte sich hinter den Mann und bemerkte sofort den modrig-süßen Geruch, eine seltsame Mischung aus Weihrauch und den Intimproblemen eines alten Menschen. Während er mit dem Brechreiz rang, ließ er seine Hand mehr aus Neugier als aus Profitgier in die Manteltasche des Fremden gleiten. Oho … die Tasche war innen mit teurem Bärenfell ausgekleidet … aber voller Sand! Er zog die Hand erschrocken zurück, da ihm aufgefallen war, wie der Unbekannte etwas vor sich hin stammelte. Der Dieb konnte zwei Sätze verstehen: Dass etwas zu früh geschehen war und dass jemand gewarnt worden war. Der verrückte Kerl sprach mehrmals von … Malaria. Dann aber begann der Spinner immer stärker zu zittern, mit dem unerwarteten Ergebnis, dass sein rindsledernes Portemonnaie neben dem Sitz zu Boden fiel, prall wie ein Pottwal. Opiatowitsch begann unweigerlich, die Melodie von »Murka« zu pfeifen.

ADOLF ISRAILOWITSCH GEYER

In der schmalen Lossi tänav, der einzigen altstädtisch anmutenden Straße Viljandis, in die selbst tagsüber nur selten Licht fiel, hatten es sich zwei ältere Herrschaften direkt vor dem Antiquariat auf Klappstühlen bequem gemacht. Beide stützten sich mit den Ellbogen auf eine dicke, abgenutzte Eisenstange, die vor Ewigkeiten, vermutlich zur Zeit des letzten Zarenreichs, zum Schutz des Schaufensters angebracht worden war, und tranken heißen Tee aus Gläsern. Unmittelbar neben dem kleinen Laden, der eine Geborgenheit wie Abrahams Schoß ausstrahlte, führte ein modriger Durchgang zu einem verwilderten Hof samt Kellerbar, an deren Tür ein Vorhängeschloss angebracht war sowie ein merkwürdiger, ausschließlich auf Estnisch verfasster Hinweis, demzufolge die Lokalität zu vermieten war. Bezog man außerdem noch die stolzen, mit Balustraden verzierten, ansonsten aber schrecklich maroden Balkone oberhalb der Sitzenden sowie die eingeschlagene Glastür des geschlossenen Puppentheaters auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit ein, wurde umgehend deutlich, dass die besten Tage der einstigen Hauptstraße weit zurücklagen. Die ganze Straße vermittelte den Eindruck einer traurigen alten Mamotschka-Mamuschka, die ans Fenster der Ewigkeit gelehnt fortwährend auf die Heimkehr ihres zum Tode verurteilten und längst ermordeten Sohnes wartete.

Der schmalere der beiden Männer, der lediglich vierundvierzig Kilo wog, eine fleckige Krawatte trug und auf den Spitznamen Arkascha hörte, hatte sich eine Plastiktüte zwischen die Beine geklemmt. Diese ließ er niemals aus den Augen, denn in ihr befand sich seine gesamte irdische Habe, im Wesentlichen billige Unterwäsche. Sein ganzes Leben war glücklos, er musste stets ohne Familie oder ordentliches Mittagessen auskommen, oder wie seine Freunde sagten, Arkascha ernährte sich von Musik. Die letzten Jahre hatte er sich mit »Untergrund-Aufnahmen« über Wasser gehalten, auf denen er eindrucksvolle Interpretationen von Klassikern über die Offiziersehre, das verlorene Russland, das glücklose Emigrantendasein und derlei mehr zum Besten gab. Auch das Stück »Murka«, dem wir soeben in Konstantin Opiatowitschs schwelgerischer Darbietung lauschen durften, nachdem ihm das verlockende Bumaschnik auf dem Boden der Straßenbahn zugefallen war, gehörte zu Arkaschas goldenem Repertoire, es war sozusagen sein Bravourstück, seine Koronnaja. Das Stück handelte von einer Bande, die angeführt von einer revolvertragenden Diebin namens Murka nach Odessa kommt. Für die technische Seite dieses altmodischen Musikgeschäfts war Arkaschas Tischgenosse und Freund Adolf Israilowitsch Geyer zuständig, der, als das hiesige Ugala-Theater aufgelöst wurde, in weiser Voraussicht die gesamte Tontechnik der Einrichtung in der Gemeinschaftswohnung über dem Antiquariat untergebracht hatte, weshalb er wie Arkascha nachts gewöhnlich im Eingang zum Geschäft schlief und nicht in seiner Bleibe ein Stockwerk darüber.

Das Zimmer von Adolf Israilowitsch war für sich genommen eine Sehenswürdigkeit. An prominenter Stelle hingen die Fahnen Russlands und Amerikas nebst signierten Postern von Wyssozki und Presley. Letzterer hatte ihm irgendwann sogar eine offizielle Einladung geschickt. Als Geyer mit dem Dokument zu den Behörden gegangen war, hatte man ihm zunächst ins Gesicht gelacht, doch zur Überraschung aller hatte man ihn ausreisen lassen. Der Rest von Geyers Höhle quoll über vor Grammophonen, allerlei Tontechnik, Vinylplatten und merkwürdigen Musiksouvenirs, die er aus dem Ausland mitgebracht hatte. Über Adolf Israilowitschs kurz währende Emigration nach Amerika erzählte man sich die tollkühnsten Geschichten, er selbst sagte nur, dass dort alles totaler Designer-Schick gewesen sei. Der anfängliche Eindruck, dass inmitten des Kabelgestrüpps Chaos herrschte, entsprach nicht der Wahrheit, denn jeder Gegenstand hatte seinen festen Platz. Adolf Israilowitsch zufolge duldeten die Vinylplatten etwa keine Familiarität, weshalb er seltene Exemplare so deponiert hatte, dass sich Platten und Hüllen in unterschiedlichen Schachteln befanden, um einer möglichen Zerstörung vorzubeugen. Den Ehrenplatz in seinem Studio nahmen jedoch die im gleichen Verschlag aus schwarzweißen Röntgenbildern angefertigten Untergrund-Schallplatten ein, die er recht erfolgreich ins Ausland verkaufte. Der kürzlich dahingeschiedenen Republik Estland begegnete Adolf Geyer mit Sympathie, denn er hasste totalitäre Regime, die ihm verwehrten, sich aus ganzem Herzen seiner wahren Berufung und Leidenschaft zu widmen, der Erforschung des frühen Rock’n’Roll, sozusagen dem Ur-Rock oder, wenn man so will, dem Rock vor Rock’n’Roll. Im Großen und Ganzen hatte er jedoch seinen Frieden gefunden, denn obwohl einige Talente unverdienterweise in Vergessenheit geraten waren, hatte das Schicksal ihn, den hoffnungslosen Romantiker und Produzent-Poeten-Sammler alter Schule, vor seinem Tod noch mit Arkadi Dmitrijewitsch alias Arkascha zusammengeführt, einem nationalen Talent des Ur-Rock. Das Verhältnis zu Arkascha, dieser lebhaften Seele, war ein Paradebeispiel dafür, dass wahre Begabung allmählich Status und Designer-Schick mehrte. Jede mit Arkascha verbrachte Minute ließ Adolf Israilowitsch vor Glück seufzen und beschämt an die Zeit vor ihrem Zusammentreffen zurückdenken. Damals verbrachte er glücklose Tage in seiner Musikgarage und dichtete seinen Lieblingsliedern seltsame misslungene Verse und Refrains hinzu. Von Seelenverwandten oder Liebschaften wagte er nicht einmal zu träumen. Doch ein bemerkenswertes Gitarrenriff des Schicksals machte ihn mit Arkascha bekannt, diesem Musikant-Beatle-Stiljaga von Gottes Gnaden!

ARKADI DMITRIJEWITSCH SEWERNY

Geyer erinnerte sich bis ins letzte Detail an ihr erstes Treffen. Er hatte soeben Wasja Koljugin, den obersten Beatlesmann Viljandis, bei sich empfangen, um über mögliche Varianten des Beatles-Tempels zu sprechen, der am Ufer des Sees errichtet werden sollte. Der bärtige Wasja hatte bei seiner Ankunft den Eindruck eines Heiligen und Kirchenbauers erweckt, mit dem merkwürdigen Tempelmodell in den Händen, welches aus Lehm und zwei Fußballhälften gefertigt war. Eine davon sollte die Erdkugel symbolisieren, die andere wiederum Liebe! Sie hatten in der Gemeinschaftsküche von Geyers Kommunalka gesessen, als es an der Tür klopfte und ein vollkommen unscheinbarer Zeitgenosse mit einem schäbigen grauen Anzug und einer Plastiktüte Adolf Israilowitsch um eine Audienz bat. Geyer führte den Unbekannten in sein Kommunal-Universal-Studiozimmer und bat ihn um etwas Geduld, aber vergaß ihn völlig, während er mit Wasja diskutierte. Mit einem Mal – Wasja und Geyer waren soeben bei der Farbwahl des geplanten Heiligtums angelangt und stritten darüber, ob die Liebeshälfte violett oder rosafarben sein sollte – war zu hören, dass im Zimmer offenbar jemand eine Platte aufgelegt hatte, denn es erklang ein raues und leidenschaftlich vorgetragenes Gaunerchanson. Wasja sagte danach, dass er beim Hören dieser himmlischen Klänge das Gefühl hatte, als schlüge ihm eine Taube in der Brust, wie damals, als er in jungen Jahren vom Vogelmarkt nach Hause kam. Solch ein süßer Schmerz, vergleichbar mit dem Gefühl, das man empfand, wenn einen die Geliebte zum ersten Mal kratzte, und dazu etwas äußerst Tragisches, eine Art Letzter-Sommer-Stimmung, fluteten die Küche mit frischem, schimmerndem Birkensaft. Adolf Israilowitsch Geyer erinnerte sich minutiös an jede Bewegung, die folgte. Sie stolperten benommen den Klängen entgegen und erkannten, dass der Besucher die Gitarre von der Wand genommen hatte, sich zwischen die Mineralwasserflaschen und Kekspackungen auf den Tisch gesetzt hatte und mit fest verschlossenen Augen sang. Welch Woljuschka, welch unerklärliche Freiheit durch den zu einem ewigen biografischen Minuszeichen zusammengepressten Mund in die Ohren der hockenden Zuhörer getragen wurde. Sie schlossen Freundschaft, mischten die ersten Platten ab, und schon bald konnten alle Milizionäre heimlich mit ihren Mädels auf dem Handy Arkaschas Ständchen von zwei Kranichen lauschen, die bei Nacht vor einem Gefängnis landeten. Und während die Milizionäre es trieben, heulten sie.

Arkadi Dmitrijewitsch, oder einfach nur Arkascha, kippte die Krümel von der Untertasse in sein Teeglas, rührte um und betrachtete die Straße durch die tanzenden Reflexionen und das schimmernde Glas. Was er erblickte, war beileibe kein Astrallicht, nicht das von Paracelsus beschriebene Lux Naturae, nicht das hinduistische Akasha, nicht das chinesische Qi und auch nicht das Aur aus der Kabbala … Den Resten des billigen Kuchens, die sich in der bräunlichen Flüssigkeit mit den Teeblättern vermischten, war es vollkommen egal, dass in den ersten Versen des vor Urzeiten verfassten Johannesevangeliums Licht und Leben untrennbar miteinander verbunden waren. Für Arkascha war das Licht heute eher mit Heimsuchung und Leid verbunden. In dem Moment, da er diesen Morgen im Treppenhaus seine Augen geöffnet hatte, hätte er selbige am liebsten gleich wieder geschlossen, denn in seinem Kopf, den er von der Plastiktüte hob, dröhnten immer noch die lächerlichen Phrasen und Melodien, die er letzte Nacht im Seerestaurant Vikerkaar zum Besten gegeben hatte. Wenn der Restaurantchef bereits zu Bett gegangen war, ließen Arkaschas Musikerfreunde ihn ab Mitternacht bisweilen sein Untergrund-Repertoire vortragen. Der Oberkellner stöhnte und drohte, aber das kümmerte Arkascha nicht, denn die Armenier wünschten sich zehnmal hintereinander das gleiche Stück, und auch der Ober verdiente daran am Ende eine Handvoll Rubel. An solchen Abenden leuchtete Arkascha auf der kleinen, in ultrastalinistischem Empire gehaltenen Bühne wie der Mond – die Sonne der Junggesellen – oder wie eine exotische Frucht, während die besinnungslosen Tischgesellschaften von den Wellen des Sees, dem starken Alkohol und den Stürmen über dem Meer des Lebens umhergeschaukelt wurden.

Im neuen multikulturellen Viljandi kursierten allerlei Gerüchte über Arkascha, etwa dass er lange im Knast gesessen habe (er war nur in der Ausnüchterungszelle!), dass er das uneheliche Kind eines alten Sowjetkaders sei oder dass er aus Odessa stamme, zu trinken begonnen habe, seine Bankkarte verlor und so weiter und so fort. Auch Arkascha selbst befeuerte derlei Legenden, wenn er wieder an irgendeinem Tisch bei Kaviar und Champagner davon faselte, dass er einst als Pilot in Vietnam gedient habe, und in dem Jahr, als die Republik Estland noch ihre hundertjährige Unabhängigkeit