Golf und Golems - Regina Mars - E-Book

Golf und Golems E-Book

Regina Mars

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Beschreibung

Nats furchtbares Familientreffen wird jäh unterbrochen, als ein SUV durch das Schaufenster des Restaurants bricht. Gesteuert wird er von einem besoffenen Golem, einem Wesen, das es eigentlich nicht mehr geben sollte. Und er ist hinter Nats großem Bruder her! Wer will Orion umbringen? Warum? Kann Nat seinen Bruder retten, obwohl er der schlechteste Vampir aller Zeiten ist? Währenddessen sitzt Sofie in Untersuchungshaft und langweilt sich zu Tode. Ihre einzige Ablenkung sind Blutsaugersoaps... und eine sprechende Taube, die behauptet, ihr helfen zu können. Enthält: Gourmetblut, Golems und ein brennendes Golfmobil.

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Fisch und Blut
Warteschleife
Stahl gegen Ton
Gefährten
Ablenkung
Verfolgungswahn
Ein Plan
Tote Trolle
Grüner wirds nicht
Gurke
Feuer und Gras
Tiefpunkt
Ausbruch
Ein verdächtiger Verdacht
Die Wiege der Golems
Argento
Die Wahrheit
Endkampf
Morgengrauen
Epilog

Impressum

 

Die Wächter von Magow 2: Golf und Golems

Text Copyright © 2021, 2023 Regina Mars

Alle Rechte am Werk liegen beim Autor.

Regina Mars

c/o Block Services

Stuttgarter Str. 106

70736 Fellbach

[email protected]

www.reginamars.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Stockphotos von Adobe Stock

Magisches Symbol: © robin_ph/Adobe Stock

Stadtplan: © pbardocz/Adobe Stock

Stadtsilhouette: © FSEID/Adobe Stock

Schwert: © shaineast/Adobe Stock

 

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Fisch und Blut

 

Der Geruch nach Blut tränkte die Luft, Reißzähne blitzten und ein bleicher Mann hackte unbarmherzig auf sein Opfer ein.

Alles war wie immer.

Wie an jedem Abend, den Nat mit seiner Familie im Kiba verbrachte, ihrem liebsten Sushirestaurant. Nun, gerade wünschte er, sie würden seltener hier speisen. Oder sich überhaupt sehen.

»Hast du mit Nikolas geredet?«, fragte seine Mutter und sah ihn über den Rand ihres Weinglases hinweg an. Das träge schwappende Blut darin hinterließ einen Film auf dem Glas. Nat roch es bis hierher. Jeder am Tisch roch es, das kühle Eisen, den süßen Duft des Lebens. Schließlich waren sie Vampire.

Sobald auch nur ein Tropfen Blut im Raum floss, selbst im Nebenzimmer, überdeckte er alles andere. Das leise Murmeln der Gespräche, das Klackern von Mahagonistäbchen auf Porzellantellern. Den köstlichen Geruch des Seebarschs, den Takeo gerade vor ihnen in winzige Happen zerteilte, nur, um ihn mit einer lässigen Handbewegung in Reis und Seetang einzuwickeln und so gekonnt auf den Teller zu schmeißen, dass zwischen den einzelnen Rollen je exakt ein Zentimeter Platz war. Der Tisch direkt bei dem Sushi-Chef war der beste im ganzen Restaurant, also hatte Nats Vater ihn reserviert. Die Familie de Sangeville verdiente nur das Beste. Zumindest behauptete Nats Vater das.

Das Kiba war kein offizielles Vampirrestaurant, aber es war ganz darauf ausgerichtet, diese Klientel zu bedienen. Die Frontscheiben des Restaurants waren nachtschwarz getönt und auf der Getränkekarte standen zwölf Sorten Blut, vom gewöhnlichen Schweineblut bis zum schwer zu beschaffenden original australischen Straußenblut, das Nats Mutter gerade trank.

»Nathanael Onyx Ludovico.« Er hasste es, wenn sie seinen vollen Namen sagte. »Hast du mir zugehört?«

Nat sah auf seinen Teller, als wäre er zwölf und nicht einundzwanzig. »Ja.«

»Und? Hast du noch einmal mit Nikolas gesprochen?« Ihre Stimme war kühl und beherrscht wie immer, aber eine verzweifelte Note klang durch. »Vielleicht überlegt er es sich ja noch einmal, wenn ihr euch in Ruhe unterhaltet.«

Nat holte tief Luft. »Es ist vorbei.«

»Aber«, sie umklammerte das Glas mit einer perfekt manikürten Hand, an der mehrere Ringe funkelten, »ihr wart doch so lange zusammen.«

»Nicht mal ein Jahr.« Nat stieß die angehaltene Luft wieder aus und sah sich unauffällig nach Hilfe um. Er fand keine. Sein Vater beobachtete Takeos Messerstecherei und seine Schwester versuchte vergeblich, ihr höhnisches Lächeln zu verbergen. Er konnte dankbar sein, dass Vesper nicht laut kicherte. Seine einzige Hoffnung war sein älterer Bruder Orion, aber der zuckte nur mit den Schultern und lächelte entschuldigend.

Da musst du durch, Kleiner, sagte sein Blick, bevor er ihn wieder auf sein Handy senkte. Vermutlich schrieb er seiner Verlobten. Im Gegensatz zu Nat hatte er ja noch eine Beziehung.

»Ach, Nathanael.« Seine Mutter schloss die schwarz umrandeten Lider. »Jemanden wie Nikolas findest du nie wieder. Du könntest dir wirklich ein wenig Mühe geben, ihn zurückzuerobern.«

»Keine Chance.« Vespers Mundwinkel kräuselten sich. »Der nimmt Nat nie zurück. Ist schon ein Wunder, dass einer wie Nikolas es so lange mit ihm ausgehalten hat.«

Nat wollte protestieren, verkniff es sich aber. »Genau. Sie hat recht. Keine Chance.« Er nippte an seinem Glas Schweineblut. Es war ausgezeichnet. Kein Vergleich zu dem billigen Dosenblut aus ihrem WG-Kühlschrank, das er gerade so viel lieber getrunken hätte. Am liebsten in Gesellschaft von Isa und Vivi oder sonst wem, der ihn nicht mit Fragen löcherte. Die Wunde, die Nikolas geschlagen hatte, war noch so frisch, dass sie pochte und suppte.

»Du hast keine Chance, weil du es nicht versuchst.« Mit einem Zug trank seine Mutter ihr Glas leer. »Nathanael, du musst lernen, dich wie ein Erwachsener zu benehmen. Im Leben bekommt man nichts geschenkt.«

»Und im Tod?«, versuchte er den schwächsten Witz, der ihm einfiel. »Technisch gesehen sind wir …«

»Nathanael, lenk nicht ab. Du warst dir nie bewusst, was es bedeutet, ein Sohn unserer Familie zu sein.«

Oh nein, ein Vortrag. Nat lächelte vorsichtig und versuchte, ihn mit einem »Aber ich bin schon fast über Nikolas hinweg« abzuwenden. Es funktionierte nicht.

Seine Mutter legte los. Und Nat schaltete ab. Er betrachtete sie wie durch eine Glasscheibe. Manchmal hatte er das Gefühl, von seiner gesamten Familie durch eine unsichtbare Wand getrennt zu sein. Seiner eleganten Mutter, die in ihrem schwarzen Etuikleid kaum älter als Mitte dreißig wirkte. Seinem Vater, dem die Haare verwegen in die Stirn hingen und dessen perfekt geschnittenes Hemd ihn dennoch als astreinen Gentleman auswies.

Vesper war so dunkelhaarig wie ihre Eltern und trotz Pubertät pickelfrei und perfekt. Alle drei sahen eher wie Models aus als wie eine Familie. Nur einer übertraf ihre Lässigkeit und Eleganz noch: Orion. Wegen ihm waren sie hier. Ihm zu Ehren war das heutige Treffen anberaumt worden.

Nats Bruder war gerade zu einem der weltweit besten Architekten unter 30 gekürt worden. Und garantiert war er der coolste. Die trügerische Ruhe, mit der er im Stuhl hing, war so unübertroffen vampirisch, dass jeder andere Blutsauger im Raum vor Neid erblasst wäre, wenn sie nicht alle schon so blass wie Raufasertapete gewesen wären.

Nat saß zwischen ihnen wie ein tollpatschiges Kaninchen zwischen Raubkatzen. Nicht nur, weil er Hasenzähne hatte. Auch, weil er blondgelockt war und weil sein rundes Gesicht sich immer noch weigerte, den Babyspeck abzugeben.

»Aber das Hauptproblem ist deine Einstellung«, sagte seine Mutter. »Du denkst nicht wie ein Vampir, Nathanael.«

Vesper kicherte fast lautlos.

»Ich bin ein Vampir«, murmelte Nat und blickte auf seinen Teller. Auch der eingelegte Ingwer weigerte sich, ihm zur Hilfe zu kommen. »Also denke ich auch wie einer. Ich denke nur anders als ihr.«

»Stell dich nicht dumm«, zischte seine Mutter. »Du weißt, was ich meine.«

»Aber …«

»Hör auf deine Mutter, Nat«, sagte sein Vater, ohne den Blick von Takeos Messer zu wenden.

»Aber … He, schau mal, hinter uns. Ist das der Minister für nokturne Angelegenheiten?«

»Lenk nicht ab.«

»Ich lenke nicht ab.« Mist. Normalerweise hatten hochrangige Vampire den gleichen Effekt auf seine Mutter wie der Geruch von verwesten Fischköpfen auf eine Straßenkatze. »Außerdem geht es dich nichts an, was mit Nikolas und mir ist. Oder nicht ist.«

Nat richtete sich auf, ballte die Fäuste und wurde endlich gerettet: Glasscherben flogen über den Tisch. Ein Klirren schrillte durch das Restaurant. Und ein schwarzes Ungetüm raste auf sie zu, die dunkle Schnauze genau auf Nats Familie gerichtet. Eisiges Scheinwerferlicht schnitt über die Tischplatte. Nats Körper reagierte automatisch: Er hechtete über den Tisch und riss seine Mutter mit sich. Hart kamen sie auf dem Boden auf. Hinter ihm splitterte ihr Stuhl, zermalmt von den breiten Reifen des SUV, der durch das Restaurant pflügte.

Ohrenbetäubendes Krachen. Etwas barst und sprühte Splitter durch die Luft.

Schrilles Kreischen drang in sein Ohr.

»Orion!«, brüllte seine Mutter. Sie wand sich unter Nat hervor.

Orion? Nat fuhr herum. Der Wagen hatte eine Schneise durch das Restaurant geschlagen, Stühle, Tische und Gäste beiseite gefegt. Erst die Wand hatte ihn aufgehalten. Mit durchdrehenden Reifen, Staub und Holzsplitter aufwirbelnd hing er dort, zerbrochene Möbel vor sich aufgeschichtet wie Treibholz.

Aber Orion war nichts passiert. Noch blasser als sonst stand er da, knapp am Rand der Schneise und strich sich die Haare aus der Stirn. Seine Hand zitterte.

»Seid ihr alle okay?«, fragte Nat und Orion blinzelte.

»Ja, glaub schon.« Sein Bruder sah sich um. Sie waren alle unversehrt. Vesper kletterte über ihren umgefallenen Stuhl und sein Vater kämpfte sich ebenfalls gerade auf die Füße.

»Orion!« Die bleichen Arme seiner Mutter schlangen sich um ihren Ältesten. »Orion!«

»He, he, mir geht's gut«, krächzte er, aber sie ließ sich kaum beruhigen.

»Das war ja klar«, murrte Vesper. »He, Mama! Mir geht's auch gut! Nur, falls du dir Sorgen gemacht hast!«

»Schön, schön, Liebling.« Ihre Mutter winkte schwach, ohne sie anzusehen oder Orion loszulassen. Der wirkte fast peinlich berührt. Und schockierter, als Nat ihn je gesehen hatte. Seine Augen waren rund wie Teller. Und dann riss er sie noch weiter auf.

»Hinter dir!«, rief er und Nat drehte sich um. Viel zu langsam.

Eine harte Pranke bohrte sich in seinen Bauch und er flog rückwärts durch das halbe Restaurant. Nur seine Vampir-Reflexe und die Kampfausbildung bewahrten ihn davor, sich das Genick zu brechen. Er rollte sich ab und war sofort wieder auf den Beinen.

»Ein Golem«, sagte er und blinzelte. Sein Mund war schneller als sein Gehirn. Denn das realisierte jetzt erst, was für ein Wesen aus dem rauchenden SUV geklettert war: Eine tönerne Gestalt, mindestens zwei Meter hoch und unförmig, als wäre sie in der Sonne geschmolzen. Grobe, dreifingrige Hände öffneten sich. Da, wo der Mund hätte sein sollen, riss etwas im Ton. Kein Laut drang heraus, aber das Ding schrie. Das erkannte Nat an der Pose.

»Ein echter Golem.« Fast hätte er gelächelt. Er hatte noch nie einen gesehen. Es war illegal, die Dinger zu bauen. Unbelebte Tonwesen, denen durch Magie Leben eingehaucht wurde. Und die zu blöd waren, mehr als einen Befehl zu befolgen. Natürlich war es illegal, die Dinger zu bauen: Mit dem falschen Befehl waren sie lebensgefährlich.

Oh.

Das lebensgefährliche Ding bewegte sich auf Nats Familie zu. Dröhnende Schritte ließen den Boden erzittern. Schwankende Schritte. Der Golem bewegte sich wie ein besoffener Tanzbär, nur weniger elegant. Tonstaubwolken stiegen auf, wo die erdbraunen Fußstumpen den Boden berührten.

Er ist betrunken, dachte Nat. Und er torkelt genau auf meine Familie zu.

Er handelte, ohne nachzudenken. Schnappte sich den nächstbesten Stuhl und rannte los. Vorbei an schreienden und flüchtenden Gästen, die alle vampirische Coolness verloren hatten.

Der Golem hob die Hände. Er ignorierte Vesper und ging vorbei an Nats Vater, der versuchte, Takeo aus den Trümmern zu befreien. Erstaunlich schnell wankte das Ding auf Nats Mutter und Orion zu, die mit schreckgeweiteten Augen zurückwichen.

»Lass sie in Ruhe!«, rief Nat und holte aus. Der Stuhl traf den Golem genau an der Schläfe, splitterte und zerfiel in seine Einzelteile.

Der Golem lief weiter. Nats Mutter und Orion wichen zurück, aber ihre Rücken berührten schon die Wand. Mist. Nat schmeckte Blut und Galle. Was konnte er tun? Sein Herzschlag dröhnte in seinen Schläfen.

Bitte, dachte er und zückte sein Handy.

Warteschleife

 

»Mir ist langweilig.« Sofie packte die Gitterstäbe mit beiden Händen. »Komme ich jetzt endlich raus oder werde verhört?«

»Immer langsam mit den jungen Quappen.« Der Frosch im Anzug sah sie an, als hätte er einen sehr langen Tag gehabt. Hatte er vermutlich auch. Seine grüne Haut war schuppig und fahl und unter seinen Glubschaugen lagen dunkle Schatten. Er sah aus Kniehöhe zu Sofie auf und hob ihr ein graues Klemmbrett entgegen. »Hier, füllen Sie das aus«, quakte er. »Alle Seiten, in Druckbuchstaben. Danach haben wir einen Informationsfilm, den Sie sich ansehen sollten. Bitte machen Sie sich Notizen. Es kommt morgen jemand, der sie befragt.«

»Wirklich?« Sofie schnaubte leise. »Ich sitze seit drei Tagen hier und niemand ist gekommen, um mich zu irgendwas zu befragen. Ich habe einen Rattenkönig getötet. Reicht das nicht, um ein bisschen Zuwendung zu bekommen?«

»Ein Stufe-Zwei-Monster, wenn ich mich an meine Wächterausbildung erinnere.« Er verzog das Gesicht. »Keine große Leistung.«

»Es war ein extra-magischer Rattenkönig.«

»Na dann.« Müde hielt er das Klemmbrett höher.

Sie nahm es und er ließ sie allein. Hinter dem winzigen Fenster in ihrer Zelle ging die Sonne unter und tauchte die vier Quadratmeter in warmes Licht. Hinter den Gitterstäben lag ein schmuckloser Hof, der, soweit sie es sehen konnte, von Betonmauern umgeben war und auf dem nie etwas passierte. Vom Sommer merkte sie in der Kühle nicht viel.

Es war zu ruhig, seit die Tür hinter dem Frosch zugeschlagen war. Die Zelle gegenüber war unbesetzt und aus den anderen hörte sie auch nichts. Staub tanzte vom kahlen Betonboden hoch. Sofie setzte sich auf das Metallbett. Ein Quietschen ertönte. Die Matratze war fingerdick und der Lattenrost grub sich sofort in ihren Hintern.

»Ich schwöre, wenn ich auch nur noch eine Nacht auf diesem Drecksding pennen muss …«

Aber das würde sie. Voll schlechten Gewissens dachte Sofie an Cassa. Ob die sich Sorgen um sie machte? Oder hatte die Gedächtnislöschung dafür gesorgt, dass Cassa keine Angst um ihre beste Freundin hatte? Dass ihr Gehirn eine Ausrede erfunden hatte? Was für eine Ausrede?

Vermutlich, dass Sofie einen überwältigend schönen Mann kennengelernt hatte und seit Tagen mit ihm durch die Betten tobte. Das würde Cassa freuen.

Leise brummelnd füllte Sofie die erste Seite aus. Name, Geburtsdatum, Anschrift. Die zweite war schon schwieriger.

Bitte beschreiben Sie, wann und wo Sie das erste Mal mit Magie in Berührung gekommen sind.

»Lass mal überlegen«, knurrte sie. »Vermutlich, als diese seltsamen Leute mit den Schwertern im Koval aufgetaucht sind, gefolgt von einem Rattenkönig, der Schallwellen geschossen hat.«

Aber das stimmte nicht. Außerdem waren Isa und Nat keine seltsamen Leute. Sie hatten ihr geholfen, auch wenn sie sich dabei nicht immer mit Ruhm bekleckert hatten.

Sie zögerte. Etwas in ihr krampfte sich zusammen und die Hand, die den grauen Kuli hielt, schwitzte.

Als ich fünf Jahre alt war, schrieb sie schließlich. Langsam. Sie verriet dieses Geheimnis zum ersten Mal. Und sie hatte sich erst vor wenigen Tagen wieder daran erinnert.

Meine leibliche Mutter hat sich damals davongemacht, mitten in der Nacht. Aber ich habe sie erwischt. Und sie hat mir etwas gezeigt. Sie hat eine Pflanze wachsen lassen. Sie hat die Hände darüber gelegt und die hat neue Triebe bekommen. Dann wollte sie, dass ich es auch tue, aber ich habe es nicht hinbekommen.

Alte Wut vermischte sich mit neuen Fragen. Sofie zögerte. Was wäre geschehen, wenn sie es damals geschafft hätte, die Pflanze zum Sprießen zu bringen? Was hatte ihre Mutter mit dem Test bezweckt? Wollte sie wissen, ob Sofie magische Fähigkeiten hatte? Sofies Atem stockte. Hätte ihre Mutter sie mitgenommen, wenn die Pflanze gewachsen wäre? Hätte Sofie die nächsten Jahre damit verbracht, Papa zu vermissen statt Mama?

Sie konnte sich nur schwammig an ihre leibliche Mutter erinnern. Monika, ihre Stiefmutter war viel präsenter. Ihre kratzige Stimme, ihr warmes Lachen. Aber seit der Rattenkönig versucht hatte, etwas in ihrem Inneren zu fressen, und stattdessen eine Blockade gelöst hatte, blitzten immer wieder Bilder auf. Rote Haare, ein lächelnd verzogener Mund. Katzenhafte Augen. Weiche Hände.

Wohin war ihre Mutter gegangen? Hierher? Nach Magow?

Das Quietschen uralter Räder hallte durch den Gang.

»Hallo Madame, hier kommt ihr Lehrfilm. Bitte dreimal anschauen, danach gibts 'nen Test!«

Moment, die Stimme kannte sie. Sofie sah auf und direkt in Isas Grinsen. Die Werwölfin lehnte einen Arm an einen Servierwagen, auf dem ein altersschwacher Laptop stand. Isas Outfit war fast so furchtbar wie das, in dem Sofie sie kennengelernt hatte: Sie trug einen saphirblauen Trainingsanzug, dessen billiger Stoff spannte und knitterte. Er konnte im Secondhandladen nicht mehr als 2 Euro gekostet haben. »Die Schluckspechte e.V.« stand auf der linken Seite und auf der rechten »Kalle«. Dazu trug Isa grüne Glitzer-Flipflops mit Delfin-Anhängern.

Sofie hätte an ihrem Geschmack gezweifelt, wenn sie nicht gewusst hätte, dass Isas Kleidung die Verwandlung in einen Werwolf nicht überlebte. Es machte Sinn, alles so günstig wie möglich zu kaufen.

Vivi stand auf der anderen Seite des Servierwagens und nickte Sofie schüchtern zu. Dabei wären ihr fast die drei Diademe vom Kopf gerutscht, die sie zusätzlich zu zwölf Ohrringen und vier Halsketten trug. Meerjungfrauen mochten Glitzer.

»Hey!« Sofie sprang auf. Sie wunderte sich selbst, wie sehr sie sich freute, die beiden zu sehen. Eigentlich schloss sie nicht schnell Freundschaften. Andererseits hatten die beiden ihr im Kampf gegen den Rattenkönig geholfen. »Was macht ihr denn hier?«

»Wir bringen dir deinen lehrreichen Infofilm«, sagte Isa und kramte in ihrem Rucksack. »Und Popcorn!«

»Äh, Onkel Lars wollte nicht, dass wir dich sehen, weil wir mit dir illegalerweise eine Unbefugte nach Magow gebracht haben«, murmelte Vivi. »Sonst wären wir schon früher vorbeigekommen.«

»Genau.« Isa zauberte einen Schlüssel aus ihrem Trainingsanzug. »Zum Glück ist Benotio ein faules Schwein. Der sollte dir den Lehrfilm zeigen, aber wir haben ihm angeboten, dass wir das machen. Nett von uns, oder?« Sie schob den Servierwagen in die Zelle.

»Sehr nett.« Sofie hüpfte ans Ende ihres entsetzlichen Metallbettes. »Setzt euch.«

Isa warf sich so schwungvoll auf die Matratze, dass die Federn quietschten und Sofie einen halben Meter in die Luft geschleudert wurde. »Aaah, bequem wie ein Turnschuh. Oder wie das heißt.«

»Riecht auf jeden Fall wie ein Turnschuh«, brummte Sofie. »Ich kann's kaum erwarten, hier rauszukommen.«

»Glaub ich.« Isa sah an die Decke. »Ich war auch mal kurz hier und ich bin halb ausgerastet. Viel zu klein und ruhig.«

»Warum warst du denn hier?«

»Hab ein Straßenschild geklaut oder so.« Isa runzelte die Stirn. »Nee, halt, das war damals, als ich aus Versehen fast die Schule abgefackelt hab.« Sie rieb sich die Nase. »Ich glaube, ich wollte Vivi beeindrucken.«

»Hat ja geklappt.« Sofie sah zu Vivi, die sich leise murmelnd über den Laptop beugte. Das Betriebssystem schien keine Gnade vor ihren Augen zu finden.

Vivi sah sich um und die blonden Haare fielen ihr noch weiter ins Gesicht als sonst.

»Ich war vorher schon beeindruckt.« Ein winziges Lächeln kräuselte ihre Mundwinkel. »Der Film ist bereit.«

'Eine Produktion der Abteilung für magische und untote Angelegenheiten und des Landes Berlin flimmerte über den Bildschirm. Flackern rann über den Titel. Sah aus, als hätte man eine alte Fernsehaufnahme aufgezeichnet.

»Wie alt ist der Film?«, fragte Sofie.

»Uralt.« Isa seufzte und nahm sich eine Handvoll Popcorn. Vivi schmiegte sich an sie. »Magow hat kein Geld, weißt du? Deshalb hat dich auch bestimmt noch keiner befragt. Die sind alle überarbeitet und überfordert. Solange du sicher hier verwahrt bist, können sie sich um die dringenden Sachen kümmern.«

»Oh.«

»Ja, aber es hat auch was Gutes. Wenn Benotio nicht so viel zu tun hätte, könnten wir nicht hier sein.«

'Sie sind magisch - was nun?', flimmerte auf dem Bildschirm auf. Rauschen erklang und eine belebte, graue Straße wurde gezeigt, über die Menschen hasteten. Kastenförmige Gebäude ragten in den trüben Himmel, übersät mit Neonschildern. Der Ku'damm. Anhand der Outfits schätzte Sofie, dass es sich um eine Aufnahme aus den 80ern handelte. Der Verdacht wurde bestätigt, als eine Frau ins Bild kam, deren Frisur aussah wie ein Wattebausch.

»Glauben Sie an Magie?«, fragte eine knarzige Stimme. Ein Mikrofon wurde der Wattebauschfrau unter die Nase gehalten. Sie blinzelte und enthüllte Lidschatten in fünf verschiedenen Farben.

»Nee«, raunzte sie. »Wat soll dit sein? Jibt's doch nur im Märchen.«

Schnitt. Ein kahler Mann versicherte ebenfalls, dass es keine Magie gab, ebenso ein Punkerpärchen, ein Jüngling mit beeindruckenden Schulterpolstern und zwei pausbäckige Jungs mit Igelhaarschnitt.

»Das ist die Meinung der Öffentlichkeit zur Magie«, knarzte die Stimme aus den Lautsprechern. »Magie existiert nur in Fantasy-Filmen aus Amerika und in Märchen. Aber die Öffentlichkeit irrt sich. Die Existenz von Magie wurde bewusst geheim gehalten.«

Eine Reihe von Kupferstichen folgte. Frauen wanden sich auf Scheiterhaufen, Dämonen geigten Lieder auf den Bäuchen schlafender Menschen, Wölfe wandelten aufrecht, in geborstenen Hosen umher. »Uns, den magischen Wesen, wurde stets mit Misstrauen begegnet. Hass und Furcht waren die üblichen Reaktionen auf alles Übernatürliche. Spätestens nach den großen Hexenverbrennungen war klar, dass die magische und die nichtmagische Welt unvereinbar sind. Weitere Vorfälle bestätigten diese Meinung. So zogen wir uns zurück.«

Ein Flimmern rutschte von oben nach unten über den Bildschirm, dann erschien ein weiterer Kupferstich: ein Mann in einer Art Mönchskutte, mit dunkler Nase und einem gigantischen Weinglas in der Hand. Sein Bart sah aus, als hätte er einen Oktopus im Gesicht, der verzweifelt versuchte, zu entkommen. Haare erstreckten sich in alle Richtungen.

»Waldemar von Wilmersdorf, genannt Waldemar der Wüste, war der größte Hexer seiner Zeit. Er fand heraus, dass wir ganze Stadtteile, ja, ganze Landstriche vor den Augen der Normalsterblichen verbergen können.«

»Prost, du alter Schluckspecht!«, rief Isa. In der Tat sah Waldemar aus, als würde er sich nur mit Mühe aufrecht halten.

Sofie stopfte sich Popcorn in den Mund und sah fasziniert zu, wie Magow, ein Stadtteil zwischen Kreuzberg, Neukölln und Tempelhof, durch Magie von der Landkarte verschwand. Nat und Isa hatten ihr schon davon erzählt, aber es war spannend, die alten Karten zu sehen. Die hatten sorgfältig vernichtet und ersetzt werden müssen, um alle Spuren zu verwischen. Überall auf der Welt waren Refugien für magische Wesen entstanden, erklärte die knarzende Stimme.

Dann bekam die Stimme ein Gesicht: Ein älterer Mann mit sorgenvoll gefältelter Stirn erschien auf dem Bildschirm. Er stützte das Kinn auf die Fingerspitzen und sah direkt in Sofies Seele. So fühlte es sich zumindest an.

»Falls Sie, werter Zuschauer, werte Zuschauerin, diesen Film sehen, sind Sie ein magisches Wesen, das bisher nichts über unsere Welt wusste«, sagte er. »Die Gründe dafür sind vielfältig. Immer wieder kommt es vor, dass magische Mitbürger unsere Gesellschaft verlassen, um unter den Menschen zu leben. Daran ist nichts Falsches. Es ist ausdrücklich erwünscht, dass wir mit den Entwicklungen auf der anderen Seite mithalten. Viele Mitbürger leben und arbeiten in der Welt der Menschen.« Er lächelte. »Natürlich nur die, die aufgrund ihres Aussehens selbst als Menschen durchgehen. Aber dieser Austausch hat Schattenseiten. Es kommt vor, dass Kinder entstehen, die nichts vom Erbe ihrer Eltern wissen. Die magische Fähigkeiten haben, aber nicht mit ihnen umgehen können. Diese Kinder finden wir und unterrichten sie in den magischen Disziplinen, damit sie nicht zu einer Gefahr für uns oder die Menschenwelt werden. Schließlich will niemand, dass beispielsweise ein Werwolf an Vollmond frei herumläuft.«

Er lächelte noch breiter. Sein Gesicht verformte sich, die Nase wurde länger und breiter, Haare sprossen und plötzlich grinste ein Wolf in die Kamera. Sofie zuckte zusammen. Sofort ärgerte sie sich über sich selbst.

»Billiger Schockeffekt«, murrte sie. Dabei hatte sie die Verwandlung doch schon bei Isa gesehen. Isa, die eingeschlafen war und friedlich Vivis Arm voll sabberte.

Der Rest des Films war frei von Schockmomenten. Ein ruckeliger Trickfilm erklärte, dass bei einer Paarung zwischen nichtmagischen und magischen Wesen nur eins von beiden entstehen konnte. Mischwesen gab es nicht. Man war magisch oder eben nicht.

Am Ende wurde auf weitere informative Filme hingewiesen, unter anderem 'Das Einhorn – Gefahr oder Bedrohung?' und '20 magische Wesen und ihre Bedeutung für die Landwirtschaft'. Dann war der Film aus.

»Also, das war wirklich informativ«, sagte Sofie.

Isa schnarchte.

Vivi nickte zögerlich. »Ja, auch wenn die Abläufe wirklich, äh, vereinfacht dargestellt wurden.« Sie steckte sich eine Haarsträhne in den Mund.

»Du meinst, das war die Idiotenversion?«, fragte Sofie.

»Nein, also, sozusagen … Das sollen halt auch Kinder verstehen können.« Vivi errötete. »Das Amt denkt bestimmt nicht, dass du, äh …«

»Ein Idiot wärst?« Sofie streckte die Beine aus. »Schon okay, irgendwo muss ich ja anfangen. Gibt's noch mehr lehrreiche Filme?«

»Ja schon, aber die kommen später. Die meisten neu-magischen Wesen brauchen etwas Zeit, um über den Schock hinwegzukommen«, murmelte Vivi. »Du nimmst das sehr gut auf.«

»Ach, echt?« Das hatte Nat auch gesagt. Dabei lag es nicht daran, dass sie so entspannt war. Es gab einfach nicht viel, das Sofie mitreißen konnte, im Guten wie im Bösen. Sie hatte ihre Familie und ihre große Liebe bei einem Autounfall verloren. Eine magische Welt war nur halb so schockierend.

Isa erwachte mit einem Satz. »Hm was?

---ENDE DER LESEPROBE---