Göttermagie - Julian Kappler - E-Book

Göttermagie E-Book

Julian Kappler

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Beschreibung

Der geheimnisvolle Rat der Grauen hat es geschafft, den entscheidenden Stein der Götter, den Stein der Ysdariah, in seine Gewalt zu bringen. Und die Grauen haben noch weitere Pläne. Wird der Säbel der zehn Götter trotzdem in der großen Esse in Borburg neu geschmiedet werden können? Der Dunkle Herrscher schickt seine Armeen gegen das hastig errichtete Bollwerk zum Schutz des Kaiserreichs. Die große Schlacht, in der sich Gero, Esme, Derio und Valentin beweisen müssen, ist unvermeidlich. Können die Gefährten zusammen mit der Kaiserlichen Nordarmee gegen Orks, Oger und feuerspeiende Drachen bestehen? »Hass, Grausamkeit und Schmerz sind die mächtigsten Waffen unserer Feinde. Chandoria gibt uns die stärkste Waffe dagegen: Liebe.« »Liebe zu den Zehn, Liebe zum Kaiserreich, Liebe zu unseren Kampfgefährten. Das ist es, was uns stark macht und letztendlich den Feind besiegen wird.« Ein Hohepriester der Chandoria in Göttermagie

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Göttermagie

 

Die Steine der Götter 4

 

JULIAN KAPPLER

 

Inhaltsverzeichnis

WAS BISHER GESCHAH

KAPITEL I

KAPITEL II

KAPITEL III

KAPITEL IV

KAPITEL V

KAPITEL VI

KAPITEL VII

KAPITEL VIII

KAPITEL IX

KAPITEL X

APPENDIX A: DIE GÖTTER SOLANDIENS

APPENDIX B: DIE PROTAGONISTEN

APPENDIX C: BESTIARIUM

NACHWORT UND DANKE

IMPRESSUM

 

 

 

WAS BISHER GESCHAH

 

 

Der junge Krieger Gero Grünfels, der Magier Derio Blitz und die bildschöne Kriegerin Esme von Lendaya fanden sich ebenso schnell wie unerwartet in einem mysteriösen Abenteuer wieder. Von einem alten Hohepriester der Juania, der Göttin der Wahrheit und des Lichts, erhielten die Drei erste Hinweise. Die Mission, welche ihnen vorherbestimmt schien, war es, nach den zehn Steinen der Götter zu suchen und dabei den Häschern des Bösen zuvorzukommen.

Außerdem hörten Gero und seine Gefährten in dem kleinen Tempel der Juania erstmalig die Legende vom Krummsäbel der zehn Götter:

 

Vor einem halben Jahrhundert tobte eine gewaltige Schlacht zwischen dem Kaiserreich auf der einen und den Orks und ihren niederträchtigen Verbündeten auf der anderen Seite.

Ein tapferer Krummsäbelkämpfer namens Bernhelm Ehrwald brachte zusammen mit zehn Getreuen an seiner Seite die Wende zum Guten in diesem Gemetzel. Nur dank innigster Gebete zu allen zehn Göttern erlangte er die Kraft, mit seinem Säbel die schwarzmagisch verstärkte Rüstung des obersten Heerführers der Orks zu zerschmettern.

Jedoch war Bernhelms Hieb von solch einer übernatürlichen Wucht, dass auch sein Krummsäbel zersplitterte – in genau zehn Teile. Als Andenken an diese Heldentat und den Sieg in der Schlacht sammelten Geweihte der zehn Götter die Bruchstücke des Säbels. Im heiligsten Tempel des obersten Gottes der Schmiedekunst, Bogrosch, wurden zehn wertvolle Edelsteine geschmolzen, auf dass diese Steine die Bruchstücke der Waffe bewahren würden. Der oberste Hohepriester einer jeden Kirche nahm jeweils einen dieser Steine der Götter, um ihn an einem geheimen Ort zu verwahren.

 

In einem versteckten Höhlenlabyrinth fand sich der erste Stein, der dem Gotte Surlaks geweiht war. Als die Gefährten diesen schlussendlich geborgen hatten, führte sie ihre gefahrvolle Reise mit Hilfe eines magischen Portals in die weit entfernte Große Wüste.

Auch dort, in der Wüstenstadt Xemal, ging die abenteuerliche Suche nach den Steinen der Götter ohne Ruhepause weiter.

Das Artefakt des Vurunus, des Gottes des Übergangs zwischen den Welten, befand sich in einer Höhle, in der lebende Tote ihr Unwesen trieben. Dieser zweite Stein der Götter belohnte die Gefährten am Ende für ihre zahlreichen Mühen und die Gefahren der Wüstenhöhle.

Der Stein der Liebe, ein der Göttin Chandoria geweihter Rubin, befand sich bestens bewacht in einer der Schatzkammern des Herrschers des Wüstenvolks. So mussten die Drei sich Unterstützung suchen und fanden diese schließlich in einem Meisterdieb, der sich Sandfuchs nannte und nach eigener Aussage der Beste war. Nur dank der Hilfe des Sandfuchses schafften sie es schließlich, den Stein der Liebe unbemerkt gegen eine Fälschung auszutauschen.

Mit drei Steinen der Götter im Gepäck führte die Gefährten ihre Reise zurück ins Kaiserreich hinter die schützenden Mauern der berühmten Magierstadt Talunis.

Dort, in der Academia der Hohen Magicae Taluniasis, erwartete man sie bereits, um über eine gut fünfzig Jahre alte Prophezeiung zu sprechen. Es wurden drei Helden beschrieben und nur diese Drei wären in der Lage, den Stein der Taluna aus seinem Versteck zu bergen.

Um an den Stein der Göttin Taluna zu gelangen, war es notwendig, zunächst den Stein des Ahlon zu suchen. Ahlon war als Gott der Gastfreundschaft und Beschützer der Menschen im Kaiserreich viel gepriesen.

Weil eben dieser Stein einer Legende nach in der gastlichsten Taverne der Stadt verborgen war, mussten die Drei sich nun unverzüglich durch zahlreiche Gasthäuser essen und trinken. Schließlich gelang es Gero in einem exzessiven Saufgelage, das begehrte Artefakt für sich zu gewinnen.

Um anschließend den Stein der Weisheit zu finden, schickte man die Gefährten von der Akademie der Hohen Magie zu Talunis aus auf eine magische Reise, zu einem Ort jenseits von Raum und Zeit. Dort mussten die Drei ihre schlimmsten Alpträume überwinden.

 

***

 

In der Wüstenstadt Xemal war unterdessen der Meisterdieb Sandfuchs aufgeflogen. Man hatte mittlerweile erkannt, dass der Stein der Liebe in der Schatzkammer des Sultans gegen eine Replik ausgetauscht worden war und man vermutete in ihm, zu Recht, den Schuldigen. Nur dank exzellenter Vorbereitung und der Meisterschaft in seiner Profession gelang es ihm, lebend aus Xemal zu entkommen und die Große Wüste zu durchqueren.

Doch selbst in der Hauptstadt des Kaiserreichs, Zehnbergen, wurde der Sandfuchs noch von einem Assassinen des Sultans gejagt. Erst im Tempel des listigen Gottes, Surlaks, schaffte er es, mit Hilfe des dortigen Hohepriesters seinen Verfolger auszuschalten.

Im Tempel wurde er freundlich aufgenommen und durchlief in Rekordzeit und völlig unerwartet für ihn selbst die Ausbildung zum geweihten Novizen seines Gottes. Schon wenige Wochen später verließ er mit neuem Namen, als der Surlaksgeweihte Valentin, die Kaiserstadt Zehnbergen ...

 

***

 

Auch als die drei Gefährten endlich den der Göttin Taluna geweihten Stein der Weisheit errungen hatten, blieb ihnen keine Ruhepause vergönnt. Alle Steine der Götter mussten unverzüglich nach Borburg in den Tempel Zum Brennenden Stahl gebracht werden. Nur dort bestand im legendären Schmiedefeuer, auch große Esse genannt, die Möglichkeit, die Steine einzuschmelzen und den legendären Säbel von Bernhelm Ehrwald neu zu schmieden.

In Borburg, der Hauptstadt des Königreichs Noweiten, angekommen, durften die Drei der Versammlung der zehn Priester im Tempel Zum Brennenden Stahl beiwohnen. Neben den fünf Steinen der Gefährten hatten weitgereiste Priester auch die Steine der Götter Juania und Marlox in den Tempel gebracht. Von den fehlenden drei Steinen war einer, der des Bogrosch, in den Tiefen des dortigen Tempelkellers versteckt worden. Daher schickte man Gero und seine Gefährten in die verborgenen Tempelgewölbe, um dort das heilige Artefakt zu bergen.

Die Drei verließen das Kellergewölbe nicht nur mit dem Stein des Bogrosch, auch Glühendes Eisen genannt, sondern mit einem weiteren heiligen Artefakt: Der Hammer des Ewigen Feuers, den nur Gero anheben konnte, war von nun an die bevorzugte Waffe des jungen Kriegers. Dieser Streithammer konnte nicht nur Rüstungen und Knochen seiner Feinde zertrümmern, sondern gab auch einen passablen Schmiedehammer ab.

 

***

 

Währenddessen ahnten die Drei immer noch nichts von einer geheimnisvollen dritten Macht. Der Rat der Grauen war eine der mächtigsten der Gruppen, welche das Schicksal der Welt zu beeinflussen suchten. Aber im Gegensatz zu allen anderen Fraktionen hatten die Grauen sich einzig und allein dem Gleichgewicht zwischen Licht und Dunkelheit verschrieben.

Der Rat der Grauen hatte schnell erkannt, dass sowohl die Strippenzieher auf Seiten des Lichts, die weißen Schachspieler, als auch deren Gegenpart, der dunkle Schachspieler, dasselbe Ziel hatten. Beide Machtblöcke trachteten nach den zehn Steinen der Götter, Artefakten voller göttlicher Macht.

Aus Sicht der Grauen galt es dies zu verhindern, um das Gleichgewicht nicht zu gefährden.

Mittlerweile richtete auch der Rat der Grauen seine Aufmerksamkeit auf die drei Gefährten. Um die Ereignisse besser beeinflussen zu können, reiste der Ratsvorsitzende der Grauen auf das nördliche Festland Solandiens – dorthin, wo die Fäden des Schicksals der Welt zusammenliefen. Selbstverständlich hatte der Vorsitzende bereits einen Plan, welcher nichts Gutes für die drei Gefährten bedeuten sollte.

Auch Orbb, Ratsmitglied der Grauen und Hochschamane der Trolle, war aufgebrochen. Er sammelte unter einem Vorwand weit im Süden eine kraftvolle Trollarmee. Sein Ziel war es, diese Truppen in den Norden zu bringen, dahin wo bald ein Krieg zwischen den Mächten des Guten und des Bösen ausbrechen würde. Die Grauen hofften, diese Armee erst gar nicht einsetzen zu müssen und die Machtbalance zwischen Licht und Dunkelheit mit subtileren Mitteln im Gleichgewicht zu halten. Im Zweifelsfall würde Orbb jedoch nicht zögern, die stolzen Krieger aus Stein und Fleisch, das uralte Volk der Trolle, in die Waagschale zu werfen.

 

***

 

Um die beiden noch fehlenden Steine der Götter rechtzeitig nach Borburg zu bringen, wurden zwei Expeditionen zusammengestellt.

Die drei Gefährten fanden sich in der Expeditionsgruppe wieder, deren Aufgabe es war, den Stein der Ysdariah aus den Tiefen des ewigen Eises zu bergen. Für Gero, Esme und Derio bedeutete dies auch ein Wiedersehen mit einem alten Bekannten: Aus dem Meisterdieb namens Sandfuchs war der Surlaksgeweihte Valentin geworden.

Angeführt wurde die Expedition vom erfahrenen Ysdariahpriester Furlax Eisfels. Außerdem waren noch eine junge Ysdariahnovizin namens Irina Dunkelwald, die Marloxpriesterin Leondra Nordfaust und weitere tapfere Gefährten Teil des insgesamt zwölfköpfigen Trupps.

Doch auch ein Verräter, ein Söldner namens Bolzen, hatte sich unter die Helden gemischt. Aufgrund des hinterlistigen Verrats und eines heimtückischen Orküberfalls, kamen schließlich nur noch acht Gefährten lebend bei der Höhle im legendären Berg Thortalbork an.

Nachdem sie mehrmals nur äußerst knapp dem frostigen Tod entronnen waren, hielten die Gefährten schließlich den Eisigen Fels in ihren Händen, den heiligen Stein der Göttin Ysdariah.

 

***

 

Überall im Reich waren die Anwerber der kaiserlichen Armee dabei, neue Männer und Frauen für das Heer des halbgöttlichen Kaisers zu rekrutieren. So schloss sich auch die junge Bauerstochter Arlanda als Gehilfin der Heiler der kaiserlichen Armee an.

Arlandas Motivation war nicht einzig und alleine dem Reich zu dienen. Sie hoffte auch, ihren Schwarm, den ebenso heldenhaften wie attraktiven Gero Grünfels, möglichst bald wiederzusehen. Arlanda war noch vor wenigen Monaten von Räubern entführt und von Gero und seinen Gefährten wieder befreit worden. Außerdem hatten die Bauerstochter und der gutaussehende Krieger eine ganz besondere Nacht miteinander verbracht.

 

***

 

Die Expedition, deren Aufgabe es war, den Stein der Göttin Valiana zu bergen, wurde vor ganz andere Herausforderungen gestellt. In stürmischstem Wetter musste sich die Besatzung des Schiffs gegen ein leibhaftiges Seeungeheuer behaupten.

Eine junge Valianapriesterin, Schwester Leah, rückte durch Tod des Kapitäns und des mitgereisten Hohepriesters zur Kapitänin und Anführerin der Expedition auf.

Nachdem das Ungeheuer besiegt worden war, konnte Schwester Leah auf einer geheimnisvollen Insel anlanden und dort schlussendlich den Stein ihrer Göttin aus seinem Versteck bergen.

Voller Zuversicht und Göttervertrauen legte Leahs Expedition im Hafen der Stadt Nordhavn an. Jetzt galt es nur noch, den langen und beschwerlichen Fußweg zum Tempel Zum Brennenden Stahl in Borburg zu meistern.

 

***

 

Der Ratsvorsitzende der Grauen hatte zunächst versucht, mit subtilen Mitteln und guten Argumenten Gero, Derio und ihre Gefährten zu überzeugen, ihm den letzten und entscheidenden Stein der Götter freiwillig zu übergeben. Da dieser Plan jedoch nicht fruchtete, kam es unweigerlich zur Konfrontation, als die acht verbliebenen Gefährten die Höhle im Berg Thortalbork mit dem entscheidenden Stein der Götter, dem Eisigen Fels, wieder verließen.

Aus diesem ebenso fulminanten wie kurzen Duell ging der Magier der Grauen als Sieger hervor und konnte mit dem Stein der Götter entkommen. Die acht Gefährten waren zwar geschlagen, aber hatten zumindest Glück gehabt, dass sie nach dieser Auseinandersetzung überhaupt noch am Leben waren.

 

 

 

KAPITEL I

 

 

J.d.K. 987, zwölfter Tag im elften Mondzyklus, Ewiges Eis

 

Dicke Schneeflocken wirbelten durch die Luft, während der kalte Nordwind unbarmherzig an Geros schwerem Fellmantel zerrte. Der junge Krieger seufzte tief und trat langsam vom Eingang der Eishöhle in deren Inneres. Dort hatten sich seine treuen Gefährten Esme, Derio, Irina, Furlax, Leondra, Valentin und Turak versammelt und warteten bereits auf ihn. Gero und seine Mitstreiter waren letztlich der Macht des geheimnisvollen Magiers der Grauen unterlegen gewesen. Der Stein der Ysdariah, der Eisige Fels, war nun in den Händen des ominösen Rates der Grauen, dessen Ziele im Dunkeln lagen. Jetzt galt es also zu entscheiden, wie die Gefährten mit dieser bitteren Niederlage umgehen wollten.

Eine unbestimmte Anspannung waberte durch die eisige Luft in der Höhle. Sogar die im wahrsten Sinne des Wortes dickfelligen Pferde wieherten unruhig. Einer der Gäule scharrte schon seit einiger Zeit rastlos mit den Hufen und schnaubte nervös.

Der Ysdariahpriester Bruder Furlax hielt schließlich einen ziemlich mitgenommen wirkenden Briefumschlag in die Höhe. Dieser Umschlag war mit dem Wachssiegel der Ysdariahkirche verschlossen, dem Kopf einer Eisbärin. »Unsere Auftraggeber waren in der Tat sehr weitsichtig und haben sogar für diesen unglücklichen Fall Anweisungen hinterlegt.«

Es herrschte kurz eine seltsame Stille in der Eishöhle. Esme kräuselte grüblerisch die Stirn und Valentin zog die Kapuze seines Fellmantels noch etwas enger. Der weise Magier Derio starrte auf den Umschlag und strich sich nachdenklich durch den langen, braunen Bart.

Schließlich brach Furlax das Siegel und begann mit versteinerter Miene und zusammengepressten Lippen zu lesen.

Als Bruder Furlax endlich fertig war, verstaute der Priester den Brief wieder in seinem Beutel und ließ seinen Blick gedankenvoll über die Runde der Gefährten schweifen. Am längsten verweilten seine Augen auf Gero, der sich daraufhin irritiert am Kinn kratzte.

Schließlich beendete Bruder Furlax die Stille. »Zunächst sollen wir schnellstmöglich zurückkehren. Am ersten kaiserlichen Grenzposten informieren wir meine Kirche mittels Brieftaube nach Borburg. Im Übrigen sollen wir Stillschweigen über den Misserfolg bewahren. Eine Sache … Geros Rückkehr nach Borburg ist prioritär. So unsere Auftraggeber wörtlich.«

Gero biss sich verärgert auf die Unterlippe. Er war es ja gewohnt, dass Derio seltsame gehobene Ausdrücke benutzte. Aber warum, verflucht, fing Furlax jetzt auch damit an?

Offenbar hatte der Priester Geros Irritation gespürt. »Prioritär bedeutet in diesem Fall ganz konkret, dass wir alle im Zweifel unser Leben für Gero opfern sollen.«

Gero schluckte – die Situation war ihm sehr unangenehm. »Warum?«

Bruder Furlax zuckte mit den Schultern. »Unsere Auftraggeber verfolgen die Devise, dass wir nur das Nötigste wissen müssen. Darüber steht folglich leider nichts im Brief.«

»Darf ich spekulieren?« Derio strich sich mit einer gewichtigen Geste durch den Bart. »Du, Gero, bist der Schmied aus den alten Prophezeiungen. Ich vermute, man braucht dich in Borburg, um etwas zu schmieden …«

»Genug geredet«, unterbrach Leondra Derios Ausführungen. »Wir sollten endlich Richtung Süden aufbrechen. Unsere Pferde haben lange genug geruht und wir ebenso.«

Die Aussicht, endlich Richtung Süden, in wärmere Regionen, zu reisen, versetzte Gero und seine Gefährten in eine emsige Aufbruchsstimmung.

J.d.K. 987, siebzehnter Tag im elften Mondzyklus, Königreich Noweiten

 

Arlanda war froh über die unerwartete Unterbrechung der Arbeiten an der Wallanlage. Nachdem in den letzten Wochen der Graben und der Erdwall fertiggestellt worden waren, hatte sie die letzten Tage verstärkt den Handwerkern beim Bau der Palisaden geholfen. Jetzt schien allerdings ein besonderes Ereignis bevorzustehen. Arlanda und gut fünfhundert weitere Rekruten standen bereits seit einer guten halben Stunde an der Reichsstraße Richtung Süden Spalier – und zwar in voller Bewaffnung. Bereits zum zweiten Mal inspizierte ein Unteroffizier mit hochrotem Kopf, ob auch wirklich jeder seine Schuhe wie befohlen poliert hatte. Da die Bauerstochter Arlanda sich in dieser Beziehung nichts vorzuwerfen hatte, hielt sie ihren Blick stoisch geradeaus gerichtet.

Ihr gegenüber stand der breitschultrige Rekrut namens Yannik. Dieser hatte seine Stiefel offenbar weniger gründlich geputzt, denn sein linkes Augenlid zuckte nervös.

Worauf genau oder wie lange sie warten mussten, hatte man den Rekruten nicht verraten. Aber vermutlich ... hoffentlich ... lag es nicht in der Absicht der Offiziere, die Soldaten im kalten Nordwind erfrieren zu lassen.

»Der Kommandant der Nordarmee und seine Reiter«, brüllte eine Stimme im Süden und riss Arlanda damit aus ihren Gedanken.

»Der König kommt! Lang lebe der König von Noweiten«, jubelten Dutzende Soldaten begeistert.

Als der König und seine Reiterei endlich an den Spalier stehenden Rekruten vorbei ritten, kannte die Begeisterung kein Halten mehr. Zwar wagte es niemand, seine Position zu verlassen, aber still wie eine Statue stand jetzt keiner der jungen Rekruten mehr. Auch Arlanda reckte neugierig ihren Hals, um den charismatischen Herrscher besser sehen zu können.

König Torvin von Noweiten war vielleicht ein paar Jahre älter als ihr Vater, aber von kräftiger und stolzer Statur. Die Gesichtszüge des Königs zeugten ebenso von Güte und Weisheit wie von Entschlossenheit und Stärke. Das dunkelblonde schulterlange Haupthaar wehte verwegen im Wind. Nur im modischen kurzen Bart des Kommandanten der Nordarmee zeigten sich erste graue Strähnen. Der schwarze Hengst des Königs war einem Herrscher und Feldherrn angemessen. Bis auf eine edle weiße Blesse war das Tier pechschwarz. Auch der Hengst schaffte es genau wie sein Reiter, eine Aura von Tapferkeit, Stärke und Stolz zu verbreiten.

Wäre Arlanda im Alter ihrer Mutter gewesen, hätte sie sich sicherlich auf der Stelle in den attraktiven König verliebt. Aber natürlich blieb Gero ihr Schwarm und die Nummer Eins in ihrem Herzen.

Bevor Arlandas Gedanken zu Gero abschweifen konnten, stoppte König Torvin nur wenige Dutzend Schritt von ihr entfernt seinen Hengst. Ein Trompeter gab ein Signal. Dann herrschte für kurze Zeit ein fast schon gespenstisches Schweigen.

»Männer, Frauen, der halbgöttliche Kaiser hat mich auf eine Mission geschickt.« Die Stimme des Königs von Noweiten war hart wie Stahl und sanft wie Seide zugleich. »Aber er hat ebenso jeden Einzelnen von Euch auf dieselbe Mission geschickt. Es gilt ein Bollwerk gegen das pure Böse zu errichten, es zurückzuschlagen.«

Die Rekruten jubelten dem Anführer der Kaiserlichen Nordarmee begeistert zu. Auch Arlandas Gefühle schwammen auf der allgemeinen Welle der Euphorie.

»Ich will ehrlich zu Euch sein«, verkündete der stolze Feldherr der Nordarmee. »Das Böse ist stark. Sehr stark. Aber wir gemeinsam sind noch stärker. In diesem Moment sind zwei Expeditionen mit den letzten beiden Steinen der Götter auf dem Weg nach Borburg. Dort soll der legendäre Krummsäbel von Bernhelm Ehrwald neu geschmiedet werden.«

Der König ließ seine Worte zunächst wirken. Ein ehrfürchtiges Schweigen herrschte. Arlanda hielt sogar voller gespannter Erwartung die Luft an.

»Alles, was Gero Grünfels, Esme von Lendaya und unsere anderen Helden brauchen, ist ein wenig Zeit. Verschaffen wir ihnen diese Zeit!« Das Charisma des Königs war gewaltig.

Erneut brandete ein Sturm der Begeisterung durch die Menge der Soldaten. Jeder einzelne war jetzt bereit, sein Leben für ihren Anführer und den halbgöttlichen Kaiser zu lassen.

»Aber lasst Euch nicht durch das Gerede eines alten Mannes von der Arbeit abhalten. Jeder einzelne hier leistet einen Beitrag von immenser Wichtigkeit. Aber auch der Feind schläft nicht. Männer, Frauen, weitermachen!«

Weder war der König alt, noch waren seine Worte Gerede. Dennoch verfehlte die kurze Ansprache die gewünschte Wirkung nicht. Arlanda ging genau wie alle anderen hochmotiviert zurück an die Arbeit, um die verlorene Zeit wieder einzuholen.

Irgendwer hatte Arlanda und der Soldatin neben ihr ein Stück Holzpalisade gereicht und die beiden jungen Frau schleppen es dorthin, wo es benötigt wurde. Ihr Ziel war eine Gruppe von Handwerkern, die emsig daran arbeiteten, einen kleinen hölzernen Wachturm zu errichten.

Während sie mit dem schweren Holzstück auf der Schulter durch den Schnee stapfte, pfiff Arlanda gedankenversunken ein Lied, welches sie schon seit ihrer frühsten Kindheit kannte. Das Lied hieß die tapfere Soldatin. Die Melodie war fröhlich und unbeschwert, hatte ihr schon als Kind gute Laune gemacht.

Die eigentliche Bedeutung des Textes hatte Arlanda erst viel später, vor wenigen Jahren, richtig erfasst: Wenn die ruhmreiche Soldatin sich in der letzten Strophe glücklich auf warmer Erde ausruht und mit einem Blumenkranz geschmückt ist, dann macht sie keine wohlverdiente Pause, sondern ist schlicht und ergreifend tot. Obwohl sie dieses traurige Ende mittlerweile richtig zu interpretieren wusste, schätzte Arlanda immer noch die kraftvolle Leichtigkeit der Melodie.

Getragen von der Kraft des Lieds fiel Arlanda ihre Arbeit gleich etwas weniger schwer. Sie fühlte sich in diesem Moment glücklich und sogar die Kälte des Wintertages vermochte ihre Stimmung nicht zu trüben.

J.d.K. 987, achtzehnter Tag im elften Mondzyklus, im Süden des Freien Königreichs Valianta

 

Der dichte Nadelwald schien an diesem Tag friedlich. Zu friedlich. Leah bevorzugte als Priesterin der launischen Göttin Valiana die weite See. Dort war die Sicht zumeist weit und klar. Hier hingegen war das Gestrüpp von Bäumen und Buschwerk so dicht, dass die Männer und Frauen der Expedition ihre Pferde an den Zügeln führten, um überhaupt irgendwie voranzukommen. Auch die Entermesser mussten oft benutzt werden, um den Weg freizuschlagen. Ihrem Fährtenleser und Führer zufolge bedeutete der Weg durch den dichten Wald allerdings eine Zeitersparnis von mindestens einem Tag Reisezeit. Das war die Mühen hoffentlich wert, denn Zeit war in diesen Tagen knappes Gut.

Der Wald war alt und mächtig. Es war weise, vor solch urtümlichen, imposanten Bäumen Respekt zu haben. So hielt es auch Leah. Sie liebte einzig und allein die launischen Weiten der See, aber das uralte Grün des Waldes respektierte sie dennoch auf die angemessene Art und Weise. Der leise in den Nadeln rauschende Wind war das einzige Geräusch und es schien ganz so, als wollten die Bäume Leah eine geheimnisvolle Geschichte erzählen.

Ihre gut vier Dutzend Begleiter, die Hohepriester Raffaelu ihr an die Seite gestellt hatte, waren allesamt angespannt und wachsam. Wenn sie doch nur diese verfluchte Landetappe endlich hinter sich hätten und mit dem Stein der Göttin in Borburg wären. Dieses Artefakt voller göttlicher Macht war es auch, das Leah die Ruhe, Kraft und Zuversicht gab, um die Gruppe mit einer gewissen Gelassenheit anzuführen.

Vjarne, der erste Offizier aus der Mannschaft ihres Schiffes, der Pfeil der Göttin, sprach Leah von der Seite an: »Erlaube mir eine Frage, Schwester Leah? Wie schaffst du es, niemals an Weg oder Ziel zu zweifeln oder mit dir zu hadern? Und das in Zeiten wie diesen? Wie kann ein einfacher Seemann wie ich lernen, genauso durchs Leben zu gehen?«

Leah strich sich durch ihr kurzes blondes Haar, um eine Sekunde zum Nachdenken zu gewinnen. »Manche Menschen rennen durch das Leben, manche gehen, andere kriechen. Aber all das ist weder der richtige Weg noch ein sinnvolles Ziel. Wir sollten vielmehr lernen, durch das Leben zu schwimmen. Zur rechten Zeit einfach nur treiben lassen und sich an anderen Tagen mit kräftigen Zügen seinem Ziel nähern.«

Vjarne nickte, während er zugleich die Stirn runzelte. »Mit dem Strom oder gegen den Strom?«

»Grundsätzlich beides. Im Einzelfall kommt es auf die Situation an.«

»Du bist eine sehr weise Frau, Schwester.«

Verflucht. Leah hatte sich bis jetzt nie als besonders weise gesehen. Ihre Worte waren demnach auch nur aus einer spontanen Eingebung heraus dahergeredet gewesen. Trotzdem bemühte sie sich um ein würdevolles Nicken und lächelte gütig. Sie würde sich noch an ihre neue Rolle gewöhnen müssen.

Ein Knacken aus dem nahen Unterholz ließ Leah aufschrecken. Eben noch Grabesstille und jetzt ein Geräusch?

»Zu den Waffen!«, brüllte Leah. Die junge Priesterin folgte dabei eher ihrer Intuition, als einen konkreten Grund zu haben.

Nur einen Atemzug später zeigten sich rundherum hässliche grüne Fratzen. Die Orks hatten sich mit Tannenzweigen behängt und nebenbei den Vorteil ihrer dunkelgrünen Haut voll ausgespielt. Einige hockten hämisch grinsend auf dem Boden, andere waren auf Bäume geklettert. Der Anführer oder Sprecher der Orkhorde fletschte seine Zähne. »Keine Chance, dummes Menschenpack! Waffen fallen lassen. Sofort!«

Göttervertrauen und grimmige Entschlossenheit durchströmten die Priesterin. »Matrosen, lasst das feige Pack den Geschmack eurer Entermesser kosten!«

Und schon begann das Gemetzel. Bogen- und Armbrustschützen beider Seiten feuerten ihre Geschosse auf die feindlichen Kämpfer und landeten erste Treffer. Flinke Entermesser trafen auf schwere Zweihandäxte. Der dunkle Hass und die überlegene Muskelkraft der grünhäutigen Diener S’zarozs standen dem zornigen Göttervertrauen und der trotzigen Tapferkeit von Leahs Truppe gegenüber.

Leah selbst sah sich mit ihrem Kurzschwert einem eher kleinen Ork mit großer Streitaxt gegenüber. Eher klein bedeutete in diesem Fall immer noch, dass der Ork einen halben Kopf größer als die Priesterin war.

Den ersten Angriffen ihres Kontrahenten konnte Leah mit behänden Bewegungen elegant ausweichen. Scheinbar gab der Stein der Göttin ihr nicht nur Selbstvertrauen, sondern auch schnelle Reflexe.

Im Normalfall hätte die Priesterin kaum eine Chance gegen einen Orkkrieger gehabt. Aber so erfasste Leah ein ungeahnter Mut und sie rammte in einem passenden Moment ihr Kurzschwert in den Bauch der Kreatur.

Der Ork verzerrte sein Gesicht zu einer schmerzerfüllten Fratze und stöhnte laut auf. Allerdings hatte der Kettenpanzer aus schwarzem Stahl dem Hieb der blonden Priesterin standgehalten, so dass der Ork keine ernsthaften Verletzungen erlitten hatte.

»Verfluchter Schlangenmist, dreckiger!« Auch für Leah war der Zusammenprall zwischen der Spitze ihres Kurzschwerts und der Rüstung des Orks sehr schmerzhaft verlaufen. Ein tiefer, dumpfer Schmerz zog sich von ihrer Schwerthand über den Arm bis in die Schulter. Immerhin hatte sie noch genug Luft in der Lunge, um herzhaft zu fluchen. »Bockmist, stinkender Orkbastard, Sohn einer Goblinhure!«

Leah machte ein paar Schritte rückwärts, um ein wenig Abstand zwischen sich und den wütenden Ork zu bringen. Dabei geriet die junge Priesterin ins Straucheln, knallte mit dem Rücken gegen einen Baum und ging zu Boden. Zu allem Überfluss rutschte ihr dabei auch noch ihr Kurzschwert aus der Hand und verschwand in einem Dornengestrüpp.

Leah war verdammt wütend, aber jetzt fehlten ihr Zeit und Atemluft für eine angemessene Schimpftirade. Seltsamerweise fiel Leah in diesem Moment auf, dass von Westen her dunkle Wolken aufzogen. Außerdem donnerte es in der Ferne. Nur Zufall oder war sogar Valiana, die Göttin von Wind und Wetter, verärgert?

Der Ork hatte unterdessen die Gunst der Stunde erkannt. Siegessicher und mit erhobener Axt kam er Schritt für Schritt näher.

Leah hatte scheinbar keine Chance. Die junge Priesterin schloss ihre Augen für ein letztes Gebet.

Einen Atemzug später öffnete Leah erstaunt ihre Augen. Sie war immer noch am Leben.

Dort, wo eben noch der Ork gestanden hatte, hielt jetzt Vjarne einen blutigen Orkschädel in die Höhe. Das Entermesser und die Lederrüstung von Leahs erstem Offizier waren völlig blutbesudelt. Dennoch lächelte der tapfere Mann in grimmiger Entschlossenheit und schien Befehle zu erwarten.

Leah rappelte sich auf und schnappte sich die schwere Orkaxt vom Boden. Ihr Schwert konnte sie im Moment nicht sehen. »Gut gemacht, Vjarne. Wenn alle unsere Männer so gut kämpfen, ist die Schlacht bald gewonnen.«

»Leider nein, Schwester Leah. Siehst du diesen stinkenden, grüngesichtigen Hexenmeister, wie er dort auf dem Baum hockt? Immer, wenn es knapp wird, wendet seine Magie das Blatt zugunsten seiner Kämpfer.«

Leah unterdrückte Dutzende von Flüchen. Warum hatte man ihrer Truppe eigentlich keinen Magier an die Seite gestellt? »Was würdest du vorschlagen, Vjarne?«

Der kräftige Hüne zögerte kurz, während er mit seinem schwertlangen Entermesser den Angriff eines Orks abwehrte. »Der Legende nach …« Vjarne atmete schwer. »Die Hohepriester der Göttin können doch angeblich Blitze schleudern. Kannst du vielleicht …«

»Ich bin nur eine einfache Priesterin und keine Legende.« Leah strich sich über die Stirn. Dort pulsierte der unbändige Zorn der Gerechten in ihren Adern.

Vielleicht gab der Stein der Valiana ihr ja die Macht, schier Unmögliches zu tun – Dinge, von denen sie vor Wochen nicht mal zu träumen gewagt hatte.

Leah reckte die schwere Zweihandaxt gen Himmel. Währenddessen durchbohrte sie den orkischen Hexenmeister mit zornigen Blicken. »Verflucht sollst du sein, du grüngesichtiger Hexer, Sohn einer Goblinhure und eines Esels. Valianas Blitze mögen dich erschlagen.«

Eine Sekunde passierte gar nichts, außer dass der Ork hämisch grinste. Gleichzeitig bereitete der Hexer einen seiner schwarzmagischen Zauber vor.

Dann blitzte und donnerte es nahezu im selben Moment. Ein gleißender Lichtbogen zog sich von einer pechschwarzen Wolke am Himmel bis zum Hexenmeister der Orks. Der orkische Zauberer wurde gnadenlos innerhalb eines Wimpernschlages gegrillt.

Leah lachte triumphierend auf, als ein verkohltes Stück Fleisch – die Reste des Hexenmeisters – auf den Boden fiel.

Drei Orkkrieger nahe der jungen Priesterin hatten erkannt, dass Leah für den Tod ihres Hexers verantwortlich war. Alle drei Orks sprangen axtschwingend in Leahs Richtung.

Auch ihnen schleuderte Leah in Gedanken tiefe Wut und heiligen Zorn entgegen. Im Zweikampf hätte die Priesterin keine Chance gehabt.

Tatsächlich wurden Leahs Gebete von ihrer Göttin erhört. Drei weitere Blitze fuhren vom Himmel nieder und richteten die heranstürmenden Orks in letzter oder zumindest vorletzter Sekunde.

Leah stand nur atemlos da und staunte über die Macht des göttlichen Wirkens. Unterdessen begannen die Orks planlos in alle Himmelsrichtungen zu flüchten. Eigentlich waren die grüngesichtigen Bestien eher von der mutigen Sorte, aber gegen eine blitzeschleudernde Priesterin sahen sie sich wohl chancenlos.

»Hüte dich vorm Zorn einer Göttin«, murmelte Leah ehrfürchtig und zitierte damit ein altes Sprichwort aus Valianta.

»Hinterher! Lasst keinen entkommen«, brüllte eine junge Söldnerin übermütig.

»Halt!« Vjarne war auf einen Baumstamm geklettert, damit man ihn besser hören und sehen konnte. »Wenn wir uns zerstreuen, erledigen uns diese stinkenden Bestien schön einzeln. Alles versammelt sich um Priesterin Leah!«

Keiner zweifelte an der Autorität des rotbärtigen Hünen Vjarne. Alle Männer und Frauen folgten dem Befehl.

Leah war immer noch sprachlos. Mittlerweile hatten sich Blitz und Donner verzogen und es regnete in Strömen. Die Orks waren in panischer Flucht verschwunden. Währenddessen bildeten die Überlebenden aus Leahs Truppe einen Halbkreis um die blonde Priesterin.

»Gepriesen sei die blitzschleudernde Schwester Leah«, rief plötzlich ein älterer Soldat, der aus einer Wunde am Hals blutete, und sank huldigend vor Leah auf die Knie.

Alle, wirklich alle Anwesenden, folgten dem Beispiel und gingen lobpreisend auf die Knie.

Leah war das nicht nur unangenehm, sie ärgerte sich sogar über das ganze Brimborium. »Was soll der Blödsinn?«, schnauzte sie. »Betet im Tempel zu den Zehn, aber nicht hier im Wald zu einer einfachen Frau wie mir. Alle aufstehen, sofort!«

Alle Männer und Frauen folgten Leahs Befehl, standen auf und schienen auf weitere Anweisungen oder gar eine Rede zu warten. Mittlerweile waren alle klatschnass vom heftigen Sturzregen.

»Steht nicht rum wie die Statuen. Spannt ein paar Zeltplanen gegen den kalten Regen. Viele tapfere Soldaten sollen schon an einer schnöden Lungenentzündung gestorben sein. Und als Erstes werden die Verwundeten versorgt. Dann unsere Toten begraben – die Orks werden verbrannt. Hurtig!«

Vjarne klopfte der Priesterin frech grinsend auf die Schulter. »Ob du es willst oder nicht, Schwester Leah: Du bist jetzt eine lebende Legende, spätestens jetzt.«

Leah wusste nicht, ob es ein freundliches Kompliment oder ein Scherz sein sollte. Das war ihr in diesem Moment aber auch egal. Sie beugte sich hinunter zu einem alten Söldner, dem auch der beste Heiler nicht mehr würde helfen können.

Der erfahrene Kämpfer mit dem wettergegerbten Gesicht mochte fünfzig oder sechzig Jahre alt sein. Obwohl ihm die Eingeweide aus einer Wunde am Bauch quollen, verzog er kaum eine Miene.

Leah schluckte, während sie die richtigen Worte suchte. »Soldat, du bist im Kampf für deine Göttin gefallen. Der Fährmann wird dich in die Hohen Himmel bringen, wo du gemeinsam mit den Göttern speisen wirst, das ist gewiss.«

Der alte Kämpfer packte Leah mit einer Hand am Hinterkopf und zog sie noch näher zu sich heran. Seine Lippen berührten fast ihr Ohr, als er seine letzten Worte hauchte. »Schöner Mist, dass ich schon gehen muss … jetzt könnten wir doch jeden einzelnen Soldaten brauchen … gerade jetzt, wo der Krieg begonnen hat …« Er röchelte, wurde immer leiser. »Aber für dich diene ... und sterbe ich gerne, Schwester Leah ... du musst leben ... du bist wie der leuchtende Blitz, mit dem die Herrin Valiana ihre Feinde straft ...«

J.d.K. 987, einundzwanzigster Tag im elften Mondzyklus, Ewiges Eis

 

Irina lächelte, während sie durch den knietiefen Schnee stampfte. Der kalte Nordwind wehte immer noch unerbittlich, aber zum Glück hatten sie und ihre treuen Gefährten den eisigen Wind im Rücken und nicht im Gesicht.

Eigentlich war die junge Ysdariahnovizin sich darüber im Klaren, dass ihre gute Laune ziemlich unangebracht war. Mehr als die Hälfte ihrer Pferde waren auf der Rückreise bereits verhungert oder erfroren. Den Menschen – und dem Zwerg – wäre es wohl ähnlich ergangen, wenn da nicht der sogenannte Beutel der einhundert Brote gewesen wäre. Dieses ganz besondere Artefakt in Geros Besitz war ein Geschenk der Ahlonkirche. In diesem kleinen Lederbeutel befanden sich auf wundersame Weise tatsächlich einhundert stets köstlich duftende und handwarme Brotlaibe. Doch auch dieser Vorrat neigte sich seinem Ende entgegen. Somit war die Rückkehr der kleinen Expedition doch zumindest fraglich und außerdem würde man sie gewiss nicht wie Helden empfangen, da sie den Stein der Ysdariah an einen Magier verloren hatten, der angeblich dem geheimnisumwitterten Rat der Grauen angehörte.

Der Grund für Irinas unverschämt gute Laune war einzig der breitschultrige, schwarzhaarige und stets Fröhlichkeit versprühende Gero Grünfels. Für mehr an Romantik als für einen Kuss war bisher leider noch keine Gelegenheit gewesen. Aber Irina war sich trotzdem sicher, dass sie und Gero, der legendäre Held aus den alten Prophezeiungen, der sich jede Frau aussuchen könnte, ein Liebespaar waren.

Bei jeder Gelegenheit gingen sie Hand in Hand und trotzten gemeinsam den Widrigkeiten des Schicksals. Sie liebte es einfach, mit Gero zu scherzen, und so ertrugen sie auch gemeinsam den einen oder anderen missgünstigen Blick aus der Gruppe der Gefährten.

Sanft wischte Gero ihr plötzlich eine einzelne Schneeflocke von der Nase. »Schau, Irina, die erste Schneeflocke des Tages. Ich glaube, das Wetter wird langsam besser. Ob wir bald im Süden sind?«

Die Ysdariahgeweihte konnte ein heftiges Schmunzeln nicht unterdrücken. »Unser Weg ist noch weit. Aber wenn es der Wille von Ysdariah, der Göttin des Eises, wäre, dass wir erfrieren, dann wären wir längst erfroren. Wir werden es bis nach Borburg schaffen, das spüre ich ganz tief im Grunde meines Herzens. Man braucht uns, ... nein, man braucht dich dort, Gero.«

J.d.K. 987, vierundzwanzigster Tag im elften Mondzyklus, in der Nähe einer kleinen Felseninsel in den Weiten des westlichen Ozeans

 

 

Der Vorsitzende krallte sich mit den Händen so stark an der Reling fest, dass das Weiß seiner Knöchel hervortrat. Seine Augen waren starr auf die abgelegene Felseninsel fixiert, die sich langsam näherte. Die kalten Winterwinde peitschten ihm salziges Meerwasser ins Gesicht und zerrten heftig an seinem langen, grauen Bart.

Die letzten Tage hatten eine nie da gewesene Anstrengung für den Ratsvorsitzenden der Grauen dargestellt. Der Stein der Ysdariah war äußerst stur und unwillig, hatte ganz andere Pläne als die Grauen. Manch einer hätte von göttlicher Macht oder Schicksal gesprochen, aber der Vorsitzende dachte eher in Kategorien von Metamagie. Jedenfalls hatte die Macht des Steins, der auch Eisiger Fels genannt wurde, derart an seinen persönlichen Arkankräften gezerrt, dass er nur einen halben Tag in der Gestalt des Adlers hatte zurücklegen können. Der Rest seines Weges hatte aus mühevollen Fußwegen durch schneebedeckte Landschaften und einer ungemütlichen Schiffsreise bestanden.

Ysdariah, die Göttin der Härte, war stark, stur und dickköpfig. So war es auch ihr Stein, der nicht auf die Insel der Grauen gebracht werden wollte. Aber was wollte der Eisige Fels stattdessen?

Auf jeden Fall stand fest, dass dieses Artefakt brandgefährlich war. Ganz sicher gehörte dieser Stein der Götter weder in die Klauen der Diener S’zarozs noch in die Hände der weißen Schachspieler. Die Macht, die alle zehn Steine in Kombination hätten entfalten können, war geradezu unvorstellbar.

Wie die Grauen nun mit jenem machtvollen Artefakt umgehen würden, war dem Vorsitzenden in diesem Moment noch unklar. Er hatte verschiedene Ideen im Kopf, die noch ausgearbeitet werden mussten. Und bei solch wichtigen Entscheidungen war eine Diskussion in der Runde des Rates unabdingbar. Nicht umsonst besagte ein Sprichwort, dass der gemeinschaftliche Rat von mehreren Weisen der einsamen Entscheidung eines einzelnen klugen Mannes zumeist überlegen war.

Mittlerweile hatte das Schiff sich bereits soweit der Insel genähert, dass Hafenarbeiter und Matrosen in eine emsige Betriebsamkeit verfielen, um das Anlegen vorzubereiten. Den Vorsitzenden erinnerten diese Männer und Frauen an fleißige Ameisen oder an die kleinen Rädchen einer gut funktionierenden mechanischen Maschine. Dieses Bild gefiel ihm so gut, dass für einen Wimpernschlag die Andeutung eines Schmunzelns über sein Gesicht huschte.

 

 

 

KAPITEL II

 

 

J.d.K. 987, sechsundzwanzigster Tag im elften Mondzyklus, Ewiges Eis

 

Die noch verbliebenen Pferde hatten die letzten strapaziösen Tage der Wanderung nicht mehr überlebt. Vermutlich waren die entkräfteten Tiere schlicht und einfach verhungert, denn noch immer fand sich kein Gras unter der frostigen Eisdecke. Daher stapften die acht Helden nun zu Fuß südwärts durch die nicht enden wollende Schneewüste. Mittlerweile hatte jeder der Gefährten erkannt, dass Jammern und Lamentieren auch keine Lösung darstellten. So setzte Esme genau wie der Rest der kleinen Truppe schweigend einen Fuß vor den anderen.

Die Sonne war gerade dabei, im Westen hinter schneebedeckten Tannenwipfeln zu verschwinden, als Bruder Furlax ein Zeichen machte, anzuhalten. »Wir sollten jetzt unser Nachtlager aufschlagen.« Der Ysdariahpriester hatte eine kratzige Stimme und musste sich schwer räuspern – die Kälte machte sogar ihm zu schaffen. »Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Welche wollt ihr zuerst hören?«

»Die gute natürlich.« Geros Optimismus schien wie immer ungetrübt zu sein. »Nach einer guten Nachricht stört die schlechte gleich viel weniger.«

Esme und allen anderen Gefährten war es viel zu kalt für solche Späße. Daher war außer Zähneklappern keine weitere Meinung zu vernehmen.

Bruder Furlax räusperte sich erneut und rammte seinen Speer mit beiden Händen kraftvoll in den Boden. »Hier in diesen Breiten herrschen nur im Winter Eis und Schnee. Das Erdreich ist daher nur wenige Fingerbreit tief gefroren. Wir sollten also endlich ohne allzu große Mühen unsere Zelte aufbauen und verankern können – das ist gut.«

»Und was ist die schlechte Nachricht?«, wollte Esme wissen.

»Ab morgen führt unser Weg durch das Herrschaftsgebiet der Orkstämme, beziehungsweise des Dunklen Herrschers oder wer auch immer dort in diesen Zeiten das Sagen hat. Wir sollten also äußerst wachsam sein.«

Derio klopfte sich ein paar Schneeflocken aus dem langen, braunen Bart und ließ mit zusammengekniffenen Augen seinen Blick in alle Richtungen schweifen. »Ich werde meine astralen Kräfte regenerieren und schonen müssen. Ich rechne mit unliebsamen Überraschungen, wann genau und in welcher Form auch immer.«

»Dann schnell das Zeltlager aufbauen.« Esme verschwendete keine Zeit und machte sich sofort eifrig an die Arbeit.

Oft war Esmes Pessimismus zwar ein freundlicher Begleiter, der zu mehr Vorsicht und Wachsamkeit mahnte, aber im Moment wollte sie keine allzu düsteren Gedanken in ihrem Kopf haben. Daher meldete sie sich für alle anstrengenden und unerfreulichen Tätigkeiten freiwillig, was doch ein wenig willkommener Ablenkung bedeutete.

 

Alle hatten gemeinsam angepackt, so dass nach kurzer Zeit alle Zelte aufgebaut waren. Außerdem schützte ein provisorischer Rundwall aus Schnee das kleine Lager vor den kalten Winden.

Esme teilte sich diese Nacht ihr Zelt mit dem Surlaksgeweihten Valentin. Nur eine winzige Kerze aus Bienenwachs brannte und spendete den beiden Gefährten so ein wenig Licht in der Dunkelheit.

Der sympathische Novize hatte sich in alle ihm verfügbaren Decken und Felle gewickelt, so dass nur Teile seines Gesichts zu sehen waren. So sah er aus wie eine dicke fellige Raupe – eine Raupe mit blauen Lippen allerdings.

Esme musste an die kältesten Winterabende ihrer frühen Kindheit denken – an die längst vergangenen Jahre, bevor ihre Familie bei einem nächtlichen Orküberfall feige ermordet wurde. Man hatte sich die Zeit mit kleinen Spielen oder kurzweiligen Fragen vertrieben, bis man schließlich eingeschlafen war. »Sag mal, Valentin, was würdest du sagen, ist deine größte Schwäche?«, fragte sie aus einer spontanen Laune heraus.

»Meine größte Schwäche ist zugleich meine größte Stärke: schöne Frauen.« Valentin lachte. »Das hätte zumindest der Sandfuchs geantwortet.«

Esme musste fast ein wenig schmunzeln. »Und was würde der Surlaksnovize Valentin antworten?«

»Meine größte Schwäche ist vermutlich, dass der Geweihte Valentin sich selbst noch finden muss. Die größte Stärke ist, dass ich auf meinen Gott vertrauen kann, wenn es wirklich drauf ankommt. Abgesehen davon: Hoffentlich mögen mich schöne Frauen immer noch gut leiden – ich jedenfalls schätze die weibliche Schönheit noch genauso wie früher.«

Die Andeutung eines Lächelns huschte über Esmes Gesicht. »Mir zumindest ist der Geweihte wesentlich sympathischer als der Meisterdieb.«

Für einen Moment herrschte ein angenehmes, geradezu vertrautes Schweigen. Nur der kalte Nachtwind heulte unruhig um Schneewall und Zelte herum.

Valentin betrachtete die Kriegerin mit großen braunen Augen voll von ehrlichem Interesse. »Und was ist mit dir, Esme, wo fühlst du dich stark oder schwach?«

»Göttervertrauen ist meine Stärke. Viele würden mich furchtlos nennen, aber das stimmt nicht – ich vertraue einfach nur. Meine größte Schwäche ist eigentlich viel zu offensichtlich: Diese unbändige Freude am Leben, Geros allzeit fröhliche Art, diese positive Energie … so empfinde ich nicht. Ich tue die Dinge aus der Notwendigkeit heraus. Wenn Geros Lebensfreude ein riesiges Feuer ist, habe ich eine kleine Kerze. Das hat alles seine Gründe, aber es wäre besser, wenn es anders wäre, oder?«

»Nein, es ist gut so, wie es ist.« Valentins Lächeln war voller Ehrlichkeit und kraftvoll. »Eine nahe Kerze kann mehr Licht und Wärme spenden als ein fernes Feuer. Außerdem wäre die Welt äußerst fad und langweilig, wenn alle Menschen Geros Gemüt teilen würden.«

»Ich vermute, du hast Recht, Valentin«, murmelte Esme müde und unterdrückte dabei ein Gähnen. »Es ist ja auch letztlich deine Berufung als Geweihter, Recht zu haben, genau wie es meine Berufung als Kriegerin ist, für die Zehn auf dem Schlachtfeld zu stehen.«

Jetzt wurde auch Valentin müde. Allerdings musste der Geweihte zeitgleich gähnen und lachen. »So habe ich das bisher noch nicht gesehen. Aber ich bin ja auch erst seit sehr kurzer Zeit geweihter Novize.«

»Ich sehe, wir sind beide müde und der Tag morgen wird wieder eiskalt und anstrengend werden. Wir sollten jetzt ein wenig schlafen. Gute Nacht, Valentin.«

»Gute Nacht, Esme. Ich wünsche dir schöne Träume. Mögen die zehn Götter über deinen Schlaf wachen.«

Esme pustete die kleine Kerze aus und auf einen Schlag war es stockfinster im Zelt.

Es war tatsächlich nur wenige Mondzyklen her, dass Esme und Valentin sich kennengelernt hatten. Dennoch war da mittlerweile eine Vertrautheit ganz so, als ob sie sich schon eine halbe Ewigkeit kennen würden.

Anfangs hatte Esme den doch etwas überheblichen Meisterdieb namens Sandfuchs nicht wirklich leiden können. Doch der warmherzige Surlaksgeweihte Valentin entpuppte sich Tag für Tag als angenehmere Gesellschaft. Verbrachte Esme ihre spärliche freie Zeit mittlerweile lieber mit Valentin als mit Derio oder Gero, obwohl auch die beiden sehr treue Freunde und stets tapfere Gefährten waren?

Esme schloss leise gähnend die Augen. Die Kriegerin war an diesem Abend viel zu müde, um über derlei Nebensächlichkeiten nachzudenken.

J.d.K. 987, erster Tag im zwölften Mondzyklus, westlicher Teil des Orkgebiets

 

Marlia versuchte, die Schmerzen mit einer Bewegung abzuschütteln. Es ging nicht. Ihre Arme und Beine waren genau wie ihr Kopf mit rostigen Eisenketten an einer kalten Steinwand fixiert. Der Schmerz war nicht einfach nur ein dunkler Vorhang. Der Schmerz war ein schier allmächtiger und alles durchdringender Nebel. Warum lebte sie eigentlich immer noch?

Marlia öffnete ihr rechtes Auge – das linke war vollends zugeschwollen – und versuchte, sich zu fokussieren. Sie war Marlia von Arikor, geweihte Priesterin des Kriegsgottes Marlox. Sie befand sich mitten im Orkgebiet in einem Turm der Schmerzen. So nannte man die Gefängnis- und Foltertürme der von S’zaroz erschaffenen Kreaturen.

Die Marloxpriesterin versuchte, irgendeine Erinnerung zu greifen. Nichts relevantes, kein Geheimnis, denn das würde ihren Folterknecht nur allzu brennend interessieren. Sie suchte nach der letzten normalen, harmlosen Erinnerung, bevor sie und ihre kleine Truppe die Grenze zu den Ländereien der Orks überschritten hatten. Es war Wochen und Monate oder vielleicht sogar Jahre her. Marlia hatte anfangs noch versucht, die Tage zu zählen, aber die stete Folter und die Dunkelheit in ihrer Zelle hatten zumindest ihr Zeitgefühl zertrümmert. Der Schein einer Fackel im Vorraum, der kaum merklich unter ihrer Zellentür hindurchschimmerte, war die einzige Lichtquelle. Mond, Sterne oder gar die Sonne hatte Marlia schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Langsam kam die gesuchte Erinnerung unter dem Schleier der Schmerzen zum Vorschein: Sie und ihre Mitstreiter hatten drei Abenteurer getroffen. Zwei Krieger und ein Magier: Gero, Esme und Derio. Mit deren Hilfe hätte Marlias waghalsige Expedition möglicherweise einen weniger fatalen Ausgang genommen. Aber die drei Gefährten hatten eine wichtige Mission gehabt, die keinen Aufschub duldete – hoffentlich hatten die Drei wenigstens Erfolg gehabt.

Unerwartet wurde die Tür aufgestoßen und Marlias orkischer Folterknecht betrat den Raum. Wegen der schiefen und verschieden großen Ohren nannte sie ihn in Gedanken nur Schiefohr. Seinen wirklichen Namen kannte sie nicht. Andere Orks oder gar Menschen hatte sie niemals zu Gesicht bekommen – immer nur Schiefohr.

Die Marloxpriesterin musste sich eingestehen, dass die Anwesenheit von Schiefohr ihr auf eine absurde Art und Weise eine gewisse angenehme Abwechslung war. Seine Gesellschaft war zwar zumeist mit bohrenden Fragen und Schmerzen verbunden, aber immerhin war es überhaupt eine Gesellschaft und eine Art von Konversation. Außerdem hatte er sie mehr oder weniger regelmäßig mit Essen und Trinken versorgt und ihre schlimmsten Wunden behandelt. Heute schien Schiefohr allerbester Laune zu sein. Ein hämisches Grinsen zog sich über sein grünes Gesicht. »Heute wirst‘ reden! Menschlein!«

»Wir plaudern doch eigentlich jeden Tag, oder?«, entgegnete Marlia provokant. Die Antwort war ein Faustschlag ins Gesicht. Marlia spuckte rotes Blut. Wie oft konnte ein Wangenknochen eigentlich brechen?

»Nicht ist jeder Tag.« Der Ork grunzte zufrieden. »Magier meint immer: Vorsichtig mit Menschlein. Mensch niemals kaputt gehen. Aber ... heute anders.«

»Ach, ja?« Viel mehr als ein heiseres Krächzen brachte Marlia nicht hervor. Nach der regelmäßigen Qual der letzten Tage und Wochen schien sich jetzt etwas Neues zu ergeben.

Schiefohr entblößte mit einem garstigen Lachen schwarz-gelbe, faulige Zähne. »Ja. Jetzt die Informationen wichtiger. Möglichst Mensch nicht kaputt. Sehen wir, ob möglich …«

»Niemals werde ich Kaiser und Kirche verraten«, brachte Marlia mühevoll hervor. Lieber würde sie sterben.

Als Antwort zog der orkische Foltermeister einen Dolch aus schwarzem Stahl hinter seinem Rücken hervor. Die Waffe war alles andere als ein gewöhnliches Messer, das spürte Marlia sofort. Der Griff erinnerte an den Kopf einer heimtückischen Schlange. Blutrote Rubine waren als Augen eingelassen. Das endlose Schwarz der Klinge schien jedweden positiven Gedanken und den allerletzten Rest von Lebensfreude aus dem Raum zu vertreiben. Unwillkürlich bildete sich eine Gänsehaut am gesamten Körper der Marloxgeweihten.

»Heiliger Dolch. Hohepriester gab ihn. Essenz aus Furcht, Dunkelheit, sehr viel Schmerz. Mensch lernt jetzt: Schmerzen. Letzten Tage, Wochen: schöner Traum im Vergleich.« Schiefohr trat nur einen einzigen Schritt näher, langsam, genüsslich und siegessicher.

Marlia spürte, wie ihr Körper mit massiven Wellen des Unbehagens auf die Präsenz der unheiligen Waffe reagierte. Ihre Muskeln krampften und kämpften vergeblich gegen die schweren Eisenketten. Ihr Magen rebellierte, sie spuckte Blut und Galle.

Der hämisch grinsende Ork trat noch einen Schritt näher und genoss die Macht der Waffe.

Marlia hatte sich an Schmerzen gewöhnt, sie waren fast schon zu treuen Begleitern geworden. Aber das, was jetzt drohte, war von einer ganz anderen Dimension.

Sie wusste, dass sie an diesem Tag zum ersten Mal vor Schmerzen schreien würde und dass sie vermutlich sterben würde. Ersteres so spät wie möglich, wenn Marlox noch mit ihr war. Letzteres hoffentlich bald, wenn Vurunus gnädig zu ihr war.

Der orkische Foltermeister war jetzt so nah herangetreten, dass sie seinen stinkenden Atem riechen konnte. Nun ritzte ihr Schiefohr mit dem Dolch vorsichtig, fast schon liebevoll, einen eher kleinen Schnitt in die Wange.

Bei einem gewöhnlichen Dolch wäre der nun folgende Schmerz kaum eine Erwähnung wert gewesen, aber das hier war anders: Zunächst war es so, als ob hunderte giftige Vipern ihre Zähne in die Wunde gerammt hätten. Dann schien es der Marloxgeweihten so, als ob tausende garstige Ameisen durch den Schnitt in sie hineinkrabbeln würden, um sich nun in ihrem ganzen Körper auszubreiten.

Marlia biss die Zähne zusammen und schrie nicht – noch nicht. Sie hoffte, dass der gnädige Nebel der Bewusstlosigkeit sie erlösen würde, bevor der erste Schrei über ihre Lippen kommen würde.

J.d.K. 987, erster Tag im zwölften Mondzyklus, westlicher Teil des Orkgebiets

 

Derio fröstelte und widerstand zum wiederholten Male der Versuchung, sich mit einem Zauber etwas zusätzliche Wärme zu erschaffen. Einerseits wäre das seinen Gefährten gegenüber unfair und außerdem würde der Adept aus Nordwacht seine arkanen Kräfte höchstwahrscheinlich bald noch dringender brauchen.

Derio und seine Gefährten befanden sich mitten im Orkgebiet und so war höchste Wachsamkeit geboten. In jedem kleinen Nadelwäldchen und hinter jedem schneebedeckten Hügel könnte ein Hinterhalt des Feindes lauern. Immerhin war der Himmel an diesem Tag ebenso klar, wie die Luft kalt war und es war auch kein Schneesturm zu erwarten. So war es eher unwahrscheinlich, zufällig in ein Heereslager der Orks zu stolpern.

»Was ist das eigentlich für ein seltsamer Turm im Osten? Der sieht auf die Entfernung aus wie ein riesiger schwarzer Speer.« Es war Gero, der mit seiner Frage die angespannte Stille unterbrach.

Bruder Furlax blieb stehen und klopfte sich bei dieser Gelegenheit einige Eiskristalle aus seinen Bart. »Im Volksmund nennt man diese Bauwerke Türme der Schmerzen. Sie dienen den Orks einerseits als kleine Außenposten, aber hauptsächlich sind es Gefängnistürme – eigentlich ist Foltertürme wohl der passendere Begriff. Kaum jemand entkommt ihnen je lebend.«

Derio spürte, wie ihm ein dunkler Schauder über den Rücken lief. Sicherlich hatte er während seines Studiums an der Akademie in Nordwacht viel über die Reiche der Orks und Schwarzmagier gelesen. Aber so ein Bauwerk mit eigenen Augen zu sehen, darüber nachzudenken und seine Präsenz zu spüren, war noch etwas ganz anderes.

»Habt ihr das auch gehört?«, fragte Gero nach einer Weile. »Brüllt in dem Turm ein kleiner Dämon oder gar ein Drache?«

»Ich befürchte nicht«, beantwortete Leondra die Frage des jungen Kriegers mit heiserer Stimme. »Ich habe solche Schreie leider schon viel zu oft gehört. Das sind Schmerzensschreie, menschliche ...«

Bruder Furlax seufzte schwer. »Wir sollten für die arme Seele beten und unseren Weg fortsetzen. Alles andere wäre eine Verrücktheit.«

»Nein!« Geros Blick war ebenso widerspenstig wie mutig – so kannte Derio seinen Freund noch gar nicht. »Ich weiß nicht, wie ihr dazu steht, aber in diesem Turm wird ein Mensch gefoltert. Er oder sie ist noch am Leben. Also werde ich gehen und helfen – egal wie viele Orkschädel mein Streithammer zertrümmern muss. Egal, ob es vielleicht riskant ist.«

»So einfach können wir es uns nicht machen«, brummte Furlax Eisfels. »Wir haben Befehle von den zehn Kirchen. Dort steht, dass deine Rückkehr prioritär ist, Gero. Das heißt wichtiger als alles andere.«

Derio musste einen besonders waghalsigen oder auch dummen Tag haben, denn er glaubte selbst kaum, wie vehement er seinen Freund zur Seite sprang. »Aber da Gero ein freier Mann ist und nicht als Geweihter einer Kirche eidgebunden, muss er diesen Befehlen doch nicht Folge leisten. Oder gibt es ein weltliches oder göttliches Gesetz, welches dies verlangt?«

Bruder Furlax blickte resigniert in die Runde. »Nur das universelle Gebot der Vernunft und Logik, aber kein Gesetz im eigentlichen Sinne.«

»Dann ist die Sache klar«, stellte Leondra in kühler Sachlichkeit fest. »Gero hat seine Entscheidung für sich getroffen. Alle anderen werden an seiner Seite stehen, auf dass der Schmied wohlbehalten nach Borburg zurückkehren wird.«

 

Nach etwa zwei Stunden Fußmarsch hatten die Gefährten sich dem Turm fast auf Bogenschussweite genähert. Derio bedauerte mittlerweile seinen Anflug von waghalsiger Kühnheit. Aus der Nähe wirkte das pechschwarze Bauwerk noch einmal wesentlich bedrohlicher – wie ein dunkler Stachel des Bösen im unschuldigen Leib des schönen Kontinents Solandien.

Die Schreie waren bereits vor einer knappen Stunde verstummt, aber Gero hatte sich auch davon nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen. Möglicherweise war der oder die Gefangene ja noch am Leben.

»Sie müssen uns doch schon längst gesehen haben?«, fragte Derio unsicher in die Runde. »Warum schickt man uns keinen Trupp entgegen oder macht ... irgendetwas?«

Leondras Augen verengten sich zu Schlitzen, während ihre Stirn skeptische Falten zeigte. »Die Grünhäute warten ab. Sie fühlen sich stark und sicher. Ganz so wie eine Katze, die auf eine Maus wartet.«

Besorgt betrachtete Derio die zahlreichen Schießscharten für Langbögen und Armbrüste in den schwarzen Mauern des Turmes. Man könnte ihn und seine Gefährten im richtigen Zeitpunkt geradezu durchlöchern.

Der Adept aus Nordwacht holte tief Luft, schloss die Augen und konzentrierte sich. »Scutor adverx sagor«, grummelte er schließlich zornig in seinen Bart. »Zumindest kommt die Maus nicht völlig unvorbereitet. Einige Dutzend Pfeile oder Armbrustbolzen kann mein Arkangeflecht sicherlich abhalten. Für alles Weitere werden wir etwas anderes brauchen.«

Bruder Furlax hatte die Hände zum Gebet gefaltet. »Möge Ysdariah Derios Zauber die notwendige Härte verleihen.«

»Und möge Marlox unsere Klingen schärfen.« Wie zur Bekräftigung zog Schwester Leondra ihr schweres Zweihandschwert. »Und jetzt im Laufschritt zum Turm. Zeigen wir den Dienern des Bösen, dass wir keine Maus, sondern ein Bär sind.«

 

Als sie endlich am Fuße des Turms der Schmerzen angekommen waren, hämmerte Derios Herz wie wild in seiner Brust. Dies war aber nur zum Teil dem durchaus schnellen Tempo geschuldet. Hauptsächlich war er unruhig, weil bisher einfach gar nichts passiert war. Der Magier aus Nordwacht schluckte einmal trocken, riss sich aber ansonsten zusammen und blieb einfach wachsam.

Das Bauwerk wirkte auch aus der Nähe furchteinflößend – ganz so, als ob die schwarzen Steine lebendig und tot zugleich wären.

Derios Neugier war im Moment allerdings stärker, so dass er vorsichtig seine Hand auf das Mauerwerk legte. Der Stein fühlte sich rau und kalt an. Hier war irgendwo ein astrales Gewebe, feine magische Fäden, aber nicht in den Mauern.

Während Derio noch darüber nachdachte, was genau das zu bedeuten hätte, hatte Leondra bereits mutig ihre Hände auf die schweren, schmiedeeisernen Flügeltüren gelegt.

Mit einem leisen Knirschen und Quietschen öffnete sich das Eingangsportal. »Hereinspaziert ...« Die Marloxgeweihte lachte grimmig. »Die Diener S’zarozs haben sich scheinbar irgendwo versteckt. Dem Schwert der Gerechtigkeit werden sie allerdings nicht entkommen.«

Zusammen mit dem Rest der Gefährten betrat Derio langsam das Erdgeschoß des kleinen Turmes. Auch hier sah es nicht einladender aus als draußen. Die schwarzen Steine der dicken Mauern schienen Licht und Wärme geradezu zu verschlucken. Eine Handvoll fast erloschener Fackeln spendete mehr Ruß als Helligkeit. Einige morsche Holzkisten standen im Vorraum herum. Ansonsten waren da nur noch zwei Wendeltreppen: Eine führte in den Keller und eine in die oberen Stockwerke.

»Macht euch kampfbereit«, zischte Gero urplötzlich. »Irgendetwas stinkt hier ...«

Derio war sich nicht sicher, ob der junge Krieger das vielleicht sogar wortwörtlich meinte. In der Tat strömte ein unangenehmer Geruch von Blut, Moder und Verwesung aus Richtung der eisernen Treppen.

Und natürlich hatte Derio es geahnt. Was sich anfühlt wie eine Falle und riecht wie eine Falle, ist auch meistens eine Falle. Mit einem geradezu dämonischen Kreischen schlossen sich die eisernen Flügeltüren des dunklen Turmes hinter ihm und seinen Gefährten. Noch im selben Atemzug stürmte ein Dutzend kampfbereiter Orks wütend aus dem Keller herauf. Gleichzeitig jagten ebensoviele der grünhäutigen Kreaturen die Wendeltreppe herunter.

Solange die schwarzblütigen Monster keinen Hexenmeister oder Priester S’zaroz auf ihrer Seite hätten, standen die Chancen trotzdem noch gut für Derio und seine Freunde. Um das gleich klarzustellen, zischte er eine wütende Formel in der alten Sprache der Magier und wirbelte seinen Magierstab durch die Luft. »Ignor adverx malo!«

Er hatte seine arkanen Kräfte exakt dosiert, so dass zwei faustgroße Feuerbälle auf die Anführer der beiden Orktrupps zurasten. Die hässlichen Schädel der beiden Kreaturen wurden innerhalb eines Wimpernschlages von den magischen Energien pulverisiert.

Doch leider waren die übrigen Orks zu kampferfahren, um sich davon einschüchtern zu lassen. Sie sprangen mit gezogenen Schwertern und Äxten über die leblosen Körper hinweg und das blutige Scharmützel begann.

Derio sah sich einem besonders garstigen Exemplar mit Breitschwert gegenüber. Der Ork fackelte nicht lange und setzte sofort zum ersten Schlag an.

Der Adept aus Nordwacht tänzelte einen Schritt zurück und setzte gleichzeitig die Macht seines Magierstabs ein, um ihm die Manifestation eines Schwertes zu geben.

Die Überraschung des Orkkriegers nutzte Derio, um diesem einen gut gezielten Stich ins linke Bein zu verpassen.

Der Ork war erstaunlich hart im Nehmen. Er blutete und keuchte zwar, aber hielt sich trotzdem noch wacker auf den Beinen. Er schaffte es sogar, Derio mit einigen zornigen Attacken in echte Bedrängnis zu bringen.

Den letzten Schwerthieb konnte Derio nur im allerletzten Moment parieren. »So nicht«, knurrte der Magier zornig. Er sammelte seine arkanen Kräfte und murmelte hastig eine Formel in seinen Bart.

Kaum einen Wimpernschlag später war die gesamte Klinge des Schwertes des Adepten von kleinen, hungrigen Flammen umspielt.

Derio ließ die Flammen in Form eines Schwertes niederfahren und einen Angriff in Hüfthöhe seines Kontrahenten ausführen.

Offensichtlich hatte der Ork noch nie gegen einen Absolventen der Akademie des flammenden Schwertes gefochten, denn er reagierte genau falsch. Er senkte sein Breitschwert, wie um die Flammen zu parieren.

Derio ergriff die Gelegenheit, um einen gut gezielten Schlag gegen den Hals seines Gegenübers auszuführen. Bis auf ein paar letzte Sehnen schaffte der Magier es, den Kopf des Orks vom Rumpf zu trennen – Marlox sei Dank.

Das schwarze Blut spritzte in einer unappetitlichen Fontäne in die Höhe und der Körper des Orks fiel noch im selben Atemzug zu Boden. Derio nutzte die Gelegenheit, um sich einen kurzen Überblick über das Kampfgeschehen zu verschaffen.

Irina und Furlax standen im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Rücken zur Wand und hatten bereits einiges einstecken müssen. Gero wütete wie ein Berserker, aber auch die Orks waren hart im Nehmen. Esme teilte mit stoischer Miene aus und schaffte es dabei, zwei Gegner gleichzeitig in Schach zu halten. Leondra machte in dem Gemetzel die beste Figur und schien sogar fast schon Spaß an der Sache zu haben. Der Zwerg Turak war aufgrund seiner Körpergröße in dem Gemenge nicht zu erkennen.

Derio beschloss, Bruder Furlax beizuspringen. Der Adept aus Nordwacht machte zwei Hechtsprünge durchs Getümmel und rammte einem der axtschwingenden Orkkrieger mit aller Kraft sein Schwert in den Rücken.

Erneut spritzte pechschwarzes Blut, während der Ork langsam zu Boden sank. Das war gut, aber leider nicht ausreichend, denn für jeden gefallenen Ork schienen zwei neue herbeizustürmen.

»Danke«, keuchte Furlax Eisfels, während er sich schon gegen den nächsten Gegner wehren musste.

Auch Derio sah sich plötzlich mit zwei Orks gleichzeitig konfrontiert. Er hob sein Schwert zur Parade und sammelte seine verbliebenen arkanen Kräfte für die notwendigen Schutzzauber.

»Bei S’zaroz und Marlox! Einhalten!« Die beeindruckend tiefe Stimme eines Orks hallte von den Wänden wieder.

Derio hatte noch nie gehört, wie der Gott der Dunkelheit und Schmerzen zusammen mit dem Gott der Tapferkeit und Kriegskunst so in einem Satz genannt wurde. Verblüfft blickte er sich um und suchte die Quelle der Stimme.

Auch seinen Gefährten und den Orks ging es vermutlich ähnlich. Alle hatten die Kampfhandlungen vorerst eingestellt und blickten in dieselbe Richtung.

Der Ork, der soeben gesprochen hatte, sah irgendwie anders aus als seine Artgenossen. Am auffälligsten waren da seine Ohren, die verschieden groß und schief zugleich waren – Segelohren wäre noch eine zu freundliche Bezeichnung gewesen. Außerdem trug das Grüngesicht als einziger eine Art schwarze Kutte über seiner Rüstung.

»Weiß, wovon ich rede«, grollte der Ork mit den hässlichen Ohren. »Großvater betete zu Marlox. Heutzutage jeder zu S’zaroz. Jeder, der schlau ist. Wir können abkürzen.« Er machte eine allumfassende Geste mit seinem Schwert. »Das alles hier. Marloxens Diener lieben Zweikampf. Oder?«

Leondra musterte den Wortführer der Orks mit einem skeptischen Blick ihrer braunen Augen. »Ein Zweikampf, ein faires Duell, bedeutet Tapferkeit, Ehre und Wahrhaftigkeit. Ich werde einem Diener S’zarozs niemals trauen, aber ich stelle mich jedem Zweikampf. Wenn ich gewinne, fordere ich den Gefangenen.«

Der Ork grinste hämisch und zeigte dabei, dass seine Zähne mindestens genauso schief waren wie seine Ohren. »So ist es. Aber ich gewinnen. Dann deine Gefährten meine Gefangenen.«

»Das gefällt mir nicht«, brummte Derio leise. Dennoch vertraute er auf die Erfahrung von Schwester Leondra. Die Marloxpriesterin würde hoffentlich wissen, was das Beste war. Und ein Duell wäre in der Tat ein eleganter Ausweg aus der vertrackten Situation. Immerhin war der Ork kein Hexenmeister, das hätte Derio anhand von feinen astralen Fäden gespürt.

»Wir streiten nur mit den Waffen, die wir bei uns tragen und solange wir uns duellieren, greift niemand in das Kampfgeschehen ein«, stellte Schwester Leondra mit feierlichem Ernst fest.

»Ist gut.« Der Ork knurrt. »Kreis bilden!«

Schnell hatte sich ein Kreis im Erdgeschoss des düsteren Turmes gebildet. Derio stand direkt neben Irina und Turak, die beide aus kleineren Schnittwunden bluteten, aber sich recht wacker gehalten hatten. Insgesamt bildeten die sieben Gefährten höchstens ein Viertel des Kreises. Der Rest bestand aus Orkkriegern, die ebenso garstig wie erwartungsfroh in die Mitte blickten.

Dort umkreisten sich Schwester Leondra und der Ork in der schwarzen Kutte vorsichtig. Das brünette Haar der Priesterin war, obwohl es zu einem schlichten Zopf gebunden war, mit Orkblut, Schweiß und Dreck verklebt. Die drei Narben auf ihrer Stirn zeugten davon, dass sie schon so manches Duell erfolgreich überstanden hatte.

Mit dem Ork stimmte irgendetwas nicht, aber Derio konnte immer noch nicht fassen, was genau.

Die Marloxpriesterin führte den ersten Schlag aus. Sie ließ ihr schweres Zweihandschwert auf den hässlichen Ork niedersausen.

Aber auch Leondras Gegner war ein leidlich guter Kämpfer. Er hob sein Schwert zur Parade und Stahl krachte auf Stahl.

Jetzt führte der Diener S’zarozs seine Attacke aus und schwang sein Schwert mit einer Schnelligkeit, die Derio ihm vorher nicht zugetraut hatte.

Leondra war jedoch in keinster Weise überrascht und wich dem Hieb mit einer eleganten, fast tänzelnden Bewegung aus. Diese Gelegenheit nutzte die Priesterin, um dem Ork mit einer geschickten Drehung ihr Schwert in den Rücken zu schlagen.

Damit hatte die grünhäutige Kreatur nicht gerechnet. Die schwarze Robe war zerfetzt, zahlreiche Ketten der orkischen Kettenrüstung waren gesprengt und sogar pechschwarzes Blut war zu erkennen.

Der Ork knurrte vor Schmerz und Wut, während er einige Schritte Abstand zwischen sich und Leondra brachte. »Drecksmensch, stinkender! Dann anders!« Mit diesen Worten schleuderte er sein Schwert zu Boden, zur Überraschung aller Umstehenden.

Noch im selben Moment hatte der Diener S’zarozs einen unter seiner Kutte versteckten Dolch gezogen. Allerdings war es alles andere als ein gewöhnlicher Dolch. Der Stahl der Klinge war tiefschwarz und glänzte hungrig. Der Griff hatte die Anmutung einer giftigen Schlange, was umso bedrohlicher wirkte, da tiefrot funkelnde Rubine als Augen eingearbeitet worden waren.