Götterfrost - Julian Kappler - E-Book

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Julian Kappler

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Beschreibung

Für eine Expedition ins Ewige Eis wird eine Gruppe von zwölf Männern und Frauen zusammengestellt, um den Stein der Ysdariah zu bergen. Neben Gero, Esme, Derio und dem frischgebackenen Surlaksgeweihten Valentin befindet sich allerdings auch ein Verräter in der Runde. Ob die Gefährten lebend zurückkehren werden? Der Konflikt zwischen den Dienern des dunklen Gottes S‘zaroz und dem Kaiserreich entwickelt sich mehr und mehr Richtung Krieg. Gleichzeitig wird es hoch im Norden zur unvermeidlichen Konfrontation zwischen den Helden und dem geheimen Rat der Grauen kommen. Alle Parteien wollen den entscheidenden Stein der Götter in ihren Besitz bringen. »Hüte dich vor manchen Wünschen, sie könnten in Erfüllung gehen.« Derio in Götterfrost

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Götterfrost

 

Die Steine der Götter 3

 

JULIAN KAPPLER

Inhaltsverzeichnis

WAS BISHER GESCHAH1

KAPITEL I8

KAPITEL II30

KAPITEL III69

KAPITEL IV78

KAPITEL V96

KAPITEL VI130

KAPITEL VII166

KAPITEL VIII217

KAPITEL IX225

KAPITEL X248

APPENDIX A: DIE GÖTTER SOLANDIENS257

APPENDIX B: DIE PROTAGONISTEN265

APPENDIX C: BESTIARIUM269

DANKE274

IMPRESSUM276

 

 

 

 

WAS BISHER GESCHAH

 

 

Der junge Krieger Gero Grünfels, der Magier Derio Blitz und die bildschöne Kriegerin Esme von Lendaya fanden sich ebenso schnell wie unerwartet in einem mysteriösen Abenteuer wieder. Von einem alten und geistig verwirrten Hohepriester der Juania, der Göttin der Wahrheit und des Lichts, erhielten die Drei erste Hinweise. Die Mission, welche ihnen vorherbestimmt schien, war es, nach den zehn Steinen der Götter zu suchen – zuerst den sogenannten Würfel des Wiesels – und dabei den Häschern des Bösen zuvorzukommen.

Außerdem hörten Gero und seine Gefährten in dem kleinen Tempel der Juania erstmalig die Legende vom Krummsäbel der zehn Götter:

 

Vor einem halben Jahrhundert tobte eine gewaltige Schlacht zwischen dem Kaiserreich auf der einen und den Orks und ihren niederträchtigen Verbündeten auf der anderen Seite.

Ein tapferer Krummsäbelkämpfer namens Bernhelm Ehrwald brachte zusammen mit zehn Getreuen an seiner Seite die Wende zum Guten in diesem Gemetzel. Nur dank innigster Gebete zu allen zehn Göttern erlangte er die Kraft, mit seinem Säbel die schwarzmagisch verstärkte Rüstung des obersten Heerführers der Orks zu zerschmettern.

Jedoch war sein Hieb von solch einer übernatürlichen Wucht, dass auch Bernhelms Krummsäbel zersplitterte – in genau zehn Bruchstücke. Als Andenken an diese Heldentat und den Sieg in der Schlacht sammelten Geweihte der zehn Götter die zehn Bruchstücke des Säbels. Im heiligsten Tempel des obersten Gottes der Schmiedekunst, Bogrosch, wurden zehn wertvolle Edelsteine geschmolzen, auf dass diese Steine die Bruchstücke der Waffe bewahren würden. Der oberste Hohepriester einer jeden Kirche nahm jeweils einen dieser Steine der Götter, um ihn an einem geheimen Ort zu verwahren.

 

In einem Höhlenlabyrinth mussten die drei Gefährten gefährliche Fallen überwinden und komplizierte Rätsel lösen. Als die Gefährten den Würfel des Wiesels, den dem Gotte Surlaks geweihten Stein, schlussendlich geborgen hatten, wartete eine unangenehme Überraschung in Form der Dreizehn auf sie – eine schwer bewaffnete Bande von Dieben und Mördern.

Nur mit Hilfe eines magischen Portals, welches in die weit entfernte Große Wüste führte, glückte Gero, Esme und Derio die Flucht. Dorthin geflohen, schleppten die drei Gefährten sich durch die Hitze des endlosen Sandmeers, um schließlich in die Wüstenstadt Xemal zu gelangen.

Auch dort ging die abenteuerliche Suche nach den Steinen der Götter ohne Ruhepause weiter.

Das Artefakt des Vurunus, des Gottes des Übergangs zwischen den Welten, befand sich in einer Höhle, die kürzlich vom Wüstenwind freigeweht worden war und in der lebende Tote ihr Unwesen trieben. Die Expedition dorthin gipfelte schließlich in einem Duell mit einem mächtigen Skelettkönig, welcher aus reinem Schatten bestand. Der zweite Stein der Götter, welcher Vurunus zugehörig war, belohnte die Gefährten für ihre zahlreichen Mühen in der Wüstenhöhle.

Der Stein der Liebe, ein der Göttin Chandoria geweihter Rubin, befand sich bestens bewacht in einer der Schatzkammern des Sultans des Wüstenvolks. Daher suchten die Drei sich Hilfe und fanden diese schließlich in einem Meisterdieb, der sich Sandfuchs nannte und nach eigener Aussage der Beste war. Nur dank des Geschicks des Sandfuchses und einer gehörigen Portion Glück schafften sie es schließlich, ungesehen in die Schatzkammer zu kommen und dort den Stein der Liebe gegen eine Replik auszutauschen.

Mit drei Steinen der Götter im Gepäck führte die Reise die Gefährten durch endlose Sanddünen und über das Graue Gebirge zurück ins Kaiserreich. Letztendlich gelangten die drei Gefährten trotz zahlreicher Gefahren hinter die schützenden Mauern der berühmten Magierstadt Talunis.

Dort, in der Academia der Hohen Magicae Taluniasis, erwartete man sie bereits, um über eine gut fünfzig Jahre alte Prophezeiung zu sprechen. Es wurden drei Helden beschrieben und nur diese Drei wären in der Lage, den Stein der Taluna aus seinem Versteck zu bergen.

 

Währenddessen ahnten die Drei noch nichts von der geheimnisvollen dritten Macht. Der Rat der Grauen war eine der mächtigsten der Gruppen, welche das Schicksal der Welt zu beeinflussen suchten. Aber im Gegensatz zu allen anderen Fraktionen hatten die Grauen sich einzig und allein dem Gleichgewicht zwischen Licht und Dunkelheit verschrieben.

Der Rat der Grauen hatte schnell erkannt, dass sowohl die Strippenzieher auf Seiten des Lichts, die weißen Schachspieler, als auch deren Gegenpart, der dunkle Schachspieler, dasselbe Ziel hatten. Beide Machtblöcke trachteten nach den zehn Steinen der Götter, Artefakten voller göttlicher Macht.

Aus Sicht der Grauen galt es, dies zu verhindern, um das Gleichgewicht nicht zu gefährden.

 

Um an den Stein der Göttin Taluna zu gelangen, war es notwendig, zunächst den Stein des Ahlon zu suchen. Ahlon war als Gott der Gastfreundschaft und Beschützer der Menschen im Kaiserreich viel gepriesen.

Völlig unerwartet wurde die Stadt Talunis von Schwarzmagiern und Dämonen angegriffen. Die meisten Truppen von König und Kaiser waren zu dem Zeitpunkt jedoch bereits nach Norden gezogen. Der Angriff konnte daher nur knapp und mit der Hilfe von Derio und seinen Gefährten abgewehrt werden.

Weil der Stein des Gottes der Menschen einer Legende nach in der gastlichsten Taverne der Stadt verborgen war, mussten die Drei sich nun unverzüglich durch zahlreiche Gasthäuser essen und trinken. Schließlich gelang es Gero in einem exzessiven Saufgelage, das begehrte Artefakt für sich zu gewinnen.

Direkt als Gero und seine Gefährten müde und erschöpft aus dem Wirtshaus torkelten, wurden sie von zwei Schwarzmagiern attackiert. Die dunklen Meister hatten es auf den Stein des Ahlon abgesehen und waren den drei Gefährten im Kampf deutlich überlegen. Nur mit der Hilfe einer unbekannten, blonden Frau und deren Messern – ihren Namen, Shylandra, sollten die Drei erst später erfahren – gelang ihnen ein knapper Sieg.

Um den Stein der Weisheit zu finden, schickte man die Gefährten von der Akademie der Hohen Magie zu Talunis aus auf eine magische Reise, zu einem Ort jenseits von Raum und Zeit. Dort mussten die Helden Rätsel lösen und ihre schlimmsten Alpträume überwinden.

 

Unterdessen war der Meisterdieb Sandfuchs in der Wüstenstadt Xemal aufgeflogen. Man hatte mittlerweile erkannt, dass der Stein der Liebe in der Schatzkammer des Sultans gegen eine Replik ausgetauscht worden war und man vermutete in ihm, zu Recht, den Schuldigen. Nur dank exzellenter Vorbereitung und der Meisterschaft in seiner Profession gelang es ihm, lebend aus Xemal zu entkommen und die Große Wüste zu durchqueren.

Doch selbst in der Hauptstadt des Kaiserreichs, Zehnbergen, wurde der Sandfuchs noch von einem Assassinen des Sultans gejagt. Erst im Tempel des listigen Gottes, Surlaks, schaffte er es, mit Hilfe des dortigen Hohepriesters seinen Verfolger auszuschalten.

Im Tempel wurde er freundlich aufgenommen und durchlief in Rekordzeit und völlig unerwartet für ihn selbst die Ausbildung zum geweihten Novizen seines Gottes. Schon wenige Wochen später verließ er mit neuem Namen, als der Surlaksgeweihte Valentin, die Kaiserstadt Zehnbergen ...

 

Als die drei Gefährten endlich den der Göttin Taluna geweihten Stein der Weisheit errungen hatten, blieb ihnen keine Ruhepause vergönnt. Alle Steine der Götter mussten unverzüglich nach Borburg in den Tempel Zum Brennenden Stahl gebracht werden. Nur dort bestand die Möglichkeit, die Steine einzuschmelzen und den legendären Säbel von Bernhelm Ehrwald neu zu schmieden.

Um die Aufmerksamkeit der Mächte des Bösen nicht auf sich zu ziehen, reisten die Drei getarnt als Teppichhändler nach Borburg – nur in Begleitung von Shylandra, einer Auftragsmörderin des kaiserlichen Geheimdienstes. Mit Hilfe der jungen Frau und ihrer Messer überwanden die drei Gefährten allerlei Gefahren und gelangten schließlich unversehrt und mitsamt den heiligen Artefakten nach Borburg, in die Hauptstadt des Königreichs Noweiten.

Dort angekommen durften die Drei der Versammlung der zehn Priester im Tempel Zum Brennenden Stahl beiwohnen. Neben den fünf Steinen der Gefährten hatten auch weitgereiste Priester die Steine der Götter Juania und Marlox in den Tempel gebracht. Von den fehlenden drei Steinen war einer, der des Bogrosch, in den Tiefen des Tempelkellers versteckt worden.

Die recht widersprüchlichen Prophezeiungen der verschiedenen Kirchen sorgten für Verwirrung im Kreise der Versammelten. Mal war die Rede von drei und mal von vier Helden. Auch war man sich nicht gänzlich einig, ob es sich bei Gero Grünfels wirklich um den legendären Schmied aus den Weissagungen handelte. Daher mussten die Gefährten zunächst einiges an Überzeugungsarbeit leisten, bevor man sie in die Gewölbe des Tempelkellers schickte, um den Stein des Bogrosch zu bergen.

Dort stellten sie sich dem Feuer der Prüfungen und Gero musste sogar seine Künste als Schmied unter Beweis stellen. Dafür verließen sie das Kellergewölbe nicht nur mit dem Stein des Bogrosch, auch Glühendes Eisen genannt, sondern mit einem weiteren heiligen Artefakt. Der Hammer des Ewigen Feuers, den nur Gero anheben konnte, war von nun an die liebste Waffe des jungen Kriegers. Dieser Streithammer zertrümmerte nicht nur Rüstungen und Knochen seiner Feinde, sondern gab auch einen passablen Schmiedehammer ab.

 

Unterdessen wurde Shylandras Kontaktmann des kaiserlichen Geheimdienstes in Noweiten ermordet. Die Diener S’zarozs hatten ihn heimtückisch vergiftet, aber dennoch schaffte er es, ihr noch eine letzte Nachricht zukommen zu lassen: Der Großbaron Roderick von Rotfels, ein einflussreicher Handelsfürst in Borburg, hatte sich mit den Mächten des Bösen eingelassen.

Auch wenn es noch keine gerichtsfesten Beweise gab, war offensichtlich, dass Schwarzmagier, die dem Dunklen Herrscher dienten, im Hause von Rotfels ein und aus gingen. Shylandras Auftrag war jedoch nicht, den verräterischen Baron zu liquideren, sondern ihn zunächst zu beschatten und weitere Informationen zu sammeln.

 

Mittlerweile richtete auch der geheimnisvolle Rat der Grauen seine Aufmerksamkeit auf die Drei. Um die Ereignisse besser im Sinne des Gleichgewichts beeinflussen zu können, reiste der Ratsvorsitzende der Grauen auf das nördliche Festland Solandiens – dorthin, wo die Fäden des Schicksals der Welt zusammenliefen. Selbstverständlich hatte der Vorsitzende bereits einen Plan.

Auch Orbb, Ratsmitglied der Grauen und Hochschamane der Trolle, war aufgebrochen. Er sammelte unter einem Vorwand weit im Süden eine kraftvolle Trollarmee. Sein Plan war es, diese Truppen in den Norden zu bringen, dahin wo bald ein Krieg zwischen den Mächten des Guten und des Bösen ausbrechen würde. Die Grauen hofften, diese Armee erst gar nicht einsetzen zu müssen und die Machtbalance zwischen Licht und Dunkelheit mit subtileren Mitteln im Gleichgewicht zu halten. Im Zweifelsfall würde Orbb jedoch nicht zögern, die stolzen Krieger aus Stein und Fleisch, das uralte Volk der Trolle, in die Waagschale zu werfen.

 

 

 

KAPITEL I

 

 

Jahr des Kaisers (J.d.K.) 987, siebter Tag im zehnten Mondzyklus, Borburg, die Hauptstadt des Königreichs Noweiten

 

Nachdenklich schlenderte der junge Surlaksgeweihte durch die engen Gassen des Marktes der Königsstadt Borburg. Er war noch dabei, sich an seinen neuen Namen, Valentin, und an seine neue Berufung als Novize des listigen Gottes zu gewöhnen. Noch vor wenigen Monaten war er der Sandfuchs gewesen, der erfolgreichste Meisterdieb der Wüstenstadt Xemal. Aber die Pfade der Götter waren manchmal unergründlich.

Valentin genoss das rege Treiben auf dem Markt. Die Bauern versuchten, den besten Preis für ihre herbstliche Ernte zu erzielen, während die Kaufleute danach trachteten, ihre Speicher vor dem drohenden langen Winter bis zum Rand zu füllen. Wer Eisenerz, -barren oder gar Rüstungen und Waffen feilzubieten hatte, machte das Geschäft seines Lebens. Zumeist trat die kaiserliche Nordarmee als zahlungskräftiger Käufer auf. Allerdings füllten auch einige etwas zwielichtiger aussehende Händler ihre Karren mit Waffen, Rüstzeug und Vorräten. Valentin konnte nur mutmaßen, ob diese Gestalten an Söldnertruppen verkaufen wollten oder vielleicht sogar planten, ihre Ware nach Norden zu schmuggeln, um dort mit dem Feind Handel zu treiben.

Das Geschick, mit dem eine Bande von kaum zehnjährigen Taschendieben einen übergewichtigen Händler bestahl – der Mann trug tatsächlich goldfarbene Schuhe –, zauberte ein Lächeln der Anerkennung auf Valentins Lippen.

Einzig und allein die Luftqualität in der Königsstadt war geeignet, seine Laune etwas zu trüben. Aufgrund der ungewöhnlich kalten Herbsttage wurden die Kamine der Häuser und Hütten bereits kräftig befeuert. Der dicke Qualm aus den zahlreichen Schmiedeöfen der Stadt, welche Tag und Nacht liefen, tat sein Übriges. Die Dörfer im Umland konnten einen sonnigen Herbsttag genießen, Borburg nicht.

Die Kirche des listigen Wiesels hatte ihn in wichtiger Mission nach Borburg geschickt. Weitere Details waren Valentin leider nicht verraten worden. Er wusste nur, dass ein nicht näher genannter Informant ihn schon finden und näher instruieren würde. Tatsächlich konnte sich der ehemalige Meisterdieb überhaupt nicht ausmalen, was die Kirche mit ihm, dem frischgebackenen Novizen, vorhatte.

Daher schlenderte er über den zentralen Markt und sog die verschiedenen Eindrücke voller Neugier in sich auf. An einem Stand mit köstlich duftenden Äpfeln für nur zwei Kupferlinge das Stück hielt er an und entschied sich für fünf besonders saftige rote Früchte. Als er nach dem Beutel mit Silbermünzen an seinem Gürtel griff, verfluchte Valentin seine Nachlässigkeit. Man hatte ihn bestohlen. Ein Fauxpas, welcher dem Meisterdieb Sandfuchs sicher nicht passiert wäre. Der Beutel hing zwar noch an seinem Gürtel, aber er war leer oder nur nahezu leer – scheinbar hatte der Dieb eine kleine Schriftrolle hinterlassen?

Ohne sich das Missgeschick anmerken zu lassen, holte Valentin mit geschickten Fingern eine Goldmünze aus einer versteckten Tasche an der Innenseite seines Hemdes und bezahlte damit die Äpfel. Die neun silbernen Münzen Wechselgeld ließ er in den dafür vorgesehenen Beutel gleiten und stellte bei der Gelegenheit fest, dass man ihm tatsächlich eine Nachricht in Form einer kleinen Pergamentrolle hinterlassen hatte.

Ohne großes Federlesen schlug er den Weg zu einer nahegelegenen Schankwirtschaft ein, um die geheimnisvolle Nachricht dort in aller Ruhe zu studieren.

 

Mein lieber, alter Freund,

ich habe einen Auftrag für Dich, der von höchster Wichtigkeit für unsere Kirche ist. Ganz nach Deinem Geschmack ist es ein Spiel mit doppeltem Boden.

Eine Gruppe von zwölf Personen wird in das Ewige Eis des Nordens reisen, um dort einen Edelstein zu bergen, welcher der Göttin Ysdariah geweiht ist und eines der zehn Bruchstücke des legendären Krummsäbels der Götter enthält. Man wird Dir mehr darüber erzählen. Da es Personen gibt, die verhindern möchten, dass dieser Stein in den Tempel Zum Brennenden Stahl in Borburg gelangt, wird die Gruppe sich tarnen. Die zwölf Reisenden werden sich als Pelzhändler und Jäger ausgeben, welche in den Norden reisen, um im Auftrag eines äußerst reichen Adeligen den Pelz des extrem seltenen schwarzen Eisbären zu beschaffen, sei es durch Handel oder Jagd.

Hier kommst Du ins Spiel: Du bist ein erfahrener und weit gereister Pelzhändler. Alle notwendigen Schreiben liegen der Händlergilde vor. Du reist also mit der Gruppe, um die Tarnung zu perfektionieren. Soweit der offizielle Auftrag, der auch allen anderen elf Reisenden bekannt sein wird.

Meine Aufträge an Dich sind noch etwas spezieller:

1. Sorge dafür, dass die Mission der Gruppe ein Erfolg wird. Das hat allerhöchste Priorität.

2. Drei Personen in dieser Gruppe, die Dir zufällig schon bekannt sind, sind besonders: Gero, kräftiger Schmied und geschickter Krieger zugleich. Derio, ein fähiger Magier und ein furchtloser Kämpfer. Esme, eine tapfere Kriegerin und letzter lebender Nachkomme des berühmten Bernhelm Ehrwald. Es scheint so, dass über diese Drei in alten Prophezeiungen geschrieben wurde, dass sie vielleicht sogar das Schicksal Solandiens wenden werden. Freunde Dich weiter mit diesen drei Personen an und sammele möglichst viele nützliche Informationen über sie.

3. Sorge dafür, dass die Drei lebendig von dieser Mission zurückkehren. Mit allen Dir zur Verfügung stehenden Mitteln.

4. Dunkle Schwarzmagier und mächtige Dämonen sind gegen uns. Sorge dafür, dass sich das Schicksal im Sinne der zehn Götter, insbesondere des listigen Wiesels, wendet.

Finde Dich heute Mittag in der Gaststätte ein, in der wir vor vier Jahren die leckere Erbsensuppe gegessen haben. Dort triffst Du Deine Mitreisenden.

Sei doch so gut und vernichte diesen Brief sofort ...

Möge Surlaks mit Dir sein,

Du weißt, wer

 

Offensichtlich hatte der alte Surlakspriester, ein gemeinsamer Freund von Valentin und Hohepriester Merton, es geschafft, ihm unbemerkt diese Nachricht zuzustecken. Ganz nebenbei hatte der alte Kindskopf ihn um seine Silbermünzen erleichtert. Schnell und unauffällig schritt Valentin am Kaminfeuer der kleinen Schankwirtschaft vorbei, um den Brief dem Hunger der Flammen zu überlassen.

Das kommende Abenteuer und das Wiedersehen mit den drei Gefährten klang vielversprechend. Insbesondere freute sich Valentin darauf, die bildhübsche Kriegerin namens Esme wiederzutreffen. Schließlich sprach kein Gebot der Surlakskirche dagegen, dass ein Geweihter das Herz einer schönen Frau erobern wollte.

Valentin verfluchte sich, als die Tempelglocken die elfte Vormittagsstunde ankündigten. Das Dorf, in dem sich der besagte Gasthof befand, lag mindestens eine Stunde zu Pferde nördlich der Königsstadt. Und sein Pferd war zu allem Überfluss in den Stallungen am Südtor untergebracht. Der Surlaksnovize würde wohl oder übel mit einer gewissen Verspätung zum vereinbarten Mittagessen erscheinen.

Jahr des Kaisers (J.d.K.) 987, siebter Tag im zehnten Mondzyklus, im Süden des Königreichs Lugarland

 

Der halbgöttliche Kaiser ruft alle Männer, Frauen, Jungen und Mädchen im kampffähigen Alter dazu auf, sich der Nordarmee anzuschließen. Die Mächte des Bösen sind stark, aber die Anhänger der Zehn sind stärker, wenn sie Seite an Seite auf das Schlachtfeld treten.

Das kaiserliche Heer bietet Euch die einzigartige Chance, an der Seite von legendären Helden wie Gero Grünfels, Derio Blitz und Esme von Lendaya gegen die widerlichen Diener S'zarozs zu kämpfen.

Meldet Euch noch heute und sammelt so Ruhm und Ehre, für die vier Königreiche, den Halbgöttlichen und die Zehn.

 

Auch wenn Arlanda ihre Entscheidung längst gefällt hatte, so hatte sie gehofft, dass dieser Text, welcher zurzeit in allen größeren Dörfern verteilt wurde, mehr Anklang bei ihrem Vater finden würde.

Ahronos knüllte das Pergament jedoch nur missmutig zusammen und warf es in die Ecke der heimeligen Wohnstube. »Meine Antwort ist Nein!«

»Bei aller Liebe, Vater, ich habe nicht um deine Erlaubnis gefragt«, entgegnete die junge Bauerstochter trotzig.

»Ist es wegen diesem gutaussehenden schwarzhaarigen Krieger, diesem Gero Grünfels?«, fragte ihre Mutter mit etwas mehr Verständnis in der Stimme.

»Nein, also vielleicht.« Arlanda spürte, wie ihre Wangen unangenehm rot wurden. »Jedenfalls tut das eigentlich nichts zur Sache. Es ist ein Aufruf des halbgöttlichen Kaisers und ich werde ihm folgen. In einer Woche bin ich nach dem kaiserlichen Gesetz volljährig und kann solche Entscheidungen alleine fällen.«

»In einer Woche, jetzt noch nicht.« Der alte Bauer brummte verärgert. »Außerdem kannst du mir und deiner Mutter nicht antun, dass wir die einzige Tochter an den Krieg verlieren.«

Wortlos blickte Arlanda ihre Eltern an und reckte trotzig das Kinn nach vorne.

»Kind, du weißt nicht einmal, wie man eine Waffe führt. Weißt du, wie man die jungen untrainierten Rekruten nennt, die oft an vorderster Front sterben? Taktisches Blut. Das ist doch mehr als zynisch von den Feldherren in ihren feinen Zelten ...«

»Ich kann zwar nicht mit dem Schwert kämpfen, noch nicht, aber ich weiß, wie man Wunden verbindet und wie die verschiedenen heilsamen Kräuter wirken ...«

Das Ehepaar blieb stumm. Arlandas Vater schüttelte sogar in ablehnender Griesgrämigkeit den Kopf.

»Bitte, Vater. Bitte, Mutter«. Die hübsche Bauerstochter versuchte es jetzt mit einer anderen Taktik. Sie blickte ihre Eltern mit ganz großen Augen flehend an, mit einem Blick, bei dem ihr normalerweise kein Wunsch abgeschlagen wurde.

Da Arlanda merkte, dass ihre Mutter kurz davor war, weich zu werden, setzte sie noch einmal nach. »Es geht doch darum, das Kaiserreich vor den Dienern des Bösen zu schützen, eine heilige Pflicht. Und ich schwöre bei den zehn Göttern, dass ich gut auf mich aufpassen und nicht sinnlos im Schlachtgetümmel sterben werde. Bitte.«

Tatsächlich war es Arlandas Mutter, die einen Kompromiss suchte. »Ahronos, da hat unsere Tochter vielleicht recht. Sie könnte sich als Gehilfin der Heilerzunft oder als Küchenhilfe beim Militär einschreiben. So setzt sie ihre Fähigkeiten ein und steht nicht an vorderster Front ...«

»Es ist immer noch ein götterverdammter Krieg. Verflucht, diese Orks sind Monster.« Ihr Vater kaute auf den dreckigen Fingernägeln seiner schwieligen Hände herum und schien sichtlich mit sich zu ringen. »Verdammter Bockmist, wenn du unbedingt willst, gehen wir noch heute zu dieser vermaledeiten Rekrutierungsstelle im Dorf. Aber, bei Ahlon, der Anwerber wird uns bei allen Zehn schwören müssen, dass man dich nur in der Küche oder bei den Heilern einsetzt. Sonst lasse ich meine einzige Tochter auf gar keinen Fall ziehen.«

Voller Dankbarkeit, dass der alte Griesgram sich hatte erweichen lassen, drückte Arlanda ihrem Vater einen Kuss auf die Stirn. Im Grunde seines Herzens war der alte Bauer einfach ein guter Mann, der seiner Tochter keinen Wunsch ausschlagen konnte.

»Ich fange gleich an Sachen für dich zu packen«, meinte ihre Mutter geschäftig und begann in einer Holztruhe zu wühlen. »Der Winter kommt dieses Jahr sehr früh und es soll frostig werden. Besser du nimmst meine gefütterten Winterstiefel. Dazu den dicken Fellmantel. Zwei warme Wolldecken. Und ein paar Äpfel als Wegzehrung?«

Schon war Arlanda in Gedanken bei dem gutaussehenden Krieger namens Gero und dessen einzigartigen grünen Augen. Seit der kräftige, schwarzhaarige Krieger sie vor einigen Wochen zusammen mit seinen Gefährten aus den Klauen einer mörderischen Räuberbande befreit hatte, konnte Arlanda spüren, dass ein ganz besonderes Band zwischen ihnen beiden bestand. Sie malte sich in Gedanken aus, welche Abenteuer sie auf dem Weg zur Nordgrenze erleben würde und wie es wäre, Gero endlich wiederzusehen. In die Arme zu schließen, zu küssen, ...

Jahr des Kaisers (J.d.K.) 987, siebter Tag im zehnten Mondzyklus, Borburg, die Hauptstadt des Königreichs Noweiten

 

Gero rieb sich verkatert die Schläfen. Die herbstliche Mittagssonne, die durch das geöffnete Fenster der kleinen Dorfgaststätte drang, blendete ihn unangenehm und stechend. Beim Fest im Bogroschtempel hatten die Menschen und Zwerge die drei Gefährten gefeiert und mehrmals mit Gero, Esme und Derio angestoßen. Das wäre noch kein Problem gewesen, aber einer der Zwergenpriester hatte sich fest vorgenommen, eine Kostprobe der legendären Trinkfestigkeit des Gero Grünfels zu bekommen. Damals in einer Gaststätte in Talunis, als die Legende über seine Zecherei entstand, hatte Derio ihm mit einem kleinen Zauber unter die Arme gegriffen. Gestern – und heute – musste Gero allerdings mit den Auswirkungen des Alkohols alleine fertig werden.

Um sich abzulenken, ließ Gero seinen Blick über die Runde der tapferen Frauen und Männer schweifen, die sich an dem Eichentisch zum Mittagsmahl versammelt hatte. Zu seiner Linken saß die blonde Kriegerin Esme: schön, stolz sowie jederzeit hellwach und kampfbereit, genau wie Gero sie kennengelernt hatte. Neben Esme saß Geros Gefährte Derio auf einem der wuchtigen Holzstühle. Im Gegensatz zur Kriegerin sah man dem weisen Magier die Feierlichkeit des Vorabends bei genauem Hinsehen auch irgendwie an. Derios braune Augen wirkten müde und sein langer Bart schien nicht ganz so gut gepflegt wie sonst.

Links von Derio war ein Platz frei. Wenn Gero alles richtig verstanden hatte, fehlte hier noch der offenbar verspätete Pelzhändler. Dieser Händler sollte die Tarnung der Unternehmung perfektionieren.

Dann saßen noch zwei schwer gerüstete Zwergenkrieger am Tisch. Die beiden zähen Burschen sahen sich so ähnlich, dass es Gero schwerfiel, die Namen richtig zuzuordnen. Wer war jetzt Burk, Sohn des Burlak, und wer war Turak, Sohn des Gorp? Tatsache war, dass einer von beiden eine ziemlich große und der andere eine geradezu riesige Streitaxt mit sich führte. Vielleicht könnte Gero diesen Fakt nutzen, um die beiden Zwerge auseinanderzuhalten.

Neben den Zwergenkriegern saß die stolze Marloxgeweihte Leondra von Nordfaust. Die neununddreißig Sommer und Winter an Lebenserfahrung spiegelten sich in den Augen der muskulösen Frau wieder. Auch wenn Leondra den Umhang mit dem Bären, dem Symbol ihrer Kirche, gegen einen schlichten braunen Fellmantel getauscht hatte, würde es niemand wagen, sich mit der Geweihten anzulegen. Die drei Narben im Gesicht der brünetten Frau zeugten zusammen mit den zahlreichen Gebrauchsspuren ihres schweren Zweihandschwertes von ihrer Kampferfahrung. Selbstverständlich war die Klinge des Schwertes ebenso scharf wie der wache Verstand der Besitzerin.

Carl Westmann, ein für den Fernkampf angeheuerter Söldner, an dessen Gürtel drei jeweils zweischüssige Armbrüste baumelten, wirkte im Vergleich fast gewöhnlich. Ebenso weckten der Spurenleser Irivan, ein Nomade aus den Wäldern Valiantas und Leutnant Ronbald Blitzklinge aus dem kaiserlichen Heer Geros Aufmerksamkeit nur am Rande.

An der sympathischen, dunkelhaarigen Irina Dunkelwald hingegen konnte Gero sich gar nicht sattsehen. Ihre großen braunen Augen wirkten auf ihn vertraut und doch faszinierend zugleich. Die Novizin der Ysdariah war zwar keine klassische Schönheit, aber in Geros Augen doch durchaus attraktiv. Zufällig war sie auch im selben Alter wie Gero und auf den zweiten Blick offenbarte sich, dass sie ebenso seine fröhliche Art teilte.

Neben der hübschen Novizin saß Furlax Eisfels, Priester der Ysdariah und Leiter der Expedition. Ein schwarzer Bart und lange, schwarze Haare zierten das Haupt des weisen Priesters. Wie immer war er in dicke Pelze gehüllt und mit Pfeil und Bogen bewaffnet.

»Ich spiele doch wieder einen Söldner und diesmal beschütze ich den Pelzhändler und seine Ware, richtig?«, fragte Gero und versuchte sich an einem kleinen Witz. »Ich habe die Rolle des Söldners Stephano so liebgewonnen. Darf ich wieder so heißen?«

Irina unterdrückte ein leises Kichern, während Furlax Eisfels schulterzuckend antwortete: »In Noweiten besitzen einfache Söldner zumeist keine Ausweisdokumente. Wir auch nicht – nur der Pelzhändler und seine Ware haben entsprechende Papiere. Stephano gefällt mir. Warum also nicht?«

»Mich könnt ihr Bolzen nennen«, beteiligte sich der Söldner mit den drei Armbrüsten am Gespräch. »Bolzen klingt gut und passt viel besser als Carl.«

»Wo bleibt eigentlich unser Pelzhändler?«, knurrte der kaiserliche Leutnant, Ronbald Blitzklinge, während er sein soeben serviertes Schnitzel mit Messer und Gabel malträtierte.

Wie zur Antwort auf diese Frage kam zusammen mit einer einzelnen, viel zu frühen Schneeflocke ein Mann in die Gaststube hereingeweht. Die Gestalt war durch zahlreiche Pelze verhüllt und das Gesicht war durch einen dicken Schal verborgen. Statur und Gang kamen Gero trotzdem irgendwie bekannt vor. Zielstrebig kam der Mann auf ihren Tisch zu und setzte sich auf den freien Stuhl, während er den Schal und einige Pelze ablegte. In der Tat war es ein alter Bekannter.

Gero rieb sich die penetrant schmerzenden Schläfen, blinzelte mehrmals, doch das Bild, das seine Augen ihm zeigten, blieb das gleiche. »Äh, ähm, das ist der Sandfuchs«, brachte Gero wenig hilfreich hervor.

»Turael«, ergänzte Esme.

»Das ist, meines Wissens, Valentin, unser Pelzhändler«, meinte Furlax Eisfels leicht irritiert.

Es war mal wieder der weise Magier Derio, der das Heft des Handelns in die Hand nahm. »Das ist definitiv Turael, auch Sandfuchs genannt, ein Meisterdieb aus der Wüstenstadt Xemal. Ein Freund ... naja, eher ein guter Bekannter von uns.«.

Bolzen nahm das zum Anlass, eine seiner Armbrüste zu spannen und auf den Kopf des Sandfuchses zu richten. »Ein Dieb. Vielleicht ein Spion des Dunklen Herrschers? Soll ich ihn erledigen?«, fragte er in Richtung von Furlax Eisfels.

Eine leichte Überreaktion, dachte Gero sich dazu im Stillen.

Bruder Furlax schüttelte nur sanft den Kopf und bedeutete dem Söldner, seine Waffe zu senken. »Tatsächlich ist unser Pelzhändler kein wirklicher Händler, sondern soll die Rolle nur spielen. Aber einen Meisterdieb hatte ich auch nicht erwartet«, stellte der Priester fest. »Wer hat Euch wirklich geschickt, Valentin? Dieses Wissen teilten bisher nur vier Personen. Es mag als Beweis dienen, wer Ihr wirklich seid. Und nebenbei: Woher kennt Ihr Esme, Derio und Gero?«

»Puh! Zwei Fragen auf einmal und viel Verwirrung.« Der Sandfuchs – oder hieß er jetzt wirklich Valentin – musste zunächst tief durchatmen, bevor er mit seiner Erklärung begann. »Erstmal die Zehn zum Gruße, meine alten Bekannten und neuen Freunde. Im Grunde haben Derio und seine Gefährten Recht: Bis vor Kurzem war meine Profession noch Meisterdieb und ich nannte mich Sandfuchs.« Er zwinkerte verschwörerisch – in Richtung Esme? – und schien die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu genießen. »Aber der Sandfuchs und Turael sind Schatten, sind Vergangenheit. Jetzt bin ich Valentin – wie ihr wisst, haben die zehn Kirchen das Recht im Rahmen einer Taufe mit geweihtem Wasser einen neuen Namen zu vergeben.«

Bruder Furlax bedeutete Valentin mit einer knappen Geste, ausführlicher zu werden, was der ehemalige Meisterdieb auch sogleich tat. »Die Pfade der Götter sind unergründlich, sagt ein altes Sprichwort. So überlebte ich eine Hetzjagd durch die gefährlichsten Häscher des Sultans, stolperte mehr zufällig in einen Tempel des Surlaks und fand mich plötzlich in der Ausbildung zum Novizen des Wiesels wieder. Die Ausbildung wurde zeitlich, nicht inhaltlich, radikal gekürzt. Möglicherweise, damit ich heute hier sein konnte. Tja und nicht ohne Stolz kann ich sagen, dass ich alle Prüfungen bestanden habe und nun als geweihter Novize des Surlaks vor euch stehe.«

»Aber wie ... und wann und warum?« Gero, der immer noch Kopfschmerzen hatte, versuchte, seine Fragen zu sortieren.

Valentin lächelte unverbindlich. »Das sind lange Geschichten. An einem Abend am Lagerfeuer gehe ich sehr gerne ins Detail. Das Wichtigste ist: Glaubt ihr mir jetzt, dass ich euer ›Pelzhändler‹ bin?«

Ohne Worte, nur mit einem kurzen Brummen, legte Bruder Furlax Valentin seine wettergegerbten Hände an die Schläfen. »Valentin spricht die Wahrheit. Er ist ein Geweihter. Ein Hauch der göttlichen Macht des listigen Wiesels umweht ihn.«

»Jetzt verstehe ich auch die alte Prophezeiung mit den vier Gefährten«, meinte Gero, dem gerade ein Licht aufgegangen war. »Mit Valentin haben wir ja tatsächlich schon einige Abenteuer in der Großen Wüste erlebt und ein Geweihter ist er jetzt auch. Allerdings sind wir in Summe doch jetzt eher zwölf Gefährten und nicht vier?«

»Aussagenlogik«, murmelte Derio in seinen Bart. »Diese alten Schriften sprechen ja gerne in Rätsel. Und Vier ist eine Teilmenge von Zwölf. Somit sollte diese mysteriöse Prophezeiung sich erfüllen, denke ich.«

»Auf jeden Fall wird Bruder Valentin auf das Mittagessen verzichten müssen«, meinte die junge Novizin Irina mit einem sympathischen Lachen. »Die Pferde sind schon gesattelt und bepackt. Proviant, Wasser, Zelte, alles bereit. Und im zehnten Teil einer Stunde sollen wir losreiten, laut Zeitplan. Und besser zu früh als zu spät.«

Irinas Ankündigung verursachte eine allgemeine Aufbruchsstimmung. Das hektische Treiben hielt Valentin allerdings nicht davon ab, schnell eine halbe Kartoffel und einen kleinen Berg von Gero verschmähter Erbsen von dessen Teller zu klauen.

»Schuster bleibt eben Schuster und Dieb bleibt Dieb«, murmelte Gero leise schmunzelnd, obwohl ihm die Erbsen nun wirklich egal gewesen wären. Die Kartoffel hätte er allerdings selbst auch ganz gerne gegessen.

 

***

 

Zwei Stunden waren bereits seit dem Aufbruch um die Mittagszeit vergangen. Ein eisiger Nordwind blies Derio und seinen Gefährten ins Gesicht. Obwohl die Temperaturen sich noch knapp über dem Gefrierpunkt befanden, verirrte sich hin und wieder eine einzelne Schneeflocke aus höheren Luftschichten in Derios braunen Bart. Den kräftigen Pferden, eine Rasse mit langem, etwas zotteligem Fell, schienen das Wetter und die schwere Last rein gar nichts auszumachen.

Die Menschen auf den Pferderücken – ebenso die beiden Zwerge – suchten ihre Zerstreuung in mehr oder weniger kurzweiligen Gesprächen. Gero und die Ysdariahnovizin Irina Dunkelwald zum Beispiel waren in ein angeregtes Gespräch vertieft. In regelmäßigen Abständen kicherte die Novizin über eine amüsante Anekdote aus dem Leben des jungen Kriegers.

Esme lauschte mit interessierter, aber dennoch sehr ernster Miene, wie Valentin in blumigen Worten über seine Erlebnisse der letzten Monate und Wochen berichtete.

Die beiden Zwergenkrieger erörterten die Wahrscheinlichkeit, noch an diesem Tage auf Orks zu treffen. »Meine Axt hat schon viel zu lange kein Orkblut mehr geschmeckt«, knurrte Turak in seinen Bart.

»Ja, das wäre sicher eine willkommene Abwechslung. Aber ich setze zehn Goldlinge drauf, dass wir vor der Grenze keinen einzigen Schwarzblüter mehr treffen.«

Carl Westmann, der Bolzen genannt werden wollte, ritt mit etwas Abstand am Ende des Zuges und blickte immer wieder mit einem kalten, wachsamen Blick ins Gebüsch oder über seine Schulter. Ebenso ritt Irivan, der Spurenleser aus den Wäldern Valiantas, schweigsam an der Spitze des Zuges.

Leondra von Nordfaust, die Priesterin des Gottes Marlox, und Leutnant Ronbald Blitzklinge waren in ein Gespräch über Taktik und Strategie vertieft. Wie könnte sich der kleine Trupp am besten gegen einen Riesen verteidigen? Was, wenn fünf Oger aus dem Gebüsch stürmen würden? Gäbe es den Hauch einer Chance gegen einen Drachen?

Derio selbst hatte sich zu Furlax Eisfels gesellt. Der Priester der Ysdariah war in dicken Pelz gehüllt. Ihm schien es überhaupt nichts auszumachen, sich dem frostigen Klima des Ewigen Eises zu nähern.

»Es ist gut, dass wir einen Adepten der arkanen Künste aus Nordwacht an unserer Seite haben«, meinte der Priester mit einem sanften Lächeln in Richtung von Derio. »Dinge, die man sich nicht vorstellen kann, lauern im Eis ... Damit meine ich nicht nur das, was da war, bevor Ysdariah das Gebiet mit Eis und Schnee bedeckte oder das, was die standhafte Göttin für die Ewigkeit dort begraben hat. Auch S’zaroz, der Gott der Dunkelheit und der Schmerzen, hat dort seine Werke hinterlassen ...«

»Was genau meint Ihr?«, fragte Derio nach, als Bruder Furlax drohte, in seinen Gedanken zu versinken.

Bruder Furlax strich sich einmal nachdenklich mit der Hand über sein wettergegerbtes Gesicht und begann dann weiterzureden. »Kennt Ihr die Geschichte vom Dolch des Frostes?«

Derio nickte. »Dieses Artefakt ging vor hunderten von Jahren verloren. Ein Trupp Orks hatte ihn aus einem Tempel geraubt. Ysdariah, wenig erfreut darüber, schickte die kältesten Winde und Hagelkörner spitz wie Nägel, um die Räuber in eine Eishöhle zu treiben. Man sagt, dort sind die schwarzblütigen Kreaturen entweder verhungert oder erfroren. Seitdem gilt der Dolch als verschollen.«

»Das ist korrekt, nahezu zumindest. Seit knapp dreißig Jahren ist der Dolch des Frostes wieder im Besitz der Ysdariahkirche. Allerdings ist Schweigsamkeit häufig auch eine Tugend, so dass diese Tatsache nicht allgemein bekannt ist.« Bruder Furlax lächelte. »Damals, ich war noch ein junger Geweihter, schickten die Hohepriester meiner Kirche eine Expedition, um den heiligen Dolch aus seinem eisigen Versteck zu bergen. Jedoch rechnete niemand mit dem Wirken der Schlange S’zaroz. Ein Drache aus Eis überraschte uns. Drei erfahrene Krieger erfroren sofort. Unsere Waffen und Gebete konnten dem Drachen nichts anhaben. Glücklicherweise war ein Magier an unserer Seite. Er hat den Kopf des Eisdrachen in einem magischen Feuerball geschmolzen. Letztendlich konnte unsere Expedition also erfolgreich zurückkehren. Und so kann ich heute mit Euch plaudern.«

»Einen Drachen haben wir auch schon bezwungen«, meinte Derio nicht ohne ein wenig Stolz und begann zu erzählen. »Allerdings war unser Exemplar nicht aus Eis, sondern bestand aus Knochen, Feuer und untoter Magie ...«

 

***

 

Esme genoss die Wärme des knisternden Lagerfeuers, welches der Spurenleser Irivan in kürzester Zeit entfacht hatte. Die erste Nacht ihrer Reise war sternenklar, so dass die Temperaturen noch einmal beachtlich gesunken waren. Der Duft von zwei gebratenen Hasen kitzelte angenehm in ihrer Nase.

»Diese ganzen Anreden, Titel, Höflichkeiten, das ist doch alles Quatsch«, meinte Furlax Eisfels, Ysdariahpriester und Anführer des kleinen Trupps. »Wir werden gemeinsam gegen Orks, Schwarzmagier und Schlimmeres kämpfen. Ein ›Du‹ fände ich da mehr als angemessen. Ich bin Furlax. Bruder Furlax höchstens, wenn es sein muss.«

Die blonde Kriegerin nickte knapp. »Esme.« Lange Anreden und Höflichkeitsfloskeln waren eine Verschwendung von Worten und letztlich auch von Atemluft.

Auch alle anderen Mitreisenden waren einverstanden, sich ganz formlos mit dem Vornamen anzusprechen.

Eigentlich eine sehr sympathische Runde. Nur dieser Söldner mit den Armbrüsten, Bolzen, war Esme irgendwie nicht geheuer. Das Feige und Verschlagene in dessen Blick war vermutlich typisch für einen Schützen aus der Söldnerzunft. Aber letztlich war Bolzen weitaus treffsicherer als die beiden Ysdariahgeweihten mit ihren Bögen. So einen fähigen Fernkämpfer würde der kleine Trupp sicher noch gebrauchen können.

Nachdem die beiden Hasen vertilgt worden waren, wurden noch Brote und Hartwürste herumgereicht. Trotz des sternenklaren Himmels schaffte es der eisige Nordwind irgendwie, die eine oder andere Schneeflocke in Esmes Gesicht zu wehen.

Der Tag war lang gewesen und die Reise anstrengend, so dass sich die ersten der Gefährten bereits in ihren Zelten zur Ruhe gebettet hatten. Auch Esme war in Gedanken schon bei ihrem warmen Nachtlager.

»Sag mal, Esme«, murmelte Ronbald, der kaiserliche Leutnant, unvermittelt. »Wirst du den Anspruch erheben, den Krummsäbel der Zehn zu führen?« Der Soldat schaute fragend und wartete auf Esmes Antwort.

Ronbald sprach von dem berühmten Säbel, der in dem Moment in zehn Teile zersplittert war, als Esmes Großonkel Bernhelm Ehrwald vor gut fünfzig Jahren den Anführer des Orkheeres in einem legendären Duell erschlagen hatte. Wären erst einmal die zehn Steine der Götter, in welchen die Bruchstücke des Säbels verwahrt waren, im Tempel in Borburg, würde man die Steine einschmelzen. Aus den Bruchstücken und einigen Phiolen von Esmes Blut würde man die Waffe erneut schmieden, um die Gefahr aus dem Norden abwehren zu können. Immerhin war Esme die Großnichte und letzte lebende Blutsverwandte von Bernhelm Ehrwald. Außerdem war sie äußerst geschickt im Umgang mit dem Krummsäbel, sonst hätte sie die hinter ihr liegenden Abenteuer nicht überlebt. So betrachtet hätte sie durchaus Berechtigung, solch einen Anspruch anzumelden.

»Möglicherweise«, antwortete Esme nur knapp auf die Frage des Leutnants. Sie selbst hatte sich noch nicht mit dieser Thematik beschäftigt. Ein kluger Mensch tat nicht den dritten Schritt vor dem ersten.

»Falls du es wagen solltest: Ich habe vernommen, dass ein Turnier der größten Säbelkämpfer des Kaiserreichs in Borburg stattfinden soll«, führte Ronbald weiter aus. »Es ist geplant, den Krummsäbel der zehn Götter am Tag des Turniers neu zu schmieden. Berühmte Personen reisen an, sagt man. General Siegbert von und zu Mittelmark, ein Cousin und enger Freund des Kaisers, wird an dem Turnier teilnehmen. Siegbert ist vor einem Jahr mit seinem Säbel Sonnenwind gegen zwei bekannte Krummsäbelkämpfer aus der Großen Wüste gleichzeitig angetreten und hat gewonnen. Wenn du an dem Turnier teilnimmst und weit genug kommst, dann wirst du sicherlich mit ihm die Klingen kreuzen.«

»Es gibt da so eine Redensart«, mischte sich Bruder Furlax dankenswerterweise in das Gespräch ein. »Man soll das Fell des Bären nicht verteilen, bevor er erlegt ist. In unserem Fall heißt das: Kehren wir erst einmal lebendig und mit dem Eisigen Fels aus dem Norden zurück und sehen dann weiter.«

»Weise Worte, Bruder«, sagte Esme und machte sich auf den Weg zu ihrem Zelt.

Die Gruppe reiste mit wetterfesten Zelten aus dicken Tierhäuten für je zwei Personen. Esme teilte sich ihr Zelt mit Leondra. Die brünette Marloxgeweihte war aus Esmes Sicht eine äußerst angenehme Gesellschaft. Die lebenserfahrene Priesterin schnarchte nicht, schwatzte nicht viel und war jederzeit bereit, mit Inbrunst für die rechte Sache und die Zehn zu streiten.

 

***

 

Valentin schreckte aus dem Schlaf hoch. Er setzte sich kerzengerade in seinem Nachtlager auf und schaute sich mit wachen Augen in der Dunkelheit um – fast stieß sein Kopf gegen die Außenwand des Zeltes. Das Glimmen des verlöschenden Lagerfeuers und ein wenig Mondlicht drangen durch eine kleine Ritze am Eingang. Die leisen Atemgeräusche des Spurenlesers Irivan wirkten beruhigend auf den jungen Surlaksnovizen.

Sein Traum war wirr und real zugleich gewesen. Obwohl Valentin sicher kein Hohepriester war und auch sonst niemand so wichtiges, dem die Götter Visionen schickten, schien ihm der Traum bedeutungsvoll. Möglicherweise ein paar schlaue Gedanken seines Unterbewusstseins, die es festzuhalten galt. Er legte sich wieder hin, atmete langsam ein und aus und schloss die Augen, um langsam wieder in die Welt der Traumbilder einzutauchen.

 

Valentin sah im Traum ein Wiesel, welches sich eine Mahlzeit aus einem Fressnapf gönnte, der mit Silberlingen und sogar mit einigen Goldlingen gefüllt war.

Während das Wiesel genüsslich auf den Münzen herumkaute, sprach es zum jungen Novizen: »Valentin, du solltest ein Auge auf diesen Derio Blitz haben. Ein Weißmagier ist er ... noch. Großzügigkeit, Ehre, Selbstlosigkeit, Aufrichtigkeit, Opferbereitschaft, Liebe zu den Zehn und ein wenig Humor. Alles zusammen bedeutet eine starke Wärme im Herzen. Das unterscheidet einen weißen Magier von einem der dunklen Seite. In Derios Herzen sind alle diese Dinge nur noch lauwarm. Wenn sie so erkaltet sind wie der Stahl seines Schwertes, dann hast du einen Gefährten an die Mächte des Bösen verloren. Sorge dafür, dass es nicht so kommt!«

Das Wiesel warf Valentin einen strengen Blick zu. »Guter Rat ist nie umsonst. Hier mein Preis: Ich möchte, dass du eine Münze, eine von Derios Münzen, in die Strömung des Baches wirfst, an dem ihr bald vorbeikommt.«

Das Wiesel hatte seinen Napf voller Münzen geleert, wollte schon gehen, überlegte es sich aber doch noch einmal anders. »Ach, nur zur Klarstellung, du bist kein weißer Magier. Also erwartet dein Gott von dir ganz andere Werte im Herzen als Taluna, Marlox und Juania es von Derio erwarten. Jeder kämpft auf seine Weise gegen die Mächte des Bösen. Jaja, schon gut, ich langweile dich nicht mit Einzelheiten. Surlaksgefällig im Denken und Handeln, genau richtig so!«

Jahr des Kaisers (J.d.K.) 987, achter Tag im zehnten Mondzyklus, Königreich Noweiten

 

Als sie am nächsten Tag zur Mittagsstunde tatsächlich an einem kleinen Bach Halt machten, um ihre Wasserschläuche zu füllen und die müden Pferde zu tränken, musste Valentin wieder an seinen Traum denken. Nachdenklich betrachtete er Gero und Derio. Die beiden Gefährten waren gerade dabei, die vollen Wasserschläuche an ihren Sätteln zu befestigen, während sie sich angeregt unterhielten.

 

***

 

»Sag mal«, brummte Gero nachdenklich. »Dieses Winterwetter, obwohl wir eigentlich Herbst haben ... Ist das wirklich eine Art magischer Angriff der Schwarzmagier, wie man munkelt?«

»Nein, nein, theoretisch vielleicht, aber nein«, murmelte Derio in seinen langen, braunen Bart. »Kurz gesagt gibt es vier mögliche Theorien, die das Wetter erklären. Aber ich würde mich gerne auf die beiden wahrscheinlichen beschränken. Zuallererst kommt mir ein astraler Nebeneffekt der exzessiven magischen Aktivitäten in den Reichen des Bösen in den Sinn.«

»Was meinst du mit Nebeneffekt?«, fragte Gero und kratzte sich am Kinn.

»Stell dir den Astralflux, den magischen Energiefluss, wie einen echten Fluss vor, aus Wasser«, begann Derio zu dozieren. »Die Schwarzmagier erschaffen, sagen wir mal, einen Staudamm. Vielleicht wollen sie das Flussbett trockenlegen. Dafür wird das Wasser sich nach einiger Zeit einen neuen Weg suchen. Das ist nicht unbedingt die Absicht beim Errichten des Dammes, aber es passiert einfach. Das ist bei der Kraft der Magie ähnlich wie beim Wasser.« Derio strich sich durch den Bart und fügte dann hinzu: »Allerdings ist Magie noch sehr viel mächtiger als Wasser und wesentlich komplexer.«

»Also sorgt möglicherweise verirrte Magie für das seltsame Wetter, in Ordnung. Und was war die zweite Möglichkeit?«

»Die Laune einer Göttin ... Valiana, die Herrin über Wind und Meer, könnte einfach nur übel gelaunt sein. Warum auch immer. Wenn sie ihren Nordwind beständig über das Ewige Eis gen Süden schickt, bekommen wir viel zu viel kalte Luft ab.«

Gero brummte nachdenklich. Schlaue Leute benutzten manchmal sehr viele kluge Worte, nur um zu sagen, dass sie eigentlich auch keine Ahnung hatten.

 

***

 

Während des Dialogs hatte sich Valentin unauffällig schlendernd den beiden Gefährten genähert.

Derios Beutel mit seinen Silbermünzen baumelte geradezu fahrlässig attraktiv am Gürtel. Eine freundliche Einladung an jeden Taschendieb.

Valentins Finger begannen zu zucken und erinnerten ihn daran, dass er vor nicht allzu langer Zeit ein berühmter Meisterdieb gewesen war, der Sandfuchs.

In letzter Sekunde besann der Surlaksgeweihte sich jedoch eines Besseren. Er setzte sein gewinnendstes Lächeln auf. »Hey, Derio, kann ich einmal eine deiner Münzen haben? Silber wäre gut, Gold noch besser. Surlaks wird‘s dir danken.«

»Warum genau sollte ich mein Geld verschenken? Das sehe ich doch richtig, oder?« Der Gesichtsausdruck des bärtigen Magiers zeugte von deutlicher Skepsis.

»Großzügigkeit, Selbstlosigkeit, Opferbereitschaft, Liebe zu den Zehn und ein klein wenig Humor«, meinte Valentin und versuchte es so ganz spontan mit den Stichworten aus seinem Traum, die ihm noch in den Sinn kamen.

Während Derio sich noch grüblerisch durch den Bart strich, grinste Gero breit und knuffte Derio freundschaftlich in die Seite. »Komm schon, Derio, das mit dem Humor gefällt mir am besten. Und der liebe Valentin ist schließlich ein Geweihter, ein heiliger Mann.«

Mit skeptischer Miene reichte Derio Valentin schließlich eine seiner Silbermünzen. Umso größer wurden die Augen des Magiers, als Valentin die silberne Münze mit einer lässigen Bewegung mitten in den Bach schnippte.

»Was sollte das jetzt?«, grummelte Derio.

»Die Pfade der Götter sind unergründlich und häufig verschlungen. Für uns Sterbliche hingegen sind sie nur sehr selten offensichtlich.« Valentin grinste keck und machte sich daran, sein Pferd zu satteln. »Altes Sprichwort.«

Schnell wurde die Aufmerksamkeit der Gefährten auch auf ein anderes Thema gelenkt. Bruder Furlax räusperte sich hörbar und erhob seine angenehm tiefe Stimme: »Wir reiten vorerst etwas östlich und außerhalb der Sichtweite der Reichsstraße. Ich habe da so ein Gefühl und meiner Intuition konnte ich bisher meistens vertrauen. Die Pferde kommen auf dem Grasland auch fast genauso schnell voran.«

Offensichtlich ging es den meisten anderen Mitgliedern der kleinen Expedition ähnlich, denn jeder beeilte sich jetzt, sein Pferd schnell zu satteln und etwas Entfernung zur Straße aufzubauen.

 

 

 

KAPITEL II

 

 

J.d.K. 987, zehnter Tag im zehnten Mondzyklus, Königreich Noweiten

 

Es waren noch mindestens zwei Stunden bis zum Morgengrauen, als Derio nicht mehr zurück in seinen wohlverdienten Schlaf fand. Die Nacht war ruhig und nur ab und zu wurde die Stille durch leise Schritte unterbrochen: Leutnant Ronbald und der Söldner Bolzen, die für die letzte Nachtwache eingeteilt worden waren.

Die vergangenen beiden Tage waren entgegen den allgemeinen Befürchtungen insgesamt recht ereignislos verlaufen. Aber irgendetwas hatte Derio einen ärgerlichen Traum beschert. Vielleicht waren es die Worte des frechen Surlaksgeweihten Valentin von vor zwei Tagen, die Derio im Unterbewusstsein herumspukten. Irgendwie hatte der junge Novize ihm mangelnde Großzügigkeit, fehlende Opferbereitschaft und Ähnliches vorgeworfen. Immerhin – das musste Derio ihm lassen – hatte Valentin seine Kritik rhetorisch geschickt verpackt und erfolgreich mit Humor gewürzt.

Um das leidige Thema abhaken zu können, versuchte Derio sich genau an die Details des unangenehmen Traums – des Alptraums? – zu erinnern.

 

Derio sah einen Mann, auf dessen Rücken ein mächtiges zweihändiges Schwert mit goldenem Griff befestigt war. Er selbst war der Mann, vielleicht zwanzig Jahre älter als heute. Falten und Narben in seinem Gesicht zeugten von diesen Jahren. Der ältere Derio wanderte zielstrebigen Schrittes durch die Gassen einer kleinen Stadt.

Ein alter, zahnloser Bettler versperrte dem alten Derio den Weg: »Oh bitte, werter Herr. Ich habe schon neun Silbermünzen, eine Silbermünze fehlt mir noch, damit ich mir im Tempel der Juania einen Ablass von meinen Sünden erkaufen kann!«

Derio grummelte genervt in seinen Bart: »Ich habe es eilig, geht mir sofort aus dem Weg! Ich sage es nur einmal!«

Der aufdringliche Bettler dachte aber nicht daran, Platz zu machen: »Bitte, werter Herr, seid nicht so kaltherzig! Ich brauche das Geld, sonst bin ich als Sünder vor den Göttern verdammt!«

»Schon Eure zweite und dritte Sünde: Ihr stehlt meine kostbare Zeit und Ihr seid respektlos!« Der alte Derio zog sein Schwert und holte zum Schlag aus »Nun tretet vor die zehn Götter! Möge Juania über Euch richten!«

Der Kopf des zahnlosen, alten Mannes fiel nach dem schnellen Schlag des Magiers zu Boden. Derios Stiefel schoben den leblosen Körper zur Seite, bevor er schnellen Schrittes seinen Weg fortsetzte.

 

Derio hörte ein Geräusch. Das Krächzen einer Krähe vielleicht. Traum oder Wirklichkeit?

Der Alptraum würde jedenfalls nicht Wirklichkeit werden, nicht heute und nicht in Zukunft. Derio war vielleicht nicht ganz so großherzig wie zum Beispiel Gero, aber mit Sicherheit kein eiskalter Mörder.

Ein kalter Windstoß kroch durch eine Ritze in Derios Zelt. Er fröstelte und zog seine Decke enger. Eine anstrengende Reise stand ihm und seinen elf Gefährten bevor. Es wäre wohl das Beste, noch ein wenig Schlaf zu finden. Zumindest könnte er ja versuchen, etwas zu meditieren und so seine arkanen Kräfte fokussieren.

Ein heilloses Durcheinander lauter Stimmen riss Derio jedoch nach kurzer Zeit wieder aus seiner Konzentration.

»Alarm! Leutnant Ronbald wurde ermordet!«

»Bolzen ist auch niedergeschlagen worden ... aber er atmet noch!«

»Zu den Waffen, schnell!«

»Goblinkot, verfluchter!« Das war Geros Stimme.

»Wir brauchen zuallererst Licht«, brüllte Bruder Furlax. »Lampen und Fackeln!«

Eilends trat Derio aus dem Zelt und sprach die passende Formel: »Lux accent adverx tenbro.«

Die magische Lichtkugel schwebte einen knappen Meter über Derios Hand und vertrieb die Dunkelheit besser, als es Fackeln oder Öllampen gekonnt hätten.

Langsam ließ Derio seinen Blick über das kleine Lager schweifen. Leutnant Ronbald Blitzklinge lag regungslos neben dem Lagerfeuer. Etwas Blut sickerte noch langsam aus einer kleinen Wunde über dem Herzen. Vermutlich ein gut gezielter Schuss mit einer Armbrust. Bolzen, der zusammen mit Ronbald zur Nachtwache eingeteilt worden war, lag regungslos auf dem Boden, begann jedoch langsam zu ächzen. Eine formidable blutige Beule hatte sich auf dem Hinterkopf des Söldners gebildet. Ein blutbefleckter Holzknüppel war direkt neben Bolzen auf die Erde gefallen. Eine Armbrust lag ein paar Schritte weiter entfernt, die anderen beiden waren noch am Gürtel befestigt. Feinde, Angreifer oder Eindringlinge konnte Derio auch nicht entdecken, als er die Leuchtkraft seines magischen Lichts noch einmal verdoppelte.

»Jemand sollte die Leiche durchsuchen, ob etwas fehlt«, sagte Bruder Furlax mit grimmiger Miene. »Alle anderen behalten die Umgebung im Auge. Irgendetwas stimmt hier nicht. Irivan, schau nach den Spuren.«

Gero hatte die undankbare Aufgabe übernommen, den erschossenen Leutnant zu untersuchen. »Waffen, Geld, sein Siegelring, die Dokumente. Es scheint alles noch da zu sein«, meinte Gero gefasst.

Derio lenkte unterdessen sein magisches Licht über den Spurenleser Irivan. Der Mann aus den Wäldern Valiantas nahm sich alle Zeit der Welt, um die Umgebung genau zu untersuchen.

Schließlich verkündete Irivan sein Ergebnis. »Ein vermutlich mittelgroßer und mittelschwerer Mann in Reitstiefeln hat sich durch das Gebüsch ins Lager geschlichen. Bolzen, der dort Wache hielt, hat ihn offenbar nicht bemerkt.«

Der eben Erwähnte keuchte und brachte sich in eine sitzende Position. »Voll auf die Rübe. Dann war alles weg. Jetzt dröhnt mein Schädel wie ein Zwergenbergwerk.«

»Dann hat er mit einem Schuss aus Bolzens Armbrust den guten Leutnant erledigt«, fuhr Irivan unbeirrt fort. »Der Mann muss ein wahrhafter Meisterschütze sein. Ronbald war sofort tot und konnte nicht mal Alarm schlagen. Dann hat er sich kriechend dem Leutnant genähert. Vermutlich, um zu überprüfen, ob er auch wirklich tot ist. Danach ist er wieder ins Gebüsch und in kleinem Bogen zur Spur, die unsere Pferde ausgetreten haben. Vermutlich wird sein Pferd dort gewartet haben. Jetzt ist er auf und davon.«

»Wie lange ist es her?«, fragte Leondra, die Marloxgeweihte. Offenbar dachte die Priesterin des Gottes der Kriegskunst daran, den Mörder zu verfolgen.

»Eine halbe Stunde vielleicht, garantiert nicht mehr als eine. Möglicherweise kann man den Burschen noch einholen ...«

Langsam, aber bestimmt schüttelte Bruder Furlax den Kopf. »Wir wissen nicht, ob es eine Falle ist. Und viel wichtiger ist, dass uns die Zeit zwischen den Händen verrinnt. Der Stein der Ysdariah muss so schnell wie möglich nach Borburg in den Tempel Zum Brennenden Stahl gebracht werden.«

»Ich wäre auch für eine Verfolgung«, meinte Bolzen, der sich erstaunlich schnell erholt hatte und sich jetzt demonstrativ neben der Marloxgeweihten aufbaute.

»Wir werden nicht darüber abstimmen«, sagte Derio mit rauer Stimme. »Bruder Furlax führt uns an und somit entscheidet er.«

»Das ist geklärt«, meinte der Ysdariahpriester. »Wir werden jetzt die Zelte abbauen, den Leutnant würdevoll begraben und dann mit den ersten Sonnenstrahlen aufbrechen. Weil unser Feind uns sowieso schon gefunden hat, reiten wir wieder auf der Reichsstraße. Hier im Grasland kann man der Spur von zwölf Pferden nur allzu leicht folgen.«

Schweigend machten sich die elf Gefährten an die Arbeit. Derios Aufgabe war es, mit der magischen Lichtkugel für hinreichende Beleuchtung zu sorgen. Währenddessen ließ er nachdenklich seinen Blick schweifen. Irgendetwas stimmte nicht, aber er kam nicht darauf, was genau.

 

***

 

Voller Bewunderung hing Esme an den Lippen der breitschultrigen Marloxpriesterin Leondra von Nordfaust. Nur sehr wenige Menschen verstanden es, das, was viele im Herzen fühlten, in die passenden Worte zu kleiden. Leondra war einer davon.

»... so blickt Marlox, der Bär, auf einen Diener, der zwar nicht im Kampf, aber im Dienst für die Zehn sein Leben gelassen hat.« Die Geweihte sprach mit angenehm rauchiger Stimme, während der kalte Nordwind ihr braunes Haar zerzauste. »Hier und jetzt schwöre ich, dass der Mörder von Leutnant Ronbald Blitzklinge seine gerechte Strafe erhalten wird.«

Esme war froh, wie alle anderen Anwesenden vermutlich auch, mit Leondra auf derselben Seite zu kämpfen.

Nach einer kurzen Pause fügte die Priesterin hinzu: »Und die Zehn werden uns dabei unterstützen, nicht nur den Mörder, sondern auch dessen Hintermänner mit Grimm zu jagen und letztlich zu erlegen. Ja, unsere Mission hat zunächst Vorrang. Aber niemals vergaß ich einen Schwur am Grab eines Kameraden und jedes Mal trank mein Schwert das Blut der Diener S’zarozs.«

Aus den Augenwinkeln sah Esme, wie Gero kurz davor war, Beifall zu klatschen. Die junge Novizin der Ysdariah, Irina, fasste Gero jedoch rechtzeitig an der Hand, um dieses Unterfangen zu verhindern.

»Und in dem Moment, in dem ich die letzte Schaufel Erde auf das Grab gebe, wird seine Seele zu Marlox aufsteigen. An der himmlischen Tafel warten feine Speisen, guter Wein, Gesang und andere Freuden auf ihn. Der Leutnant darf sich jetzt ausruhen. Wir verbleiben auf Erden und werden stetig weiterkämpfen. Für die Zehn.«

Dem war nichts mehr hinzuzufügen. Bruder Furlax sah das ganz genauso und gab wortlos das Signal zum Aufbruch. Passenderweise kletterten in diesem Moment die ersten Sonnenstrahlen des Tages über eine kleine Hügelkuppe im Osten.

Da die Pferde allesamt bereits gesattelt und bepackt waren, konnten die elf Gefährten sofort losreiten. Niemand wagte es, die Stille durch ein Wort der Plauderei zu brechen. Allerdings hielt jetzt nicht nur Irivan nach Spuren des Feindes Ausschau. Jeder schien begierig auf eine Gelegenheit, den feige ermordeten Gefährten zu rächen. Zu ihrem Leidwesen konnte Esme jedoch an diesem Morgen außer zwei harmlosen Eichhörnchen kein Lebewesen entdecken.

 

Erst zur mittäglichen Rast brach Bruder Furlax das allgemeine Schweigen. »Für die nächste Nacht und für alle weiteren Nächte verdoppeln wir die Wachen. Wir bilden drei Gruppen mit je vier Personen. Naja, nun, da wir nur noch elf sind ...«

Der Priester schluckte kurz. Esme meinte, einen leichten Glanz in seinen Augen zu sehen.

»Die erste Nachtwache bilden Leondra, Derio und Gero«, fuhr er nach dieser kurzen Pause fort. »Leondra ist mit Abstand die Kampferfahrenste, Derio ein Magier aus Nordwacht und Gero trägt diesen heiligen, von Bogrosch gesegneten Streithammer. Alle zusammen sind mindestens genauso gut wie vier Mann aus unserem restlichen Trupp.«

Burk und Turak, die beiden Zwergenkrieger, protestierten schimpfend, aber ansonsten konnte jeder der Analyse des Ysdariahpriesters folgen.

Esme war zusammen mit den beiden Zwergen und Valentin, dem Novizen des listigen Surlaks, in die zweite Gruppe eingeteilt worden. Sie hätte die nächtliche Wacht lieber mit Gero oder auch mit Leondra verbracht, behielt ihre Gedanken aber für sich. Valentin konnte immerhin sehr charmant sein, wenn er denn wollte. Und die Zwergenkrieger würden sich im Falle eines nächtlichen Angriffs bestens zu wehren wissen.

»Im kleinen Wald östlich von uns habe ich etwas Rotwild gesehen«, verkündete Bruder Furlax. »Wir brauchen einen Freiwilligen, der mit Irina jagen geht, während der Rest von uns rastet und ein wenig ruht.«

»Ich bin noch gar nicht müde«, meldete sich Gero innerhalb eines Wimpernschlages. »Und ich jage sehr gerne.«

Skeptisch blickte Furlax zwischen seiner mit Speer, kleinem Rundschild und Bogen bewaffneten Novizin Irina und Gero mit seinem schweren Streithammer hin und her. »Wirklich? Jagst du nicht nur gerne, sondern auch gut?« Bruder Furlax hob seine rechte Augenbraue.

»Nun, ja.« Gero errötete ein wenig. »Mit dem Hammer natürlich nicht, aber mit den Wurfspießen aus unserem Gepäck werde ich so einen Hirsch schon treffen.«

Bruder Furlax nickte knapp. »Mögen die Zehn euch – und uns – reiche Beute vor Spieß und Bogen schicken. Ein Hirschbraten heute Abend käme mir sehr recht.«

Flinken Fußes verschwanden Irina und Gero in Richtung des nahegelegenen Wäldchens. Irgendwie versetzte es Esme einen kleinen Stich, die beiden so einträchtig miteinander zu sehen. War dieses Gefühl möglicherweise Eifersucht?

Esme beschloss, Leondra und Irivan dabei zu helfen, die erschöpften Pferde zu versorgen. Einfache Arbeiten waren stets eine gute Ablenkung von unnützen, lächerlichen Gefühlen.

 

***

 

Nachdem sie unterwegs über dies und das geplaudert und viel gelacht hatten, beschloss Gero, eine Frage zu stellen, die ihm schon den ganzen Tag auf dem Herzen lag. Allerdings fehlte ihm leider die Redegewandtheit seines Freundes Derio – gerade in solchen Momenten.

»Verdammt, Irina, ich habe da eine Frage«, meinte Gero ein wenig ungeschickt. »Aber ich weiß nicht, wie man eine heilige Frau anspricht.«

Irina lachte zunächst einfach nur. Wunderschön, bezaubernd, charmant, sympathisch, braunäugig. Gero mochte sie wirklich.

»Erstmal, Gero, sprechen wir schon eine Weile miteinander«, begann sie mit sanfter Stimme. »Und außerdem ist das mit der heiligen Frau Quatsch. Ich bin als Novizin nur eine Geweihte der untersten Stufe. Und selbst Priester oder Hohepriester sind keine heiligen Männer und Frauen. Wir Geweihten besitzen selbst keine eigene göttliche Macht. Wir sind nur Werkzeuge unserer Göttin, die Macht der Ysdariah fließt nur durch uns, wenn sie es möchte. Bei den anderen Göttern ist es ebenso. Etwas Anderes ist es übrigens mit dem Hammer des Ewigen Feuers, den du mit dir herumträgst. In ihm ist tatsächlich ein Teil – ein winziger Bruchteil natürlich – der Macht des Gottes Bogrosch manifestiert ...«

»Ja«, sagte Gero gedankenvoll. »Der Hammer ist in der Tat etwas ganz Besonderes. Er schmiedet, er zertrümmert alle Feinde und für mich fühlt er sich nicht schwerer als ein Langschwert an. Ich denke, ich sollte Bogrosch öfter, noch öfter, in meinen Gebeten danken.«

»Dankbarkeit ist immer gut. Aber du wolltest mich etwas fragen oder mich auf etwas ansprechen?«

»Nun gut.« Gero seufzte. »Wenn das alles hier vorbei ist.« Er machte eine allumfassende Geste. »Kann ich dich, Irina Dunkelwald, Novizin der Ysdariah, auf ein Bier und ein gutes Essen einladen?«

Im Gehen blickte die junge Frau Gero ins Gesicht. Ihre braunen Augen funkelten schelmisch und voller hochheiligem Ernst zugleich. »Gero Grünfels, Schmied aus der Prophezeiung und Träger des Hammers des Ewigen Feuers, wenn dieses Abenteuer überstanden ist und wir beide überlebt haben sollten, dann lasse ich mich sehr gerne von dir einladen. Sogar auf ein ganzes Fass Bier und ein halbes Schwein, wenn du möchtest.«

»Zufällig kenne ich ein oder zwei sehr nette Tavernen in Talunis, die wirklich einen Besuch und auch die weite Reise dorthin wert sind.«

Plötzlich schrie die Novizin spitz auf und war verschwunden. Verschwunden? Gero blickte zur Stelle, wo Irina eben noch neben ihm gegangen war. Dort war eine drei oder vier Schritt tiefe Grube mit Zweigen und Blättern bedeckt gewesen.

»Alles in Ordnung?« Gero blickte besorgt in das Loch hinab.

Irina rappelte sich auf und spuckte etwas Dreck aus. »Es geht schon. Kratzer, Schrammen, aber keine gebrochenen Knochen. Nur mein Stolz ist verletzt. Ich habe mich ablenken lassen – das ist mir sehr peinlich. Aber reden wir nicht mehr darüber. Gero, hast du zufällig ein Seil mit dabei?«

Der Krieger schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Alles in der Satteltasche von meinem Pferd. Soll ich gehen und eins holen?«

»Nein, wir trennen uns lieber nicht. Das ist eine Bärengrube. Mit etwas Glück und Verstand komme ich auch so herausgeklettert. Lass mich kurz nachdenken ...«

Irgendwie fühlte Gero sich mitschuldig an dem Unfall, schließlich hatte er Irina ja abgelenkt. Genauso wie hübsche Frauen eine Wirkung auf ihn hatten, hatte er offensichtlich eine Wirkung auf die Frauenwelt.

Das brachte Gero in Gedanken zur bildschönen Bauerstochter Arlanda, mit der er vor Wochen eine mehr als nur romantische Nacht verbracht hatte. Vor Wochen, die ihm allerdings fast wie Monate oder Jahre vorkamen. War es überhaupt rechtens, dass er Irina auf ein Bier einlud, wenn ein Teil seines Herzens noch für Arlanda schlug? Konnte man eigentlich zwei Frauen gleichzeitig lieben? Warum nur war die Liebe so verdammt kompliziert?

Und dann war da ja irgendwie auch noch Esme. Zwar konnte Gero mit ziemlicher Bestimmtheit sagen, dass er Esme nicht liebte, aber in Bezug auf Schönheit lag die anmutige Kriegerin sogar noch vor Irina und Arlanda. Außerdem gab es aufgrund der zahlreichen gemeinsam bestandenen Abenteuer bereits ein ganz besonderes Band der Freundschaft zwischen ihm und Esme.

Als ein lautes Brüllen Gero aus diesen Gedanken riss, war ihm die Ablenkung fast schon willkommen. Er fuhr herum und sah, wie sich ein massiges, pelziges Etwas langsam durch das Unterholz näherte. Reflexartig zog er seinen Streithammer und machte sich kampfbereit.

»Ein Steinbär«, hörte er Irinas aufgeregte Stimme aus der Grube rufen.

»Steinbär? Nie gehört. Und wie willst du das unten in deinem Loch erkennen können?«

»Nie gehört, weil er sehr selten ist. Ich erkenne Geruch und Gebrüll.«

In der Tat nahm Gero jetzt auch einen etwas strengen, leicht nussigen Geruch wahr.

Aber es blieb ihm keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn mittlerweile hatte sich das drei Schritt hohe Ungetüm direkt vor Gero aufgebaut und holte mit der rechten Pranke zum Schlag aus.

Gero verpasste der vorlauten Bärenpranke einen gewaltigen Hieb mit seinem Streithammer. Es knackte, knirschte, der Hieb war abgewehrt, aber ansonsten schien der Bär eher unbeeindruckt.

Gero war so verdutzt, dass er der Attacke mit der linken Bärenpranke nicht mehr komplett ausweichen konnte. Blutige Striemen an der Schulter würden noch Wochen später davon zeugen.

Verärgert – über sich selbst – machte Gero ein paar Schritte rückwärts und beschloss, vorsichtiger zu sein.

»Der Steinbär ist sehr ... stabil«, kommentierte Irina aus der Fallgrube heraus. »Mit deinem Hammer wird das nichts. Ramm ihm am besten einen Wurfspieß ins Herz.«



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