Die Todesminen von Stegersting - Thomas Hoffmann - E-Book

Die Todesminen von Stegersting E-Book

Thomas Hoffmann

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Beschreibung

"Wohin bist du unterwegs?" wollte der Junge am Wirtshaustisch der Abenteurer wissen. "Zu den Silberminen," erklärte Norbert, "ich brauch zweihundert Goldtaler für ein heiliges Schwert. Eckhard in Altenweil hat eins geschmiedet. Für zweihundert Goldstücke würde er es mir verkaufen. Nur mit einer heiligen Waffe kann ich die Uralte, die Gornwald-Behemoth vernichten, die die Leute meines Heimatdorfs umgebracht hat!" Ein hagerer Glatzkopf in einem blauen Mantelumhang fixierte Norbert: "Du gehst nicht zu den Silberminen, weil du dir Gold verdienen willst. Beowulf vorzeiten hat kein heiliges Schwert gekauft, um die Urmutter der bösen Brut, aus der Grendel hervorging, zu erschlagen. Er hat es aufgefunden in der Halle der Erzbösen selbst, tief in den giftigen Todessümpfen, wohin er den tödlich verletzt fliehenden Grendel verfolgte. Dort nahm er die heilige Waffe auf und erschlug die Erzböse! Nein," raunte der Greis, "was dich zu den Silberminen führt, hat andere, dunkle, schicksalhafte Gründe!" "Die Silberminen," flüsterte der vermummte Fremde in der schwarzen Kapuzenkutte, der mit am Tisch saß, "die Todesminen!"

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Thomas Hoffmann

Die Todesminen von Stegersting

Die Fahrten des Norbert Lederer 3

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

I. Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

II. Teil

9.

10.

11.

III. Teil

12.

13.

14.

15.

IV. Teil

16.

17.

18.

Quellenangaben

Impressum neobooks

I. Teil

Weggefährten

1.

Die Schatten im Tal wurden lang und streckten ihre schwarzen Finger nach den gegenüberliegenden Berghängen, als Jannes Findebur und seine beiden Weggefährten von der talabwärts gelegenen Klamm kommend den Pfad am Wiesenhang entlang durch den Schwärzergrund gingen. Oben am Gipfelgrat klammerte letztes Abendrot sich an den Fels, als kämpfte es mit aller Macht an gegen das Dunkel der einbrechenden Nacht. Es wurde kalt. Jannes hoffte, die Herberge bald vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen.

***

Die Gerdsohnshütte im Schwärzergrund, jenem Seitental unterhalb des Hauermannpasses, über den die Handelsstraße nach Süden aus dem hohen Findelgebirge in die Ebene hinabführte, hatte nie viele Herbergsgäste. Die meisten Reisenden mieden den Schwärzergrund, obwohl der Abstieg durch die Klamm unten im Tal kürzer war, als über die sich weit hinschlängelnde Passstraße. Der Schwärzergrund war verrufen. Vor Zeiten hatten sich hier Schmuggler in den Felsklüften verborgen und aus dem Schwärzergrund heraus hatte Raubgesindel die Händlerkarawanen überfallen. Noch immer lauerten ihre Totengeister in der Schlucht, hieß es. Und Gerüchte gingen um von weitaus schlimmeren Dämonen.

Bis vor einer Generation war die Gerdsohnshütte von der gleichnamigen Familie geführt worden. Aber von Job Gerdsohns Kindern überlebte nur eine Tochter bis zum Erwachsenenalter, alle anderen starben früh. Als Gerdsohn und seine Frau zu alt geworden waren, um die Hütte zu unterhalten, wurde die Tochter mit Hermann Loggersohn verheiratet, einem Bergbauern des Schwärzergrunds, damit er die Gasthütte weiterführte. Sie rannte ihm, wie erzählt wurde, nach wenigen Wochen davon. Sie kehrte nicht zu ihren Eltern zurück. Sie verschwand einfach. Aber weil sie es war, die ihren Mann verlassen hatte und nicht er sie verjagt hatte, behielt er die Gerdsohnshütte. Kurze Zeit später heiratete er erneut. Und seine zweite Frau blieb bei ihm.

***

Die Gerüchte um den verrufenen Schwärzergrund gingen Jannes Findebur durch den Kopf, als er und seine zwei Weggefährten am späten Abend die Gerdsohnshütte erreichten. Es war nicht so sehr das Tal, das heimgesucht war, dachte er. Über der Gerdsohnshütte lag ein Schatten!

Er sagte seinen Gefährten nichts davon. Und weit und breit gab es keinen anderen Ort, um für die Nacht unterzukommen. Sie kehrten ein.

Jannes war Waisenjunge. Seine Eltern hatte er nie gekannt. Er war auf der Wanderschaft, so lange er denken konnte. Mit dem Bruder und der Schwester zusammen bis vor einem Vierteljahr. Aber im Armenspital von Ostenburg, wo sie überwinterten, grassierte das Schüttelfieber. Viele der Mittellosen, Bettler und Kranken im Spital erlagen ihm. Auch Jannes' Geschwister starben daran. Dabei war es ein milder Winter gewesen! Im Frühjahr war Jannes allein weitergezogen, immer auf der Suche nach einer Gelegenheit, ein paar Viertelkreuzer zu verdienen, um über die nächsten paar Tage zu kommen.

Von seinen Weggefährten, denen er unterwegs zufällig begegnet war, dem ständig gut gelaunten Holger und Ulrich, dem schweigsamen Alten, wusste Jannes kaum etwas, außer, dass sie dasselbe Ziel hatten wie er. Von den Gerüchten um das Schwärzertal hatten die drei sich nicht abschrecken lassen. Ihre Wanderstäbe hatten Eisenspitzen und taugten gut genug dazu, sich zur Wehr zu setzen, wenn es sein musste. Ulrich, der Alte, trug sogar einen Dolch.

Die Herberge hatte an diesem Abend außer den dreien nur einen einzigen weiteren Gast. Die Magd fand, zusammen mit den Neuankömmlingen sei die Hütte ja nun schon fast überfüllt. Aber sie würden sich auf dem Lager nicht drängen müssen, erklärte sie, als sie ihnen die Schlafplätze auf dem Dachboden zeigte. Der fremde junge Mann, der am frühen Morgen eingekehrt war, hatte eine Kammer verlangt, aus welchem Grund auch immer. Er bezahlte sogar extra dafür. Sie hatten ihm die Abstellkammer gegenüber der Küche freigeräumt.

„Wer er ist, woher er kommt, hat er uns nicht gesagt,“ raunte die Magd. „Nicht mal seinen Namen wollte er uns nennen. Seit heute früh sitzt er im Winkel der Gaststube, dreckig, als habe er die gesamte letzte Woche im Freien verbracht in seiner schmutzigen Ledermontur mit dem zerrissenen Ärmel, trinkt Bier und schweigt. Unheimlich, wenn ihr mich fragt. Ich schwöre, da sind Blutflecken auf seinem Ärmel. An der Schläfe hat er 'ne frisch verschorfte Wunde. Unserer schwarzen Frau sei Dank hat er sich wenigstens das getrocknete Blut aus dem Gesicht gewaschen. Ein Schwert hat er auch. Wenn ihr mich fragt, er ist ein Karawanensöldner. Unterhalb des Passes, auf der Handelsstraße, haben Raubritter gestern eine Handelskarawane überfallen. Ich bin sicher, er ist einer von den wenigen, die bei dem Überfall mit dem Leben davongekommen sind.“

„Raubritter?“ wollte Holger genauer wissen.

Die Magd seufzte: „Zwei Rittersleute aus dem Süden. Seit letztem Herbst treiben sie ihr Unwesen in der Gegend, plündern Höfe, belästigen die jungen Frauen, erzwingen Schutzgelder von durchziehenden Händlern. Die Leute haben den Landvogt um Schutz angefleht, aber er sagt, sie sind Ritter des Kaisers, er kann nichts gegen sie unternehmen. Gestern haben sie es besonders schlimm getrieben, die ganze Karawane zusammengehauen, wohl, weil die Karawanenleute es gewagt haben, Widerstand zu leisten. Ich bete, dass die schwarze Frau uns von dieser Plage befreit!“

Und dann seufzte sie noch einmal: „Dass das Vieh hinten im Stall immer so lärmen muss in der Dämmerung! Immer in den Nächten um Neumond brüllen die Rindviecher, als würden sie abgestochen. Als wenn ein Dämon um den Stall schleicht!“

Jannes freute sich auf einen ruhigen Abend mit Bier und genug zu essen, um sich nicht hungrig schlafen legen zu müssen. Er wollte früh nach oben gehen, bevor die anderen zum Schlafen hinaufkamen. Er hatte die vage Hoffnung, sie könnte ihm erscheinen...

Es wurde nichts daraus. Der Entsetzensschrei des Stallknechts schreckte alle von ihren Plätzen auf. Jetzt standen sie im Stalltor und starrten im schwankenden Licht der Laternen des Stallknechts und des Wirts auf den blutig zerrissenen Kuhkadaver: die Magd, Hermann Loggersohns erschreckt die Hände vors Gesicht schlagende Frau, seine heranwachsende Tochter, sein vielleicht zwölfjähriger Bub, Jannes und seine zwei Gefährten. Auch der stumme Soldknecht stand da, die Hand am Schwertgriff, und spähte in den Stall.

Hermann Loggersohn schnaufte grimmig. Er war ein kräftiger Mann in den Fünfzigern, den Jannes bis jetzt immer nur mit verbissenem Gesicht gesehen hatte.

„Hab ich dir nicht gesagt, Josef,“ brüllte der Herbergsvater, „dass du die Stalltür ordentlich verschließen sollst? Schon zum dritten Mal haben die Wölfe eine meiner Kühe gerissen!“

„Ich habe sie fest verschlossen,“ verteidigte sich der Stallknecht mürrisch.

„Offenbar ja nicht!“ polterte Hermann. „Ich habe dir hundertmal gesagt, die Wölfe kommen in der Dämmerung aus den Bergen herab und reißen das Vieh in den Höfen!“

Der Stallknecht duckte sich vor dem Herbergsvater weg.

„Wo sollen da Wölfe hergekommen sein,“ murmelte er trotzig.

Jannes spähte in die dunklen Ecken des Stalls jenseits des zitternden Lichts der Laternen. Die Schwärze dort jagte ihm Schauder über den Rücken. Jemand im Stalltor sah ihn von der Seite her an. Es war der junge Karawanensöldner. Für einen Moment begegneten sich ihre Blicke.

Der Soldknecht sieht es auch, fuhr es Jannes durch den Kopf.

Abrupt wandte der junge Mann in der Ledermontur mit dem zerrissenen Ärmel sich um und ging über den dunklen Hof zur Gasthütte zurück. Mit seinem schulterlangen, dunklen Lockenhaar und so aufrecht, wie er ging, hätte er ebenso gut ein Ritter sein können, dachte Jannes. Doch was Jannes irritierte, war der schwarze, nahezu bläuliche Schatten des jungen Söldners. Jannes wunderte sich, dass er dort in der Dunkelheit, wo das Licht der Laternen im Stalleingang nicht mehr hinreichte, überhaupt einen Schatten haben konnte. Und der Schatten war nicht dort, wo er sein sollte, wo er vom Laternenlicht hingeworfen werden müsste! Er schien nicht einfach die Gestalt des jungen Mannes auf den Boden zu zeichnen. Der Schatten verfolgte ihn!

***

Kurze Zeit später verließ Jannes die Gruppe der diskutierenden Hüttenbewohner vor dem Stall. Er hatte keine Ahnung, ob es auf den Höhen über dem Schwärzergund Wölfe gab. Aber so viel wusste er, dass Wölfe nicht in die Höfe kamen, um Vieh in blutige Stücke zu zerreißen, wie diesen zerfetzten Kuhkadaver. Wenn sie ein Tier rissen, dann, um es zu fressen! Diese Kuh war von etwas Schlimmerem zerrissen worden, als von Wölfen.

Als er durch den Hüttenflur an der Küche vorbeikam, hörte er in der gegenüberliegenden Kammer jemanden sprechen. Der seltsame Söldner, der unbedingt die Kammer haben wollte! Jannes verstand nicht, was der junge Mann hinter der Kammertür sagte, aber es hörte sich an, als rede er auf jemanden ein, als wollte er jemanden beruhigen, beschwören. Nur der Wind um die Hütte heulte zur Antwort. Aber war da nicht eine gehauchte Stimme im Wind?

Wann kommst du? Mir ist so kalt!

Jannes war sich nicht sicher, ob er die Stimme wirklich gehört hatte. Konnte es sein, dass dieser Soldknecht...?

Jannes ging nicht mehr in die Schankstube zurück. Er ging gleich zum Schlaflager hinauf. Holger und der Alte würden bald nachkommen. Mit klopfendem Herzen stieg er die Stiege zum Dachboden hoch. Oben tastete er sich durch die Finsternis zum Strohlager, streckte sich lang und starrte ins Dunkel. Im Gebälk hörte er das tickende Pochen der Totenuhr. Um die Hütte heulte der Wind. Das einzige weitere Geräusch in der Finsternis des Dachbodens war das Hämmern seines Herzens.

Jannes tastete unter seine Jacke und holte das kleine, vom Staub vieler Straßen rieselnde, so oft aufgerissene und so oft genähte Häkelpüppchen hervor. Schweigend betastete er es. Dann presste er es gegen seine Brust. Angies blasses, hohlwangiges Gesicht, ihr fiebernder, trauriger Blick, als ihre schmalen Hände ihm das Püppchen entgegenstreckten, stand ihm vor Augen.

„Ich wollte so gerne mit dir zusammenbleiben, mit dir weiterwandern,“ hatte sie im Sterben geflüstert. „Nimm sie! Lass sie bei dir bleiben.“

Jannes spürte, wie ihm Tränen übers Gesicht liefen.

„Angie, Schwesterherz,“ flüsterte er in den um die Hütte heulenden Wind.

Und war da nicht ein heller Schimmer in der Finsternis des Dachbodens? Sein Herz schlug höher. Ein sanftes Augenpaar blickte nach ihm. Wenige Schritt von seinem Lager stand Angie in ihrem verschlissenen, geflickten Kleid, die Hände vor die Brust gepresst und schaute ihn an. Hinter ihrer durchscheinenden Gestalt konnte Jannes die Dachbalken sehen. Zögernd streckte sie die Arme nach ihm aus. Mit tränenverschleierten Augen blickte Jannes nach dem Geisterbild seiner Schwester. Er wagte es nicht, der Erscheinung in die Augen zu schauen. Nur langsam verblasste die Geistergestalt. Als sie verschwand, war es Jannes, als striche ein warmer Hauch über sein Gesicht – wie Angies letzter Atemhauch bei ihrem Tod.

***

Hermann Loggersohn entschied zähneknirschend, die noch verwertbaren Teile der in Stücke gerissenen Kuh zu braten, und was die Hüttenbewohner und ihre Gäste nicht verbrauchen konnten, an die wenigen Höfe des Schwärzergrunds zu verteilen. Es war Grund genug für Jannes und seine Gefährten, nicht am Morgen weiterzuziehen, wie sie es vorgehabt hatten, sondern noch einen Tag zu bleiben. Auch der Soldknecht in der zerrissenen Lederjacke machte keine Anstalten, zu gehen. Wie am Vortag saß er in der Ecke der Gaststube zwischen der Flurtür und der Tür zur Küche, trank Bier und starrte auf die Tischplatte. Und wie am Vortag trug er sein Schwert umgeschnallt, ohne den Schwertgurt im Sitzen abzunehmen.

Jannes schaute zu ihm hinüber, während sie gegen Mittag auf den Rinderbraten warteten. Die Gefährten und Jannes saßen am hellen Fenstertisch. Nur einmal blickte der Soldknecht zurück. Es war ein langer, prüfender Blick. Als versuchte er, etwas in Jannes Gesicht zu enträtseln. Dann starrte er wieder auf seinen Bierhumpen.

Er hat gemerkt, dass ich geistersichtig bin, dachte Jannes.

Zu gern hätte er den Soldknecht, den er etwa zwei Jahre älter schätzte, als er selbst war, darauf angesprochen. Aber er traute sich nicht.

Die Küchentür ging auf und verführerischer Bratenduft drang in die Gaststube, als die Wirtstochter hereinkam, um die Tische zu wischen. Holger strahlte.

„Ah,“ lächelte er dem hübschen Mädchen entgegen.

Sie erwiderte seinen Blick nicht. Holger hatte seit gestern ein paarmal versucht, sie anzusprechen, aber jedes Mal blickte sie zur Seite. Sie vermied es, wo irgend möglich, in die Nähe der drei Gefährten zu kommen. Jannes vermutete, es war ihre Art, Belästigungen durch Herbergsgäste aus dem Weg zu gehen. Es wunderte ihn überhaupt nicht, dass sie keine Lust hatte, mit jedem Burschen zu schäkern, der für ein paar Tage in die Herberge kam.

Das Wiehern eines Pferds und laute Männerstimmen vor der Hütte ließen alle im Raum aufhorchen. Holger machte das mit Pergament bespannte Fenster auf, um hinauszusehen. Draußen banden Männer vier große Reitpferde und zwei schwer beladene Packpferde an den Koppelzaun neben der Hütte. Jedem der beiden Packpferde war eine Lanze, ein Langschild und ein Topfhelm aufgeschnallt. Zwei der Männer trugen Kettenhemden, Kettenhauben und lange Schwerter. Die anderen beiden, zwei Jungen, vielleicht in Jannes' Alter, waren in stabiles Leder gekleidet. Auch sie trugen Schwerter. Der eine der beiden in Kettenhemden, ein großer, hagerer Mann, schrie den Jungen bei den Pferden etwas zu, während er sich zur Hüttentür wandte.

„Stern meiner Geburt!“ murmelte Ulrich.

Alarmiert sah er zur Tür: „Zu spät, sich aus dem Staub zu machen!“

Der junge Söldner nippte an seinem Bier. Aber zwischen zwei Schlucken blickte er aufmerksam durch die Gaststube. Gleich darauf wurde die Stubentür aufgerissen. Hinter dem Hageren schritt der andere im Kettenhemd herein. Er war breiter und ein wenig kleiner als der erste. Mit schweren Stiefelschritten traten sie in den Raum und sahen sich mit stolzen Gesten um.

„Der Fenstertisch!“ bellte der Hagere lauter als nötig. „Da setzen wir uns!“

Der alte Ulrich sprang auf.

„Selbstverständlich, hochwohlgeborene Herren!“ murmelte er. „Bitte schön!“

Jannes sah zu, dass er vom Fenstertisch wegkam. Auch Holger fuhr hoch. Die beiden Rittersmänner standen zwischen ihnen und der Tür. Keine Chance, hinauszukommen. Die drei Gefährten zogen sich mit geduckten Köpfen an den hinteren Ecktisch zurück. Die Ritter zogen ihre Kettenhauben von den Köpfen und warfen sie zusammen mit ihren Lederhandschuhen auf den Tisch. Der etwas kleinere hatte langes Lockenhaar, dass ihm über die Schultern fiel. Er stieß den anderen an und deutete auf das Schwert des Soldknechts in der Ecke. Der junge Söldner trank sein Bier als hätte er die beiden nicht bemerkt. Der Hagere zuckte mit den Schultern und warf sich mit ausladenden Bewegungen auf einen Stuhl.

„Ah, Bratengeruch!“ rief er. „Heda, Wirt, bring uns Braten und Wein! Und beeil dich! Wir haben Hunger!“

Auch der andere setzte sich. Er streckte den Arm nach der Wirtstochter aus, die mit schreckgeweiteten Augen beobachtete, was geschah.

„Komm her, Kleine! Setz dich zu mir! Hab lange kein so hübsches junges Ding mehr gesehen wie dich!“

Das Mädchen stand wie zur Salzsäule erstarrt. Der Soldknecht in der Ecke setzte den Bierhumpen ab und blickte auf.

„Ella!“ schrie die Wirtin aus der Küche. „Komm schnell und hilf mir! Die Suppe brennt an!“

Wie ein Wiesel rannte die Wirtstochter durch die Küchentür hinaus. Der Rittersmann machte ein langes Gesicht.

Der Hagere verzog das unrasierte Gesicht zu einem Grinsen: „Wir sind ja gerade erst hereingekommen! Du bekommst noch zur Genüge Gelegenheit, dir die Kleine auf den Schoß zu nehmen.“

Durch die Küchentür stolperte Loggersohns Junge mit einem großen Teller mit Bratenstücken und einem Korb voller Brot herein. Doch bevor er es den Rittern an den Tisch bringen konnte, versperrte ihm der Söldner in der zerrissenen Lederjacke den Weg. Jannes hatte gar nicht bemerkt, dass er aufgestanden war, so schnell war es gegangen. Der Junge unterdrückte einen Schreckensschrei. Mit unbewegter Miene nahm der Soldknecht ihm den Teller und den Brotkorb aus der Hand. Jannes hielt die Luft an, als der Söldner beides zu seinem Ecktisch brachte, sich setzte, und wortlos anfing, zu essen.

Der Ritter mit dem Lockenhaar fuhr von seinem Platz auf: „Da soll mich doch ein Pferd treten! Was erdreistet du dich, du Dreckslump? Das ist mein Essen!“

Sehr ruhig entgegnete der junge Mann: „Ich habe fürs Essen bezahlt. Dass du bezahlt hättest, hab ich nicht gesehen, Matthias!“

Jannes blieb beinahe das Herz stehen. Der Ritter lief rot an vor Zorn.

„Für dich immer noch hochwohlgeborener Herr!“ tobte er.

Etwas leiser fügte er hinzu: „Woher kennst du meinen Namen?“

Der junge Mann hörte auf zu essen. Er schob den Tisch ein paar Handbreit von sich weg.

„Auf der Burg des Markgrafen zu Altenweil hast du gesagt, es würde dir nichts ausmachen, wenn ich dich duze, Matthias. Du hast mich für einen Schmiedelehrling gehalten, weil ich beim Waffenmagier auf der Burg Unterricht genommen hab. Du hast gesagt, ich bräuchte nicht traurig sein, wenn ich kein Held werden könnte wie du. Ich sollte stolz sein, für Adelspack wie dich Schwerter zu schmieden, mit denen ihr Bauern abschlachten könnt, die um ihre Freiheit kämpfen, wie du es beim Kloster Schwarzach gemacht hast.“

Die letzten Sätze spie er in scharfem Ton heraus. Jannes flehte stumm seinen Stern an, ihn lebend aus dieser Gaststube herauskommen zu lassen. In der Küchentür erschien der Hüttenwirt mit einem Weinkrug und zwei Bechern. Als er sah, was vor sich ging, erstarrte er im Türrahmen. Mit betont langsamen Bewegungen stand der Hagere auf.

„Genug von deinem schwachsinnigen Geseier, Du Ratte! Das wirst du büßen. Jedes einzelne Wort!“

Langsam schritt er auf den Ecktisch zu, hinter dem der junge Mann saß, den Jannes für einen Karawanensöldner gehalten hatte. Der Matthias genannte Ritter sah ein wenig unsicher aus. Zögernd trat er an die Seite des Hageren. Der junge Mann in der dreckigen Ledermontur stand nicht auf. Er saß aufrecht mit angewinkelten Beinen auf der vorderen Stuhlkante, etwas vom Tisch abgerückt, die Hände auf den Oberschenkeln und schaute den beiden mit unbewegter Miene entgegen.

„Sollen wir das nicht lieber draußen machen?“ fragte er ruhig.

Der Hagere legte die Hand an den Schwertgriff.

„Ich brauche nicht nach draußen zu gehen, um dich in Stücke zu hauen, du Kakerlake!“ drohte er.

„Wie du meinst,“ erwiderte der junge Mann.

Er sah nicht im Mindesten beeindruckt aus. Der Hagere zog blank. Zugleich mit ihm zog auch Ritter Matthias sein Schwert. Irgendwo im Raum murmelte jemand ein Stoßgebet.

Dann ging alles sehr schnell. Der Ecktisch stürzte um. Etwas blitzte hell in der Ecke auf. Ein einziges Mal klirrten Klingen gegeneinander, dann stolperte der Hagere rückwärts über den nächsten Tisch. Plötzlich war überall Blut. Ritter Matthias heulte auf, während der Hagere gurgelnd, mit zuckenden Bewegungen auf die Dielen stürzte. Matthias' Schwert fiel zu Boden. Die abgehauene Hand umklammerte noch den Schwertgriff. Heulend und kreischend ging Ritter Matthias in die Knie. Mit panisch aufgerissenen Augen starrte er auf den blutigen Stumpf seines knapp über dem Kettenärmel abgehauenen Handgelenks. Der Hagere lag zuckend in einer Blutlache. Mit jedem Gurgeln drang ein neuer Blutschwall aus seiner aufgeschlitzten Kehle.

Der junge Kämpfer stand mit gesenktem Schwert und blickte ungerührt auf den Sterbenden und den heulenden Verstümmelten zu seinen Füßen. Seine Klinge glänzte hell.

In der Flurtür erschienen die beiden Schildknappen.

Einer der beiden keuchte auf: „Heiliges Flammenschwert!“

Die beiden legten die Hände an die Schwerter. Aus ihren Gesichtern war alle Farbe gewichen. Der Hagere hörte auf zu gurgeln. Ein letztes Zucken lief durch seinen Körper. Er regte sich nicht mehr. Matthias schrie und schrie.

Der Kämpfer deutete mit der Schwertspitze auf die beiden Knappen.

„Was ist? Schafft sie fort! Bevor ich mich erinnere, dass ihr auch zum Adelspack gehört!“

Hastig stolperten die beiden Jungen zu den Rittern. Der eine packte den leblosen Hageren, besann sich schnell, sammelte das Schwert des Hageren auf und schleifte ihn zur Tür hinaus. Der andere Junge zerrte den panisch schreienden, auf seinen Handstumpf starrenden Matthias hinterher. Matthias Schwert ließ er liegen. Auch die Kettenhauben und Handschuhe ließen sie auf dem Tisch liegen. Matthias' Geschrei hörte draußen nicht auf, bis das Trampeln vieler Hufe sich von der Hütte entfernte. Stille kehrte ein. Jannes traute sich nicht, zum Fenster zu gehen und hinauszuschauen.

Keiner der Anwesenden wagte es, sich zu rühren. Der junge Kämpfer schob sein Schwert zurück in die Scheide.

„Ja,“ sagte er müde. „Tut mir leid wegen der Schweinerei. Ich hab sie ja gebeten, rauszugehen. Aber sie wollten nicht.“

Loggersohns Junge hielt sich die Hand vor den Mund. Er drehte sich zur Wand um und erbrach sich würgend. Hermann Loggersohn hatte vergessen, dass er einen Weinkrug in der Hand hielt. Er stand mit hängenden Armen in einer Rotweinpfütze. Der Blick des Kämpfers fiel auf das Schwert in der Blutlache.

„Ach so, ja,“ murmelte er, „also, ich bring das mal zum Schweinetrog.“

Er nahm die abgehauene Hand vom Boden auf wie einen dreckigen Lappen und ging damit in den Flur hinaus. Das Schwert ließ er liegen. Sie hörten ihn nach hinten zu den Ställen gehen.

Als er wieder hereinkam, war die Magd dabei, das Blut um das liegengelassene Schwert herum von den Dielen aufzuwischen. Das Schwert rührte sie nicht an. Bei der Küchentür wischte die Wirtstochter Erbrochenes und vergossenen Wein auf. Jannes und seine Gefährten saßen mit kreidebleichen Gesichtern am hinteren Tisch. Der Wirt war vor die Hütte getreten. Um sich zu vergewissern, dass die Raubritter über alle Berge waren, hatte er behauptet. Durchs Fenster hörten sie ihn draußen nach Luft ringen.

Der Kämpfer trat zu der Magd und streckte die Hand nach dem ausgewrungenen und im Wassereimer gespülten Wischlappen aus.

„Darf ich?“

Hastig gab sie ihm den Lappen. Er hob das blutige Schwert auf und wischte es sorgfältig sauber.

„Kein schlechtes Schwert,“ murmelte er. „Bisschen schwer. Und ein bisschen zu lang. Um einem mit Wucht den Helm einzudreschen taugt's wohl. Aber nicht zum schnellen Parieren. Hat man ja gesehen. Trotzdem kein schlechtes Schwert.“

Er blickte sich unter den stummen Anwesenden um und trat an den Tisch der drei Gefährten.

„Hier, nimm!“

Er hielt Holger das Schwert des Ritters Matthias mit dem Griff voran entgegen.

„Du hast kein Schwert. Nimm dieses hier. Ist immer besser, ein Schwert zu haben.“

Holger prallte zurück.

„Ich kann ja gar nicht mit einem Schwert kämpfen!“ stotterte er. „Wenn der Landvogt von der Sache erfährt, werde ich von seinen Bütteln gelyncht! Ich nehm' das nicht!“

„Unsinn!“ behauptete der junge Mann.

Eigentlich hatte er gar nichts Unsympathisches an sich, fand Jannes. Wie ein Totschläger wirkte er jedenfalls nicht. Oder eben nur wie ein netter Totschläger, korrigierte er sich gleich.

Der junge Kämpfer fuhr fort: „Wahrscheinlich ist euer Landvogt froh, dass die Räuber verjagt sind. Ob sie sich als kaiserliche Ritter ausgegeben haben oder nicht.“

„Ich kann mit einem Schwert umgehen,“ erklärte Ulrich. „Hab nur kein Geld, mir eins zu kaufen.“

Überrascht starrten Jannes und Holger den Alten an. Der junge Mann hielt ihm das Schwert hin. Die beiden wechselten einen Blick und der Kämpfer nickte stumm, als wüssten beide um etwas, was niemand sonst im Raum wusste. Ulrich nahm das Schwert und wog es in der Hand.

„Nein es ist ein richtig gutes Schwert, ein Anderthalbhänder eben,“ erklärte er. „Man kämpft anders damit, als mit deiner Waffe. Vor allem braucht man mehr Platz um sich herum, als hier in der Wirtsstube ist.“

Jannes wunderte sich immer mehr über den bisher so wortkargen Alten.

„Das Schwert ist gut zwölf Dutzend Silberlinge wert, Junge,“ behauptete Ulrich. „Willst du es nicht lieber verkaufen? Immerhin könntest du 'ne neue Ledermontur gebrauchen.“

„Geld brauch ich tatsächlich,“ murmelte der junge Mann. „Ziemlich viel sogar. Und so schnell wie möglich.“

Er schüttelte den Kopf.

„Nein das Ding kann ich nicht verkaufen. Das wäre ja, als hätt' ich die beiden niedergekämpft, bloß um sie auszuplündern. Behalt' es! Wenn ich es dir schenke, ist es was anderes.“

„He, wenn du Geld brauchst,“ platzte Holger heraus, „komm doch mit uns! Wir gehen zu den Silbergruben bei Stegersting. Als Bergmann bekommst du dort den zehnten Teil deiner Ausbeute in Silber ausgezahlt! Wir haben Leute getroffen, die sagten, in einer Grubensaison kann man da gut hundert Silberlinge verdienen! Ein halbes Jahr oben in den Bergen und wir sind gemachte Männer, verstehst du? Und freie Jagdrechte haben die Grubenleute auch!“

Atemlos sah Holger seine Gefährten an. Aber als er Jannes' erschreckten Gesichtsausdruck sah, hielt er lieber den Mund.

„Ja, komm mit uns,“ meinte Ulrich.

Der junge Kämpfer wirkte plötzlich, als verließen ihn die Kräfte. Er hielt sich an der Lehne des nächsten Stuhls fest.

„Stegersting, sagt ihr?“ murmelte er. „Ist das weit von hier?“

„Wie – weit von hier?“ wunderte sich Holger. „Die Passstraße hoch und und über den Pass. Drei Tagereisen! Wieso weißt du das nicht?“

Der junge Mann hörte nicht zu. Er starrte ins Leere. Irrte Jannes sich, oder sah er ihn eine Träne weg blinzeln?

„Wenn ihr mich mitnehmt?“

Der junge Mann sagte es, als wäre er mit seinen Gedanken woanders. Ulrich und Holger schauten Jannes an.

Jannes gab sich einen Ruck: „Ja, klar doch. Jannes Findebur heiße ich.“

Der Kämpfer setzte sich geistesabwesend zu den dreien an den Tisch.

„Bert,“ murmelte er.

„Ich bin Holger Martinsohn. Aber sag mal, wieso weißt du nicht, wo Stegersting liegt?“

„Ich hab grad' an was anderes gedacht,“ murmelte der junge Mann, der sich Bert nannte.

Das war keine Antwort! Holger wollte protestieren, aber auf einen Blick von Ulrich hielt er den Mund.

Von der Flurtür her hatte Hermann Loggersohn das Gespräch mitverfolgt. Die Magd und Hermanns Tochter waren mit dem Aufwischen fertig und hörten still zu. In der Küchentür standen die Wirtin und der Knecht. Hermann trat an den Fenstertisch und sammelte die Kettenhauben und Handschuhe ein.

„Die heben wir besser auf, falls einer der Knappen zurückkommt, um sie abzuholen.“

Er gab seiner Tochter einen Wink: „Ella, bring den Gästen Bier. Und bring den Braten rein! Wenn Ihr mögt, Herr,“ wandte er sich an den Kämpfer, „könnt Ihr auch Wein haben.“

„Sag nicht „Herr“ zu mir!“ schimpfte der junge Mann. „Ich bin Norbert, Sohn von Hans Lederer, einem Gornwaldsiedler. Einen Becher Branntwein könnte ich gebrauchen. Wegen dem runtergefallenen Bratenteller tut's mir leid. Das war ich, der den Tisch umgekippt hat, keiner von den beiden Raubrittern. Ich bezahl' das Fleisch auch.“

„Du brauchst mir gar nichts zu bezahlen!“ erwiderte Hermann heftig. „Du hast uns alle gerettet – meine Tochter, meine Frau, meinen Hof! Ich steh in deiner Schuld!“

Norbert zuckte mit den Achseln: „Hätte ja jeder gemacht.“

Die blanken Gesichter seiner neuen Gefährten ignorierte er. Hermann Loggersohn ging mit den liegengelassenen Sachen der Ritter hinaus. Ella brachte Bier, einen Branntweinkrug und vier Becher. Holger traute sich nicht, sie anzustrahlen nach allem, was vorgefallen war. Die Wirtin stellte eine große Platte mit Braten, Brot und eine Schale gekochten Rübenmus auf den Tisch. Sie ließ die Küchentür offen, als sie in die Küche zurückging. Bestimmt wollten die Hüttenleute mithören, was die vier am Tisch redeten, dachte Jannes.

Während sie aßen, fragte Ulrich den neuen Reisegefährten: „Die Altenweiler Mark und der Gornwald – die liegen in den Mittellanden südwestlich von Trümmelfurt. Drei Monatsreisen weit von hier. In welchem Heer hast du gedient, Bert?“

Holger starrte Ulrich verblüfft an: „Wie kommst du darauf?“

Zu Norbert sagte er: „Ich dachte, du bist Karawanensöldner. Das hat jedenfalls die Magd behauptet.“

Norbert und Ulrich tauschten einen Blick. Diesmal war es Ulrich, der nickte.

„Bert hat diesen Söldnerblick,“ meinte er. „Diesen Mörderblick, wenn du so willst.“

Jannes fragte sich, ob er mit seinen Weggefährten wirklich eine gute Wahl getroffen hatte. Auch Holger sah nicht glücklich aus.

„Im Heer des Markgrafen zu Altenweil,“ erklärte Norbert, ohne auf den Wortwechsel einzugehen.

Ulrich nickte wieder: „Du warst in der Schlacht am Weidentaler Bruch?“

„Nein, nicht in der am Weidetaler Bruch letzten Herbst. In der Schlacht am Wörnersee.“

„Schlacht am Wörnersee? Nie gehört. Soweit ich weiß, war die Schlacht am Weidentaler Bruch die einzige in der Altenweiler Mark letztes Jahr.“

Norbert sah aus, als wollte er widersprechen, aber dann zuckte er die Achseln: „Am Weidentaler Bruch meinetwegen. Ist doch egal, was für 'ne Schlacht!“

Er griff nach dem Branntweinkrug, goss seinen Becher voll, nahm einen langen Schluck und starrte mit leerem Blick auf die Tischplatte.

„Alle meine Kameraden sind draufgegangen. Alle – außer mir.“

Holger vergaß seine Bedenken: „He, wenn du als einziger unversehrt aus der Schlacht rausgekommen bist, warum bist du nicht beim Markgrafenheer geblieben? Der Markgraf hätte dich doch sicher hoch belohnt!“

Als er Norberts Blick sah, verstummte er.

„Der Markgraf wollte mich loswerden. Deshalb hat er unseren Trupp als Vorhut vorausgeschickt. Er wollte, dass sie uns niedermachen. Mich vor allem.“

„Der Markgraf wollte, dass du in der Schlacht fällst?“

„Ja. Ist 'ne lange Geschichte. Er hatte vor, mich zum Ritter zu machen, zu so einem Adelsarschloch wie die zwei vorhin. Ich hab's abgelehnt. Als er mich nicht auf seine Seite bekommen hat, hat er zugesehen, dass er mich loswird.“

„Du bist ein Freischärler, ein Abenteurer!“ meinte Ulrich.

In der Küche hörten sie die Magd ein Stoßgebet zur schwarzen Frau ausstoßen.

„Ich gehör' zum freien Volk, ja. Zu den Kriegsknechten bin ich gegangen, weil ich nur dadurch bei Eckhard, dem Waffenmagier auf der Markgrafenburg Unterricht nehmen konnte.“

„Du willst eine magische Waffe aufnehmen?“ hakte Ulrich weiter nach.

Jannes und Holger verfolgten das Gespräch mit immer blasseren Gesichtern.

„Ich hab eine. Aber sie ist nicht stark genug. Nicht für das, was ich tun muss. Eckhardt hat ein Schwert geschmiedet, wie ich es brauche. Für zweihundert Goldtaler würde er es mir geben.“

Norbert blickte in die Runde: „Dafür brauch ich das Geld!“

Hermann Loggersohn kam in die Gaststube zurück und setzte sich zu den Vieren an den Tisch. Sein Gesicht war beinahe noch verkniffener als sonst, fand Jannes. Wie das Gesicht von einem, den jahrelange Sorgen zermürbt hatten.

Loggersohn blickte in die Runde: „Also, ich hab mir das überlegt. Ihr braucht alle nicht zu zahlen für den Schlafplatz, Essen und Bier. Es sind böse Tage seit Neumond. Nur...“

Zögernd brachte er heraus: „Morgen, habt ihr gesagt, geht ihr weiter, nicht wahr?“

Norbert fixierte den Wirt: „Ich kann sofort gehen, wenn dir das lieber ist!“

„Nein, nein,“ wehrte Loggersohn hastig ab. „Bis morgen ist ausgemacht. Dabei bleibt es!“

Norbert starrte ins Leere.

„Vielleicht hast du sogar recht. Alle, die mit mir zusammen waren, sind gestorben – alle elf Jungs des Trupps, auch Mark und Fähnrich Hartwig. Alle wegen mir. Und vorher schon – mein vorheriger Meister, meine Familie im Gornwald, das gesamte Dorf, Maja – alle!“

Er blickte in die erschreckten Gesichter: „Vielleicht solltet ihr euch überlegen, ob ihr wollt, dass ich mich euch anschließe!“

„Du kommst mit uns!“ rief Ulrich entschieden. „Ich weiß, wie sich das anfühlt! Ich war selber in der Schlacht in den Westerberger Heidemarschen. Sechs Jahre her ist das jetzt her. Und manchmal träume ich immer noch, ich läge da in meinem Blut und denke, ich überlebe es nicht. Überall Sterbende – und die Avalonritter gingen herum...!“

Langsam nickte Norbert.

„Ja, so war es,“ murmelte er. „Ganz genau so.“

***

Norbert blieb nach den Essen nicht bei seinen neuen Reisegefährten sitzen. Er war aufgewühlt von den Ereignissen des Vormittags und der Kopf schwirrte ihm von den unerwarteten Neuigkeiten, die er erfahren hatte. Er brauchte dringend Zeit für sich selber.

Er trat vor die Hüttentür. Die Nachmittagssonne beschien die Talflanken bis hinunter in den Talgrund. Ein schäumender Bach schlängelte sich dort unten an Felssteinen und kleinen, krüppelig gewachsenen Nadelgehölzen entlang. Norbert schaute hinüber zu den grauen Bergwänden, die sich auf der anderen Seite oberhalb der Wiesenhänge erhoben. Vorgestern hatte er im letzten Abendlicht von der gegenüberliegenden Talseite aus in der Ferne schneebedeckte Gipfel gesehen, zum ersten Mal in seinem Leben. Sein Blick glitt die Felshänge entlang, die talabwärts enger zusammenrückten. Noch von hier aus konnte er die dunkle Öffnung der Felshöhle erkennen, aus der er Vorgestern bei Einbruch der Dunkelheit mit knapper Not lebend entkommen war. Die Gebete der Magd zu jener „schwarzen Frau“ kamen ihm in den Sinn. Eine ungute Ahnung beschlich ihn. Er musste die Hüttenleute fragen, was es mit dieser schwarzen Frau auf sich hatte.

Norbert stieg den Wiesenhang hinunter in den Talgrund. Ein schepperndes Läuten, wie er es noch nie gehört hatte, wie von blechernen, gesprungenen Glocken, irritierte ihn. Es kam aus der Richtung, in der Loggersohns Knecht einen Steinwurf entfernt die Kühe zum Stall hinauftrieb. Die Kühe trugen die Glocken um den Hals! Kuhglocken! Es war dermaßen seltsam, dass Norbert erneut klar wurde, wie fremd das Land war, in dem er sich befand.

Unten am Bach setzte Norbert sich zwischen gedrungenen Krüppelkiefern auf einen niedrigen Felsblock. Hier war nichts zu hören als das Rauschen des fließenden Wassers. Die Luft war kühl, obwohl der April bereits begonnen hatte. Wo Norbert herkam, war es um diese Jahreszeit viel milder!

Norbert schloss die Augen und atmete durch. Die panischen Schreie des Ritters Matthias gellten ihm in den Ohren. Er wurde die Erinnerung an die von Terror ergriffenen Blicke der Hüttenleute und der beiden Wandergefährten des alten Söldners nicht los. Der hagere Kerl hatte ihn angegriffen. Darum, dass er ihn ohne Vorwarnung erschlagen hatte, machte sich Norbert kein Gewissen. Der Kerl hatte dasselbe mit ihm vorgehabt. Aber Matthias wollte nicht kämpfen! Weil er ja wusste, dass er es nicht konnte, nicht gegen einen Kämpfer. Er hatte das Schwert nur gezogen, um sich vor dem anderen Kerl nicht zu blamieren. Es hätte vollkommen genügt, ihm das Schwert aus der Hand zu schlagen und Ritter Matthias von Erlenkogel hätte Fersengeld gegeben. Wie schon letztes Jahr, als er aus der Burgküche der Markgrafenburg Reißaus genommen hatte, nur wegen dem, was Norbert zu ihm gesagt hatte. Aber dennoch: hatte er nicht Seite an Seite mit dem anderen die Höfe in der Umgegend terrorisiert? Hatten sie nicht erst vorgestern eine Händlerkarawane zusammengehauen? Weiß der Teufel, was er mit Loggersohns Mädchen vorgehabt hatte! Norbert biss die Zähne zusammen. Matthias hatte es verdient!

„Es war gerecht so!“

Norbert sagte es laut in das Rauschen des Bachs. Zweimal sagte er es sich selber vor, um den Zweifel loszuwerden, um es selber glauben zu können.

Er drängte die Erinnerung an die blutige Konfrontation mit den zwei Raubrittern zurück. Noch etwas anderes wühlte ihn auf.

Stegersting! Sein Herz krampfte sich zusammen. Dorthin war Melanie gegangen. Mit einem reichen Kaufmann, der ihr versprochen hatte, sie zu heiraten. Im Haus des Ratsherrn Hohenwart hatten sie ihm den Namen des Kaufmanns genannt. Er hatte sich den Namen nicht gemerkt.

Melanie – das kleine blonde Mädchen mit der Glockenstimme, in das er sich mit acht Jahren auf dem Markt von Altenweil, wo sie Schmalzkuchen verkaufte, während einer Reise mit seinem Vater verliebt hatte – die junge, bildhübsche Schankmagd, als die er sie Jahre später wiedergetroffen hatte, die sich durch den Verkauf von Stickereien aus dem schmuddeligen Gasthausgewerbe, wo sie ihr Leben fristete, herauszuarbeiten versuchte – die Hausmagd beim Ratsherrn Hohenwarth endlich, die jeden Sterntag mit ihm ein Zimmer im Armenviertel teilte. Manchmal hatte er geglaubt, sie wäre die Liebe seines Lebens. Er war nicht in Altenweil gewesen, als sie wegging. Sie hatten sich nicht voneinander verabschieden können.

Er spürte Nässe in seinem Gesicht. Sprühtropfen des gischtenden Bachs bestimmt. Unwillig wischte er sich mit dem Lederärmel übers Gesicht. Würde er sie wiedersehen, dort in Stegersting? Wollte er das überhaupt, nach allem, was seither geschehen war? Sicher war sie glücklich dort, als die im Wohlstand lebende Ehefrau eines reichen Mannes, wie sie es sich immer erträumt hatte.

Sturmkinds Worte kamen ihm in den Sinn: „Heiraten! Könnt mir nicht passieren. Und dann noch einen reichen alten Sack! Die hat ja 'ne Klatsche!“

Wider Willen musste er lächeln. Es war ein bitteres Lächeln.

Bei ihrer ersten Begegnung hatte Nadja Sturmkind ihm gesagt: „Wenn ich ständig über alles nachgrübeln würde, was früher war, ich würd' 'ne Klatsche kriegen. Lass doch den ganzen Mist Vergangenheit sein. Du lebst jetzt!“

Sie hatte recht! Norbert zog Rotz hoch. Er stand auf. Die Schatten im Talgrund wurden lang. Es wurde kalt. Norbert stieg den Wiesenhang hinauf zurück zur Hütte.

2.

Zur Abendmahlzeit kamen die Reisegefährten in der Hüttenstube zusammen. Die Magd brachte eine große Schüssel Fleischsuppe und Brot herein.

„So viel Fleisch an einem einzigen Tag wie hier hab ich in meinem ganzen Leben noch nicht gegessen,“ schwärmte Holger.

Beim Bier nach dem Essen berichtete Ulrich von den Abenteuern, die er während seiner Jahre als Soldknecht erlebt hatte. Holger erzählte, dass ihm als dem dritten Sohn eines Windmüllers, der kein Lehrgeld für seinen Sohn bezahlen konnte oder wollte, um ihn bei irgendeinem Meister in die Lehre zu geben, egal in welche, nichts anderes übrig blieb, als Wanderbursche zu werden. Jannes fand, in seinem Vagabundenleben hätte er nichts Erzählenswertes erlebt und blieb still. Und auch Norbert blieb schweigsam. Zwar bemerkte er die vorsichtigen Blicke, die die anderen ihm jedes Mal nach dem Ende einer Erzählung zuwarfen, aber von den Dingen, die er in den siebzehn, nun schon beinahe achtzehn Jahren seines Lebens erlebt hatte, wollte er nicht reden.

Als es zu dämmern begann, ging Jannes hinauf zu seinem Schlaflager. Er behauptete, er wolle sich vor der Weiterreise noch einmal gründlich ausruhen. Nicht lange danach stand auch Norbert vom Tisch auf. Er war nicht müde, aber in seiner Brust tobte ein Schrei, der von dem belanglosen Gaststubengeplauder nur schlimmer wurde. Er trat vor die Hüttentür.

Die scharfe, kalte Luft vor der Hütte tat ihm wohl. Unten versank das Tal im unterschiedslosen Grau der Dämmerung. Auf den schroffen Berghängen glühte rot das letzte Licht der untergehenden Sonne. Über den Gipfeln tauchte der Himmel ins Dunkel. Obwohl Norbert aufgewühlt war von dem Grauen der erst vor wenigen Tagen mit knapper Not überlebten Schlacht, stand er stumm ergriffen vor dem Naturschauspiel dieser wilden, so fremden Berglandschaft.

Auf der Bank vor der Hütte saß Hermann Loggersohn. Er machte kein ganz und gar abweisendes Gesicht, also setzte Norbert sich neben ihn auf die Bank. Loggersohn blickte zu den Berghängen hinüber, auf denen das Abendrot verblasste.

„Siehst du, Bert,“ erklärte er, „dieses Abendglühen auf den Bergen ist mir vertraut seit meiner Kindheit. Ich bin hier geboren. Im Schwärzertal bin ich aufgewachsen. Hier habe ich Margit kennengelernt, meine Jugendliebe.“

Als Norbert schwieg, erzählte der Herbergsvater weiter: „Den Hof meiner Eltern hat mein Bruder übernommen. Ich hätte fortgehen müssen, um irgendwo in der Fremde ein Auskommen zu finden. Aber weil ich die Lena Gerdsohn geheiratet habe, konnte ich hier bleiben und die Gerdsohnshütte bewirtschaften, verstehst du? Als die Lena mir weglief, habe ich ein Vierteljahr gewartet, ob sie wieder zu mir zurückkommt. Sie ist nie mehr ins Tal zurückgekehrt. Was hättest du an meiner Stelle getan? Natürlich habe ich Margit geheiratet! Seit sechzehn Jahren führen wir nun die Hütte – und versorgen den alten Gerdsohn und seine Frau auf ihrem Altenteil.“

Nach einer kurzen Pause fuhr der Herbergsvater fort: „Ohne dich wäre das alles heute um ein Haar vorbei gewesen. Es ist, als hätte unsere schwarze Frau dich geschickt, uns zu schützen.“

Loggersohn verfiel in Schweigen. Das letzte Abendlicht verglühte auf den Gipfeln. Das Tal tauchte in den Schatten.

Nach einer Weile fragte Norbert: „Eure schwarze Frau - wer ist das?“

„Sie ist die Schutzpatronin des Schwärzergrunds. Talabwärts im gegenüberliegenden Felshang liegt eine Grotte, das Schwarzfrauenloch. Man kann es tagsüber von hier aus sehen. Dort bringen wir unserer schwarzen Frau im Frühjahr und im Herbst Feldfrüchte, Käse und Milch als Dankopfer. Und...“

Loggersohn brach ab. Als hätte er sich im letzten Moment entschieden, lieber zu schweigen. Norberts böse Ahnung bestätigte sich. Er konnte die Höhle nochjetzt sehen in der Dunkelheit: Ein fahler bläulicher Schimmer schwebte dort, wo die Höhle sich befand, in der ununterscheidbaren Schwärze. So irrsinnig es war, aber auf fatale Weise hatte der Hüttenwirt beinahe Recht mit seiner Vorstellung, die schwarze Frau hätte Norbert „geschickt“.

Wie um sein hastiges Abbrechen zu überspielen, brummte Loggersohn: „Aber die Sitten unseres Tals sind für Fremde ja unwichtig.“

„Du brauchst nichts zu verschweigen,“ meinte Norbert tonlos. „Ich weiß, dass sie alle sechs bis acht Jahre ein Menschenopfer fordert. In Wildenbruch, meinem Heimatdorf im Gornwald, haben sie die schwarze Dame, wie wir sie genannt haben, auch verehrt – oder besser zu besänftigen versucht. Alle dort sind jetzt tot, in Wildenbruch.“

Loggersohn antwortete nicht. In der Dämmerung konnte Norbert die Gesichtszüge des Wirts nicht unterscheiden.

„Vorgestern Nacht bin ich ihr mit knapper Not entkommen – aus der Höhle dort drüben,“ murmelte Norbert. „Ich bin der letzte Überlebende Wildenbruchs. Sie ist hinter mir her.“

Norbert hörte den Herbergsvater an seiner Seite Luft holen und heftig ausatmen. Es war nicht zu hören, ob es unwilliges Schnauben war oder Seufzen.

Eine Zeitlang saßen Norbert und der Hüttenwirt stumm nebeneinander in der Dunkelheit.

Endlich ergriff Norbert noch einmal das Wort: „Du hast gesagt, vielleicht bin ich geschickt worden, um euch zu schützen. Vielleicht kann ich dir wirklich helfen. Du weißt, dass dein Hof in Gefahr ist. Die zerrissene Kuh gestern Nacht im Stall...“

„Die verfluchten Wölfe!“ knurrte Loggersohn.

Norbert ließ sich nicht beirren: „Du weißt ganz genau, dass es keine Wölfe sind! Es wird wiederkommen. Und es wird nicht bloß bei Kühen bleiben! Ich kann dir helfen, das loszuwerden. Ich verstehe mich auf Dämonenaustreibungen,“ behauptete er. „In Altenweil hab ich das mehrmals gemacht. Aber du wirst deinen Teil dazutun müssen, das ist immer so.“

Loggersohn sprang auf.

„Es sind die Wölfe!“ grollte er. „Du bist fremd hier, du hast keine Ahnung von den Wölfen hierherum in den Bergen!“

Ohne auf eine Antwort zu warten, stampfte Loggersohn zur Hüttentür und riss sie auf. In der Tür hielt er noch einmal inne.

„Morgen früh geht ihr, nicht wahr?“

„Ja sicher,“ murmelte Norbert. „War ja abgemacht.“

Im Hüttenflur fiel die Tür zur Wohn- und Schlafstube der Wirtsfamilie krachend ins Schloss.

***

Auch Norbert stand auf. Er vermied es, noch einmal zu dem fahlen Schimmer in der Schwärze der gegenüberliegenden Felswand hinüberzusehen. Es war besser, außer Sicht jenes blauen Leuchtens, außer Sicht der Grenze zu kommen.

Mit schlechtem Gewissen betrat Norbert die Hütte. Er hätte es dem Hüttenwirt irgendwie anders sagen müssen. Aber andere überzeugen war nicht seine Stärke. Er konnte das nicht, Leute überreden. Mark wäre noch am Leben – vielleicht auch Maja – wenn er es gekonnt hätte.

Aus der Gaststube drangen die Stimmen Holgers und Ulrichs. Norbert mochte sich nicht wieder zu ihnen setzen. Durch den dunklen Flur tastete er sich an der Stiege zum Dachboden vorbei. Oben hörte er Jannes mit jemandem reden. Norbert hielt an.

Loggersohns Tochter? schoss es ihm durch den Kopf.

Die Idee war völlig bekloppt. So eine war das Mädchen nicht!

Jetzt konnte er Jannes deutlich schluchzen hören: „Schwesterherz, es tut mir so leid um dich!“

Und da war der Hauch einer Antwort – wie flüsternder Wind:

Ich möchte so gerne mit dir zusammen sein!

Norbert biss die Zähne aufeinander. Schon gestern Nacht war es ihm so vorgekommen, als hätte der Junge den Schwarzalb im Kuhstall gesehen! Höchstwahrscheinlich hatte er keine Ahnung... Norbert nahm sich vor, mit Jannes zu sprechen.

Er öffnete die Tür zu seiner Kammer. Drinnen war es stockdunkel. Dennoch sah er die Wölfin neben seinem Strohlager kauern. Ihre gelb glühenden Augen schauten ihm entgegen. Sie richtete sich auf, als er eintrat. Norbert zog die Lattentür hinter sich zu.

„Elean,“ flüsterte er den Zauberspruch.

Kaltes Licht, von nirgendwoher kommend, erhellte das Innere der Kammer. Norbert strich der Wölfin über den Kopf. Leise jaulend leckte sie seine Hand. Blaue Funken stoben. Den brennenden Schmerz, den die Berührung mit der Geisterwölfin ihm durch die Hand jagte, war er so gewohnt, dass er ihn kaum noch wahrnahm. Norbert hockte sich hinunter auf das Strohlager. Es knisterte und Schmerzen peitschten ihm durch den Kopf, als die Wölfin ihm übers Gesicht leckte. Sie setzte sich vor ihm auf die Hinterläufe und blickte ihn reglos an.

„Ich weiß jetzt, wo wir sind, Lonnie – ich meine, wo ich bin,“ verbesserte er sich.

Die Geistergestalt war nur ein Bild. Aber er wusste, wo in den Gefilden der Anderwelt Lonnie gefangen war.

„Und ich weiß, wie ich das Geld für Helcing, Eckhardts heilige Waffe, bekommen kann. Hier in der Nähe gibt es ein Silberbergwerk. Die andern, die gestern Abend angekommen sind, sind dahin unterwegs. Als Bergmann kann man da hundert Silberlinge im Jahr verdienen. Ein paar Jahre, und ich hab das Gold zusammen.“

Er schaute der Wölfin in die glühenden Augen.

„Sobald ich Eckhardt die Waffe abgekauft hab, komme ich und hole dich zurück.“

Jahre der Schufterei in einem Bergwerk – es war keine großartige Zukunftsaussicht. Aber es war ein Hoffnungsschimmer.

Mit einem gemurmelten Zauberspruch ließ Norbert das magische Licht erlöschen. Er streckte sich auf dem Lager aus. Das Geisterbild der Wölfin verblasste langsam in der Dunkelheit. Bis er sie nicht mehr sehen konnte, schaute sie ihn an mit unbewegten gelben Augen.

In weiter Ferne flüsterte eine Mädchenstimme: Ich warte auf dich!

***

Er konnte nicht schlafen. Sobald er die Augen schloss, sah er das Leichenfeld der Schlacht am Wörnersee vor sich. Beißender, schwarzer Rauch aus den brennenden Hütten. Der wie eine Flammensäule brennende Warnenbütteler Söldner, schreiend und sterbend am Boden entlangkriechend. Marks fahles, blutleeres Gesicht, die klaffende Wunde über dem Schlüsselbein, sein Haar, in der Lache seines eigenen Bluts schwimmend.

Norbert riss die Augen auf und starrte in die Dunkelheit der Kammer. Sein Puls raste. Ihm war, als müsse er ersticken. Er wollte schreien, dass es nicht wahr sei, dass es ein Irrtum war, dass es alles ganz anders hätte kommen müssen. Mark hätte nicht sterben dürfen! Norbert hatte sie raushauen wollen, Mark und die Kameraden. Er hatte ihnen den Weg freigehauen! Umsonst. Er vergrub das Gesicht in den Händen, um nicht laut loszuweinen.

Lange Zeit saß er so, die Schreie auf dem Schlachtfeld in den Ohren. Und er hatte keinen Trost, außer der einen, bitteren Erinnerung an die Worte des Vaters, wenn Norbert als kleiner Junge nachts im Winter vor Kälte geweint hatte:

„Nimm dich zusammen! Ich will kein Geplärr mehr hören oder du kriegst Dresche, aber richtig!“

Irgendwann nahmen die Horroranfälle ab. Er saß da in tauber Leere und starrte in die Dunkelheit. Ein kaum merkliches Gefühl wie von Spinnweben auf seinem Gesicht, von kalten Fingern, die seinen Rücken herabtasteten, ließ ihn aufmerken. Er fröstelte. Eiseskälte drang durch die Lattentür in die Kammer. Ein fahler bläulicher Schimmer flackerte unter dem Türspalt hindurch. Das Flackerlicht wuchs.

Oh nein! Nicht diese Nacht! Nicht, so lange ich noch hier bin!

Norbert langte nach dem Schwert, sprang auf und riss das Schwert aus der Scheide. Die Klinge glänzte so hell, dass die Kammerwände sichtbar wurden.

„Hrunar chtha rhe! Thanator rhe!“ schrie Norbert den Bannspruch.

Die Klinge schützend vor sich haltend machte er einen Schritt auf die Lattentür zu. Er achtete nicht auf seinen hämmernden Puls, konzentrierte sich ganz auf den Bannspruch. Was immer es war, da draußen im Hüttenflur, er musste es zurückdrängen. Mit angehaltenem Atem sprach er den Bannspruch ein zweites und noch ein drittes Mal. Das blaue Leuchten hinter der Lattentür nahm ab. Norbert stand konzentriert und kampfbereit, bis der Lichtschimmer erlosch. Sturmwind heulte um die Hütte.

Eine Frauenstimme schrie durch den Sturm: Nein, Nein! Hilfe, zu Hilfe!

***

Als Holger und Ulrich früh am nächsten Morgen in die Gaststube kamen, saß Norbert bereits vor einem Becher Gerstenkaffee am Tisch.

„He Bert,“ rief Holger. „Wach und ausgeschlafen für den Marsch?“

Norbert antwortete nicht. Die beiden setzten sich zu ihm. Kurz darauf kam auch Jannes in die Gaststube. Die Magd brachte Spiegeleier, Brot, Butter und Becher mit Kaffee. So gut wie hier, dachte Jannes, hatte er selten gegessen. Und der Wirt hatte tatsächlich kein Geld haben wollen, so dass Jannes seine wenigen Münzen für die nächste Herberge aufsparen konnte. Nur gehen sollten sie, so schnell wie möglich.

„War ja auch eine schreckliche Nacht,“ nuschelte Holger kauend. „Ich hab jedenfalls kein Auge zugetan. Der Sturm hat um die Hütte geheult, als wären alle Höllengeister losgelassen!“

Jannes sah, wie Norbert ihn fixierte. Er blickte lieber auf seinen Teller. Wusste dieser Freischärler womöglich...?

Die Magd kam mit einem dicken Leinenbeutel aus der Küche herein.

„Das hat euch die Wirtin als Wegzehrung vorbereitet. Zum Dank wegen gestern. Die Herberge auf der Passhöhe erreicht ihr, wenn ihr stramm durchmarschiert, frühestens übermorgen. Zwischen dort und hier gibt es keine Einkehrmöglichkeit.“

„Kein Hof, keine Kate?“ wollte Holger wissen.

„Früher hat es noch einen Bergbauernhof gegeben, noch früher zwei oder drei. Aber das ist lange her.“

„Und dabei hat das Tal so fruchtbare Wiesen,“ wunderte sich Holger.

Statt einer Antwort wandte die Magd sich zum Gehen: „Also dann gute Fahrt!“

Norbert hielt sie am Arm fest. Sie unterdrückte einen Aufschrei.

„Geh weg hier, hörst du?“ drängte Norbert. „Noch heute! Du und der Knecht. Und nehmt die Ella mit! Geht den Nachbarn das Fleisch von der toten Kuh bringen oder geht nach den Gerdsohns auf ihrem Altenteil sehen, denkt euch irgendwas aus. Aber seid auf gar keinen Fall heute Nacht hier in der Hütte! Am besten auch die nächsten paar Nächte nicht!“

Die Magd presste entsetzt die Hände vor den Mund und stolperte hinaus. Holger starrte Norbert mit offenem Mund an.

„Was...,“ wollte er rufen, als die Küchentür hinter der Magd ins Schloss gefallen war, aber Ulrich kam ihm zuvor: „Du bist geistersichtig, hm?“

Norbert nickte. Jannes hatte es geahnt.

„Ein Kamerad von mir, als ich noch bei den Schwarzacher Kriegsknechten gedient habe, war es auch. In manchen Nächten schlich er sich aus dem Lager, wenn wir bei einem Friedhof lagerten oder in einem niedergebrannten Dorf, irgendeinem verrufenen Ort. Eines Morgens nach einer Sturmnacht fanden wir ihn tot, in Stücke gerissen, wie die Kuh hier in Loggersohns Stall.“

„Ja, es ist lebensgefährlich,“ murmelte Norbert.

Und wieder merkte Jannes, wie Norbert ihn fixierte. Beinahe so, als würde er ihm drohen. Jannes blickte nicht zurück.

***

Kalter Wind wehte durch das Tal, als die vier Weggefährten eine halbe Stunde später den Wiesenhang entlang talaufwärts wanderten. Die Bergwände traten hier weiter auseinander. Im steinigen Talgrund am Bach standen einzelne Fichten. Es war kälter, als es unten in der Ebene gewesen war, fand Jannes. Die Talseite, die sie entlangwanderten, lag im hellen Sonnenschein und doch spendete die Sonne keine Wärme. Wie würde es erst bei den Silbergruben sein, die noch viel höher oben in den Bergen lagen?

Jannes blickte nach vorn zu den beiden Kämpfern, die ihm und Holger in ihren abgetragenen Ledermonturen vorauswanderten. Ulrich hatte nie erzählt, dass er bei den Kriegsknechten gewesen war, dass er an mindestens einer Schlacht teilgenommen hatte. Jannes hatte ihn für einen in die Jahre gekommenen Handwerkergehilfen gehalten. Aber so aufrecht ausschreitend, wie er mit dem Schwert im Gürtel neben dem jungen Freischärler einherging, war es nicht zu übersehen, dass er ebenfalls ein Kämpfer war. Jannes fragte sich zum wiederholten Mal, ob es gut war, mit Männern zusammen zu reisen, die keine Skrupel hatten, andere Menschen totzuschlagen.

Holger bemerkte Jannes' Blick und meinte: „Genau so, wie diesen Bert habe ich mir einen Gesetzlosen, einen Abenteurer immer vorgestellt. Maulfaul, nicht sehr sympathisch, irgendwie durchgeknallt. Aber trotzdem auf seine Weise ganz in Ordnung. Kein Straßenräuber oder Plünderer, wenn du weißt, was ich meine. Einer, auf den man sich, wenn's drauf ankommt, verlassen kann. Glaube ich zumindest. Oder wie siehst du das?“

Jannes wusste nicht so recht.

„Ulrich scheint ihm jedenfalls zu vertrauen,“ murmelte er.

„Seltsam, dass er überhaupt kein Reisegepäck hat,“ plauderte Holger munter weiter. „Hast du das verstanden, was er mir geantwortet hat, als ich ihn beim Losgehen danach gefragt habe? Er hätte seinen Schulterranzen wohl irgendwo liegenlassen, wahrscheinlich in der Totenhalle der Avalonritter...!“

Auch Jannes hatte keine Ahnung, wovon Bert geredet hatte. Aber ein mulmiges Gefühl beschlich ihn, wenn er an Berts Antwort dachte.

„Was wohl Ulrich damit gemeint hat, der Bert sei geistersichtig?“ rätselte Holger.

„Keine Ahnung,“ log Jannes.

***

Im Windschatten eines großen Felsbrockens auf dem Hang hielten sie Mittagsrast. Ulrich als der Älteste teilte Brot und Käse aus dem Proviantbeutel aus. Jannes blickte nachdenklich zu der verfallenen Hüttenruine auf der gegenüberliegenden Talseite hinüber. Durch das eingestürzte Dach wuchs krumm eine Fichte. Im Gesträuch um die Ruine waren die Reste von Ställen zu erkennen.

Mit halbem Ohr bekam Jannes das Gespräch seiner Weggefährten mit:

„Warum hast du der Magd gesagt, sie und der Knecht und die hübsche Kleine sollen weggehen?“ wollte Holger von Norbert wissen.

„Haben sie euch erzählt, warum Loggersohns Gasthütte die Gerdsohnshütte heißt?“ fragte Norbert zurück.

„Klar, jedem, der durch den Schwärzergrund reist, erzählten die Leute hierherum das. Der Loggersohn hat die einzige Tochter der Gerdsohns geheiratet, aber sie ist ihm weggerannt.“

„Sie ist nicht weggelaufen,“ antwortete Norbert. „Sie ist immer noch dort. Hinten im Kuhstall, wo Loggersohn sie verscharrt hat.“

Holger starrte Norbert mit offenem Mund an. Ulrich seufzte verhalten.

„Er hat sie ermordet, um seine Jugendliebe heiraten zu können,“ murmelte Norbert bitter.

„Aber woher willst du das wissen?“ schrie Holger. „Wie kommst du auf so was?“

Norbert fixierte ihn: „Ich hab sie gesehen. In der Nacht, als sie die Kuh zerrissen hat. Gestern Nacht ist sie in die Hütte gekommen. Ich hatte keinen Bock auf noch mehr Blut und zerfetzte Körper. Ich hab sie zurückgebannt. Aber sie kommt wieder. Womöglich heute Nacht.“

Holger starrte Norbert an, als sähe er einen Teufel. Aber er hielt den Mund.

„Ich hab dem Wirt angeboten, sie auszutreiben,“ murmelte Norbert. „Er wollte nicht. Wahrscheinlich wäre der Mord dabei rauskommen. Sie hätte sonst keine Ruhe gegeben.“

Nach einer Weile fragte Holger verhalten: „Geister austreiben, Exorzismen, so was kannst du?“

„Exorzismen!“ rief Norbert, „genau so hat Dreyfuß das immer genannt!“

Auf die erstaunten Blicke seiner Gefährten erklärte er: „Mein ehemaliger Meister. Ich kann mir diese gelehrten Fremdwörter nicht merken!“

Eine Weile kauten die vier stumm ihren Imbiss. Holger und Jannes blickten irgendwohin in die Landschaft. Ulrich betrachtete Norbert. Es war ein ernster Blick, nicht ohne Respekt, jedoch mit sorgenvoller Betroffenheit, beinahe traurig.

Es war Holger, der das Gespräch wieder aufnahm: „Warum der Hof dort unten im Tal wohl verlassen ist? Überall rings herum sind gute Viehweiden! Ein so fruchtbares Tal. Und so wenig Höfe. Ich verstehe das nicht.“

Norbert betrachtete die verfallenen Hofreste. Er musste an die verfallenen Hütten Wildenbruchs denken. Donatas Gesang klang ihm im Ohr, als hätte er ihn erst gestern gehört. Die anderen drei schwiegen. Leise, ein wenig stockend begann Norbert zu rezitieren:

„Zerfressen von Hass, Feind allem Leben,

liegt auf der Lauer das uralte Böse,

allesverschlingend, Leben zerstörend,

in bitterem Groll gegen alles Lebendige.

In ihrer Höhle harrt sie der Opfer,

schleicht in der Finsternis blutgierig geifernd:

Die Seelenfresserin, Blutbesudelte,

Pest zu bringen und Hungersnot,

mit Strömen von Blut den Boden zu tränken.

Finstere Schatten verschlucken das Licht.

Verlassen liegen die Hütten, Totenklage hallt im Land.

Das Singen der Mädchen erstirbt, Lachen schlägt in Klage um.

Hernieder fällt die schaffende Hand. Stolze Häupter

sinken ins Grab.“

Norbert wunderte sich, wie leicht der Wortlaut ihm in den Sinn kam, obwohl er die Dichtung nur ein einziges Mal, vor fast genau einem Jahr, gehört hatte.

Nach einer Weile blickte er auf. Er sah den alarmierten Blick Holgers, Jannes' verstörtes Gesicht und die nachdenkliche, beinahe kummervolle Miene Ulrichs.

„Eine Weissagung. Eine Heilerin hat sie mir mal gegeben,“

erklärte er.

„Und geht das noch irgendwie weiter, oder endet das so düster?“ wollte Holger wissen.

„Nein. Es gibt ein altes, heiliges Schwert in einem Turm drüben in der Anderwelt. Mit dem kann jemand, der dorthin gelangen kann und der mit diesem Schwert umgehen kann, die Uralte erschlagen – den Erzdämon, von dem die Weissagung handelt. Der mein Heimatdorf vernichtet hat. Und der dieses Tal verwüstet. Ungefähr so – oder so ähnlich – heißt es weiter.“

An den Mienen der Weggefährten konnte Norbert nicht ablesen, ob sie nur Mühe hatten, zu verstehen, wovon er sprach, oder ob sie ihn für verrückt hielten.

„Das Schlimme ist,“ sagte er mehr für sich selbst, als zu den Gefährten, „immer, wenn ich hinübergehe, stellt sie sich mir in den Weg. Ich kann sie nur mit diesem Schwert besiegen. Aber sie lässt mich nicht an die Waffe herankommen!“

„Du bist auf einer Mission,“ stellte Ulrich fest. „Wie Beowulf, der auszog, Grendel zu erschlagen, den Unterweltdämon, der König Hrothgars Halle verwüstete und die Helden des Königs allesamt ermordete.“

Norbert schwieg. Es gefiel ihm nicht, mit dem urzeitlichen Helden Beowulf verglichen zu werden. Er tat lediglich, was er tun musste, wenn er, der letzte Überlebende Wildenbruchs, nicht selber zum Opfer der Uralten werden wollte.

Eine Weile lang war nur der Wind zu hören, der über den Felsblock blies.

Schließlich schaute Holger Norbert an: „Aber du kannst schon auch hin und wieder mal über was ganz Alltägliches reden, oder? So ab und zu – zur Abwechslung?“

Norbert starrte ihn an. Dann blickte er auf das Mittagsbrot in seiner Hand.

„Ja,“ sagte er tonlos. „Ist n' geiler Käse. Schmeckt richtig gut. Dort, wo ich herkomme, schmecken die Käse alle irgendwie nach nichts. Der Käse hier, der fetzt echt.“

Holger musterte ihn, als wollte er herausfinden, ob Norbert ihn verarschte.

***

Den Nachmittag über nahm der Wind zu und der Himmel bezog sich mit Wolken. Jannes fror erbärmlich in seiner dünnen Jacke. In Stegersting, hieß es, konnte man sich Geld leihen, um Bergmannsausrüstung und warme Kleidung zu kaufen. Am Ende der ersten Grubensaison zahlte man das Geld dann mit Zinsen zurück. Bis dahin blieb Jannes nichts übrig, als die Kälte hier oben im Gebirge zu ertragen. Er müsste es längst gewöhnt sein, dachte er. Aber noch jedes Mal, wenn es richtig kalt wurde und die Kälte sich durch seine abgetragenen Wanderlumpen biss, tat es ihm weh bis auf die Knochen.

Sie wanderten zügig, bis die Abenddämmerung niedersank. Unter alten, hohen Fichten sammelten sie Klaubholz zusammen und lagerten sich auf den Waldboden. Norbert sah Ulrich dabei zu, wie der alte Kriegsveteran mit einem Feuereisen Funken schlug und behutsam auf die Handvoll trockenes Moos blies, bis ein kleiner weißer Rauchfaden aufstieg. Beim dritten Versuch züngelte eine winzige Flamme empor und Ulrich entzündete das Laub unter dem aufgeschichteten Klaubholz. Knisternd und knackend fraßen sich die Flammen das Holz entlang. Ulrich blickte auf.

„Hm?“ brummte er in Norberts Richtung.

„Ach nichts,“ wehrte Norbert ab. „Alles in Ordnung.“

Während sie Streifen kalten Rinderbratens mit Brot aus ihrem Proviant aßen, blickte Holger zu den Mauerresten oberhalb der Fichtengruppe empor.

„Schon die zweite verlassene Hofruine,“ nuschelte er kauend. „Ich glaub, der Bert hat Recht. Dieses Tal ist mit einem Fluch belegt.“

Nach dem Essen wickelte Holger sich in seine Filzdecke. Ulrich lehnte sich gegen einen Baumstamm, das Schwert an seine Seite gelegt, und schloss die Augen. Jannes rückte nahe an die Glut. Norbert betrachtete den hageren, hohlwangigen Jungen in seinen dünnen Lumpen. Es war Jannes anzusehen, dass er sich auf seiner Wanderschaft öfter hungrig, als mit ein paar Bissen im Magen ein Nachtlager gesucht hatte.

Das kann gar nicht sein. Wir sind Reisegefährten! schoss es Norbert durch den Kopf.

Sofort kamen die Zweifel: Willst du das wirklich? Dir selber den Arsch abfrieren?

Aber er hatte seinen Entschluss bereits gefasst. Jannes und Holger sahen ihm verdutzt zu, wie er seine Lederjacke aufknöpfte, auszog und sich die wollene Schlupfjacke abstreifte.

Norbert hielt dem erschreckten Jannes die Wolljacke hin: „Da, nimm. Du kannst sie mir wiedergeben, sobald du irgendwo eigene warme Klamotten auftreiben kannst.“

„Nein, nein,“ wehrte Jannes alarmiert ab. „Es geht schon so. Ich bin das gewohnt.“

„Nimm! Mir hält die Lederjacke die Kälte vom Leib!“ forderte Norbert. „Hast du Angst vor dem Blut auf dem zerfetzten Ärmel? Brauchst du nicht. Ist nicht von einem Toten. Ist nur mein Blut.“

Jannes starrte auf die noch in der Dämmerung sichtbare breite Narbe an Norberts Arm.

„Nein,“ stotterte er. „Vielen Dank! Ist nicht nötig. Ich komm schon zurecht!“

„Nimm die Wolljacke an,“ brummte Ulrich. „Wer weiß, ob wir morgen überhaupt die Herberge auf dem Pass erreichen. Es kommt Regen, ich spür's in den Knochen. Wenn du erst hustest und fieberst, nehmen sie dich als Bergmann bei den Silbergruben nicht mehr an.“

Zögernd nahm Jannes die Schlupfjacke entgegen. Noch im Halbdunkel sah man ihm an, dass er nicht wusste, wie ihm geschah.

„Danke,“ murmelte er wie jemand, der sich in Grund und Boden schämte.

Aber auch Holger starrte mit einer Mischung aus Unverständnis und schlechtem Gewissen auf die Wolljacke.

***

Jannes lag wartend mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Waldboden. Als es ganz dunkel geworden war, setzte er sich leise auf. Im schütteren Nachtgrau zwischen den schwarzen Stämmen blickte er nach den Gefährten. Holger schnarchte in seine Filzdecke gewickelt. Ulrich lehnte mit aufs Kinn gesunkenem Kopf am Fichtenstamm. Er schien im Sitzen schlafen zu wollen. Vielleicht machte er sich Sorgen, sie könnten nachts von Raubgesindel überfallen werden. Bert lag reglos ausgestreckt auf dem Rücken.

Wie ein Toter, dachte Jannes.

Um Bert herum war es dunkler, als es sein sollte. Und da war dieser lauernde, blauschwarze Schatten. Ein Schauder rieselte Jannes den Rücken herunter.