Gorloin - Thomas Hoffmann - E-Book

Gorloin E-Book

Thomas Hoffmann

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Beschreibung

"Allen warnenden Anzeichen zum Trotz waren wir nach Norden gegangen, dem schlimmsten Ort entgegen, den ein Mensch sich vorstellen konnte. Wir waren nicht umgekehrt, als wir es noch gekonnt hätten. Jetzt hatte die Falle sich geschlossen. Vor uns lag eine tote Bergwüste und in ihrer Mitte in den Ruinen einer zerstörten, vorzeitlichen Zwergenstadt das brennende Auge, wachend, suchend, und alles tötend, was in den Umkreis seines Blicks geriet. Aber ein einziger Blickwechsel mit Sven machte mir klar, dass sich die Falle um ihn schon lange geschlossen hatte..." Im dritten Band der dreiteiligen "Leif Brogsohn"-Erzählung wird die Gemeinschaft der Gefährten auf die Zerreißprobe gestellt. Doch aller Hoffnungslosigkeit zum Trotz gibt Leif nicht auf. In einer Welt voller Krieg, Verrat, zerbrechender Freundschaften und Verzweiflung kämpft Leif Brogsohn um die Liebe seines Lebens. Nach Atem ringend kam ich beim Felsplateau vor dem Höhleneingang an. Die Luft vibrierte von magischer Strahlung. Kat hielt mir die Hand entgegen und zog mich auf den Felsvorsprung. Wir drängten uns an die Bergwand neben dem rußgeschwärzten Höhlenschlund. Unten im Tal loderte ein Flammenmeer. Eine fürchterliche Schwäche überkam mich. Einen Augenblick dachte ich, ich könnte mich nicht mehr halten und müsste in die Flammen stürzen. "Es hat keinen Sinn mehr," sagte Kat. Niemand widersprach ihr. Verzweifelt sah ich sie an. "Wir können nicht zurück! Der Steig ist weggebrochen!" Sven seufzte. Er klinkte Herodin aus der Halterung. Inmitten der vor feindlicher Magie flirrenden Luft verstrahlte das Schwert einen warmen Glanz. Lyana starrte mit angstgeweiteten Augen von einem zum anderen. Kat sah mir in die Augen. In ihren Augenwinkeln blinkten Tränen. "Ich hätte so gern den Hof in den Bergen mit dir gebaut - mit euch beiden," flüsterte sie. Einen Moment lang waren da nur sie und ich. "Ich liebe dich, Kat," flüsterte ich. Dann zog ich mein Schwert.

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Seitenzahl: 982

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Thomas Hoffmann

Gorloin

Roman

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

Quellenverzeichnis

Impressum neobooks

1.

Sonnenlicht glänzte auf der verschneiten Ebene zwischen dem nebelverhangenen Moor im Westen und der steil aufragenden Hochebene im Osten. Im schräg einfallenden Nachmittagslicht ragten die Tafelfelsen im Norden schwarz und abweisend aus der Ebene auf. Den Tafelfelsen entgegen stapften vier Flüchtende durch den gleißenden Schnee. Sie führten einen Packesel mit sich.

Abenteurer hatten wir sein wollen. Wir hatten geglaubt, als Auftragsleute des Burgherrn von Dwarfencast zu Reichtum und Wohlstand kommen zu können. Doch all unsere Unternehmungen hatten uns nichts eingebracht, als Entbehrungen und Todesgefahr. Wir konnten froh sein, dass wir noch am Leben waren nach den Höllenfahrten, die hinter uns lagen. Und der Auftrag, zu dem Zosimo Trismegisto uns diesmal ausgesandt hatte, war ein Sternenfahrtskommando, wie nur ein Wahnsinniger es sich ausdenken konnte.

Meine Stiefel knirschten im Schnee. In den Schneemassen, die der Sturm vor einer Woche über das Land gebracht hatte, kamen wir nur mühsam voran. Unruhig blickte ich den noch zwei, drei Wegstunden entfernten Tafelfelsen entgegen. Zwischen den Felstürmen würden wir außer Sichtweite des Moors sein.

Das Moor. Wenn ich zu den treibenden Nebelfeldern hinüberblickte, die sich im Westen zu weiten Nebelbänken verdichteten, beschlich mich Angst. Dort war ihr Reich. Dort lag die Hütte im Moor, in der Ligeia mich in blutigen Ritualen in die schwarze Magie initiiert hatte, in der sie Nächte im dunklen Liebesrausch mit mir verbracht hatte. Dort hatte ich ihr schwören müssen, ihr die archaischen Zaubersprüche aus Kurmuk Dakar zu bringen, der Stätte des brennenden Auges hoch im Norden.

Ihre Stimme klang mir im Ohr: Was auch immer geschieht, Leif, kehre auf jeden Fall zu mir zurück!

Nicht weit von hier lag die Stelle, an der Ligeia uns bei der Rückkehr von unserer ersten Fahrt abgefangen und um ein Haar im Moor ertränkt hätte zur Strafe dafür, dass ich mich nicht an ihre Befehle gehalten hatte. Sie wusste, dass wir auf der Flucht waren. Auf der Flucht vor ihr und den wahnsinnigen Forderungen unseres Dienstherrn, der ebenfalls verlangte, dass wir ihm die uralten Gralszaubersprüche aus Kurmuk Dakar beschafften. Aber obwohl wir nur Gerüchte kannten über die Stätte Gorloins, des brennenden Auges, hatten wir genug über diesen Schreckensort erfahren, um ihn um nichts in der Welt jemals betreten zu wollen. Ligeia wusste, dass wir uns davonmachen wollten. Und doch hatte sie mich ziehen lassen, ohne ein Wort des Widerspruchs, ohne jede Mahnung, ihren Anweisungen zu gehorchen.

Wir waren auf der Flucht, schon immer, seit Svens und meiner Flucht aus dem Piratendorf Brögesand und dem abgestumpften Dasein als Totschläger nichtsahnender Handelsmatrosen. Seither verfolgten mich die erschlagenen Seeleute Nacht für Nacht in meinen Träumen und forderten ihr Leben von mir zurück.

Lyana kam an meine Seite und nahm mich an der Hand. In ihren hohen Stiefeln lief die siebzehnjährige Waldläuferin mühelos durch den Schnee. Sie trug lederne Hosen und ein hellbraunes Lederwams mit Fransen an den Ärmeln. Ihr schulterlanges dunkelblondes Haar wurde von einem ledernen Stirnband gehalten. Von ihrer Hüfte baumelte ein glänzendes Schwert. Den Bogen trug sie abgespannt in der Hand. Den Köcher und eine große Umhängetasche hatte sie sich über die Schulter gehängt.

„Wenn der Weg nach Kingerhag zu gefährlich ist, können wir auch einen anderen einschlagen,“ meinte sie in Erwiderung auf meine quälenden Gedanken.

Ich hatte mich an den Umstand gewöhnt, dass sie meine Gedanken lesen konnte. Mittlerweile kam es mir wie selbstverständlich vor, wenn sie auf einen bloßen Gedanken von mir antwortete.

„Wir können über die Berge nach Greifenhorst gehen.“

Es wäre tatsächlich eine Möglichkeit, unsere Flucht hinauszuzögern, die Marschroute in die toten Berge und zum hohen Schneeberg länger einzuhalten. Wir hatten überlegt, nach Kingerhag im Nordwesten zu gehen. Aber selbst Sven, dem König Ertelred den vierten Teil seines Königreichs und die Hand seiner Tochter Hildegard versprochen hatte, war vor unserem Aufbruch unsicher geworden, als wir in der Turmschmiede Dwarfencasts über die Prophezeiung von der Rückkehr Gorloins aus den toten Bergen sprachen.

Ich nickte nachdenklich. Dann sah ich sie verwundert an.

„Gibt es da nicht jemanden in Kingerhag, den du liebst?“

Lyana wurde rot. „Ach, auf Dauer wäre daraus ja doch nichts geworden.“

Sie ließ meine Hand los und lief in die Ebene hinaus.

„Warum hältst du denn seit Neuestem alles gleich für vergeblich?“ rief ich ihr nach. „Du kannst doch gar nicht wissen, was sich noch alles ergibt und was nicht!“

Sie antwortete nicht.

Hinter mir führte Katrina den Packesel Fedurin am Strick. Der Esel war nicht glücklich über die Winterwanderung, aber es blieb ihm nichts übrig, als sich dem Willen seiner selbstbewussten Herrin zu fügen. Katrina ging aufrecht und geschmeidig. Sie war Anfang zwanzig, schlank und wenn es nach Sven und mir ging, die schönste Frau der Welt – oder zumindest, gab ich mir zu, war sie ebenso schön wie Ligeia. Ihr flachsblondes Haar hing zu einem festen Zopf geflochten über ihre Schulter. Ihre schwarze, gefütterte Ledermontur war ihr eng auf den Leib geschnitten. Den Helm hatte sie an ihren Rucksack geschnallt, ihren Rundschild trug sie über den Rucksack gehängt wie ich. Auch sie trug ein glänzendes, schlankes Schwert an der Seite.

Sven ging neben ihr. Die beiden stritten leise über irgendeine Belanglosigkeit. Sven war einen halben Kopf größer und ein knappes Jahr älter als ich. Im Frühjahr nach der Schneeschmelze würde er zwanzig werden. Im Kettenhemd mit dem Wappenüberwurf in den Farben Dwarfencasts, Stiefeln, dem spitzen Helm und dem an den Rucksack geschnallten Zweihänder Herodin sah er aus wie ein Held der Vorzeit auf dem Marsch.

***

Bis zum Abend wanderten wir in nordöstlicher Richtung den Tafelfelsen entgegen. Kat hatte Fedurin mehrere Lagen dicker Lappen um die Füße gewickelt, damit das Tier nicht im Schnee einsank. Nach zwei halbherzigen Versuchen am Morgen, seine grimmige Herrin doch noch zu einer Umkehr zum Turm und zum warmen Stall zu bewegen, stapfte der Esel ihr schicksalsergeben nach.

Die Sonne stand im Westen über dem Nebel und die Felsformationen warfen schwarze Schatten über die Ebene. Je näher wir den Felsen kamen, um so zerklüfteter ragten sie vor uns auf.

Lyana spähte zum ersten Felsenberg empor. „Da sind Ruinen. Möglicherweise Überreste einer alten Burg.“

Sven kam an meine Seite. Er blickte abenteuerlustig in die Runde.

„Wollen wir's uns ansehen? Vielleicht gibt's da was zu entdecken.“

„Die Ruinen da oben erforschen? Nein danke!“ schnappte Kat. „Bestimmt wimmelt's da von bösartigen Geistern, die uns mal eben so zu den Sternen befördern wollen.“

Sven sah sie erstaunt an. „Sonst warst du immer diejenige, die auf jedes Abenteuer los wollte.“

Sie blickte missmutig zur Seite. „Die Abenteuerlust ist mir vergangen. Ich hab die Schnauze voll davon, meine Haut hinzuhalten für nichts und wieder nichts, ohne dass irgendwas dabei für uns rausspringt!“

Bei Sonnenuntergang erreichten wir den ersten Felsturm. Das Lager für die Nacht schlugen wir im Windschatten der Felswand auf, außerhalb der Sicht des Moors. Das Feuerholz, das wir früh morgens gesammelt und Fedurin aufgebunden hatten, würde für zwei, drei Stunden wärmender Glut reichen. Ein wenig Holz hoben wir für den Kaffee am Morgen auf. Wir kochten Hafergrütze und aßen Brot, Käse und Dörrfleisch, da Lyana kein Jagdwild gefunden hatte.

„Die Ebene ist wie ausgestorben,“ wunderte sie sich, als sie in der letzten Abenddämmerung von der Pirsch zu uns stieß. „Wie tot - kein Anzeichen für irgendwas Lebendiges.“

Nach dem Abendimbiss holten Kat und Sven ihre Pfeifen heraus. Kat hatte unbemerkt einen Beutel Tabak aus den Beständen unseres Dienstherrn mitgehen lassen.

„Pfeifentabak hat uns schon mal vor dem Verhungern gerettet. Ich werde nie mehr reisen, ohne einen Tabakbeutel dabei zu haben.“

Lyana kramte in ihrer Ledertasche und hielt mir eine edel aussehende, bauchige Pfeife hin.

„Deine ist in den Ruinen von Halbaru verloren gegangen,“ meinte sie mit verhaltenem Lächeln. „Ich dachte, du brauchst eine neue.“

„Lyana!“

Erstaunt betrachtete ich das anscheinend recht wertvolle Stück. „Sie ist gebraucht. Wo hast du die her?“

„Geklaut,“ sagte sie harmlos. „Sie stammt aus Zosimos Pfeifensammlung. Ich hab mich gestern in seine Gemächer geschlichen, als er unten in den Laboratorien war.“

„Ihr seid mir schon die Richtigen,“ brummte Sven kopfschüttelnd.

„Weil wir gerade beim Thema sind,“ meinte Kat zwischen zwei Zügen an ihrer Pfeife, „unten in den Gepäcktaschen sind noch zwei Flaschen von dem Wein, den Smut uns vorgestern zum Abschiedsmahl kredenzt hat. Ich dachte, so einen Tropfen findet man nicht alle Tage. Vielleicht haben wir ja mal 'nen Grund zum Feiern - oder falls wir uns wiedermal aus 'ner richtig dreckigen Scheiße raushauen müssen und was zum Aufmuntern brauchen.“

An die Felswand gelehnt rauchten wir unsere Pfeifen. Die Ebene verschwand im Nachtdunkel. Gedankenverloren schaute ich in die Glut des Lagerfeuers. Lyana saß dicht neben mir. An meiner anderen Seite legte Sven schweigend den Arm um Kat. Sie rückte an ihn heran. Zugleich spürte ich ihre Hand auf meinem Oberschenkel. Ich legte meine Hand auf ihre und sie verschränkte ihre Finger mit meinen, zärtlich und fest zugleich.

Ich musste an den Tag im vergangenen Frühjahr denken, an dem Katrina nach Brögesand gekommen war. Der Augenblick, als Sven und ich ihr das erste Mal begegneten, ihr sprachlos gegenüberstanden während sie über unsere Verlegenheit schmunzelte, brachte dem Leben von uns dreien eine entscheidende Wende, ohne dass wir damals etwas davon geahnt hätten. Im Lauf des Sommers verbrachte Katrina immer öfter Zeit mit Sven und mir. Ich hatte mich bei unserer ersten Begegnung in sie verliebt. Sven ging es nicht anders. Letzten Herbst hatte sie uns überredet, die Küstenseeräuberei aufzugeben und dem rätselhaften Einladungsschreiben Zosimo Trismegistos auf seine Burg im Norden zu folgen.

Die Stunden, die Katrina und ich zu zweit verbracht hatten und die Nächte, in denen wir uns liebten, ließen für mich keinen Zweifel, dass es wirklich Liebe war, was sie für mich empfand. Aber sie hatte auch mit Sven Nächte verbracht, immer wieder, und was sie für ihn empfand, war wohl genauso intensiv wie die Gefühle, die sie für mich hegte. Sie hatte versucht, uns zu einer Dreierbeziehung zu überreden. Aber weder Sven noch ich waren dazu bereit gewesen. Und insgeheim, das wusste ich, litt sie noch immer darunter, dass Andreas Amselfeld, der Militärarzt, der ein paar Monate lang ihre große Liebe gewesen war, sie für eine andere Frau verlassen hatte.

Wir saßen an den Felsen gelehnt, bis die Glut des Lagerfeuers erlosch und wir uns alle vier dicht beieinander in unsere Decken hüllten.

***

Im ersten Tageslicht kochten wir Kaffee und Hafergrütze, die wir mit Brot und Speck aßen. Dann brachen wir das Lager ab und machten uns auf den Weg. Es fiel kein Schnee, aber eisiger Wind strich von der Küste her über das Land. Ich war froh über den gefütterten schwarzen Kapuzenumhang, den Ligeia mir gegeben hatte. Ich schlug ihn fest um mich und zog mir die Kapuze über den Kopf. Fedurin stapfte vor Kat her durch den Schnee, als wollte er schneller vorankommen. Vielleicht schwebte ihm ein warmer Stall in erreichbarer Nähe als Ziel unserer Fahrt vor.

Ich deutete voraus zwischen den Felsen hindurch. „Heute Abend erreichen wir die Schlucht, die zu den Ahnenhügeln hinaufführt. Von den Ahnenhügeln ist es nur noch ein knapper Tagesmarsch am Fuß der Nordberge entlang bis zu den Wäldern.“

Einen kurzen Moment lang blickte Lyana mich erschreckt an. Aber sie wandte sich gleich wieder ab.

Seit wir die Wälder auf unserer ersten Fahrt erblickt hatten, waren sie Lyanas Ziel: die Erfüllung der Wahrsagung einer alten Frau, hier im Norden würde sie finden, wonach ihr Herz sich sehnte, nachdem ihr Vater, ein Fallensteller in den Wäldern des Südens, gestorben war. Schon vor Wintereinbruch hatte ich Lyana versprochen, mit ihr dorthin zu gehen. Stattdessen waren wir nach Halbaru gezogen. Noch immer grenzte es für mich an ein Wunder, dass wir diese Höllenfahrt überlebt hatten. Und Kurmuk Dakar war schlimmer als die Ruinenstadt Halbaru.

***

Im Windschatten des letzten Tafelfelsens machten wir Rast, aßen vom Proviant und tranken eiskaltes Wasser aus unseren Schläuchen. Kurze Zeit später zogen wir bereits wieder über die windgepeitschte Schneeebene. Die Dämmerung hatte noch nicht eingesetzt, als wir in der Steilwand zu unserer Rechten die Schlucht erblickten, die hinaufführte in die Ahnenhügel auf der Hochebene.

Die verschneiten Hügel erhoben sich als nebelverhangene Schatten über der Steilwand. Dahinter ragte majestätisch das Massiv der Nordberge auf. Die Hügelgruppe bildete das nördliche Ende der Hochebene. Wo die Hügelflanken steil zur Ebene abfielen, breitete sich eine vereiste, von Schneeverwehungen bedeckte Seefläche weit nach Norden aus. An einigen Stellen hatte der Sturm das Eis von Schnee frei geweht. Der See war durch einen Landstreifen vom Massiv der Nordberge getrennt. Im Dunst der Ferne erkannte ich dort den Wald: Ein nicht enden wollendes Meer von Nadelbäumen, das sich am Seeufer nach Westen ausdehnte und in weiten Taleinschnitten die Berge hinaufzog. Auf der den Bergen gegenüberliegenden Seite verlief das Seeufer im weiten Bogen nach Nordwesten, bis es sich in den Nebelbänken verlor, die die Ebene im Westen begrenzten.

Ein mulmiges Gefühl ergriff mich, als ich zu den grauen Dunstschwaden zwischen den Hügeln hinaufschaute. Ich tastete nach dem Dolch in meinem Gürtel. Wie Kats magische Schlangenohrringe stammte er aus einem Meergeborenengrab in den Ahnenhügeln. Die Schlangenohrringe hatten uns auf unserer letzten Fahrt gerettet, als wir den an der Küste gelandeten Meergeborenenkriegern in die Falle gelaufen waren. Wenn Kat die magischen Ohrringe trug, konnte sie die Sprache der Meergeborenen verstehen. Aber die Ohrringe raubten der Trägerin auch ihren Willen, machten sie dem Meervolk gefügig. Nur mit knapper Not waren wir damals entkommen. Seit der Begegnung mit Norfolks Voraustrupp hatte Kat die Schlangenohrringe nie wieder getragen.

Lyana betrachtete das vereiste Ufer. „Wir haben seit Wochen durchgehende Kälte. Das Eis sollte tragfähig sein. Wir können versuchen, an den Ahnenhügeln vorbei über den See an den Fuß der Berge zu gelangen.“

Kat warf einen nachdenklichen Blick auf Fedurin. „Mit dem Packesel über das Eis? Ist das nicht ein bisschen riskant?“

Lyana zuckte mit den Schultern. „Mir kam nur gerade die Idee.“

Kat sah Sven und mich fragend an. „Die Schlucht hinauf vorbei am Höhleneingang zu der alten Zwergenstadt und durch die Ahnenhügel sind es keine zwei Stunden. Warum ein unnötiges Risiko eingehen? Ich bin dagegen.“

„Mir ist‘s egal,“ meinte Lyana.

Sven sah misstrauisch auf den See hinaus. „Gehen wir durch die Ahnenhügel. Unbekannten Eisflächen traue ich nicht.“

Ligeia hatte mich vor den Ahnenhügeln gewarnt. Ich hatte kein gutes Gefühl. Aber ich sagte nichts.

„Bis zur Dämmerung haben wir noch eine gute Stunde,“ meinte Kat. „Gehen wir die Schlucht 'rauf und bringen die Ahnenhügel hinter uns?“

„Nein!“ rief ich.

Die Freunde sahen mich überrascht an.

„Durch die Hügel gehen wir morgen, am hellen Vormittag. Beim letzten Mal wären wir in der Abenddämmerung um ein Haar von Geistern angefallen worden. Und diesmal,“ ergänzte ich mit einem Blick auf Lyanas neues, schlankes Schwert, „haben wir Grugar nicht dabei!“

Das Seegeborenenschwert in der magischen Scheide hatte sie in Dwarfencast gelassen.

***

Wir bauten unser Zelt in Ufernähe auf, eine Viertelwegstunde entfernt von der Schlucht. Lyana schlug mit der Schwertspitze ein Loch ins Eis, um Wasser für Fedurin zu schöpfen.

„In Ufernähe ist das Eis jedenfalls tragfähig,“ meinte sie.

Kat war nicht überzeugt. „Da hinten, wo die Hügelflanken zum See abfallen, sieht es ziemlich tief aus. Und mit unbekannten Strömungen und so...“

Es war Lyana anzusehen, dass sie Kats Bedenken für albern hielt. Aber sie zuckte nur mit den Achseln.

Brennholz fanden wir keins. Das Brot war hart geworden, die gekochten Eier schmeckten fade und Speck und Dörrfleisch waren zäh und nahezu gefroren in der andauernden Kälte.

„Nur heute und morgen noch,“ meinte Lyana. „Wenn wir den Wald erreicht haben, finde ich wieder Jagdwild.“

Mit Einbruch der Dämmerung lösten sich Nebelfetzen von den grau verhangenen Hügeln und trieben über die Ebene. Es wurde kälter. Der eisige Windhauch von den Hügeln verstärkte mein ungutes Gefühl. Probehalber zog ich mein Schwert. Die Klinge glühte schwach blau. Die Nebelfetzen, die um unser Lager trieben, erinnerten mich in der Dämmerung an verzerrte Gestalten.

„Heute Nacht sollten wir auf der Hut sein,“ meinte ich.

Kat spähte zu dem Tafelfelsen zurück, auf dem Lyana Ruinenreste entdeckt hatte.

„Da oben, seht ihr? Was hab ich euch gesagt?“

In der zunehmenden Dunkelheit flackerten oben auf dem Felsplateau fahlgrüne Lichtflecken auf. Sie geisterten zwischen bizarren Steinformationen umher, die an verfallene Mauern und Türme erinnerten.

„Die Anlagen da oben müssen sehr alt sein,“ überlegte Lyana. „Wahrscheinlich stammen sie aus der Zeit der Kriege zwischen dem Reich Barhut und den Meergeborenen.“

Kat blickte nachdenklich in die Dunkelheit. „Vor eineinhalb Jahrtausenden muss das Land hier herum fruchtbar und besiedelt gewesen sein. Jetzt ist es, als läge ein Fluch auf der Gegend.“

„Die Schatten lassen das Land verdorren,“ murmelte ich. „Die Schatten der Vergangenheit.“

Mitten in der Nacht wurde ich wach. Mir war, als hätte ich Männerstimmen dicht beim Lager gehört. Kat, die ihren Kopf auf meine Brust gelegt hatte, wie sie es häufig tat, wenn wir zusammen die Nacht verbrachten, bewegte sich und murmelte unruhig im Schlaf. Im Mondlicht, das durch die Zeltwand sickerte, saß Lyana aufrecht an meiner Seite und lauschte in die Nacht. Vor dem Zelt hörte ich Fedurin schnauben und mit den Hufen stampfen. Kat hatte ihm die Vorderfüße zusammengebunden, weil wir keine Möglichkeit gefunden hatten, ihn irgendwo anzubinden. Zwei, dreimal schrie der Esel. Es hörte sich an wie ein überschlagendes, röchelndes Röhren in hoher Stimmlage. Aus weiter Ferne drangen Stimmen heran, klagende Rufe, wie von Männern, die verlorene Gefährten suchen.

Das fahle Mondlicht weckte mir die Erinnerung an den Geschmack von Blut. In fünf oder sechs Tagen würde es Vollmond sein.

***

Wir erwachten starr vor Kälte. Unsere Wolldecken waren von einer Reifschicht überzogen. Als wir mit klammen Gliedern aus dem Zelt krochen und in den Morgendunst hinausschauten, kam Fedurin mit zusammengebundenen Vorderfüßen schnaubend herangehinkt. Er stieß sein röchelndes Eselsschreien aus und rammte Kat die Schnauze in die Seite.

Sie nahm seinen Kopf in die Hände und kraulte ihm das Fell. „Hast eine schlimme Nacht gehabt, du armes Tier?“

Kat klopfte den Schnee von der Decke, die sie Fedurin am Abend umgehängt hatte und rieb ihm das zitternde Fell. Ich hockte am Boden und gab mir Mühe, das kleine magische Feuer nicht ausgehen zu lassen, das ich um Lyanas Teekessel herum entfacht hatte. Ich hoffte, das Teewasser würde kochen, bevor ich die Konzentration verlor. Sven ging auf und ab und klopfte sich den Leib, um warm zu werden. Sein Kettenhemd klirrte. Lyana kam mit den Stiefeln in den Händen vom Seeufer zurück. Sie lief barfuß durch den Schnee.

Sven sah sie entgeistert an. „Was machst du da? Füße waschen? Bei der Kälte?“

Lyana trocknete sich die Füße mit einem Ende der Decke ab, auf die sie sich gesetzt hatte. „Das hab ich euch doch schon mal erklärt: Wenn man morgens durchgefroren aufwacht, gibt es nichts besseres, als die Füße in eiskaltes Wasser zu tauchen, um warm zu werden!“

„Ich glaub's nicht!“ murmelte Sven kopfschüttelnd.

Lyana zog ihre Socken und Stiefel an. „Probier' es mal, du wirst sehen, wie warm dir danach wird!“

Sven setzte sich zu uns. „Andere Leute werden von so was krank, statt dass ihnen warm wird.“

„Ach Quatsch!“ Lyana streute Teeblätter in das dampfende Wasser.

Ich ließ den Flammenzauber versiegen. Kat gab Fedurin eine reichliche Portion Rüben und Hafer, dann setzte sie sich zwischen Sven und mir auf die Decke und nahm einen Becher heißen Tee von Lyana entgegen.

„Leifs Zaubertee,“ meinte Lyana mit leichtem Schmunzeln.

„Als wir im Herbst die Schlucht herunterkamen, haben wir in der Nebelsuppe überhaupt kein Seeufer gesehen,“ meinte Sven beim Frühstück.

Wir kauten Dörrobst und Brotkanten.

„Dafür sind wir nach kaum zehn Schritten im Moor gelandet. Dabei gibt es hier weit und breit keinen Sumpf.“

Ich sah mit einem flauen Gefühl im Magen zu den Hügeln hinauf. Dichte Nebelschleier stiegen zwischen den Hügelkuppen auf und quollen herunter in die Ebene, wie eine zähe, vor Kälte dampfende Flüssigkeit.

„Damals war es Ligeias Nebel, in den wir am Ausgang der Schlucht geraten sind,“ überlegte ich. „Diesmal kommt der Nebel von den Ahnenhügeln herab. Ich weiß nicht, welches die üblere Variante ist.“

„Wir können immer noch an den Hügeln vorbei über das Eis gehen,“ fand Lyana.

Kat blickte unruhig von den Hügeln zum See.

„Über dem Eis ist der Nebel auch schon,“ murmelte sie.

Wir beeilten uns, das Lager abzubrechen und uns auf den Weg zu machen. Hinter den Dunstschleiern stand die blasse Wintersonne über den Ahnenhügeln. Dicke Nebelschwaden krochen um uns her über die Ebene. In der Kälte gefror unser Atem zu weißen Wolken.

„In eineinhalb Stunden sind wir durch die Hügel durch,“ sagte Kat, während wir dem Einschnitt im Steilhang entgegen marschierten.

Der Nebel verdichtete sich, als wir die Schlucht betraten. Wie eine undurchdringliche, milchige Wand floss uns der Dunst entgegen. Die Kälte nahm zu. Die Seitenwände der Schlucht konnten wir in den Nebelschwaden kaum ausmachen.

„Tho Wendrun!“ flüsterte ich, während wir der Nebelwand entgegengingen.

Die Luft um uns her wurde klar. Einen Steinwurf weit verflüchtigte sich der Nebel. Zugleich spürte ich heftigen magischen Widerstand. Wie ein schweres Gewicht stemmte ein eiserner Wille sich mir entgegen. Er schien von unbezwingbarer Boshaftigkeit. Von oben in der Schlucht flossen weitere Dunstmassen herab. Ich versuchte, meinen Geist abzuschotten, doch mein Zauberspruch brach zusammen. Schlagartig hüllten die Nebel uns ein.

Kat fing mich auf, bevor ich der Länge nach hinschlug. Ich hatte nicht gemerkt, dass ich taumelte.

„Alles klar?“

Ich nickte schwer atmend. „Das ist ziemlich böse, da oben!“

Sven klinkte Herodin aus der Schwerthalterung. „Kämpfen wir es nieder!“

Das große Schwert gab einen gleißenden Lichtblitz von sich. Ein Lichtschein umgab die Klinge des Zweihänders. Ich glaubte einen klaren, singenden Ton zu hören. Die Nebel wichen zurück. In einem Umkreis von zwei Manneslängen um Sven her strahlte Herodins Klinge warmes Licht aus. An der Grenze des hellen Bereiches kräuselte sich weißer Dunst. Einzelne Schwaden tasteten in den Lichtkreis hinein wie Geisterarme. Sie lösten sich im warmen Licht auf. Die Kälte hatte abgenommen. Die dumpfe Betäubung, die ich den Morgen über gespürt hatte, war verschwunden.

Kat, Lyana und ich zogen unsere Schwerter. Die Klingen der beiden Frauen strahlten hell. Mein Schwert glühte in tiefem Blau.

„Also vorwärts!“ knurrte Sven. „Erledigen wir diesen Geisterspuk.“

„Na komm schon, du blöder Esel!“ schimpfte Kat.

Fedurin stand, alle viere in den Boden gestemmt, und rührte sich nicht vom Fleck. Er hatte die Ohren zu den Seiten abgespreizt und stemmte sich mit seinem gesamten Gewicht gegen die Leine, an der Kat zog.

„Soll ich dich durch den Schnee hinaufschleifen, oder glaubst du, ich trage dich da hoch?“ schrie Kat.

Fedurin blieb stur. Er gab keinen Fingerbreit nach.

„Lass mal.“ Lyana griff dem Esel sanft in die Mähne.

Sie stimmte einen monotonen Gesang an, fremdartige Worte zu einer kurzen, seltsamen Melodie, die sie wieder und wieder wiederholte. Der Gesang hatte keine Ähnlichkeit mit den Melodien, die sie auf ihrer Flöte spielte. Fedurin schien sich zu entspannen. Seine Haltung lockerte sich und langsam stellte er die Ohren auf. Schließlich lief er zögernd los, obwohl seine Flanken zitterten und die Ohren bald wieder zu den Seiten abstanden. Doch er folgte Kat. Lyana stellte ihren Gesang ein.

Dicht hinter Sven, im Lichtschein Herodins, schritten wir die Schlucht hinauf. Den Esel nahmen wir in die Mitte.

„Was hast du mit Fedurin gemacht?“ wollte Kat von Lyana wissen.

„Eine einfache Beschwörung,“ antwortete Lyana. „Sie stammt aus dem Buch, das ich in Dwarfencast studiert habe.“

Vor dem leuchtenden Glanz von Svens Klinge wichen die Nebelschwaden zurück. Sie ballten sich außerhalb des Lichtkreises zusammen, zerfaserten immer wieder vor dem warmen Licht.

„So schlimm war es beim letzten Mal nicht,“ murmelte Kat.

Ich blickte mit zusammengebissenen Zähnen in den Nebel.

„Ligeia hat mich gewarnt, die Schatten in den Ahnenhügeln würden mächtiger.“

Im Nebel konnten wir die Schluchtwände nicht erkennen. Auch den Höhleneingang zu der zerstörten Tempelstadt Marduk, die wir im Herbst entdeckt hatten, sahen wir nicht. Wir waren eine knappe Stunde talaufwärts gegangen, als der Weg nicht mehr weiter anstieg. Rings um uns zogen die Nebelschwaden sich zurück und gaben die Sicht frei auf die grauen Schatten steiler Hügelketten. Oben auf den Hügelkuppen erhoben sich die Silhouetten hoher, gehörnter Säulen.

„Die Ahnenhügel!“ hauchte Kat. „Zwei, drei Steinwürfe geradeaus, dann links über den Hügelkamm und wir sind durch!“

Ich meinte einen seltsamen Ton im Kopf zu spüren, während wir das gewundene Tal zwischen den Hügelketten betraten. Nur eine dünne Schneeschicht bedeckte den Boden. Ich wurde das Gefühl einer lauernden Gefahr nicht los. Der Esel drängte sich dicht an Kat. Er zitterte am ganzen Leib. Ein murmelndes Summen drang an meine Ohren, wie dumpfer Gesang vieler Männerkehlen. Herodin sprühte Funken. Mein eigenes Schwert leuchtete in tiefem Blau.

„Sie sind überall um uns!“ zischte ich.

Herodins Lichtschein wurde blass. Ein eisiger Luftstrom wehte von den Hügeln herab. Obwohl der Vormittag gerade erst begonnen hatte, dämmerte es. Die Sonne war nicht mehr zu sehen.

Ich nahm Bewegungen auf den Hügelkämmen wahr. In langen Reihen standen die Krieger dort oben - große Rundschilde, gehörnte Helme, Schwerter, Streitäxte, Wälder von Spießen. Im Nebel sahen ihre Silhouetten auf den Hügelkuppen grau und verwaschen aus. Aber es waren keine Hügel. Zu beiden Seiten umgaben uns gestufte, pyramidenartige Gebäude. Aus dunklen Toreingängen in den Pyramidenwänden drang eisige Kälte. Die Waffen der Krieger klirrten, ihre Stimmen hallten zwischen den Pyramiden wieder, während sie von allen Seiten über die steinernen Stufen herabstiegen.

„Ihr Götter!“ stieß Kat hervor.

Das Schattenheer rückte vor. Stiefel scharrten, Schilde und Rüstungen klapperten. Wir waren eingekreist. Ich kämpfte die lähmende Angst nieder und schleuderte den Schattenkriegern einen Feuerball entgegen. Er flog durch sie hindurch und zerplatzte irgendwo in der Ferne. Ich hatte es befürchtet.

„Meine Magie nützt nichts gegen sie!“ keuchte ich.

„Lyana, die Bögen!“ Kat riss ihrem Bogen vom Rucksack und wühlte in der Gürteltasche nach einer Bogensehne.

Lyana berührte Kats Arm, mit der Rechten dem anrückenden Schattenheer das Schwert entgegenhaltend. „Es sind zu viele! Selbst wenn wir alle vierzig Pfeile verschießen - es wär nur ein Tropfen auf den heißen Stein.“

„Bei den Göttern! Leif, Sven, unternehmt doch was!“ kreischte Kat.

Sven führte einen Ausfall mit dem flammenden Zweihänder gegen die anrückenden Krieger. Die Schatten wichen vor dem blitzenden Schwert zurück, doch auf den anderen Seiten rückten sie näher. Speerspitzen richteten sich auf meine Brust. In den Reihen der Kriegersilhouetten sah ich gespannte Bögen, Pfeile zielten mir entgegen. Ich riss den Schild nach vorn. Auch Kat nahm ihren Schild und rückte mit zitternder Hand den Helm zurecht.

„Mein Leben für euch,“ murmelte ich erstickt. „Diesmal wird's ernst.“

Nicht nachdenken - wenn es zum Kampf kommt, kämpfe - für Kat - für Lyana - für Sven - denk' nichts sonst!

Ob da oben vier Sterne waren, vier unscheinbare nur, die unsere Seelen zu sich holen würden?

An der Seite wichen die Schattenkämpfer auseinander. Inmitten des Geisterheers bildete sich ein Spalier. Es führte auf die dunkle Toröffnung einer Pyramide.

„Da gehen wir nicht rein!“ schrie ich. „Wir sterben hier, an der Luft!“

Lyana wühlte in ihrer Umhängetasche. Fedurin stand vollkommen still, obwohl er an allen Gliedern zitterte. Von Svens Seite her hörte ich eine Reihe krachender Explosionen. Sein Schwert fuhr zwischen die Angreifer. Auf den anderen Seiten rückten sie näher. Kat, Lyana und ich konnten die Geister ebenfalls mit unseren magischen Waffen schlagen, aber die Blitzexplosionen bei ihrer Vernichtung würden uns selbst verletzen. Die Blitzschläge von nur vier oder fünf erschlagenen Geisterkriegern konnten uns töten.

Lyana ließ ihr Schwert fallen und setzte ihre Flöte an den Mund. Ich sprang zu ihr und hielt meinen Schild vor sie.

„Kannst du sie bannen?“ keuchte ich.

Sie schüttelte den Kopf. „Die Flöte wirkt nicht auf Untote. Eigentlich kann ich gar nichts.“

Sie begann zu spielen. Die Krieger drangen auf uns ein. Ich drückte Speerspitzen mit dem Schild zur Seite. Wenn wir nicht zwischen ihre Waffen geraten wollten, mussten wir uns gegen die schwarze Pyramidenöffnung zurückziehen. Sven führte krachende Streiche nach allen Richtungen. Es schien die Schattenkrieger nicht zu beeindrucken. Immer neue drangen heran. Die Töne drangen zaghaft und stockend aus Lyanas Flöte.

Verzweifelt setzte sie die Flöte ab. „Es geht nicht, ich kann nicht!“

Kat hieb mit dem Schwert nach einem Schattenkrieger, der ihren Schlag mit dem Schild auffing. Mit einem zweiten, schnellen Hieb fuhr ihr Schwert mitten durch sein Gesicht. Er verging in einem krachenden Blitz. Kat krümmte sich vor Schmerz zusammen. Ich ließ mein Schwert fallen und riss den magischen Dolch aus der Scheide. Mit dem Dolcharm umarmte ich Lyana fest, während wir vor den vorstoßenden Speeren rückwärts stolperten. Ich bot all meine Konzentration auf, um einen Schutzzauber um Lyanas Bewusstsein zu legen. Der Dolch begann rot zu glühen. Sven schlug die Speere vor meinem Schild und vor der am Boden kauernden Kat weg. Er hieb mitten in die Angreifer hinein. Blaue Blitze zuckten. Durch das Krachen klang Lyanas Melodie, wurde lauter und eindringlicher.

Weitere Schattenkrieger rückten heran. Kat raffte sich auf, stellte sich an der anderen Seite vor Lyana, parierte Schwertstreiche. Sven stand vor mir. Er keuchte vor Anstrengung, während er die Krieger auf Distanz hielt. Schritt für Schritt wichen wir gegen das dunkle Tor zurück. Lyanas Melodie hallte klagend, trauernd im Nebel.

Es war umsonst. Die Schatten drängten uns gegen die Pyramide.

Lyana sah mich tränenüberströmt an. „Es hilft nicht, Leif!“

Ich biss die Zähne zusammen. Nur den Dolch und den Schild hatte ich noch. Dennoch würden wir unser Leben teuer verkaufen.

„Also gut - in aller Teufel Namen!“

Ich holte mit dem Dolch aus. Er prallte gegen einen Schild.

„Landorlin und Vendona erbarmt euch!“ schrie Lyana. „Zu Hilfe!“

„Hör doch auf mit dem Scheiß!“ heulte Kat mit Verzweiflung in der Stimme.

Sie wehte Speere und Schwerter ab. Pfeile zitterten in ihrem Schild.

Eine Stimme dröhnte durch den Nebel. „Landorlin vehaneor vaht!“

Über den Pyramidenspitzen rollte Gewitterdonner. Eine Sturmbö raste zwischen den Pyramiden dahin, zerteilte die Nebel und brachte die Schattenkrieger um uns her zum Torkeln. Kat gaffte mit offenem Mund erst mich an, dann Lyana. Lyana achtete nicht darauf. Sie starrte zu der gegenüberliegenden Pyramidenspitze hinüber. Eine Gestalt stand dort oben im wehenden Umhang, einen langen Stab in der Hand. Die andere Hand streckte sie zu einer gebieterischen Geste aus. Die Worte, die sie rief, hallten zwischen den Pyramiden - oder waren es Hügelketten? Der Dunst über den Hügeln riss auf und Sonnenstrahlen fielen auf die verschneite Hügellandschaft. Das Schattenheer verblasste im Licht, löste sich auf.

2.

Sven kniete keuchend am Boden. Noch immer umklammerte er mit beiden Fäusten seinen Zweihänder. Er flammte nicht mehr. Lyana hatte sich ebenfalls hingehockt. Sie stützte den Kopf in die Hände und blickte mit ausdruckslosem Gesicht vor sich hin. Fedurin ließ Eselmist fallen und schrie seinen röchelnden Eselsschrei. Kat kam mir mit einem an Wahnsinn grenzenden Ausdruck im Gesicht entgegen.

„Was war das?“ schnappte sie. „Was war das - jetzt eben?“

Ich schaute zu der gegenüberliegenden Hügelkuppe hinauf. Die Gestalt dort oben war verschwunden.

Fünf Schritte vor mir lag mein Schwert. Ich sammelte es auf. Dann hob ich Lyanas Schwert auf und reichte es ihr.

„Sehen wir zu, dass wir hier wegkommen,“ meinte ich mit trockenem Mund. „Bevor der Spuk von neuem beginnt.“

„Ich will wissen, wer uns da geholfen hat!“ kreischte Kat. Ihre Stimme überschlug sich.

Ich packte sie bei den Schultern. „Reiß dich zusammen!“

Kat biss sich auf die Lippen. Stumm hob sie ihren Bogen aus dem Schnee auf. Lyana richtete sich auf und steckte ihr Schwert in die Gürtelschlaufe. Mit blassem Gesicht sah sie mich an.

„Kat hat recht, Leif,“ flüsterte sie. „Ich glaub' auch, ich werd' gleich wahnsinnig.“

„Habt ihr denn nie davon gehört?“ rief Sven.

Er nahm Fedurin am Halfterstrick und gab uns einen energischen Wink, die nördliche Hügelkette heraufzusteigen.

„Die Soldaten, die manchmal nach Brögesand kamen, haben's auch erzählt. Manchmal, mitten im schlimmsten Schlachtgetümmel, erscheint eine mächtige Gestalt und haut die verloren Geglaubten heraus - sie nennen ihn den „schwarzen Krieger“. Auch ein paar von den Alten in unserem Dorf haben's erzählt - von der Gestalt über den Wellen, die sie in höchster Seenot, als sie ihre Seelen schon den Sternen befohlen hatten, gerettet hat. Das war der „schwarze Retter“!“

„Unsinn!“ murmelte Kat so leise, dass nur ich es hören konnte. „Götter, rettende Geister, das sind doch alles Volksmärchen!“

***

Die Gebirgshänge zu beiden Seiten glühten in der Abendsonne. Wir saßen in einem Talausgang der Nordberge um ein Lagerfeuer und verzehrten die Reste des Kaninchens, das Lyana geschossen hatte. Es war dasselbe Tal, durch das wir im Herbst aus den Bergen herabgestiegen waren. Das Lager hatten wir unter einem schützenden Felsvorsprung aufgeschlagen. Das Zelt stand ein paar Manneslängen talaufwärts auf ebenem Grund. Fedurin scharrte den Schnee mit den Hufen beiseite und rupfte, was er an Essbarem fand. Offenbar war er der Meinung, er bräuchte eine Abwechslung vom Hafer und den Rüben, die Kat ihm reichlich hingelegt hatte.

Wir schauten in die verschneite Ebene, die sich in mehreren Wellen zum See hinunter erstreckte. Das Licht der tiefstehenden Sonne spiegelte sich auf schneefreien Stellen im Eis.

Als ich den letzten Rest meines Kaninchenfleischs aufgegessen hatte, legte ich meinen Arm um Kat. „Wieder mal mit dem Leben davongekommen.“

„Aber mal ehrlich,“ rätselte Kat. „Wer hat uns da geholfen? Soll ich jetzt als Betschwester in irgendein Kloster gehen zum Dank, dass ein Elbengott mich gerettet hat?“

Lyana fuhr auf. „Jetzt hör aber mal auf mit deinem Geseier!“ schrie sie mit Tränen in den Augen. „Kannst du wenigstens einmal deine dämliche, große Schnauze halten?“

Kat starrte sie entgeistert an. Lyana sprang schluchzend auf und lief zum Talausgang, wo sie sich mit bebenden Schultern niederkauerte.

„Kat,“ meinte ich mit belegter Stimme.

Sie verzog das Gesicht. „Es rettet uns aber kein höheres Wesen. Kein Gott, kein Kaiser und kein tyrannischer Statthalter. Wir müssen uns selber helfen, oder wir bleiben im Elend stecken!“

„Irgendjemand hat uns geholfen,“ meinte ich.

Ich stand auf, um zu Lyana zu gehen.

„Nein, lass,“ sagte Kat. „Das ist jetzt meine Aufgabe.“

Sie ging zu Lyana und setzte sich neben sie. Nach einer Weile rückte Kat dicht an Lyana heran. Die beiden nahmen sich in die Arme. Eng umschlungen blieben sie nebeneinander sitzen.

Ich setzte mich neben Sven. Zusammen schauten wir zu den beiden Frauen hinüber. Ich sah Sven an. Er atmete tief durch. Wir brauchten keine Worte, um uns zu verständigen.

„Wenn ich gewusst hätte, in was Katrina uns reinzieht,“ sagte Sven leise mit seiner tiefen, voll tönenden Stimme, „ich wär' trotzdem gegangen!“

„Klar,“ meinte ich.

***

Als die Kälte mich im Morgengrauen aus blutigen Träumen weckte, war Lyana schon aufgestanden. Kat und Sven schliefen noch. Ich erwachte mit dem Geschmack von Rost und Blut im Mund, im Ohr die Todesschreie eines gequälten Tiers und das dumpfe Geräusch von Eisen, das klaffende Wunden in Fleisch schlägt.

Noch vier Tage bis Vollmond.

Vorsichtig tastete ich unter meinem Hemd nach dem Lederbündel mit dem mumifizierten Menschenohr, das Ligeia mir vor unserer Fahrt in die Nordberge gegeben hatte, damit ich sie in der Not rufen konnte. Seit damals trug ich es bei mir.

Beim Frühstück zog Kat Sven damit auf, dass er sich in Kingerhag als Ritter König Ertelreds eine Kutsche kaufen müsste, weil er auf einem Pferd inzwischen zwar recht stattlich sitzen, aber nicht darauf reiten könne. Während die beiden scherzhaft miteinander stritten, nippte Lyana an ihrem Kaffee und blickte ausdruckslos vor sich hin. Ihre Grütze hatte sie kaum angerührt. Sie kam mir blasser vor als sonst. Als Sven und Kat aufstanden, um das Zelt abzubauen, laut miteinander streitend über den militärischen Nutzen von Reitpferden und ihren Wert für die Menschheit im Allgemeinen, rückte ich dicht zu Lyana. Sie hielt immer noch den halbvollen Kaffeebecher in den Händen.

„Heute Nachmittag erreichen wir die Urwälder, Lyana.“

Sie atmete heftig aus und sah mich unglücklich an. „Leif, ich weiß, es ist unsinnig, aber ich habe entsetzliche Angst, in die Wälder zu gehen.“

Ich legte den Arm um sie. „Es war immer dein Traum, Lyana.“

Sie lehnte sich an mich.

„Deshalb ja,“ flüsterte sie. „Ich hab Angst vor der Wirklichkeit. Das stille Atmen der Bäume, wenn ich Seite an Seite mit meinem Vater durch den Wald ging, die Musik der Wälder - das sind doch alles nur Kindheitserinnerungen. Vielleicht ist es in Wirklichkeit nie so gewesen wie in den Träumen, die ich träume, seit ich unterwegs bin.“

Sie seufzte. „Leif, wenn ich heute, wenn wir in die Wälder kommen, Bäume und Walddickicht finde ohne die stille Musik, wenn der Wind in den Wipfeln dort einfach nur Wind ist, nichts sonst, der Wald keine Seele hat, genau wie es war, als ich aus den Wäldern im Süden weggegangen bin...“

Verzweifelt sah sie auf die vereiste Seefläche hinunter, die noch im Schatten der Bergflanken lag.

„Was soll mir das Leben denn noch, wenn ich keinen Traum mehr habe, keine Hoffnung?“

„Als ich auf der Landspitze von Halbaru keine Hoffnung mehr hatte, hast du sie mir wiedergegeben, Lyana. Man kann immer Hoffnung haben!“

Sie blickte stumm vor sich hin.

Ich versuchte, sie auf andere Gedanken zu bringen. „Diese Stimme gestern in den Ahnenhügeln, bevor das Schattenheer verschwand - hast du ihre Worte verstanden?“

„Es war die Sprache der Herren des Waldes,“ meinte sie. „Die Gestalt auf dem Hügel beschwor die Geister bei der Macht Landorlins. Aber ich habe nicht verstanden, ob die Gestalt Landorlin angerufen hat - oder ob es Landorlin selbst war, der die Geister vertrieb.“

„Landorlin - wer ist das, Lyana?“

„Er ist der Urvater der Herren des Waldes, der Älteste. Es heißt, aus einem Schössling des Salabaumes sei er dem Licht entgegen gestiegen, am Morgen der Welt. In der Sprache der Herren des Waldes ist Landor der frühe Morgen. Es ist seine Stunde - die Stunde des Morgentaus, die Stunde der Schöpfung.“

„Habt ihr genug geschmust?“ rief Kat zu uns herüber. „Dann können wir nämlich aufbrechen. Fedurin ist schon ganz versessen auf den Marsch. Er denkt, je eher wir heute ankommen, um so schneller wird er sein Gepäck wieder los!“

***

Die zerklüfteten Bergflanken zu unserer Rechten entlang wanderten wir über die sanft gewellte Ebene dem Wald zu, der in der Ferne bis hoch in die Gebirgstäler hinauf stand. Schleier von Morgendunst stiegen aus den Wipfeln. Die Ebene zwischen dem See und dem Gebirge lag im Schatten der Bergriesen, aber vor uns in der Ferne, wo der Wald sich ausbreitete, wichen die Gipfel hinter den weiten Tälern zurück und der Morgennebel zwischen den Nadelbäumen glänzte hell im Sonnenlicht.

Der Schnee war fest und selten mehr als knöcheltief. Wir kamen gut voran. Das schilfbestandene Ufer wich nach und nach zurück und die zum See hin abfallende Ebene wurde breiter. Bald säumten Weiden das Seeufer. Lyana strebte uns voran, nur selten schaute sie sich nach uns um. Wir wanderten zwischen Birkengehölzen und vereinzelten alten Birken hindurch, die ihre kahlen Äste in einen Himmel streckten, der seit Tagen zum ersten Mal wolkenfrei war. Nur oben in den steilen Graten der Nordberge hingen graue Wolken. Als gegen Mittag die Sonne über den Gipfeln erschien und die verschneite Landschaft begann, hell im Sonnenschein zu glänzen, rasteten wir unter den Ästen einer großen Birke, kauten Dörrobst und rauchten unsere Pfeifen. Ich betrachtete Lyana, aber sie erwiderte meinen Blick nicht. Sie saß aufrecht da mit untergeschlagenen Beinen. Ihre flinken Augen wanderten über das Gelände, als wollte sie jedes Merkmal, auch die kleinste Einzelheit in sich aufnehmen.

Den Nachmittag über blieb es sonnig und die Wolken zwischen den Gipfeln der nach Osten zurückweichenden Bergkette verflüchtigten sich. Es war annähernd windstill. Unsere Schritte knirschten im glänzenden Schnee. Die Sonne auf meinen noch vom Nachtfrost klammen Kleidern tat wohl. Auch Fedurin schien die Sonne auf seinem Fell zu genießen. Er stieß einen langen, weit in die Ferne hallenden Eselsschrei aus.

„Schsch!“ Lyana lief zu Fedurin zurück, der Kat am Strick hinterherging.

Sie nahm seinen Kopf in beide Hände und flüsterte ihm etwas in die aufgestellten Ohren. Fedurins Kopfbewegung sah aus, als würde er widerstrebend nicken.

„Es ist keine gute Idee, unsere Ankunft in die Wälder hinauszubrüllen,“ meinte Lyana warnend.

Die Birken machten jungen Fichtendickichten und einzeln stehenden großen Kiefern Platz. Lyana lief weit voraus, vorbei an Gruppen von Tannen und Fichten, die keinen Weg boten zwischen ihren schneebedeckten Zweigen, und unter Nadelbaumriesen hindurch von einer Art, die ich nie zuvor gesehen hatte. Wir stiegen über kleine Bäche, die steinige Rinnen in die Landschaft gruben und gingen über Lichtungen im warmem Sonnenschein, auf denen gleißender Schnee uns blendete.

Das Land begann nach Norden hin anzusteigen. Die Baumriesen rückten näher zusammen. Ich blickte mich atemlos um unter ausladenden, mit Flechten bewachsenen Astarmen bemooster Urwaldriesen, die ihre sonnenbeschienenen Spitzen in schwindelnde Höhen streckten. Die Luft schien mir feuchter und wärmer als in der freien Ebene. Auf schneefreien Flächen im Windschatten der gewaltigen, gefalteten Stämme wuchs Moos. Zwischen ihren Wurzeln hätten wir vier gut und gerne ein gemeinsames Nachtlager gefunden. Auch Kat und Sven waren stehengeblieben. Fedurin stand dicht bei Kat mit aufgerichteten Ohren. Sven sah sich tief durchatmend um. Grünliches Dämmerlicht herrschte zwischen den Baumgiganten. Graue Flechten von der Größe von Betttüchern hingen von Ästen, die dicker waren als die Baumstämme, die ich von der Küste her kannte. Kat und ich tauschten einen Blick. Die Stille des Urwalds hatte einen ehrfurchtgebietenden, feierlichen Charakter. Sie flößte mir eine unerklärliche Furcht ein.

Über armdicke Wurzelgeflechte und an mannshohen umgestürzten Bäumen vorbei stiegen wir bergan. Auf vermodernden, von Käfern wimmelnden Stämmen wuchsen Moos und junge Fichten in den Sonnenstrahlen, die durch Lücken zwischen den Baumriesen zum Waldboden vordrangen. Lyana ging jetzt dicht vor uns. Sie ging langsam, blieb immer wieder stehen und lauschte. Wenn Sven und Kat leise ein Wort wechselten, machte sie ihnen mit ärgerlicher Miene Zeichen, still zu sein.

Am Rand einer mit jungen, zugeschneiten Tannen bestandenen Lichtung hielt Lyana an und sah sich um. Ich stellte mich nahe zu ihr. Im Licht der späten Nachmittagssonne warfen die Tannen lange Schatten über die Lichtung.

„Ist das der Wald, von dem du geträumt hast?“

Lyana schaute über die Lichtung zu den gegenüber stehenden Nadelbaumriesen auf. Ihr Gesicht zeigte keine Regung. Langsam nickte sie.

„Hörst du die Musik?“ hauchte sie, „den Atem des Waldes?“

Dieser Wald ist wie ein unfassbar großes Lebewesen, das uns beobachtet, dachte ich.

„Nicht der Wald beobachtet uns,“ flüsterte Lyana.

Sie deutete auf den Schnee vor unseren Füßen, wo Tierfährten eine schmale Spur ausgetreten hatten.

„Hirsche,“ sagte Lyana leise. „Ein ganzes Rudel.“

Sie blickte uns der Reihe nach ernst an.

„Bleibt dicht hinter mir,“ raunte sie. „Versucht, wenn irgend möglich, kein Geräusch zu machen und nicht durch die Gegend zu trampeln wie eine Herde Büffel. Wenn ich euch ein Zeichen gebe, bleibt ihr sofort stehen und rührt euch nicht. In Ordnung?“

„Lauert hier irgendwo Gefahr?“ fragte Kat flüsternd.

Lyana spähte unruhig umher. „Ich weiß noch nicht.“

Im Schatten ausladender Äste pirschten wir am Rand der Lichtung entlang hinter Lyana her. In der ringsum herrschenden Stille hatte ich den Eindruck, meine Stiefel erzeugten ohrenbetäubendes Getöse im unter dem Schnee knackenden Unterholz. Lyana schien den gleichen Eindruck zu haben, denn sie blickte sich ein paar Mal unwillig um. Vollkommen lautlos glitt sie zwischen Bäumen und schneebedecktem Bruchholz hindurch. Wir ließen die Lichtung hinter uns. Über einen vereisten Bach gelangten wir in ein Waldgebiet mit weiter auseinander stehenden Nadelbäumen. Sie hatten eine stattliche Größe, waren aber längst nicht so Furcht einflößend wie die Urwaldriesen, zwischen denen wir bereits hindurch gekommen waren. Es lag kaum Schnee und der weiche Boden war nahezu frei von Unterholz, so dass wir schneller ausschreiten konnten, ohne allzu viel Geräusch zu machen.

Mit einem Mal ging Lyana langsamer. Sie spähte rasch zwischen den Bäumen umher. Ich sah mich um, konnte jedoch nichts erkennen. Plötzlich blieb sie abrupt stehen und gab uns ein Zeichen. Wir standen stockstill. Unwillkürlich hielt ich die Luft an. Lyana schien zu lauschen. Nach einer Weile schüttelte sie den Kopf und ging weiter. Ich wollte ihr nachgehen, aber mitten im Schritt prallte ich zurück. Kat rempelte hinter mir gegen meinen Schild.

„Pass doch auf!“ zischte sie.

„Still!“ flüsterte ich, ohne mich zu rühren.

In dem Baumstamm neben mir, genau vor meinem Gesicht, zitterte ein langer, schlanker Pfeilschaft.

***

„Oh Scheiße, verdammte!“ entfuhr es Kat.

Sie riss ihren Schild nach vorn und zog Lichthüter aus dem Gürtel. Das Schwert glänzte hell auf im Halbdunkel des Waldes. Auch ich hatte die Hand am Schwert.

Lyana war mit einem Satz bei uns. „Steck' das Schwert weg, Kat!“ schrie sie, dass es durch den Wald hallte. Ihre Stimme überschlug sich. „Um alles in der Welt, lasst die Hände von den Waffen!“

Kat starrte sie an, als hätte Lyana der Wahnsinn gepackt. „Wir werden angegriffen!“

„Steck' das Schwert zurück, Kat.“ Lyanas Stimme zitterte. „Bitte tu, was ich dir sage!“

Zögernd schob Kat ihr Schwert in die Schwertschlaufe zurück. Auch ich nahm die Hand vom Schwert, obwohl ich wusste, dass Feinde in der Nähe waren. Die Klinge hatte blau geglüht, als ich mein Schwert berührt hatte. Sven stand in angespannter Haltung neben mir und spähte in die Richtung, aus der der Pfeil gekommen war.

Um uns herum erwachten die Bäume zum Leben. Für einen Moment glaubte ich tatsächlich, die Stämme selbst begännen sich zu regen. Im schattigen Unterholz zeichneten sich die Umrisse schlanker, großer Gestalten ab. Sie verschmolzen so sehr mit dem dunklen Waldhintergrund, dass sie nur dann auszumachen waren, wenn sie sich bewegten.

Lautlos traten sie unter den Bäumen hervor. Es mochte ein knappes Dutzend langgliedriger Männer in Lederkleidung sein, die uns mit großen, gespannten Bögen gegenüber traten. Ihre Pfeilspitzen zielten direkt auf unsere Köpfe. Mein Puls begann wie rasend zu hämmern. Im Bruchteil eines Augenblicks konnten sie uns alle vier töten. Und ich hatte keinen Zauber, der dagegen gewirkt hätte. Selbst eine Feuerwalze hätte die Pfeile nicht aufhalten können.

Die Bogenschützen standen schweigend um uns im Halbkreis. Alle von ihnen überragten uns, sogar Sven, um mindestens einen Kopf. Noch immer konnte ich sie im schattigen Dämmer unten den Bäumen nur schwer erkennen. Die leichten Lederwämser, die sie trugen, hatten Lederfransen an den Ärmeln, genau wie dasjenige von Lyana. Ihre langen, hellen Haare wurden von ledernen Stirnbändern gehalten, von denen über dem rechten Ohr eine oder zwei lange Vogelfedern herabhingen. Tatsächlich waren sie ganz genau wie Lyana gekleidet, bis auf die Mokassins, die sie statt Stiefeln trugen. In ihren Gürteln steckten lange Messer.

Lyana stand einen Schritt vor Kat, Sven und mir. Fedurin drängte sich hinter uns dicht an Kat. Er presste seine Schnauze gegen ihre Seite. Langsam hob Lyana die Hand zum Gruß.

„Landorlin il Vendona hwen nayin,“ formulierte sie mit fester Stimme.

Einer der Bogenschützen trat einen Schritt auf sie zu, ohne den Bogen herunterzunehmen. Aus unmittelbarer Nähe zielte er ihr mitten zwischen die Augen. Er antwortete ihr in der melodischen Sprache, von der ich wusste, dass es die Sprache der Elben, der Herren des Waldes war, aber seine Stimme klang hart. Lyana erwiderte ihm ruhig, doch er antwortete nur knapp mit kalter Stimme. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Lyana kniete sich vor ihn hin. Ihre Stimme begann zu zittern. Entsetzt verfolgte ich den Wortwechsel. Und mir fiel nichts ein, was ich hätte tun können. Die Pfeilspitzen waren nach wie vor auf uns gerichtet. Eine unbedachte Bewegung von einem von uns, und wir alle wären auf der Stelle tot.

Eine feste, helle Stimme ertönte hinter den Bogenschützen. Zwischen den großen Männern kam ein Junge mit glatten, hellbraunen Haaren hervor, die ihm sanft über die Schultern fielen. Er war gekleidet wie die Bogenschützen, aber zierlich schlank und noch einen halben Kopf kleiner als ich. Er hatte seinen Bogen über die Schulter gehängt und die schmale Hand am Messer. Ich korrigierte mich sofort: es war eine junge Frau. In ihrem Stirnband hingen drei große Federn.

Mit langen Schritten ging sie auf Lyana zu und sprach sie an. Der Jäger, der vorher zu Lyana gesprochen hatte, trat einen Schritt zurück und senkte den Bogen. Er sah verärgert aus. Das Mädchen und Lyana wechselten ein paar Worte, dann griff die junge Frau Lyana bei den Schultern und Lyana stand auf. Die beiden sahen einander in die Augen. Das Mädchen nahm das Amulett in die Hand, das Lyana um den Hals hing. Sie zeigte es den Männern hinter ihr und sagte etwas dazu. Ihre Stimme klang entschlossen. Dann deutete sie auf uns. Lyana erklärte leise mehrere Sätze in der Elbensprache. Die Schützen senkten ihre Bögen. Ich wollte gerade aufatmen, als mir erneut der Schreck in die Knochen fuhr. Vier gespannte Bögen blieben auf meine Augen gerichtet.

„Lasst sie selber reden, wenn sie verständige Wesen sind und nicht viehisch wie Tiere!“

Einer der Bogenschützen hatte es in der Reichssprache gerufen, ein großer Mann mit breiten Schultern und starken Armmuskeln, die sich unter seinem dünnen Lederwams abzeichneten. Er schob seinen Pfeil in den Köcher und hängte den Bogen über die Schulter. Mit ein paar Schritten kam er auf uns zu, die rechte am Griff des Messers in seinem Gürtel. Sein glattes, langes Haar hatte die Farbe von Bronze. Die Augen in seinem hellhäutigen Gesicht waren eisgrau. Mit stechendem Blick musterte er uns. Er stellte sich mit hoch erhobenem Kinn vor Kat.

„Was ist dein Gewerbe, Frau aus dem Volk der Menschen?“ Seine Stimme klang hart.

„Ich bin Feldscherin, Herr - Heilerin.“

Er blickte Kat aus eisigen Augen an. „Rede mich nicht mit „Herr“ an, das ziemt sich nicht bei meinem Volk. Ich bin Lohan. Krieger der zweiten Feder.“

Kat blickte ihm fest ins Gesicht, ohne zu antworten.

„Du bist Heilerin - so hat auch die Waldläuferin es erklärt,“ nickte der Elbenkrieger.

Er schritt zu Sven und musterte ihn missbilligend. „Deine Waffe ist feindlich, Fremder. Was hast du auf unserem Gebiet zu schaffen?“

Sven kniete sich auf ein Knie herab, wie es an einem Fürstenhof üblich gewesen wäre. „Ich habe geschworen, meine Waffe gegen alles Böse zu wenden und alle Völker der Welt vor den Schatten der Hölle zu schützen. Nur dafür verwende ich mein Schwert. Ich habe gegen Dämonen und gegen Geister aus der Hölle gekämpft. Ich stehe mit meinem Leben dafür ein, dass ich mein Schwert niemals gegen einen von euch erheben würde.“

Der Elbenkrieger sah streng auf Sven herab. „Du wirst deine Waffe auf unserem Gebiet nicht anrühren dürfen. Sagst du das zu?“

Sven seufzte. Er wechselte einen raschen Blick mit Kat und mir. Lyana sah ihn flehentlich an.

„Ich sage es zu.“

„Gut,“ stellte Lohan knapp fest. „Dann stirbt nur der schwarze Hexer. Über die anderen wird der Rat der Alten entscheiden.“

„Nein,“ schrie Lyana.

Sie sprang vor mich und deckte mich mit ihrem Körper vor den auf mich gerichteten Pfeilen.

„Leif hat mit seiner Magie mein Leben gerettet! Er würde sie niemals zum Bösen einsetzen!“ Angst schwang in ihrer Stimme. „Wenn ihr ihn töten wollt, dann tötet mich auch!“

Ein Augenblick absoluter Stille folgte, in denen keiner der Elbenkrieger sich regte.

In die Stille hinein erklang zögernd Kats Stimme. „Ich kann beschwören, dass Leifs Gesinnung edler ist, als meine eigene.“

„Sag es ihnen, Leif!“ flüsterte Lyana mit zitternder Stimme.

Ich räusperte mich. Das Herz schlug mir bis zum Hals. „Ich... ich bin gegen meinen Willen in die schwarze Magie initiiert worden, von einer mächtigen Hexe. Ich bin auf der Flucht vor ihr - “

Ich war mir nicht sicher, ob das, was ich sagte, der Wahrheit entsprach. Doch die auf mich gerichteten Bögen senkten sich. Lyana atmete schluchzend aus. Lohan trat auf mich zu. Er fixierte mich unerbittlich. Ich starrte auf die lange, hässliche Narbe, die sich von seinem linken Ohr den Hals herab bis zu seinem Brustbein zog.

„Unsere Gesetze fordern den Tod jedes schwarzen Hexers, der unser Gebiet betritt,“ schleuderte er mir entgegen. „Stirb jetzt von meiner Hand!“

„Thweon!“ rief das Mädchen mit den drei Federn am Stirnband.

Lohans Augen sprühten vor Wut, aber er trat einen Schritt zurück.

Ich holte tief Luft. „Ich bitte euch, mir Zuflucht auf eurem Gebiet zu gewähren, bis... so lange ich nach einem Mittel suche, das schwarze Gift wieder loszuwerden.“

Schweigen folgte auf meine Worte. Keiner der Elben regte sich. Lohan starrte mich zornsprühend an.

Endlich erklang die Stimme des Elbenmädchens. „Du hast es gehört, Lohan!“

Der muskulöse Krieger senkte den Kopf und ging einen weiteren Schritt zurück, doch sein unbewegtes Gesicht war rot vor Wut.

„Der Rat der Alten wird über ihn entscheiden,“ sagte er gepresst. „Aber auch ich habe eine Stimme in der Ratsversammlung!“

3.

Unter hohen Fichten hindurch und vorbei an sonnenhellen Windbrüchen, auf denen verschneite Junggehölze standen, führten die Elben uns bergan. Wir hatten die tiefstehende Sonne im Rücken, folglich gingen wir den weiten Gebirgstälern im Osten und Nordosten entgegen. Die Bäume warfen lange Schatten im schräg einfallenden Licht.

Der Krieger, der Lyana zuerst angesprochen hatte, ging voraus, die anderen folgten uns in lockerem Abstand. Es verwirrte mich, dass ich die Männer praktisch nicht mehr erkennen konnte, sobald sie aus den Sonnenstrahlen in den Schatten traten. Sie gingen so lautlos, dass ich nicht hätte sagen können, ob noch die gesamte Gruppe mit uns ging, oder ob ein Teil von ihnen andere Wege eingeschlagen hatte.

Die Elben hatten ihre Bögen über die Schultern gehängt. Sie schienen keine Sorge zu haben, dass wir ihnen gefährlich werden oder entkommen könnten. Die Mienen, in die ich sah, wenn ich mich umblickte, waren ruhig und wachsam. Es war offensichtlich, dass sie jede unserer Bewegungen wahrnahmen. Die junge Kriegerin, die uns vor dem Tod durch die Pfeile ihrer Gefährten bewahrt hatte, ging neben Lyana. Die beiden folgten Kat und mir. Sven ging ein wenig abseits. Immer wieder schaute er sich unruhig um. Fedurin drängte sich mit der Flanke dicht an Kat. Das Tier schien die Gefahr zu spüren, in der wir uns befanden.

Lyana und das Kriegermädchen sprachen leise miteinander in der Elbensprache. Hin und wieder sah ich zu ihnen zurück. Wären die hohen Stiefel und die lederne Umhängetasche nicht gewesen, Lyana hätte eine der Waldelben sein können. Wie sie lautlos und mit federnden Schritten neben der jungen Kriegerin einherschritt, ihren langen, abgespannten Bogen in der Hand, war sie praktisch nicht von den Elben zu unterscheiden. Ich betrachtete das Kriegermädchen verstohlen. Vor dem Licht der Abendsonne bekam ihr langes, hellbraunes Haar einen beinahe rötlichen Glanz. Sie ging aufrecht und weit ausschreitend. Ihr Gesicht war verschlossen. Auch das erinnerte mich an Lyana, die ihre Gefühle so häufig verbarg. Das Mädchen hatte zwei fingerbreite, kurze Narben unter dem linken Wangenknochen. Sie mussten von einer heftigen Verletzung herrühren, die Wange musste komplett aufgerissen gewesen sein. An einer Lederschnur um den Hals trug das Elbenmädchen ein krummes, spitzes Stück Horn von der Größe eines langen Fingers. Es sah aus wie eine einzelne Kralle. Ich konnte mir kein Tier vorstellen, das derart riesige Krallen hatte.

Kat blickte verbissen vor sich hin. Sie war sehr blass.

„Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Waldkrieger besonders gastfreundlich sind,“ meinte ich mit gedämpfter Stimme zu ihr.

Kat schimpfte leise los. „In eine schöne Scheiße sind wir da geraten! Mitten reingelatscht in ihren Hinterhalt, wie die letzten Trottel.“

Wütend sah sie sich um. „Jetzt können wir sehen, wie wir den Kopf aus der Schlinge wieder rausziehen.“

„Es war unmöglich, das vorherzusehen,“ fand ich. „Selbst Lyana hat die Bogenschützen nicht bemerkt. Auch sie hat nicht mit einem solchen Überfall gerechnet.“

Kat schnaubte. „Wenn sich wenigstens irgendeine Fluchtchance böte - wenn wir erst in ihrem Lager sind und ihr Kriegsrat verurteilt uns zum Tod, weil wir ahnungslos ihr Gebiet betreten haben, werden wir kaum noch davonkommen können.“

Auch mir war nicht wohl bei dem Gedanken an das, was uns bevorstand. Mit mulmigen Gefühlen spähte ich in die Schatten zwischen den Bäumen.

„In ihren Wäldern sind wir ihren Pfeilen wehrlos ausgeliefert. Es wär‘ blanker Selbstmord, zu versuchen, ihnen hier zu entkommen.“

„Elender Mist!“ fauchte Kat.

„Wir müssen versuchen, mit ihnen zu reden,“ meinte ich. „Vielleicht findet sich ein Ausweg.“

Kat warf mir einen zweifelnden Blick zu. „Übrigens wünschte ich, du hättest die Wahrheit gesagt, als du behauptet hast, du suchst einen Weg, Ligeias Gift loszuwerden.“

Unglücklich ging ich neben ihr her dem Elbenkrieger nach, der zwischen den Bäumen hindurch bergan stieg.

Über einen bewaldeten Hang gelangten wir an ein breites, in nordöstlicher Richtung verlaufendes Tal. Die Talsohle lag bereits in tiefem Schatten. Große, alte Laubbäume wuchsen unten im Tal. Ihre kahlen Äste waren schneebedeckt. Durch den Laubwald wand sich ein vereister Fluss.

Während wir durch den Wald ins Tal hinabstiegen, kam Lyana an meine Seite. Vorsichtig nahm sie meine Hand.

„Es tut mir leid, Leif,“ sagte sie stockend. „Es ist alles meine Schuld.“

„Du konntest nicht wissen, was passieren würde, Lyana.“

Sie sah mich verzweifelt an. „Die Elben im Süden waren zu meinem Vater und mir immer freundlich. Mir hätte klar sein müssen, dass sie uns hier als Eindringlinge betrachten. Sie hätten uns umgebracht, wenn Aeolin nicht dabei gewesen wäre.“

„Aeolin?“

„Die junge Kriegerin. Sie hat den höchsten Kriegerrang, den der Clan vergibt. Krieger von niederem Rang dürfen ihr nicht widersprechen, ohne dass es eine Herausforderung zum Zweikampf wäre.“

„Sie scheint ein ganz junges Mädchen zu sein.“

„Bei Elben lässt sich das Alter nur schwer schätzen. Ich glaube, sie ist ungefähr so alt wie ich.“

„Was hast du ihr gesagt?“

„Schon dem Krieger, der zuerst mit mir sprach, habe ich den Namen meines Vaters genannt, und dass er ein Freund der Elben im Süden war. Aber er antwortete nur, auch Raben können sprechen lernen, das mache sie nicht zu vernünftigen Wesen. Aeolin kannte meinen Vater vom Namen her...“ Sie stockte mitten im Satz und sah mich mit Tränen in den Augen an. „Du hast es immer gesagt, Leif.“

„Was?“

Zögernd hauchte sie: „Aeolins Familie ist über Freundschaftsbande mit der Familie meiner Mutter verbunden, obwohl über die weite Entfernung schon lange keine Kontakte mehr bestehen - Aeolin wusste den Namen meiner Mutter.“ Einen Moment lang konnte sie nicht weitersprechen.

Wie erstickt sagte sie schließlich: „Meine Mutter war Elbin.“

Ich drückte fest ihre Hand.

Lyana kämpfte mit sich, bis sie ihren nüchternen Gesichtsausdruck wiederfand. „Den anderen Kriegern hat Aeolin zum Beweis mein Amulett gezeigt, das die Elben im Süden mir gaben. Als sie nach euch fragte, musste ich die Wahrheit sagen - lügen ist nach dem Recht der Herren des Waldes ein schweres Verbrechen. Sie würden jeden töten, den sie einer Lüge überführen.“

Ich musste mich räuspern, bevor ich wieder sprechen konnte. „Dieser Rat der Alten, was hat es damit auf sich?“

„Aeolin hat es mir erklärt,“ meinte Lyana. „Alle Krieger des Clans bilden die Ratsversammlung, in der alle wichtigen Entscheidungen getroffen werden. Frauen und Kinder haben dort keine Stimme.“

„Aber diese Aeolin ist ein Mädchen!“

„Sie ist Kriegerin der dritten Feder,“ erklärte Lyana. „Es stimmt, Aeolin sagte, es ist äußerst selten, dass eine Frau in den Kriegerrang aufgenommen wird, aber sie meinte, sie hätte es eben mit aller Macht darauf angelegt. Die Stimmen der ältesten Krieger haben in der Ratsversammlung großes Gewicht. Keiner der Jüngeren würde ihnen widersprechen. Die Alten müssen jetzt entscheiden, was mit uns geschehen soll. Eigentlich,“ sie schluckte, „eigentlich ist es Fremden bei Todesstrafe verboten, das Gebiet des Clans zu betreten.“

Die Elben führten uns ins Tal hinab und durch den verschneiten Wald an den Fluss. Am Flussufer wandten die Krieger sich flussabwärts und machten mit Armen und Händen abwehrende Zeichen. Dabei murmelten sie beschwörende Worte. Dann machten sie kehrt, nahmen uns in die Mitte und gingen den Fluss hinauf. Es waren noch acht Krieger, die uns begleiteten, Aeolin eingerechnet. Auch Lohan war dabei.

Lyana wechselte ein paar Worte mit Aeolin. Dann kam sie zu Kat, Sven und mir zurück.

„Das Gebiet flussabwärts bei der Flussmündung am See gehört nicht zum Gebiet des Clans,“ erklärte sie. „Sie sagen, dort treibe eine schwarze Hexe ihr Unwesen. Mit ihren Bannsprüchen wollen sie sie von ihrem Gebiet fernhalten.“

Wir tauschten stumme Blicke. Allen von uns war klar, wer dort an der Flussmündung sein Unwesen trieb.