Goldjungs - Thomas Bruhn - E-Book

Goldjungs E-Book

Thomas Bruhn

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Emil Icke ist arbeitslos. Das Amt hilft ihm nicht weiter. Arbeiten für Kapitalisten will er solange es irgend möglich ist, aus dem Weg gehen. Er gründet das, was ein Kanzler eine Ich-AG nannte: Er macht sich als Privatdetektiv selbständig. Einschlägige Erfahrungen hat er zur Genüge, hat sich per Krimis im Fernsehen auf sein Berufsleben vorbereitet, hat lange mit kleinen krummen Dingern sein Budget aufgebessert und kennt das Milieu.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 307

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Goldjungs

Ein Emil Icke-Roman

Nur für Ostler

Dieses Buch ist mit natürlicher Intelligenz geschrieben;

die Nutzung des Textes zum Training künstlicher Intelligenz nicht erlaubt

©Thomas Bruhn 2025

THOMAS BRUHN

Inhalt

1Ein Tip

2Erster Arbeitstag

3Günter

4Es gibt Arbeit

5Besuch der feinen Dame

6Mittagessen

7Meldestelle

8Ein Anruf

9Bei den Sperlingen

10 Besuch bei der feinen Dame

11 Fengler

12 Krankenbesuch

13 Mittagessen mit Sperling

14 Sanja

15 Frans wieder zu Hause

16 In der Galerie

17 Nach dem Training

18 Freitag nach eins

19 Frühstück bei Gitti

20 Helmi ― Kolle ― Helmi

21 Um die Häuser

22 Nüscht passiert

23 Der zweite Montag

24 Icke inspiziert den Buchladen

25 Nachricht aus Münster

26 Fengler

27 Werftbesuch

28 Die Übergabe

29 Das Leben geht weiter

30 Kalemba

31 Das Etikett

32 Henriette und Emil

33 Schon wieder ein Anruf, wie im richtigen Fernsehkrimi

34 Brummschädel

35 Besuch von den Sperlingen

36 Steuermann

1Ein Tip

Irgendwas ist immer. Selbst wenn man die Füße stillhält, passiert was. Irgendwas ― und nur, weil jemand irgendwo auf der Welt mit den Hufen scharrt. Und eines ist sicher: Einer scharrt immer. Man weiß nie, wer und wo und vor allem kann man nie sagen, was so einer lostritt, und dann steht man in der Landschaft und wundert sich, was auf einen zukommt. Kann was Komisches sein oder was zum Heulen, aber auf jeden Fall ist es etwas, mit dem man nie und nimmer gerechnet hat. In diese Kerbe hat schon so ein verstaubter Franzose gehauen, der sagte, daß alles Unglück allein daherkomme, daß die Menschen nicht ruhig in ihren Zimmern zu bleiben vermögen. Hinter Füße stillhalten und im Zimmer bleiben, steckt derselbe Gedanke: Nur weil das Geld um die Welt marodiert, muß es der Mensch nicht auch tun. Ich jedenfalls halte mich raus aus dem Hassel um die Knete. Icke bleibt schön zu Hause und legt die Hufe hoch ― damit kein Unglück kommt.

Stellen Sie sich vor, alle blieben zu Hause und rührten sich nicht: Die Verkehrsprobleme wären gelöst; nur in den Morgenstunden drängelten sich ein paar Halbwüchsige in Straßenbahn und U-Bahn auf der Suche nach einer Schule; auf den Straßen schlenderten kaum Fußgänger und auf den Bürgersteigen strampelten nur gelegentlich Radfahrer; im Regio fände sich zu jeder Zeit ein freier Sitzplatz und im Gepäcknetz ließen sich Koffer und Taucherflossen mühelos unterbringen. Aber selbst wenn alle zu Hause blieben und die Füße nicht bewegten ― das Geld würde nicht stillhalten. Die Talerchen rollten weiter, immerzu, und die hielten uns auf Trab. Und das ist das eigentliche Unglück.

Von dem, was an diesem Montag auf meinem Speisezettel steht, habe ich keine blasse Ahnung. Es ist nur ein Punkt: Zehn Uhr Büro. Was kommen wird, muß ich abwarten. Was Komische oder was zum Heulen. Sicher ist nur, ich kann keinem die Schuld an dem, was nun geschehen wird, in die Schuhe schieben; sicher ist, ich kann keinen Rückzieher machen; sicher ist, daß ich selbst es war, der seine Füße, respektive seine Klappe nicht stillgehalten hat.

Der Morgen beginnt damit, daß ich aufwache und meine Hängematte durchhängt. Mist, denke ich, als ich mit meinem Hintern auf dem blanken Boden der Tatsachen liege. Die Fliesen der Terrasse sind angenehm kühl von der Nacht, aber hart und so verspüre ich keine Lust, liegen zu bleiben. Ich stehe auf und besehe mir das Unglück. Wie vermutet hat sich die Leine vom Fußende am Geländer durchgescheuert. Darum der Hänger. Als ich den Wecker vom Boden aufhebe und auf den Tisch stelle, fängt er an zu klingeln. Lange her, daß ich dieses Geräusch gehört habe; verdammt lang her, daß ich zur Arbeit mußte.

Ich hatte am falschen Ort ‘ne dicke Lippe riskiert und da haben sie nicht lange gefackelt und mich beim Wort genommen und nun werde ich das Ding durchziehen müssen. Der falsche Ort war das Arbeitslosenverwaltungsamt. Die haben nur gesagt: Na los, machen Sie mal! So ist Emil Icke zu einem Job gekommen und nun muß er ins Büro. Icke und arbeiten ― da lachen die Hühner. Es paßt nicht.

Wenn ich ehrlich zu mir bin ― und morgens vorm Spiegel beim Rasieren bleibt einem nichts anderes übrig ― muß ich zugeben, daß es nicht schlecht sein würde, ein bissel mehr Knete auf Tasche zu haben. Auf der anderen Seite, wäre ich gern weiterhin durch die Tage geschlaumelt und hätte mit den Nichtnutzen dieser Welt in den Kneipen und Cafés im Kiez die Dinge des Lebens beschwatzt. Mit niemandem läßt sich so gut übers Leben reden, wie mit denen, die ihres nicht im Griff haben; mit keinem träumt es sich so gut von Geld, wie mit jenen, die keins haben.

Ob das mit dem Geldverdienen was werden wird, konnten mir die Schnepfe auf dem Amt nicht sagen. Sie hob die Hände: Keine Garantie, sagte sie, die eigene Hilflosigkeit eingestehend. Klappt es nicht, kommen sie eben wieder zu uns. Wir nehmen sie gern. Das sollte tröstlich klingen, war aber reiner Fatalismus. Ich bin ein optimistischer Mensch und hoffe, daß mehr Taler bei meinem neuen Geschäft reinkommen, als mir ― seit ewig und drei Tagen auf Hartz IV mit dem ganzen Programm ― in den Rachen geworfen werden. Aber weil’s so üppig eben doch nicht ist, knoble ich schon lange daran, wie’s mit der großen Kohle was werden könnte. Mit viel Kohle meine ich nicht, daß ich mir ein Auto würde leisten können und teure Reisen und ein Häuschen im Grünen. Mir reichte es schon, könnte ich meine Rechnungen bezahlen statt sie in einem Karton im Flur abzulegen. Es würde weniger Nerven kosten, wäre ich ein brav steuerzahlender Bürger. Im Gegensatz zu all den Bestarbeitern um mich herum würde ich gern Steuern zahlen, auch eine Million im Jahr. So ein fetter Steuerbescheid würde bedeuten, daß zwei bis drei bei mir hängenbleiben. Die würden schon für die Miete und jeden Tag ‘ne Currywurst und zwei, drei Bierchen reichen. Solange bis ich mich durch den Haufen Knete durchgefressen hätte, würde ich nie und nimmer leben. Ginge gar nicht, biologisch gesehen.

Über Jahre schaffte das Amt es nicht, mich zum Arbeiten zu überreden, obwohl es nicht gut für das System ist, wenn einer nicht für Dividende anderer Leute rackert, wenn jemand nicht in die Hände spuckt fürs Bruttosozialprodukt. Die Schnepfe hat sich die Schnute fusselig geredet und mich mit Angeboten zugeschmissen. Aber entweder war ich zu schlau oder zu blöd für den Job, den sie mir anbot ― auf jeden Fall zu teuer. Vielleicht klappte es auch deshalb nie mit einer Anstellung, weil ich auf dem Amt schick in Schale, gereinigt und gelüftet erschien, zum Vorstellungsgespräch allerdings unrasiert, seit Tagen nicht gewaschen und in verlotterter Kledage. Manchmal, wenn ich besonders fies drauf war, weil der Job mich einen Fiedelfurz interessierte, trat ich vor dem Termin draußen in einen Hundehaufen und freute mich diebisch, wenn das strenge Odeur sich im Büro verbreitete. Manchmal malte ich mir sogar ein paar Zähne schwarz. Hatte ich als Kleindarsteller gelernt. Zahnlücken sind gut, um einen schlechten Eindruck zu machen.

Natürlich mußte ich Bewerbungen schreiben. Von wegen der Mitwirkungspflicht, wie sie es auf dem Amt nennen. Kommt keiner drum rum. Sie wollte sehen, daß ich ordentlich Kratzfüße kratzen kann. Um die Bewerbungen ordentlich hinzukriegen, spendierte mir das Arbeitslosenverwaltungsamt sogar einen Lehrgang. Eine Woche mit zweitem Frühstück und Mittagessen und Kaffee und Kuchen und Fahrkarten und allem Drum und Dran; eine Woche nur Ohren aufsperren, Klappe halten und zum Fenster rausgucken.

Nach dem Lehrgang schickte ich Bewerbungen los. Hunderte, Tausende. Aber die Chefs, die sie lasen, winkten ab. Meine Lebensläufe machten zwar wegen ihres ausgefeilten Stils Eindruck, aber spätestens, wenn sie zu der Stelle kamen, an der ich geschrieben hatte, wie hoch ich gedachte meine Dienste honoriert zu bekommen, legten sie die Bewerbung zur Seite. Unverschämt und unbezahlbar, maulten sie.

Apropos Lebensläufe: Anfangs schrieb ich irgendwo irgendeinen Lebenslauf ab und fummelte solange darin herum, bis er halbwegs zu meinem Aussehen paßte; später erfand ich welche von Anfang bis Ende. Mancher hat mir sogar so gut gefallen, daß ich den selbst gern gelebt hätte. Ob mir klar war, daß ich wie gedruckt log? Klaro. Aber ich log legal. Emil Icke war Erfinder, Schriftsteller und Märchenerzähler. Die Qualität der Lebensläufe sprach sich rum. Es dauerte nicht lange, und ich schrieb Lebensläufe für andere. War ein gutes Geschäft. Zwischen hundert und dreihundert Glocken nahm ich, je nach historischer Genauigkeit und Originalität der Formulierungen. Aufpassen mußte ich nur, daß nicht ein und derselbe Lebenslauf in ein und derselben Firma für verschiedene Bewerber auftauchte. Vor allen Dingen sprach sich rum, daß die von mir erfundenen Lebensläufe niemals ihr Ziel erreichten: Die Bewerber kamen nie in die engere Wahl, nie kam einer in die Verlegenheit, einen Arbeitsvertrag unterschreiben zu müssen.

Überhaupt, was soll der Quatsch mit den Lebensläufen? Was geht fremde Leute mein Leben an? Die erzählten mir auch nicht ihres. Interessierte mich auch nicht die Bohne. Denn das, was wichtig ist und was ich wissen will, nämlich wann sie wen wie übers Ohr gehauen haben, verrät doch keiner. Geschäftsgeheimnis nennen sie das. Zwischen den vertragsschließenden Seiten wurde Stillschweigen vereinbart. Dieser Satz stinkt förmlich nach Schweinerei.

Meinen wirklichen Lebenslauf würde ich nie und nimmer an die große Glocke hängen. Mein ungefähres Leben findet sich in meiner Sammlung von Führungszeugnissen. Ab und an, wenn es für eine Bewerbung gebraucht wurde, forderte ich so ein großartiges Papier an. Darin stand nichts. Keine Strafen, keine Vorstrafen und so. Nicht mal Flensburger Punkte. Ich machte mir jedesmal, wenn mir so ein Zeugnis ins Haus flatterte, eine Kopie und schrieb an den Rand all die Sachen, bei denen ich nicht erwischt worden war: Autoklau, Automatenbruch, Buntmetall und Schieberei mit Schnaps und Zigaretten und ein bissel Schwarzarbeit bei Film, Fernsehen und Theater. Kinkerlitzchen um mein Budget aufzubessern. Wer kann schon von Hartz IV leben mit Schuhgröße vierundvierzigeinhalb. Was ich wirklich angestellt hatte, wußten weder Polizei noch Amt. Abgeheftet das Papier ― fertig war der Lack. Dieser Ordner war mein Tagebuch oder meine Bilanz, ganz wie Sie es betrachten. Will man heutzutage eine Spur in der Welt hinterlassen, muß man Künstler sein oder ein sonst außergewöhnlicher Mensch. Wissenschaftler, Erfinder oder Wegbereiter auf einem besonderen Gebiet. Einer, der nur Pflaster tritt, bedeutet nicht viel, der wird vergessen. Von dem bleiben nur schiefe Absätze. Außer sein Name taucht in Akten auf. Und dafür kann man sorgen, daß man seinen Namen in Akten finden wird. Irgendwann werde ich meine gesammelten Werke veröffentlichen. Ich weiß nur noch nicht unter welchem Titel: Der Spieler oder Schuld und Sünde oder Schwejk im Krieg; in dem Krieg, den sie begannen, als wir die Mauer wegpickten.

Eine Ich-AG aufmachen, wie ‘s gerade Mode ist, scheitert am nicht vorhandenen Eigenkapital. Eines Tages jedoch bot sich eine Gelegenheit, wo ich weder Knete noch eine weiße Weste haben mußte.

Den Tip gab mir Günter im Fengler: „Drüben anner Bernauer“, sagte er, „is ‘ne Detektei pleite jejangen. Die fehlt jetzt inn Kiez, dit is deine Chance.“

„Woher weißt du das?“

„Die hamm mir ’n Sack Schlapphüte und Trenchcoats für den Fundus anjeboten.“ Günter ist Oberkostümchef im Theater.

„Und?“

„‘n Zwanziger ha ick jejehm. Mehr war nich drin.“

„Ein Geschäft übernehmen, das krachen gegangen ist?“ fragte ich, „wie soll das gehen in miesen Zeiten?“

„Alle erfolgreiche Unternehmen wurden in Krisen jegründet.“ Er drückte mir einen Postsack, der ihm bisher als Popokissen gedient hatte, in die Hand und sagte: „Kiek mal wat so rinnpaßt. Vielleicht kannste wat jebrauchn. Mußt ja nich jleich den Laden übernehm?“

„Würde mir nicht einfallen, nicht im Westen. Nicht bei den bösen Ultras und ihren willigen Komplizen. Nie und nimmer!“

Ich radelte rüber und wartete in der Kneipe gegenüber, bis die Leute von der Entrümpelungsfirma Pause machten. Ich nahm den Postsack und ging frech wie Oskar durch die Räume und sammelte ein, was ich gebrauchen konnte: Fotoapparate, verschiedene Objektive, Diktiergeräte, Ferngläser, Handschuhe aus Stoff und aus Gummi, Tassen, Locher und Tacker und ein paar Akten von nicht abgeschlossenen Fällen, Kaffeepötte und Teetassen, Zuckerdosen und Milchkännchen. Zwei Sätze kleine silberne Löffel und fünf Kuchengabeln. Einer von den Rumpelmännern, er hatte sich Stullen für die Mittagspause mitgebracht und hockte mit einer Flasche Bier in der Küche, fragte, was ich hier zu suchen hätte. Gerichtsvollzieher, sagte ich und hielt ihm einen Vollstreckungsbescheid unter die Nase. Photoshop. Klaro. Er nickte nur.

Beim nächsten Termin auf dem Amt erzählte ich, was ich so angestellt hatte um in Lohn und Brot zu kommen. Die Schnepfe war hocherfreut und sagte: Weiter so! Wenn Sie schon so viel beisammenhaben, machen Sie weiter. Hier ist ein Empfehlungsschreiben fürs Gewerbeamt, wegen der Lizenz. Und hier ein Antrag für die Anschubfinanzierung. Es sollte ein Witz sein, aber so fing die Chose an.

2Erster Arbeitstag

Und nun? Erster Arbeitstag. Zur Feier des Tages scheint die Sonne. Gute- Laune-Wetter. Irgendwie ungerecht finde ich. Den ganzen Frühling und den halben Sommer hatte es geregnet; dann kam der Sommer und jetzt, da ich ins Büro muß, zeigt sich nicht ein Wölkchen am Himmel. Von ausgleichender Ungerechtigkeit spricht das Sprichwort in diesem Fall.

Ich schmeiße mich in Schale: marineblauer Anzug aus bestem Tweed. Ist zwar keiner von Harris, aber was nicht ist, kann noch werden. Wenn ich fleißig bin und eine große Portion Massel habe. Dazu hellblaues, dezent gestreiftes Hemd mit weißem, sanft durchgescheuertem Kragen ― ist nicht zu sehen, wenn du Krawatte trägst, hatte Günter gesagt ―, dazu ein dunkelblauer Schlips mit goldenen Steuerrädern. Die Steuerräder finde ich zwar zu fett, aber einen anderen Strick in passenden Farben gibt mein Kleiderschrank nicht her. Den Knoten habe ich in der vorigen Woche geübt, so daß ich keine Zeit vertrödele. Den Hut behalte ich in der Hand.

Das Büro liegt im Parterre. Normalerweise will der Bengel in mir auf dem Weg nach unten Hopse spielen und die letzten Stufen vor jedem Absatz überspringen, aber der seriöse Firmeninhaber in Anzug und mit Schlips kann sich solche Kindereien nicht leisten. Außerdem hat es neulich im Knie geknackt und Icke sagte sich: Emil, aufgepaßt und ruhig Blut und brich dir nicht auf den letzten Metern vorm Reichtum die Gräten. Ich reiße mich am Riemen und stolziere die Treppen graziös wie ein Graureiher hinunter. Ich öffne die Tür zum Büro, hänge den Hut an den Haken, setze in der Küche Espresso auf und schiebe die Currywurst, die von vorgestern übrig ist, als ich meinen Arbeitsplatz eingerichtet hatte, vom Kühlschrank in die Mikrowelle. Die paar Sachen, die ich brauche, nehmen sich auf dem riesigen Schreibtisch recht verloren aus: ein paar Bleistifte in einem Kaffeebecher, ein Schreibblock, Hefter und Vokabelhefte aus Altbeständen, einen Kasten mit Karteikarten für die Adressen und eine Reiseschreibmaschine. Hinter mir im Regal stehen Sachen aus der Detektei. Das Geschirr, hat Locke gesagt, kannst du nach oben in deine Butze tragen, wir haben genug davon.

Ich klemme mir die Zeitung untern Arm, gehe, in der linken Hand den Kaffee, rechts die Wurst, in die Werkstatt. Ich öffne das obere Fenster des Schaufensters, setze mich in den Sessel, lege die Füße, die in schwarzen auf Hochglanz polierten Zugstiefeln stecken, auf den Schreibtisch und komme mir lässig vor. Außerordentlich lässig. All das tue ich mit einer Selbstverständlichkeit, als ob ich schon ewig und drei Tage hier rumhänge. Ich sage: „Guten Morgen.“

Icke wohnt unterm Dach. Schräge Wände wohin man guckt. Seit vier Wochen. Schicke Wohnung mit Mietpreisbindung. Zwei Zimmer, eins zum Hof, das andere nach vorn raus zur Straße, daneben Küche und Bad, zwei Terrassen, eine nach Norden, die andere nach Süden. Ein mittleres Träumchen. Bin ich eingezogen, weil sie mich aus meiner geliebten Nummer 19 rausgeschmissen haben. Ich war der letzte, der die Stellung gehalten hat. Die anderen Mieter? Längst in alle Winde zerstreut. Aber mit der schicken Wohnung und der passablen Miete haben sie mich dann doch überredet. Wegen Reko und so.

So bin ich aufgestiegen, vom Parterre unters Dach. Luft und Licht ohne Ende. Als ich die Wohnung besichtigte, saß eine Elster auf dem Terrassengeländer. Da hatte die Bleibe ihren Namen weg: Bad Elster.

Die Wohnung in Nummer 19 hieß Unter den Ratten. Die possierlichen Viecher waren vor Jahren aus dem Keller in die Decke zwischen Parterre und erstem Stock gezogen. Im Keller war’s denen zu gruselig. Wenn ich leise war, konnte ich die Alten trappeln und die Jungen piepsen hören. Erwartete ich Damenbesuch, vertrieb ich die Tierchen mit lauter Musik. Am besten funktionierten Miles Davis und Richard Wagner. Zwei großartige Musiker und noch großartigere Arschlöcher. Da waren die Tierchen meist länger als eine Woche weg. Überhaupt schienen sie Trompeten nicht zu mögen. Querflöten aber liebten sie. Bekam ich Besuch vom Gerichtsvollzieher legte ich gewöhnlich eine Scheibe mit Stücken von dem querpfeifenden Friedrich auf. Ich konnte spüren, wie sie die Ohren aufstellten und zu der Ecke liefen, wo sie den besten Stereo-Empfang hatten. Dort kuschelten sie sich aneinander, schlossen die Augen und lauschten selig der Musik. Ab und zu zuckte ein Schwänzchen derweil ich mit Herrn Kramer Tee vom Besten schlapperte. Der füllte seine Zettel aus, machte hier ein Kreuzchen und strich dort was durch und zeigte mir, wo ich unterschreiben mußte. Er genoß die halbe Stunde, die er sich Zeit für mich genommen hatte. Gute Musik, duftender Tee, keine Diskussion und keine Mühe. Er wußte von vornherein, daß es bei mir nichts zu pfänden gab und ich wußte es auch. Selbst wenn ihm etwas Pfändbares in die Augen gefallen wäre, er hätte es übersehen. Ein Pflastertreter und ein Klinkenputzer, eigentlich auf derselben Seite des Lebens wie ich. Er ruhte in meinem Sessel, den ich irgendwann im Theater gestemmt hatte, vom Laufen und von den Ausreden seiner Kunden aus. Das ist der Sessel eines Intendanten, gab ich an. Hat wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich, Brecht höchstpersönlich dringesessen.

Daß in die Goldschmiede ein Arbeitsplatz frei war, hatte ich auf dem Schild gelesen, daß im Schaufenster stand. Überhaupt das Schaufenster, das war nicht so ein einfallsloses wie bei den Schmieden üblich, mit allerlei Klunkern und Ringen und Kettchen in Schachteln und auf Tabletts hinter martialischen Gittern. Hier gibt es eine Puppe, eine Frau mit Lockenwicklern, die auf ein Kissen gelehnt neugierig aus dem Fenster herausschaut und dezent mit allerlei Schmuck bestückt ist. „Meine Frau Holle“, sagt Locke.

Ein stinknormales Büro wollte ich nicht. Ein bißchen ausgefallen sollte es schon sein, so ausgefallen wie das Schaufenster es versprach. Vor allem aber müßte ich die Miete berappen können ohne Klimmzüge veranstalten zu müssen und es war zu bedenken, daß ein kurzer Weg zur Arbeit Gold wert ist.

So klingelte ich eines Tages und fragte den Typen, der öffnete, ob er sich vorstellen könnte, mich als Untermieter zu haben. Er musterte mich von oben nach unten: Ich trug ein Fleischerhemd und braune ausgeschlabberte Kordhosen. Ich musterte ihn von unten nach oben: Er trug braune ausgeschlabberte Kordhosen und ein Fleischerhemd. Erst zögerte er, aber dann siegte wohl die Aussicht auf Gesellschaft. Der Gedanke, sich jemanden ins Geschäft zu holen, geisterte schon einige Zeit durch seinen Kopf, aber er hatte wohl eher an jemanden derselben Profession gedacht. Später würde ich wissen, daß es die Aussicht auf gute Unterhaltung war, die Locke bewog, mich hereinzubitten. Er war wild auf Klatsch und Tratsch, und so wurden wir uns einig.

Unsere Werkbänke stehen sich gegenüber. Von Angesicht zu Angesicht, sagt man wohl. Er ist seines Zeichens gelernter und wahrhaftiger Goldschmied. Er ist an einem solchen Platz richtig, ich bin falsch. Aber das ist mir egal, ich fühle mich prima. Hinter ihm an der Wand hängt sein Meisterbrief. So ein kalligraphisches Meisterwerk mit unendlich vielen Schnörkeln in rot und schwarz. Druckt eine Firma in Stendhal. Buchdruck. Das Feinste vom Feinen.

„Morjen“, brummelt er. Nie werde ich verstehen, warum einer, der ein Geschäft betreibt, so griesgrämig aus sich herausguckt. Ich hatte nicht erwartet, daß er zur Begrüßung einen roten Teppich ausrollt und mir Blumen überreicht, aber über ein Liedchen hätte ich mich gefreut.

„Nicht griesgrämig“, sagt Locke, „es ist Konzentration.“ Vorsicht war angebracht, offensichtlich kann er Gedanken lesen. „Aber gut siehst du aus mit Anzug. Wie Klamotten doch Menschen verändern. Stimmt, was das Buch der Sprüche verkündet: Kleider machen Leute.“

„Tun sie. Aber anders, als gemeinhin gedacht wird: die Kleider verändern die Leute, die sie tragen, aber auch jene, denen die schnieke Klamottage gegenübertritt. Da kuscht und buckelt sich das Volk klein vor dem schönen Schein. Sonst hätte die Geschichte mit dem Hauptmann in Köpenick nie funktioniert. Icke ist derselbe wie gestern.“

„Bist du nicht. In deinen Labberhosen hättest du dich nie getraut, die Beine auf den Tisch zu legen.“

Ich sage nichts. Erstens muß man nicht zu allem und jedem seinen Senf dazugeben, und zweitens vermag ich nach fünf Minuten die philosophischen Künste Lockes nicht einschätzen. Wir befinden uns noch in der Abtastphase.

Locke kiekt auf die Schreibmaschine: „Was willst du damit?“ fragt er und zieht skeptisch die rechte Braue in die Höhe.

„Rechnungen schreiben.“

„Typisch Businessman, noch keinen Handschlag getan und schon ans Schreiben von Rechnungen denken.“ Auch die zweite Braue wandert nach oben. Zwischen beiden bildet sich eine Furche, tief wie der Marianengraben.

Durch das geöffnete Fenster dringen die Geräusche der Straße herein: Straßenbahnen rauschen, Autotüren klappen, Hupen hupen, Fahrräder klingeln, von weither ein Signalhorn. Den Unterschied zwischen Krankenwagen, Feuerwehr und Polizei werde ich nie heraushören. Wenn es denn überhaupt einen gibt. Der ganz normale Wahnsinn, den ganz normal wahnsinnige Leute in einer ganz normal wahnsinnigen Großstadt vormittags veranstalten. Dazu gurrt eine Schwadron Tauben, die sich auf einem Reklameschild der chinesischen Nudelbraterei im Nachbarhaus niedergelassen hat. Es ist der Klang, den ich von allem Anfang in den Ohren habe. Er hüllt mich ein, er trägt mich, er sorgt dafür, daß mein Herz seinen Rhythmus hält. Wo auch immer ich in dieser Stadt wohnte, Straßenbahnen und Autos gehörten dazu. In Grünau und Schöneweide mischten sich gelegentlich Hörner von Schiffen darunter. Diese Hörner erweckten Sehnsucht nach Meer. Es ist kein Zufall, daß die Leute hier Salzwasser in den Adern haben. Es sind die Signalhörner der Schuber, der Fähren und Dampfer und das Kreischen der Möwen. Die Stadt hat Anschluß an die Weltmeere. Da ist Fernweh programmiert. Das ist der einzige Nachteil von meinem Kiez auf dem Berg ― ist weit weg vom Wasser.

Mutig beiße ich in die Wurst. Nichts geht über ein ausgewogenes Frühstück. Es passiert, was passieren muß: Curry kleckert aufs Chemisett. Dort, wo Abzeichen zu stecken pflegen, ist nun ein ekliger gelber Fleck. Das Curry von Konnopke ist berühmt wegen seiner feinen Schärfe und der fetten Süße und weil es fast alles wegätzt. Ich benutze es gern zum Reinigen der Fahrradkette und der Radkränze. Auf meinem feinen Zwirn hat Curry nichts zu suchen.

Es braucht sicher einiges Geschick und chemisches Wissen, um den Fleck rauszubekommen. Mit beidem ist es so eine Sache.

Ich weiß nur, daß es schnell gehen muß und beeile mich, in die Küche zu kommen und mit heißem Wasser und Kernseife das schlimmste zu verhindern. Im Hinterkopf überlege ich schon, wie ich Günter beibiegen kann, daß ich ein neues Jackett brauche. Mit so einem Fleck auf dem Aufschlag kann ich nicht unter die Leute gehen. Er hat mir den Anzug spendiert, nur er kann mir Ersatz beschaffen.

3Günter

Günter treffe ich oft bei Fengler. Er sitzt stets auf demselben Platz, links in der Ecke. Sein stromlinienförmiges Profil mit der langen, spitzen Nase, der fliehenden Stirn und ebensolchem Kinn, pickt Löcher in die von Rauch eingedickte Luft. Mit sanften Glubschaugen und spöttisch gekräuselten Lippen, wacht er über den Eingang und über das Geschehen am Tresen. Als ich ihm vor einer Woche erzählte, daß ich einen Job habe, fragte er, was ich anstellen wolle. „Du hast ständig laut jetönt, nie für Kapitalisten zu malochen“, lästerte er.

„Tu ich auch nicht, ich mach mich selbständig.“

„Selbständig? Als wat willste auftreten?“

„Schnüffler. Privat. Übrigens, der Tip ist von dir. Kiek mal, die Lizenz.“

„Photoshop?“

„Nee, vollständig echt. Frisch vom Amt. Gerade abgeholt. Die Spucke unter der Gebührenmarke ist noch nicht trocken.“

„Brauchteste dochn Führungszeugnis vonne Bullezei.“

„Hatte ich.“

„Woher?“

„Photoshop.“

„Mußte da nich irgendeine Qualifikation für ham.“

„Ich bin im Polizeikrankenhaus geboren worden.“

„Dit hat denen uff ‘s Jewerbeamt jereicht?“

„Die waren hin und her gerissen vor Begeisterung.“

„Abstammung is bei die Demokratens heutzutage eben vülle mehr wert als ne solide Ausbildung“, sagt Günter und zündet sich eine neue Zigarette an. Neben vielen Künsten beherrscht er die, Rauch in Kringeln aufsteigen zu lassen. Er pustet Kringel durch seine gespitzten Lippen. Manchmal, wenn er gut drauf ist, läßt er die Olympischen Ringe zur Decke steigen. Zwar nicht in Farbe, aber immerhin.

Günter ist sichtlich beeindruckt. Er hatte nicht damit gerechnet, daß ich seinen Tip ernst nehmen würde. Mit offenen Augen ins Unglück, so sieht die Sache für ihn aus. Aber er ist Kumpel und bietet mir Hilfe an. Vermutlich fühlt er sich ein wenig verantwortlich für die Dummheit, die ich im Begriff war, zu begehen. Er rettet sich in sein Fachgebiet: „Willst du in die Klamotten auf Verbrecherjagd jehn?“ Er lehnt sich auf seinem Stuhl so gut es geht zurück und schaut an mir runter und hoch und wieder zurück. Diesen abschätzenden Blick macht ihm keiner nach. Meist liegt leises Bedauern über die Kleidung darin, ganz selten Hochachtung. Nie aber würde er über das Aussehen von Leuten spotten, die jeden Pimperling umdrehen müssen und es sich nicht leisten können, gute Sachen zu kaufen. Sein Spott beschränkt sich auf diejenigen, die Geld haben und es dazu benutzen, ihren schlechten Geschmack zur Schau zu stellen.

„Warum nicht? Ick darf nicht auffallen.“

„Heute fällste uff, wenn de nich uffallen tust. Ick hät wat für dich. Komm morjen inn Fundus. An der Spitze. Bei die Werkstätten. Weeßte wo dit is?“

„Klaro.“

Ich trudle mit ‘s Rad hin. An der Yucca vorbei, in der Westler seit eh und je ihr Geld zum Fenster rauswerfen. Heute feiern hier nur Dummbatze ab, die noch nicht geschnallt haben, daß mittlerweile die Nutten woanders steppen. Günter empfängt mich mit einem kühlen Bier und legt mir ein Päckchen mit Anzug, Weste und Hemd auf den Tresen. „Hier sind noch Zuchstiebel, mit Sandalen sieht ‘n Anzug blöd aus, und mit so Turnschuhen, wie‘et heute Mode is, wirst de nich rumrennen. Nich wenn icke dir ausstatte, würde dir stante pede die Lizenz entziehen. Habe schließlich einen Ruf zu verlieren. Brauchste noch ‘n Hut.“ Er nimmt ein Bandmaß und mißt den Umfang meiner Birne. Zweiunsechzich, Mönsch aber auch“, staunt er. „Wat für ’n Wasserkopp. Wird nich einfach.“

„Bei der Fahne habe ich ein halbes Jahr gewartet, bis mir der BA-Bulle einen Stahlhelm verpassen konnte. Mußte erst ein EK in Eggesin nach Hause gehen.“

„‘n halbet Jahr? Solange mußte bei mir nich warten.“ Günter verschwindet in den Weiten und Tiefen des Lagers und kommt nach ein paar Minuten mit einem noblen Stück aus feinster Wolle, Karstadt Hermannplatz, 1929, zurück. „Paßt, wackelt und hat Luft“, grinst er zufrieden. „Boerne hätte seine helle Freude dranne an dir.“

„Birne?“

„Nich doch Birne: Boerne. Is nich so wichtig. War mal Gast am Haus. Ick hab ihn eingekleidet. Ein Schöngeist und Gourmet und ein Angeber.“

„Laß mich raten: Immer gut gekleidet?“

„Jetroffen.“

„Soll ich die Sachen nicht anprobieren?“

„Willste mir veräppeln? Die Kledage paßt dir vorne wie hinten und oben wie unten. Dit is mein Beruf.“

Ich streiche über den edlen Stoff: „Was kostet der Spaß?“

„Nüscht“, sagt er, „der Spaß ist bei der letzten Inszenierung rausgeflochen und liegenjeblieben. Fracht kein Schwein nach. Darfst mir mal abfüllen, bei Jelegenheit.“ Günter schiebt das Päckchen mit Grandezza in einen Postsack und sagt: „Toi, toi, toi ― und weil dut bist, lege ick nochn Trenchcoat zu, vonne Firma ausm Wedding.“

Icke grinst zurück. So vornehme Kledage kann Icke sich nie und nimmer nicht leisten, aber Günter ein paar Biere zu spendieren, das sollte in der Anschubfinanzierung vom Amt drin sein. „Was für eine Inszenierung?“ fragt Icke.

„Alexanderplatz oder Dickicht, wat weeß ick.“ Die Unwissenheit ist gespielt. Günter ist nicht nur akkurat, er ist penibel und kann sich an jeden Knopp erinnern und die Vorstellung, in der der auftrat und wer ihn an der Backe hatte.

Natürlich nimmt Icke das Angebot dankend an. Aber es soll nicht unerwähnt bleiben, daß er neben dem Schlips auch die Socken und das Einstecktuch mitbringt. Socken und Tuch in todschickem Rot. Blau und rot sieht irre aus, wie er findet und paßt auch gut zu den Steuerrädern auf der Krawatte. Auch wenn Icke den Spruch seiner Großmutter noch im Ohr hat: Rot und blau putzt die Sau. Sie hätte beide Farben nie gemeinsam getragen. Aber heutzutage ist das Gott sei Dank anders. Am besten gefällt ihm marineblau und grün. Muß aber ein besonderes Grün sein, so ein blasses. Die Kombi ist so schräg, da kommt nichts anderes mit. Außer die Fahne der Republik Komi.

Als ich Günter das erste Mal in voller Montur im Fengler über den Weg laufe, mustert er mich schräg von oben bis unten und zurück, klopft mir anerkennend auf die Schulter und sagt: „Schon janz jut. Aber merken Sie sich, Herr Geheimkriminal, zu Tweed niemals Seidensocken. Niemals!“

Das mit dem Abfüllen, ist so einer von Günters Sprüchen. Er ist bekannt dafür, daß er nur zwei Biere am Abend trinkt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das ist sein Ritual. Es kommt darauf an, die Nieren zu spülen, sagt er, nicht sie zu baden. Dabei raucht er genüßlich Zigaretten, die er mit Daumen und Zeigefinger hält, und beschaut sich die Welt aus den Tiefen seiner braunen Augen. Sitzt er mal nicht im Fengler, trinkt er nach der Vorstellung in der Kantine des Theaters. Da kann es schon mal vorkommen, daß er über die Stränge schlägt und drei Biere trinkt. Aber auch nur, wenn Peter, der Wirt, ihm das letzte spendiert.

4Es gibt Arbeit

Ich setze mich in meinen Drehsessel und reibe mit einem nassen Handtuch auf dem Fleck herum. Locke sagt: „Laß gut sein. Nimm Selterwasser, würde Schotty in dem Fall auch nehmen. Und dann wart ab, bis es trocken ist. Wenn der Fleck bleibt, mach ich dir ‘ne schöne Brosche drauf.“

„Schotty? Was ist das?“

„Wer ist das, muß es heißen: Heiko, der Tatortreiniger.“

„Der kennt sich mit sowas aus?“

„Wer, wenn nicht er.“

„War ein Anruf für mich?“ frage ich.

Locke zeigt auf einen Zettel: Kira, Ehemann verschwunden, darunter eine

Telephonnummer.

„Nur der eine?“

„Wer kommt auf die Idee einen Schnüffler vor zehn anzurufen. Überhaupt, wie kommt es, daß du so früh hier bist. Soll das zur Gewohnheit werden?“

„Der frühe Vogel“, sage ich.

Die Uhr zeigt zehn vor zehn.

„Der Vogel kann mich von vorn und von hinten.“

„Von hinten? Macht er nicht. Der hat Geschmack.“

Locke zieht die Augenbrauen zusammen und sagt: „Über Geschmack läßt sich streiten.“

„Nur über guten.“

„Was macht man mit schlechtem?“

„Den übersieht man.“

Locke ist es nicht gewohnt, daß ihm jemand widerspricht; das kommt so gut wie nie vor. Früher saß auf dem Platz, auf dem ich jetzt sitze, seine Frau. Die gab ihm Kontra wenn’s geboten war. Sanja hatte aber eines Tages, weil sie befürchtete von Lockes ständigem Granteln Magengeschwüre zu bekommen, ihren Arbeitsplatz nach oben in die Wohnung verlegt. Mich hält das nicht ab, den Platz zu mieten; ich weiß noch nichts von Lockes Grund-stimmung. Und als ich merke, was mit ihm los ist, gibt es für mich zwei Möglichkeiten: Entweder ich versuche seine Launen auszuhalten, oder ich drehe den Spieß um und gebe einen Schelmen drauf. Diese Methode hatte ich mehrmals erfolgreich praktiziert; Locke wird kein leichtes Spiel mit mir haben.

Punkt zehn klingelt Lockes Telefon. Er nimmt den Hörer ab und schnurrt: „Guten Morgen, die Firma Goldschmidt.“ Er wird ganz geschmeidig, als er hört, wer am andern Ende ist. Er erhebt sich sogar von seinem Sitz und scharwenzelt: „Selbstverständlich gnädige Frau, wie verabredet. Ich erwarte Sie.“ Den Hörer legt er mit besonderer Vorsicht auf, die Locke wirft er mit einem flotten Schwung aus der Stirn. Locke heißt Locke, weil er Platte trägt. Das Kränzchen, das sich von Ohr zu Ohr um das Haupt windet, zählt nicht. Über der Stirn aber kringelt sich ein einsames prächtiges Löckchen und gibt ihm seinen Spitznamen. Wenn ich mich nicht irre, gibt’s ein Bild, da trägt Napoleon eine ähnliche Frisur.

„Neue Kundin“, sagt Locke mit entschuldigendem Tonfall für sein devotes Geschwätz. Er wischt sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn. „Sie liebt Brillanten und bringt die Steine, die ich in ein Collier einsetzten soll.“

„Klingt schwierig.“

„Die Arbeit ist Routine, aber die Kundin scheint nicht einfach zu sein. Vermutlich keinen Geschmack die Dame, nur Geld. Geerbtes Geld. Ihr Mann war ein hohes Tier bei der Treuhand und scheint gut beiseite geschafft zu haben.“

„Und dann wohnt sie in dieser Gegend?“

„Wie kommst du darauf? Gatow. Wassergrundstück an der Havel mit Hausdame und Gärtner.“

„Wie ist die auf dich gekommen?“

„Qualität spricht sich rum.“

„Bis in den westlichsten Westen?“

„Gerade dorthin.“

„Du magst sie nicht?“

„Ich kenn sie nicht. Eine Freundin aus längst vergangenen Zeiten hat ihr meine Adresse gegeben. Ich hätte den Auftrag ablehnen sollen. Das Telefonat neulich war wenig erquicklich. Auf der anderen Seite, was haben wir unterm Politbüro gesagt, wenn uns ein Auftrag nicht in den Kram paßte? Blick frei geradeaus aufs Honorar. Bei dem, was an Verdienst in Aussicht steht, konnte ich nicht Nein sagen. Übrigens“, er sieht mir tief in die Augen, „Miete ist im voraus vereinbart.“

„Kommt, wenn ich den ersten Vorschuß kassierte habe.“

„Wann wird das sein?“

„Wird nicht lange dauern“, ich drehe den Zettel mit dem Namen und der Telefonnummer zwischen den Fingern, „Brauch nur anrufen.“

„Wann rufst du an?“

„Nach dem Mittagessen. Icke muß sich Mut anfressen.“

Ich knabbere an der trocknen Schrippe und schaue aus dem Fenster. „So ein großes Schaufenster nach Süden hat was. Hast den lieben langen Tag Kino vor der Nase“, sage ich.

„Man gewöhnt sich dran. Ich guck gar nicht mehr raus.“

„Aber die Leute rein.“

„Die gucken meiner Frau Holle ins Dekolleté.“

„Die Neugierigen linsen vorbei.“

„Ja, aber nur die, die nicht von hier sind. Was gibt’s schon zu sehen. Einer der feilt und lötet. Das haben sie bei jedem Klempner.“

„Wann will die Brillantine hier sein?“

„In einer Stunde. Elf. Punkt elf. Ick hoffe, daß sie pünktlich ist. Die aus dem Westen kennen die Uhr nicht.“

„Na, mal keine Vorurteile“, sage ich und schlage die Zeitung auf: Irgendwo tagt ein Parteitag. Flüchtlinge ertrinken im Mittelmeer. Jahresdurchschnittstemperatur steigt in Europa um mehr als ein Grad und im Gegenzug sinken die Reallöhne. In Kanada fallen Eisbären vor Hunger in ein Dorf ein. Polizei geht verschärft gegen Clankriminalität vor. Die sollten statt einer Familie eine Partei gründen oder einen Verein oder eine Firma, dann können ihnen die Bullen nichts. So macht man das in diesem Land. Familie ist längst durch. Großfamilie sowieso.

Ich angle ein Fernglas aus dem Regal und schaue zur anderen Straßenseite, wo gerade eine Fee vor die Tür eines Ladens tritt und sich eine Zigarette ansteckt. Dieser Auftritt verwandelt die Szene in ein Märchenbild. Ich kenne das Prozedere, hab ’s von meiner Südterrasse schon mehrmals gesehen. Aber mit einem Fernglas ist die Nummer noch mal so schön.

Locke wirft nur einen kurzen Blick rüber. „Traumfrau“, sagt er, „Marokkanerin. Leїla. Verkauft und serviert. Prinzessin aus Tausendundeiner Nacht.“

„Du kennst sie?“

„Kennen ist zuviel gesagt. Aber wenn du mal was anderes als so ‘ne widerliche Wurst essen willst, können wir zum Mittagessen rüber gehen. Nordafrikanische Küche auf französisch. Leckst du dir alle Finger nach.“

„Nach dem Essen?“

„Und der Frau. Lernst du auch ihren Mann kennen. Ist der Koch.“

„Mußt du einem alle Hoffnung nehmen?“

„Zähne zieht man, bevor sie schmerzen“, grinst Locke so fies er kann und wirft den Bunsenbrenner an.

Dann sehe ich nur noch weiß. Die Frau verschwindet hinter einer Wand. Ein Lieferwagen schiebt sich vor unser Schaufenster.

„Wenn‘s am schönsten ist“, maule ich.

„Die bringen Wäsche und all das Zeug für die Ferienwohnungen. Das dauert nicht lange.“ Locke hebt nicht mal den Blick, aber hinter der Flamme geht sein Grinsen in leises schadenfrohes Kichern über.

Ich blättere in der Zeitung. Wie jeden Montag habe ich das Gefühl, daß die Nachrichten am Wochenanfang besonders trostlos daherkommen. Die einzigen Seiten, die ein wenig Spaß versprechen, sind die mit dem Sport. So ein Sieger auf dem Treppchen ist stets ein erhebender Anblick. „Ich müßte was für meine Gesundheit tun“, sage ich. „Laufen zum Beispiel, laufen wäre gut. Vielleicht versuche ich einen Marathon. New York oder Sidney.“

„Warum nicht Berlin?“

„Stell dir vor, meine Klienten sehen, wie ich mich übern Acker schleppe. Die werden sagen: Wie will der Verbrecher jagen, so langsam wie der rennt? Dem läuft doch jeder elfjährige Taschendieb weg. Da fallen meine Preise noch bevor ich im Ziel bin in den Keller. Berlin ist ein Ding der Unmöglichkeit.“

„Warum alle Leute, die ich kenne, laufen möchten, und dann gleich einen Marathon, werde ich nie verstehen“, sagt Locke. „Die meisten kommen nicht mal ohne künstliche Beatmung um den Block. Das mit dem Traum vom Marathon muß ein genetischer Defekt sein.“

„Aus Zeiten, als wir von den Bäumen in die Savanne fielen und plötzlich laufen mußten, um was zu futtern zu kriegen.“

„So wird es sein.“

„Ist aber gut für die Gesundheit.“

„Sagt wer?“

„Jeder Arzt.“