Göttertochter - Eleanor Herman - E-Book

Göttertochter E-Book

Eleanor Herman

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Beschreibung

Du gewinnst keine Kriege, ohne andere zurückzulassen. Und Freundschaft ist nichts,was alles verzeiht. Wie der dicke Rauch eines Schwelbrandes liegt Krieg über dem Reich. Alex hat seine erste Schlacht mit Hilfe von Kats Blutmagie gewonnen. Doch erst nach einer öffentlichen Hinrichtung erkennt der Rat ihn als Herrscher an. Er ahnt nicht, dass seine Familie bereit ist, seine engsten Vertrauten aus dem Weg zu räumen, um die eigenen Interessen durchzubringen. Und dass er den Menschen, der ihn töten soll, längst viel zu nah an sich herangelassen hat. Während Kat weiter versucht, den Mord an ihrer Mutter zu rächen, gerät sie selbst in höchste Gefahr, denn es gibt einen Menschen, für den sie tot mehr wert ist als lebendig. Wie mächtig ist Alexander wirklich – und wie grausam muss er sein, um Respekt zu gewinnen? Was ist am Ende stärker? Das Schicksal? Dein Herz? Oder deine Feinde?

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Seitenzahl: 610

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Eleanor Herman

Royal Blood – Göttertochter

Roman

Aus dem Amerikanischen

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Erster Akt GefangenKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Zweiter Akt Auf der FluchtKapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Dritter Akt VerschwörerKapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Vierter Akt Die VerfluchtenKapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Fünfter Akt WiedererwecktKapitel 27Kapitel 28Kapitel 29DankNachwort

Für meinen Stiefsohn Sam Dyment und seine Neuvermählte, Crisy Meschieri Dyment. Möge eure Ehe immer ein zauberhaftes Abenteuer bleiben.

Erster AktGefangen

Aus dem tiefsten Verlangen entsteht oft der tödlichste Hass.

Sokrates

Kapitel 1

Blätter rascheln. Äste knacken.

Der Wind trägt das leise Klimpern kleiner Glöckchen und Zimbeln an ihr Ohr. Olympias – Königin von Makedonien, Mutter des Prinzregenten Alexander – weiß, dass sie ihrem Ziel ganz nahe ist.

Entschlossenen Schrittes geht sie weiter, vorbei an den Bäumen am Heiligen Pfad – auf dem Pferde verboten sind –, und das, obwohl ihre Beine von dem stundenlangen Ritt weh tun und ein dumpfer Schmerz in ihrem Rücken pocht. Sie braucht Antworten.

Endlich erblickt sie auf der Lichtung vor ihr die Heilige Eiche, einen Baum, der bereits uralt war, als Troja brannte. Seine mächtigen unteren Äste, so massig wie der Körper eines erwachsenen Mannes, grau und knorrig, berühren den Boden, um sich an den Enden wieder emporzuwinden.

Die Nachmittagsluft ist warm und stickig, Schweißtropfen rinnen ihr den Nacken hinunter. Ihre langen silberblonden Haare haben sich gelöst und wehen ihr ungebändigt ins Gesicht, wie früher, als sie noch jung war und sie sie am liebsten offen trug.

Vor einer Ewigkeit, an einem sommerlichen, von Vogelgezwitscher und Sonnenlicht erfüllten Nachmittag wie diesem, hat sie mit ihm hier gelegen, unter dem dichten, wispernden Geäst in seine starken Arme geschmiegt. Damals schlug ihr Herz noch mit der Kraft der Liebe, und sie glaubte fest, sie könne die Anwesenheit der Göttin spüren, die der Legende nach in der Eiche hauste. Jetzt ist ihr Puls nicht mehr als das Schlagen einer Trommel, das die Stunden, Monate, Jahre zählt, die sie bereits verloren hat. Die Leere in ihrem Leben nagt an ihren Organen wie das Arsen, vor dem sie sich fürchtet, seit sie Königin wurde. Denn bekanntlich ist Arsen der König unter den Giften, ein Gift, das Könige tötet. Und Königinnen.

Wieder einmal spürt sie den unersättlichen Hunger in sich aufsteigen – das dringende Verlangen nach etwas, irgendetwas, das dieser Qual ein Ende bereitet. Zuzusehen, wie das Haus des Töpfers vor drei Tagen von Flammen verschlungen wurde – den Schreien der Familie zu lauschen, als die Wachen sie herauszerrten, hat ihren Tatendrang für ein paar wundervolle Stunden befriedigt … doch dann wurde das helle, warme Feuer ihrer Rache so kalt wie Asche.

Frustriert bahnt sie sich einen Weg in das Heiligtum des Baumes. Die Welt unter den Zweigen erinnert an eine riesige Villa, mit unzähligen Räumen auf vielen Stockwerken – allesamt vor langer Zeit verlassen –, die mit durchscheinenden grünen Vorhängen voneinander getrennt sind. Goldenes Licht fällt durch die Dutzenden fensterähnlichen Lücken im Geäst. Olympias geht zum Stamm der Eiche und streicht über die raue, knotige Rinde. Wie viele Krieger müssten mit ineinanderverschränkten Händen um den Stamm herumstehen, um ihn zu umspannen? Zwölf? Fünfzehn?

Eine tiefe Stimme lässt sie erschrocken zusammenfahren. »Ich habe Eure Nachricht erhalten, meine Königin.«

Fürst Bastian tritt hinter der Eiche hervor und verbeugt sich spöttisch vor ihr; nicht tief genug und viel zu schnell. Sie lässt ihren Blick über seine feurigen, dunklen Augen und seinen hochgewachsenen Körper gleiten – zu schade, dass er nicht die schwarze Lederuniform und den gehörnten Helm eines Aesarischen Fürsten trägt, auch wenn seine maulbeerfarbene Tunika seine straffen Muskeln durchaus zur Geltung bringt. Seine dunklen Haare hängen ihm in dichten Wellen über die Schultern.

Olympias tastet nach dem Dolch in ihrem Umhang und spürt seine scharfe Spitze. »Du hast die Schlacht überlebt«, stellt sie neckisch fest. »Meine Wachen berichteten mir, dass sich mein Sohn als General fabelhaft geschlagen hat.«

Die Narbe auf Bastians Wange zuckt leicht. »Ja. Eine beeindruckende Vorstellung, zweifellos. Allerdings bin ich nicht sicher, ob Alexander auch ohne die Hilfe dieses Mädchens den Sieg davongetragen hätte.«

Dieses Mädchens.

Olympias sollte dieser Göre dankbar sein, dass sie Alexander das Leben gerettet hat, aber sie spürt nur heißen Zorn durch ihre Adern pulsieren. »Meinen Botschaftern zufolge hat sie ein Katapult dazu benutzt, Eure Armee mit Amphoren voller Skorpione und Schlangen zu beschießen. Sie soll einen Hellion auf Euch losgelassen …«

Bastian schaudert und hebt eine Hand, um sie zu unterbrechen. »Kein Wort mehr über die Schlacht«, sagt er barsch und macht einen Schritt auf sie zu. »Die Fürsten mussten eine demütigende Niederlage hinnehmen. Trotz unserer zahlenmäßigen Überlegenheit, obwohl wir die beste Kampfkraft der Welt sind, wurden wir von einem Jungen und seiner unerprobten Armee besiegt – und einem Mädchen, das mit Krügen nach uns geworfen hat.«

Er kommt noch näher, so dass sie seinen Atem auf der Stirn spürt. »Wo warst du die letzten Tage?«, will er wissen. »Unsere Spione sagen, du hättest den Palast vor der Schlacht verlassen.«

Ihr Herz schlägt schneller, als er sich ihr nähert. Nicht nur, weil er jung und attraktiv ist, ganz anders als ihr Mann, König Philipp, mit seinem gedrungenen Körper, dem man sein Alter anmerkt, und seinem fehlenden Auge. Was sie an dem Fürsten unwiderstehlich anzieht, ist das Gefühl drohender Gefahr, das ihn umgibt wie ein ägyptisches Parfüm. Es berauscht ihre Sinne.

Dieser Mann kennt keine Loyalität – er würde vor nichts zurückschrecken, jeden töten. Selbst sie. Er hat es schon einmal versucht.

Nachdem ihre Vorkosterin in Ohnmacht gefallen war, weil sie am Wein der Königin genippt hatte, erfuhr Olympias von ihrer Wache, dass der Aesarische Fürst Bastian, ein Gast im Palast, mit dem Dienstmädchen geflirtet hatte, als sie das Essen der Königin zu ihren Gemächern bringen wollte. Es war nicht schwer zu erraten, dass er Gift in ihren Kelch geschüttet hatte, während dieses Dummchen schmachtend in seine dunklen Augen starrte.

Sie hätte ihre Wachen rufen und Bastian einsperren, foltern und hinrichten lassen können – aber das wäre die impulsive Lösung gewesen. Olympias hatte sich immer damit gebrüstet, dass sie stets ihre größeren Ziele im Blick behielt und über die nötige Geduld verfügte, den Dingen vorerst ihren Lauf zu lassen. Sie hatte vermutet, dass der Fürst ein nützliches Werkzeug sein könnte, und damit hatte sie recht behalten.

Auf ihre Bitte hin hatte er ihrer vor langer Zeit verschollenen Tochter Katerina Verbrechen angehängt, die er selbst begangen hatte, so dass Alexander nicht Olympias die Schuld gab, als seine Freundin in den Kerker geworfen wurde. Bastian hatte ihr verraten, dass die Fürsten planten, in den Palast einzudringen, und so hatte sie sich in ihrem geheimen Altarraum vor den Angreifern verstecken können. Er hatte sich als äußerst nützlich erwiesen – bis die Aesarier den Palast verließen, um gegen Makedonien in die Schlacht zu ziehen, während König Philipp weit weg in Byzanz war.

Nun, da Makedonien und die Fürsten gegeneinander Krieg führen, kann Bastian ihr natürlich nicht mehr als Spion dienen. Ebenso schnell, wie er für kurze Zeit ihr Diener geworden war, wechselte er wieder die Seiten.

Er wechselt sie ständig, das erkennt sie jetzt. Sie sieht es in seinen Augen: Eigeninteresse und Opportunismus schimmern in seinem Blick wie Abendlicht auf einem Teich. Er stellt eine noch größere Gefahr für sie dar als bisher. Er weiß zu viel über ihre Pläne, ihre Ängste, ihre Bedürfnisse.

Sie kann ihn nicht leben lassen.

Aber eines braucht sie noch von ihm.

»Was verheimlichst du vor mir?«, fragt er und streicht mit dem Finger ihren Kiefer entlang.

»Alle Sterblichen haben Schwächen«, sagt sie, ohne auf seine Frage einzugehen. »Dieses Mädchen – Katerina …« Der Name schmeckt wie Säure auf ihrer Zunge. »Sie ist meine. Und deine, nun ja …« Sie streift ihren Umhang ab, öffnet die mit Edelsteinen besetzten Spangen an ihren Schultern und lässt ihr Gewand langsam zu Boden gleiten. Dünne Streifen Sonnenlicht brechen durch den Blättervorhang und kitzeln ihre nackte Haut. »Deine kennen wir alle.«

Die Augen eines Mannes sind das beste Zeugnis für die Schönheit einer Frau. Als Olympias in die seinen blickt, durchfährt sie ein Schauer der Befriedigung, der Macht. Bastian überbrückt die Distanz zwischen ihnen und gräbt, unfähig sich länger zu beherrschen, die Hände in ihre hüftlangen Haare. Er packt sie – ein wenig zu fest – und zieht sie an sich, erobert ihren Mund mit seinem. Einen Moment will sie, dass er sie übermannt. Will nur alles vergessen.

Sie erwidert seinen Kuss, schmeckt seine süße Jugend, seine Energie, seinen Glauben an seine eigene Unverwundbarkeit. Genauso war Olympias selbst einst. Vor langer Zeit, als die Welt glitzernd wie ein Juwel in ihrer Handfläche lag und alles möglich zu sein schien. Bevor der Fluch das Juwel zu Staub zermalmt hatte.

Doch nun, zumindest für eine Weile, kann sie wieder jung und frei sein, während der Wind um sie auffrischt und die Eiche rastlos flüstert, als wolle sie sie antreiben.

 

Olympias zupft ihr Gewand zurecht, während Bastian seine Stiefel anzieht. Die Sonne steht tief am Horizont, ihre Strahlen dringen durch das Blattwerk und besprenkeln den mächtigen Baumstamm mit tiefroten Flecken.

»Ich werde es nicht vor übermorgen in die Festung zurückschaffen«, sagt er. »Und du? Auch du hast einen langen Ritt nach Pella vor dir – oder reitest du zurück nach Erissa? Was haben deine Soldaten dort gemacht – nach dem Mädchen gesucht?«

Als sie nicht antwortet, liest er seinen Schwertgürtel vom Boden auf und schnallt ihn um seine schmale Hüfte. »Warum ist dir dieses Mädchen so wichtig? Was bedeutet sie dir?«

»Sie bedeutet mir nichts«, entgegnet Olympias. »Aber sie ist der Schlüssel, mit dem ich jemanden unendlich viel Wichtigeres befreien kann.«

Bastian legt den Kopf schräg und starrt sie nachdenklich an. »Wer könnte der Königin von Makedonien derart wichtig sein?« Seine Augen werden schmal. »Ein Liebhaber?« Als sie hastig den Blick abwendet, lacht er nur. »Was? Dachtest du etwa, ich wüsste nicht, dass du an einen anderen denkst, wenn wir zusammen sind? Das kümmert mich nicht. Ich liebe dich nicht. Zeus helfe dem Mann, der es tut.«

Olympias gibt den Anschein, als wäre sie mit den Riemen ihrer Sandalen beschäftigt, aber in Wahrheit ist sie wütend. Nicht auf Bastian, sondern auf sich selbst. Ist sie so weich geworden, dass sie ihre Gefühle nicht mehr verbergen kann? Philipp hatte nie etwas geahnt. Aber Philipp ist auch ein Narr.

»Warum musst du ihn befreien? Ist dein Liebhaber ein Sklave? Den Mann, der eine solche Wirkung auf dich hat, würde ich zu gerne kennenlernen.« Bastian baut sich vor ihr auf, so dass sein langer Schatten auf sie fällt. »Eine noch größere Wirkung«, sagt er langsam, »als ich.«

»Ein Sklave? Nein!«, erwidert sie heftig, richtet sich auf und schlägt sich den Dreck von ihrem Gewand. Ich habe keine Angst vor dir, denkt sie, als sie sich ihren Umhang um die Schultern wirft und das Gewicht ihres Dolchs in der rechten Tasche spürt. »Kein Mann könnte mich je für sich gewinnen.« Sie hat seine Arroganz satt. Er spricht mit ihr, als würde er sie besitzen – aber sie ist kein Spielzeug.

Er packt ihr Handgelenk und beugt sich über sie, sein Atem heiß auf ihrer Wange. »Eine Frau also«, raunt er, und seine Augen leuchten auf vor sinnlicher Belustigung.

»Ein Gott!« Sie speit es ihm ins Gesicht, mit ihrer Geduld am Ende. Dieses Wort hat sie seit Jahren nicht ausgesprochen, doch es spielt keine Rolle, dass er es weiß, denn heute Abend wird er sterben. Bastian denkt, er wüsste, was Macht ist – aber er kennt nur einen armseligen Abglanz wahrer Erhabenheit.

Bastian braucht einen Augenblick, um zu verstehen, was sie da sagt, aber sie nimmt den Moment wahr, als es ihm dämmert. Seine Augen lodern auf, hart und scharf wie Feuersteine.

Plötzlich wird sein Gesicht sanfter, und er legt die Hand auf ihren Arm. »In diesem Fall kann ich nicht eifersüchtig auf meinen Rivalen sein, Olympias«, sagt er, seine Stimme klingt seltsam zärtlich. »Du hast mein Mitgefühl. Es ist verheerend für eine Sterbliche, einen Gott zu lieben.«

Olympias erwidert nichts, obwohl seine Worte sie zutiefst beunruhigen. Sie will sein Mitgefühl nicht.

Der Wind heult. Überall um sie herum klingeln die Glöckchen – die als Gaben für die Göttin in den Ästen hängen – wie harsches Gelächter, die bunten Bänder tanzen, die Äste knacken und ächzen.

Bastian zupft ein Blatt von ihrem Gewand. »Hättest du nicht lieber einen Gefährten aus Fleisch und Blut?«

Olympias lächelt, aber nicht seinetwegen. Er würde nie verstehen, wie es sich anfühlt, neben einem Geschöpf zu liegen, das aus demselben Stoff geschaffen wurde wie die Sterne, das Wind in seinen Adern hat und ein Herz aus Feuer.

»Du warst ein sehr amüsanter Gefährte aus Fleisch und Blut«, säuselt sie und legt ihre kleine weiße Hand auf seine Brust, spürt seine harten Muskeln. Langsam lässt sie ihre Hand zu seinem Bauch hinuntergleiten, verharrt einen Moment an seinem Brustkorb und fühlt abwechselnd seine Knochen und Sehnen. Die beste Stelle für einen tödlichen Dolchstich.

Bastian umfasst ihre Hand, ehe sie noch tiefer wandert. »Darauf sollten wir anstoßen.« Er holt einen Trinkschlauch aus Ziegenleder aus seiner Tasche, und sie sieht zu, wie er ihn an die Lippen setzt und gierig trinkt. Sie beobachtet ihn ganz genau, versichert sich, dass er auch wirklich schluckt. »Ah, Wein aus Chios«, sagt er. »Noch besser als der Nektar der Götter.« Er reicht ihr den Trinkschlauch.

Der Wein ist stark und süß, und sie spürt, wie er ihr Inneres wärmt. Sie will Bastian den Schlauch zurückgeben, aber er winkt ab.

»Trink noch ein wenig«, fordert er sie auf und taxiert sie mit erwartungsvollem Blick.

Glühend heiße Angst durchzuckt sie. »Nein«, antwortet sie und stößt den Schlauch weg. »Ich will nicht … Ich will nicht …« Ihre Worte sind jetzt nur noch undeutlich zu verstehen, und sie wird von Schwindel überwältigt.

Gift.

Nein, das ist nicht möglich. Sie hat ihn den Wein ebenfalls trinken sehen …

Der Wind peitscht wütend durchs Geäst der mächtigen Eiche; ihre Äste scheinen sich wie Arme zu heben und mit einem schauerlichen Ächzen wieder herabzufallen, während sich die Glöckchen und Zimbeln im Missklang vereinen. Die Welt kippt seitwärts, und Olympias stürzt zu Boden, das Gesicht dem gewaltigen Baumstamm zugewandt. Sie hört, wie sich Bastians Schritte entfernen, und versucht, den Kopf zu ihm zu drehen, schafft es aber nicht.

Ihr Blut gefriert zu Eis, erstarrt in ihren Adern. Auch ihr Atem geht langsamer – sie bekommt keine Luft. Dunkelheit senkt sich auf sie herab und dämpft die Geräusche um sie herum: das Rauschen der Blätter im Wind, das Knarren der Äste und den Klang ihres Herzschlags, der ins Stocken gerät.

Kapitel 2

Hephaistion beobachtet mit grimmigem Blick, wie die Ader auf der Stirn des Farmers anfängt zu pulsieren. Anscheinend ist er nicht der Einzige, der heute Morgen Kopfschmerzen hat.

»Ich habe zwei Fässer Oliven mitgebracht, und ich gehe nicht, ehe Ihr mich entweder dafür bezahlt oder mir zwei Fässer Oliven zurückgebt«, beharrt dieser und verschränkt die Arme vor der Brust.

Wenn er sich weiter so aufregt, wird die Ader dann irgendwann platzen?, fragt sich Heph, während der Bauer unablässig weiterschimpft. Den letzten beiden Bauern hat er schon gar nicht mehr zugehört. Diese Aufgabe, die Alexander ihm zugewiesen hat – dafür zu sorgen, dass die Bauern, die nach der Schlacht nach Hause zurückkehren, für die Vorräte, die sie bereitgestellt haben, angemessen entlohnt werden –, ist bei weitem die schlimmste Strafe, die er sich ausdenken konnte. Er ist – oder war es zumindest – Alexanders bester Freund. Er sollte an seiner Seite sein, nicht hier in diesem schrecklichen Chaos.

Keiner der Bauern kann lesen, und dennoch behaupten sie alle, der Betrag auf ihrem Abrechnungsbeleg entspräche nicht den Waren, die sie in den Palast geliefert haben. Wer zieht hier wen über den Tisch? Die Palastbeamten, die die Abrechnungsbelege ausstellen, die Bauern oder die Bauern den Palast?

Die kleine Amtsstube eines niederen Angestellten hat nur ein Fenster, das zum Stall hinausgeht, und der Gestank von Pferdemist hängt schwer in der schwülen Luft. Heph wirft einen Blick auf seinen Schreibtisch, auf dem sich Listen, Abrechnungsbelege und Rechnungen stapeln.

Die zeternde Stimme des Bauern verwandelt sich allmählich in eine andere Stimme: in die von Alex. Die Stimme, die ihm schon seit zwei Tagen nicht aus dem Kopf geht, seit der Prinz alle überlebenden Soldaten im Palasthof zusammengerufen und ihnen zu ihren Erfolgen in der Schlacht gegen die Aesarier gratuliert hat.

»Iason, Sohn des Alfio, der fünf Aesarische Fürsten getötet hat!« Alex klopfte dem Soldaten auf die Schulter, während die anderen laut jubelten. »Ander, Sohn des Maarku, der drei Aesarische Fürsten getötet hat!« Dann stand er vor Heph. »Hephaistion, Sohn des Hipparchus«, rief er, »der mindestens elf Aesarische Fürsten getötet hat!« Als ohrenbetäubender Beifall aufbrandete, fügte Alex leise hinzu: »Darunter einer, den er nicht hätte töten sollen.«

Hitze kroch Hephs Hals hinauf, und er senkte schnell den Blick. Schlimmer kann es nicht mehr werden, dachte er, doch da irrte er sich. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht ging Alex zu Kadmus. »Und zu guter Letzt, das größte Lob an General Kadmus, der sage und schreibe vierzehn Aesarische Fürsten getötet hat – mehr als wir alle!«

Kadmus. Er ist um einiges älter als Heph und hat als General in Philipps Armee auch viel mehr Kampferfahrung. Dass Kadmus mehr und mehr das Vertrauen des Prinzen gewinnt, gibt Heph das Gefühl, dass Alex den Glauben an ihn allmählich verliert. Seine ganze Beziehung zu Alex basiert auf Vertrauen. Ohne Alex hat er nichts. Ohne ihn ist er nichts. Er ist …

»… eine Schande für den Prinzen!«

Mit einem Schlag ist er wieder ganz auf den Farmer fokussiert, dessen Stirn puterrot angelaufen ist. »Wie bitte?«

»Ihr habt mich genau gehört«, schimpft der Mann. »Eine Schande für den Prinzen. Alexander hat uns vor den Fürsten gerettet, aber Ihr – sein verzogenes Schoßhündchen –, Ihr könnt einem Mann nicht einmal seinen rechtmäßigen Besitz aus dem Keller holen! Kein Wunder, dass er Euch hier in diesem stinkenden Drecksloch stationiert hat!«

Das Pochen in Hephs Schädel wird unerträglich. Warum wissen selbst die Bauern im Dorf, dass er in Ungnade gefallen ist? Er muss hier raus, ehe er etwas sagt – oder tut –, was er nicht wiedergutmachen kann. Er schiebt seinen Stuhl so heftig zurück, dass dieser polternd auf dem Boden landet. Der Farmer weicht hastig zurück, als Heph an ihm und dem Dutzend weiterer grummelnder Bauern vorbeistürmt, die dichtgedrängt auf einer Bank sitzend warten.

»Was ist mit meinen Oliven?«, ruft der Farmer ihm nach, doch Heph ignoriert ihn. Mit dröhnendem Schädel marschiert er durch die Marmorgänge, an den Fresken und bemalten Statuen vorbei zum Wohnflügel des Palasts. Er läuft schneller, versucht seine Wut abzuhängen. Aber wohin er auch geht, spürt er ihre Hitze im Nacken. Er ist nicht nur wütend wegen dem, was der Farmer gesagt hat – er ist es auch wegen der Tatsache, dass er recht hat.

Die Versorgung der Bauern sollte ein einfacher Angestellter im Palast übernehmen, nicht die rechte Hand des Prinzen, sein bester Freund. Oder ist er nur noch seine frühere rechte Hand und sein früherer bester Freund? Heph weiß überhaupt nicht mehr, wo er steht.

Vor der Schlacht hatte Alex allen makedonischen Soldaten ein Horn gegeben, in das sie stoßen sollten, falls sie den Aesarischen Hochfürsten Mordecai erspähten – mit dem Befehl, ihn nicht zu töten, sondern gefangen zu nehmen. Heph hatte Mordecai auf dem Schlachtfeld gefunden. Er hatte sein Schwert sinken lassen und mit dem Daumen das glatte, kühle Horn berührt, das an seinem Gürtel hing. Doch als er es gerade an die Lippen heben wollte, um seinen Kameraden das Signal zu geben, ließen Mordecais Worte ihn innehalten. Mit einem grausamen Lächeln verhöhnte ihn der Fürst und riss alte Wunden auf, erinnerte ihn daran, dass er als geächteter Waisenjunge nirgends hingehörte – schon gar nicht an die Seite des Prinzen.

Hephs verletzter Stolz loderte zu unbändiger Wut auf, und er stieß nicht in sein Horn. Stattdessen ließ er sich von dem roten Nebel blenden, und als er sich lichtete, war der Fürst nur noch eine Masse aus Blut und Knochen, nicht einmal mehr als Mensch erkennbar.

Es war nicht das erste Mal, dass sein Zorn ihn überwältigte. Sein erster Wutanfall hatte ihn sein Zuhause, seine Familie und seine Stellung gekostet. Alex hatte ihn gefunden und ihm sein Leben zurückgegeben.

Aber wie oft kann er sich noch darauf verlassen, dass Alex ihn vor sich selbst rettet?

Endlich erreicht er sein Zimmer und geht hinein. Der Raum ist klein und schlicht eingerichtet, und doch hat er sich fünf Jahre lang angefühlt wie sein Zuhause. Sicher. Bis jetzt.

Frustriert knallt er die Tür zu, gießt aus einem Krug Wasser in eine Schüssel und spritzt es sich ins Gesicht, in der Hoffnung, die heiße Wut abzukühlen, die noch immer durch seine Adern pulsiert, und die hämmernden Kopfschmerzen zu lindern. Aber das tut es beides nicht. Die Wut, die Schmerzen – und die Angst – bleiben bestehen.

Vor der Schlacht auf den Ebenen von Pella, als welche sie jetzt bekannt ist, hatten Heph und Alex gemeinsame Träume. Sie wollten in die Östlichen Berge reisen und die legendäre Quelle der Jugend ausfindig machen. Heph legt keinen Wert darauf, selbst von dem – den Gerüchten zufolge – magischen Wasser zu trinken. Aber Alex wünscht sich nichts mehr, seit sie im letzten Frühjahr die Landkarte in einer Höhle gefunden haben. Das war für Heph Grund genug, sich auf eine gefährliche, geradezu todesmutige Mission vorzubereiten.

Alex sagt, er wolle die Quelle finden, um sein schwaches Bein zu heilen, aber Heph weiß, dass sein Bedürfnis tiefer geht. Er weiß, dass Alex glaubt, nur so könne er König Philipp – und der ganzen Welt – beweisen, dass sein Leiden ihn nicht einschränkt, dass er ebenso große Taten vollbringen kann wie sein Held Achilles. Heph weiß selbst allzu genau, wie weit ein Mann gehen würde, um sich zu beweisen.

Doch jetzt haben Alex und er schon seit Wochen nicht mehr über die Quelle geredet. Vielleicht ist es Zeit, das zu ändern. Vielleicht kann Heph ihn daran erinnern, was sie geplant, was sie letztendlich schon alles zusammen durchgemacht haben.

Er geht in die Hocke, zählt vier Fliesen vom Fuß seines Bettes ab und tastet nach seinem Geheimversteck. Die Fliese hat einen Riss – das hat er noch nie bemerkt. Vorsichtig entfernt er sie und greift in das Loch darunter. Aber dort ist nichts.

Die Karte ist weg.

Sein Herz wird bleischwer. Wie konnte das geschehen? Entweder hat Alex die Karte genommen, ohne es ihm zu sagen – oder jemand anderes hat sie gestohlen. Er lässt sich auf die Fersen zurücksinken. Niemand sonst wusste von der Karte. Niemand sonst wusste, dass Heph sie unter dieser Bodenfliese versteckt hatte. Alex musste sie genommen haben. Vielleicht plant er, demnächst zur Quelle der Jugend aufzubrechen … ohne Heph.

Es klopft leise an seiner Tür, und eine junge Frau schlüpft herein. Katerina. »Ich suche Alexander.« Ihre langen Finger tippen nervös auf die juwelenbesetzte karische Scheide an ihrem Gürtel. »Ist er hier?«

Unter ihrem wachsamen Blick legt Heph die Fliese hastig an ihren Platz zurück und steht auf, streicht seine zerzausten, dunklen Locken glatt und rückt seinen silbernen Halsreif zurecht. Er kommt nicht umhin zu bemerken, wie ihr smaragdgrünes Gewand das Grün ihrer Augen betont und ihr goldbraunes Haar ebenso hell glänzt wie das Diadem aus polierter Bronze auf ihrem Kopf. Heute sieht man deutlicher denn je, welche Abstammung sie hat: Katerina, die geheime Prinzessin von Makedonien, Tochter von König Philipp und Königin Olympias – und Alexanders Zwillingsschwester.

»Er ist nicht hier«, antwortet Heph barscher als beabsichtigt.

»Das sehe ich. Weißt du, wo er sein könnte?«, fragt sie. Sie sieht seinem besten Freund so ähnlich und doch so völlig anders aus.

»Nein. Ich hab ihn nicht gesehen.« Schon seit Tagen nicht mehr, fügt er im Stillen hinzu.

»Oh. Na dann …« Heph erwartet, dass sie geht, aber sie bleibt im Türrahmen stehen.

Er muss sie dazu kriegen, zu verschwinden. Er muss raus aus dem Palast. Angestrengt bemüht, sie nicht weiter zu beachten, geht er zu den Waffen, die an Wandhaken aufgehängt sind, und nimmt sein Kurzschwert; die beste Wahl für einen Ausritt.

»Ich … Ich wollte auch mit dir reden«, sagt sie endlich. »Über die Schlacht.«

»Ich will nicht über die Schlacht reden«, sagt er über die Schulter und schnallt sich seinen Schwertgürtel so um, dass er eng um seine Hüfte liegt.

»Du kannst mich nicht einfach ignorieren«, erwidert sie stur. Heph versucht, nicht auf ihren Körper zu starren, der sich unter ihrem enganliegenden Gewand deutlich abzeichnet.

»Jetzt ist kein guter Zeitpunkt«, meint er und dreht sich zu ihr um. »Ich bin beschäftigt.«

»Gehst du mir aus dem Weg?« Sie verschränkt die Arme vor der Brust und baut sich direkt vor ihm auf, so dass er nicht an ihr vorbeikommt. »Habe ich dich irgendwie verärgert? Jedes Mal, wenn ich dich fragen will, was auf dem Schlachtfeld passiert ist, läufst du weg.«

Er ist ihr tatsächlich aus dem Weg gegangen, aber aus einem ganz anderen Grund, als sie offenbar vermutet. Ihr Lächeln verfolgt ihn tagein, tagaus, und ihre langen Beine und schlanken, muskulösen Arme erscheinen weit öfter in seinen Träumen, als ihm lieb ist. Sie und ihre atemberaubenden Beine machen seine Beziehung zu Alexander nur noch komplizierter. Er hat sich schon genug Ärger eingehandelt, als er sich mit Prinzessin Cynane, Alex’ Halbschwester, von seinen Sorgen abgelenkt hat. So etwas darf ihm nicht noch einmal passieren.

»Ich kann mich nicht erinnern, was geschehen ist«, fährt Kat fort. »Im ersten Moment habe ich gespürt, wie mir ein Schwert in die Seite sticht, und dachte, das wäre mein Ende – dass ich meinen letzten Atemzug getan hätte …, im nächsten …« Sie verstummt, und Heph sieht, wie ihr eine zarte Röte in die Wangen steigt. »Was habe ich getan? Warum redest du nicht mehr mit mir?«, will sie wissen und stemmt die Hände in die Hüfte, womit sie seinen Blick unbewusst auf die sanfte Rundung ihres Körpers lenkt.

»Ich bin beschäftigt«, sagt er erneut, schüttelt seine Benommenheit ab und geht zur Tür. Er will an ihr vorbeimarschieren, aber sie bleibt direkt vor ihm stehen. »Könntest du bitte zur Seite gehen?«

Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Zwing mich doch.«

Bei Zeus, er hat diese Spielchen satt. In einer flüssigen Bewegung schlingt er die Arme um ihre schmale Hüfte.

»Was machst du da?«

Dann hebt er sie hoch, zur Seite hin. Doch als er sie absetzt, stolpert sie und krallt die Finger in seine Tunika, um nicht rückwärts umzufallen. Mit einem dumpfen Krachen stößt sie an die Wand und reißt ihn mit sich. Heph kann gerade noch die Hände ausstrecken und sich zu beiden Seiten ihres Kopfes abstützen, ehe er mit voller Wucht gegen sie prallt.

Mit tiefen Atemzügen versucht er, seinen rasenden Herzschlag zu beruhigen, und atmet dabei Katerinas süßen Duft ein. Nicht das penetrant süßliche Parfüm, mit dem sich die Frauen im Palast einsprühen, sondern einen herrlich frischen Geruch – ihren Geruch. Als er sie anschaut, sieht er, dass sie mit großen Augen zu ihm aufblickt, ihr Mund vor Überraschung leicht geöffnet, ihre Lippen verlockend nah an seinen.

Wie gebannt starren sie einander an; die Luft zwischen ihnen knistert. Und da weiß Heph plötzlich, dass er wieder die Kontrolle verlieren wird.

Auf eine andere Art als auf dem Schlachtfeld, aber genauso verboten.

Er wird sie küssen.

Und sie wird entweder wütend werden und zu Alex rennen, um es ihm zu erzählen, oder es wird ihr gefallen und … das wäre noch schlimmer. Denn wenn es darum geht, einen Mann zu töten oder ein Mädchen zu küssen, ist Heph schwach. Sein Stolz und seine Begierde sind stärker als er.

Und er ist es leid, gegen seine Gefühle anzukämpfen. Er will sich nur noch geschlagen geben. Und danach zu schließen, wie Kat den Kopf schräg legt, wie ihr Atem sich ebenso beschleunigt wie seiner und ihr Körper sich an seinen schmiegt, will sie auch, dass er sich geschlagen gibt. Die Versuchung einer Frau, die ihn will, die seinen Wert sieht, ist zu viel für ihn.

Er beugt sich zu ihr …

Und im selben Moment stürmt Alex herein, dicht gefolgt von General Kadmus.

Heph löst sich hastig von Kat, während Alex sie beide fassungslos anstarrt.

»Alex!«, ruft Kat ein bisschen zu laut und drängt sich an Heph vorbei. »Ich habe gerade nach dir gesucht. Buthos will ein verletztes Pferd töten, obwohl ich ihm ausdrücklich gesagt habe, dass es überleben wird.«

»Sag Buthos, dass er tun soll, was du ihm rätst, Katerina«, meint Alex mit einem Nicken. »Wenn er sich weigern sollte, sag ihm, er kann gerne zu mir kommen, aber was ich dann zu sagen habe, wird ihm wahrscheinlich nicht gefallen.«

Kat lächelt Alex dankbar an und geht dann schließlich, aber ihr zarter Duft schwebt weiterhin in der Luft. Alex richtet seine beunruhigenden Augen – eines blassblau, das andere dunkelbraun – auf Heph. »Kadmus«, sagt er, ohne den Blick von Heph abzuwenden, »könntest du die Arbeiten an der Nordmauer beaufsichtigen? Sag Hauptmann Krisos bitte, dass ich bald nachkomme.«

»Ja, Herr.« Der General verbeugt sich, und Heph fallen die zahlreichen Narben auf, die sich kreuz und quer über seinen braungebrannten Körper ziehen; jede von ihnen ein Beweis für seinen Mut. Plötzlich sieht er Alex und Kadmus vor sich, wie sie ihren Pferden die Fersen in die Flanken stoßen und im Galopp nach Osten reiten – nach Persien, zur Quelle der Jugend.

Alex wartet, bis sich die Tür hinter Kadmus schließt. »Eine Menge wütende Farmer haben sich beschwert, dass du sie nicht bezahlt hast«, sagt er. Heph nimmt die mühsam unterdrückte Wut in seiner Stimme wahr. »Warum hast du deinen Posten verlassen? Kannst du denn gar keine Anweisungen befolgen?«

»Ich brauchte eine Pause«, erwidert Heph und zwingt sich, Alex’ Blick zu begegnen. Wenigstens hat der Moment mit Katerina seine Wut vertrieben, er fühlt sich ausgelaugt und leer – leer genug, dass er vor Alex nichts Unüberlegtes tut. »Ich habe keine Ahnung, wer die Oliven und Feigen, den Honig und die Amphoren gestohlen hat.«

Alex’ Blick fällt auf das Kurzschwert an Hephs Hüfte. »Und deswegen hast du beschlossen, auszureiten und deine Pflichten zu vernachlässigen? Kann ich dir nicht einmal die einfachsten Aufgaben anvertrauen? Ist das schon zu viel verlangt?«

»Warum lässt du mich eine Arbeit verrichten, die mir überhaupt nicht liegt, wo ich doch viel besser deine Männer trainieren oder die Verteidigung der Stadt organisieren könnte?«, gibt Heph zurück. »Du hast doch selbst gesagt, dass die Aesarier womöglich mit Verstärkung zurückkommen werden. Du weißt, dass ich dir helfen kann. Darin bin ich gut – nicht im Beschwichtigen weinerlicher Bauern!«

Alex’ Mund verzieht sich zu einer harten Linie. »Du weißt, dass du bis auf weiteres von allen militärischen Angelegenheiten ausgeschlossen bist. Kadmus hilft mir mit der Verteidigung.«

»Gib mir noch eine Chance!«

Alex schüttelt den Kopf. »Ich kann dir nicht vertrauen, Heph. Nicht im Krieg. Du befolgst keine Befehle.«

Heph nimmt seinen Schwertgürtel ab und legt ihn auf den Tisch. Auf einmal fühlt er sich wie damals, als er beim Überqueren eines reißenden Flusses vom Pferd gefallen war. Verzweifelt nach Luft ringend kämpfte er gegen das Gewicht seiner schweren Rüstung an, die drohte, ihn in die Tiefe zu ziehen, bis ihn schließlich ein anderer Soldat aus den Fluten rettete. Alles, was er sich aufgebaut hat, all seine Hoffnungen und Träume entgleiten ihm, und er weiß nicht, wie er sie zurückbekommen soll. Er atmet tief durch. »In Ordnung«, sagt er, in sachlichem, ausdruckslosem Ton. »Ich werde sofort wieder meinen Posten beziehen.«

»Nicht nötig«, sagt Alex. »Ich habe Ortinos damit beauftragt. Er ist selbst ein Farmerssohn, und ich glaube, die Bauern werden auf ihn hören. Aber du kannst Achaus dabei helfen, die Restaurierung der Bibliothek zu beaufsichtigen.«

Heph zuckt zusammen. Noch eine Verwaltungsaufgabe, fast so kränkend wie die letzte. Doch er nickt schroff. »Ja, Eure Hoheit.« Er dreht sich abrupt um und geht, ohne Alex’ Reaktion auf die förmliche Anrede abzuwarten. Seit seinem ersten Tag im Palast hat er kein einziges Mal Alexanders Titel benutzt, und die Worte brennen ihm in der Kehle. Er schluckt schwer.

*

Der Geruch von Rauch und verbranntem Holz hängt noch immer in der Luft, als sich Heph der geschwärzten Fassade der Palastbibliothek nähert, dabei ist der Brandanschlag der Aesarier bereits eine Woche her. Nur der westliche Flügel des goldenen Marmorgebäudes ist eingestürzt – das geheime Archiv und ein Teil des großen Lesesaals nebenan. Dass er mit seinen Fähigkeiten und seinem Rang dieses zerfallende Gebäude beaufsichtigen muss, ist eine Verschwendung, aber wenigstens ist er im Freien und endlich raus aus der stickigen, kleinen Amtsstube. Wie in der Schlacht wird er Männer anweisen, wenn auch nur darin, wohin sie die Leiter stellen sollen.

»Wir haben die Trümmer so weit beseitigt, dass wir nun eine gründliche Untersuchung des Fundaments durchführen können«, berichtet Achaus, der königliche Architekt, und wischt sich mit einem Stück Stoff den Schweiß von seinem kahlen, kuppelartigen Kopf.

»Gut. Es hat keinen Sinn, die oberen Stockwerke instand zu setzen, wenn das Fundament einstürzt. Könnt Ihr mir die Bereiche zeigen, die am schlimmsten beschädigt sind?«

Achaus nickt und reicht Heph ein Tuch, das er sich um Mund und Nase bindet. Der Architekt führt ihn ans hintere Ende der Bibliothek und eine kleine Wendeltreppe hinab in die kühle, brandgeschwärzte Dunkelheit. Die Luft, noch immer von Rauch verhangen, brennt Heph in den Augen. Er hält seine Fackel hoch. »Wo sind die tragenden Wände?«, fragt er mit gedämpfter Stimme.

»Da ist eine«, sagt der Architekt, durchquert den Korridor und deutet mit seiner Fackel in den Raum. »Einige der Steine wurden versengt, aber …« Er redet weiter, doch Heph spürt ein seltsames Stechen in der Nase und hört nicht mehr zu. Unter dem Gestank nach Rauch, Ruß und verkohltem Holz verbirgt sich noch etwas anderes. Heph zieht sich das Tuch vom Gesicht.

»Was ist los?«

»Moment«, sagt er und atmet tief ein. Der Geruch ist immer noch da. Er erinnert ihn daran, wie er vor einiger Zeit mit König Philipp und Alex ausgeritten ist, um Viehdiebe aus den Hügeln zu vertreiben – auf dem Weg stießen sie auf die verwesten, von Schmeißfliegen umschwärmten Leichen ihrer Vorhut.

Achaus nimmt ebenfalls seinen Mundschutz ab und hält seine Nase in die Luft. Zusammen gehen sie den Flur hinunter und begutachten die Wände zu beiden Seiten. Schließlich kommen sie in einen großen Raum unterhalb des Lesesaals, durch Löcher im Boden des zerstörten Raums über ihnen strömt Tageslicht herein. Der Geruch scheint hier drinnen stärker zu sein, aber Heph sieht nichts anderes als alte Schreibtische und Bücherregale.

»Von woher kommt dieser Gestank?«, fragt er und bleibt vor einer mit Kammmuscheln verzierten Wand stehen.

»Ich glaube, von dieser Wand«, meint Achaus. »Dahinter ist eine Geheimkammer.«

Heph nickt. Jeder weiß, dass Philipp ein ganzes Netz von geheimen Räumen und Gängen im Palast angelegt hat. Vor Jahren haben Alex und er auf ihren Erkundungsgängen einige entdeckt. Achaus dreht an einer der Muscheln wie an einem Türknauf, und eine kleine, geschickt in der Wanddekoration verborgene Tür gleitet auf.

Der Geruch, der hervorströmt, trifft Heph wie ein Keulenschlag – als würde ihm ein widerwärtiges Insekt in die Nase krabbeln und sich dort einnisten. Würgend taumelt er zurück. Dann drückt er sich das Tuch fest auf Mund und Nase, bückt sich und betritt den kleinen, fensterlosen Raum.

Auf dem Boden liegt ein verwesender Leichnam.

Heph kniet sich auf ein Bein und hält seine Fackel dorthin, wo er das Gesicht vermutet. Unter einer dicken Rußschicht erkennt er Leonidas, den Palastbibliothekar. Hephs Magen rumort, und ihm kommt die Galle hoch. Leonidas war seit dem Brand vor einer Woche verschwunden, und Alex, der schon seit längerem den Verdacht hegte, dass es im Rat einen Verräter gab, nahm an, er wäre ein aesarischer Spion.

Offenbar können sich selbst Prinzen irren.

Leonidas war nicht nur der Hüter der Bibliothek. Er war auch jahrelang Hephs und Alex’ Lehrer gewesen, bis sie mit dreizehn nach Mieza gegangen waren, um sich von Aristoteles unterrichten zu lassen. Obwohl er streng war und in etwa so liebenswert wie eine Beule im Sattel, hat der alte Mann ein solches Schicksal nicht verdient.

»Achaus«, ruft Heph über die Schulter, »sag deinen Männern, sie sollen eine Bahre holen. Und ein Tuch, mit dem wir ihn bedecken können.«

Mit angehaltenem Atem bewegt Heph seine Fackel an dem Leichnam entlang. Er ist nicht verbrannt. Nichts in diesem kleinen Raum ist verbrannt, weder der Tisch noch der Stuhl noch die Lampen. Leonidas hat sich hier hereingeschlichen und ist an dem Qualm erstickt. Aber warum ist er überhaupt hergekommen? Heph kneift im Fackelschein die Augen zusammen, und da bemerkt er etwas in Leonidas’ rechter Hand. Eine Schriftrolle.

Er biegt die steifen Finger zurück und entrollt das brüchige Pergament vorsichtig. Die Überschrift kennzeichnet es als Teil von Kassandras Schriften, Prophezeiungen, die die todgeweihte Prinzessin von Troja angeblich vor Hunderten von Jahren ausgesprochen hat.

Mit nachdenklich gerunzelter Stirn versucht er, die uralte Schrift zu entziffern. Ein paar Wörter fallen ihm sofort auf: Zeitalter, Mensch, Ungeheuer. Sein Blick wird noch finsterer. Anscheinend geht es in dem Text um das Ende des Zeitalters der Götter und den Beginn einer neuen Ära – ein Wandel, den die Philosophen schon seit vielen Jahren ankündigen. Er selbst weiß nichts darüber, aber seit der Mondfinsternis vor ein paar Wochen wird im Palast gemunkelt, dass er bereits begonnen hat. Manche flüstern, die Mondfinsternis habe eine Zeit des Übergangs eingeleitet, in der scheinbar unwichtige Entscheidungen ungeahnte Konsequenzen haben werden. Aber Heph hätte nie gedacht, dass Leonidas an Weissagungen glaubte. Er zog Wissen und Handeln dem Lied eines Orakels vor.

Heph beschließt, die Prophezeiung nach oben in den Lesesaal mitzunehmen, damit Leonidas’ Assistenten, die momentan die von Rauch und Wasser beschädigten Schriftrollen zu retten versuchen, sie wieder einsortieren können. Doch da bemerkt er eine Notiz am Rand des Schriftstücks. Zeitgenössisches Griechisch in einer Handschrift, die er sofort erkennt. Leonidas’ Handschrift. Im matten Licht hier unten kann er kaum etwas erkennen. Er hält seine Fackel so nahe an das Pergament wie möglich, ohne die Tierhaut zu versengen, und liest die Worte seines früheren Lehrers.

Als die Botschaft in sein Bewusstsein dringt, hört er plötzlich das Blut in seinen Ohren rauschen. Einen Moment lang hat er das Gefühl, als stehe er an einem Abgrund – als würde der leiseste Windhauch ihn hinab in den Tartaros stürzen.

Schnell steckt er die Schriftrolle unter seine Tunika und spürt das steife, rissige Pergament auf der Haut.

Alexander darf diese Schriftrolle nie zu Gesicht bekommen.

Niemand darf sie je zu Gesicht bekommen.

Kapitel 3

In gestrecktem Galopp jagt Kat über die Felder jenseits der Palastmauern und klammert sich an ihrer braunen Stute fest. Noch nie zuvor ist sie derart schnell galoppiert, als würde sie auf einem Blitz reiten. In Erissa, bevor sie wusste, dass sie eine Prinzessin ist, die bei ihrer Geburt weggegeben wurde – als sie noch ein unschuldiges Mädchen war –, sind Jacob und sie manchmal auf dem Familienesel geritten. Aber das war nichts im Vergleich zu Kokkymo, die schnell wie ein Löwe und anmutig wie ein Reh durchs Gras prescht. Obwohl sie nie Reitstunden genommen hat, scheint Kat eins mit ihrem Pferd geworden zu sein; eine unaufhaltsame Naturgewalt in perfektem Einklang mit der Luft und dem Himmel, mit Erde und Wasser.

Ein Teil von Kats Seele dringt unter die Mähne ihrer Stute, unter ihr glattes schweißnasses Fell, und sie atmet tief den üppigen Geruch von Sommergras und fruchtbarer Erde ein. Bald ist es Kat selbst, die mit wehendem Schweif am Flussufer entlanggaloppiert, ihre vier Beine streckt und mit donnernden Hufen dem Horizont entgegenprescht. Könnte sie doch nur ewig weiterreiten und den Palast mit seinen irritierenden dunkelhaarigen Jungs, seinen verstörenden Geheimnissen und endlosen Gefahren für immer hinter sich lassen. Sie möchte nur süßes Gras fressen, kühles Wasser trinken und die tausend zarten Gerüche einatmen, die der Wind zu ihr herüberträgt.

Sie hat immer gewusst, dass sie eine besondere Verbindung zu Tieren hat, dass sie auf einzigartige Weise mit ihnen kommunizieren kann. Helena – die Frau, von der sie jahrelang dachte, sie wäre ihre Mutter – meinte, sie hätte eine Gabe, die sie um jeden Preis für sich behalten müsse. Doch sie selbst glaubte, sie könne die Tiere verstehen, weil sie ihnen Beachtung schenkte, weil sie sich im Gegensatz zu den meisten Menschen die Zeit nahm, ihnen zuzuhören.

Dann traf sie die Magierin Ada von Karien, und alles änderte sich.

Ada erzählte ihr von der Magie, die durch ihre Adern fließt – Schlangenblut, eine von zwei uralten Formen von Blutmagie – und brachte ihr bei, ihre Fähigkeiten zu nutzen. Kat lernte, sich in Trance in Tiere hineinzuversetzen, schwang sich als Vogel durch die Lüfte, grub sich als Wurm durch feuchtes Erdreich und schwamm als Fisch in kalten, tiefen Gewässern umher. Doch Schlangenblut ist, wie sie nun weiß, weit mehr als eine Verbindung zu Tieren – es ist auch eine Verbindung zur Kraft des menschlichen Geistes.

Während ihrer letzten Trance in Adas Palast tauchte Kat tief in Erinnerungen an ihr früheres Leben hinab, bis zu ihrer eigenen Geburt. Diese verlorenen Erinnerungen haben ihr gezeigt, dass sie Prinz Alexanders Zwillingsschwester ist, und dass Königin Olympias, eine kaltherzige Mörderin, ihre Mutter ist. Jetzt lassen sie die schrecklichen Bilder nicht mehr los.

Töte das Mädchen, sagte Olympias mit den neugeborenen Zwillingen im Arm und schob die kleine Kat ihrer Zofe Helena hin. Doch Helena tötete das Mädchen nicht. Sie begann ein neues Leben in einem kleinen Dorf namens Erissa und zog Kat als ihre eigene Tochter auf.

Plötzlich strauchelt Kokkymo, und Kat kehrt mit einem Ruck in ihren eigenen Körper zurück, als sie in hohem Bogen durch die Luft segelt und hart auf der Seite landet. Sie schmeckt Dreck im Mund, und das vergoldete Schwert, das Ada ihr geschenkt hat, drückt gegen ihr Bein, auf dem sie liegt. Als sie wieder zu Atem kommt und sich, noch etwas wacklig auf den Beinen, aufrappelt, sieht sie die Stute glücklich wiehernd davongaloppieren, endlich wirklich frei.

Kat reibt sich ihren schmerzenden Arm, und da sieht sie etwas im Gras glitzern: die Blume des Lebens, den Kettenanhänger in Form einer silbernen Lotusblüte, den sie immer an einer Lederschnur um den Hals trägt.

Schnell hebt sie den Anhänger auf und drückt ihn an ihr Herz. Dieses Amulett gehörte Helena, die für sie immer ihre wahre Mutter bleiben wird. Kat bindet sich die Schnur um den Hals und spürt das kühle Metall an ihrer Kehle ruhen. Sie kann sich immer noch so deutlich an Helenas Lächeln, an ihre Schönheit und den süßen Duft ihrer Haut erinnern, als hätten sie sich erst gestern zum letzten Mal gesehen. Doch es ist bereits zehn Jahre her, dass Kat, in Helenas Wollkiste versteckt, zusehen musste, wie ihre Mutter von Olympias’ Soldaten getötet wurde.

Sie hat nie jemandem erzählt, wer Helena ermordet hat, nicht einmal Jacob oder seinen Eltern, die sie bei sich aufnahmen und versprachen, sich um sie zu kümmern, bis sie alt genug war, um zu heiraten. Aber schon vor langem ist Rache zu ihrem Lebensinhalt geworden, sie ist das Blut, das ihr Herz zum Schlagen bringt, und die Luft, die ihre Lungen füllt. Deswegen ist sie mit Jacob nach Pella gekommen; weil sie auf eine Gelegenheit hoffte, an der Königin Vergeltung zu üben. Und aus demselben Grund kann sie Jacob nicht heiraten – erst, wenn sie diese Aufgabe erfüllt hat, wird ihr Herz frei sein, ihn zu lieben.

Doch nun weiß sie, dass ihr Todfeind ihre leibliche Mutter ist, dass sie, ohne es zu wissen, jahrelang danach gestrebt hat, eben jene Frau zu töten, die ihr das Leben geschenkt hat. Und dass Olympias ihrerseits plant, sie zu töten. In einem einzigen Augenblick ist Kat vom Jäger zum Gejagten geworden.

Kat blickt sich nach Kokkymo um – dass sie strauchelt, sieht ihr gar nicht ähnlich, und jetzt ist sie spurlos verschwunden. Mit steifen Gliedern macht Kat sich auf den Weg nach Hause. Das hohe Gras wiegt sich gespenstisch, und ein Geruch, den sie nicht zuordnen kann, lässt sie erschauern. Der Himmel hat eine kränkliche graugrüne Färbung angenommen.

Eine schreckliche Vorahnung durchfährt sie wie ein Speerstoß und raubt ihr den Atem.

Mit plötzlicher Gewissheit spürt sie, dass etwas Furchtbares passiert ist.

Im Wald vor ihr bewegt sich etwas. Die tiefe Trauer, die auf einmal ihr Herz erfüllt, macht ihre Beine bleischwer.

Die Kieselsteine auf dem Boden erzittern, und sie hört ein seltsames Klappern.

Im nächsten Moment bricht eine Herde Gazellen aus dem Wald hervor, mit weiten Sätzen ergreifen sie alle gleichzeitig die Flucht.

Eine Stampede.

Wie eine Flutwelle jagen sie direkt auf Kat zu – vor ihnen wegzulaufen hätte keinen Sinn. Stattdessen bleibt sie wie angewurzelt stehen und wappnet sich für den unvermeidbaren Zusammenprall. Doch dazu kommt es nicht. In letzter Sekunde scheren die Gazellen aus, ihre Hufe wirbeln die Erde zu Kats Füßen auf, doch die Flut wogt um sie herum.

Erschrocken schnappt sie nach Luft, als eine der Gazellen direkt vor ihr schlitternd zum Stehen kommt. Ihre Flanken beben, ihre Nüstern sind ängstlich gebläht.

Was?, fragt Kat stumm. Die Angst des Tieres ist so deutlich zu spüren, dass sie selbst anfängt zu zittern. Was ist passiert?

Sie starrt in die dunklen, feuchten Augen der Gazelle … und dann sieht sie es.

Ein brennendes Haus. Rauch. Schreie. Mord. Sie sieht die Leichen im Hof.

Sotiria liegt neben dem Brunnen, ihre langen dunklen Haare treiben in einer Blutlache. Jacobs Mutter. Und viele Jahre im Grunde auch ihre Mutter.

Kat bekommt keine Luft mehr. In den Augen der Gazelle sieht sie Cleon neben dem Gartentor liegen, mit einer Axt im Rücken.

Jacobs jüngere Brüder liegen brutal zugerichtet und leblos im Dreck.

Und vor den Flammen, weißgolden vor dem blutroten Hintergrund, steht eine Gestalt. Silbriges Haar. Eine schlanke, zierliche Figur. Olympias.

Kats Beine geben unter ihr nach, und sie sinkt zu Boden.

Jetzt weiß sie also, was die Königin die letzten Tage getan hat; sie hat nach ihr gesucht. Und als sie sie nicht finden konnte, hat sie die einzige Familie getötet, die Kat noch hatte: Jacobs Familie.

Ihre Brust zieht sich krampfhaft zusammen. Sie kann nicht atmen.

Das alles ist allein ihre Schuld.

Wenn Jacobs Eltern sie nicht aufgenommen und als ihre eigene Tochter großgezogen hätten, hätte die Königin keinen Grund gehabt, sie zu töten.

Die Kinder …

Sie krallt beide Hände ins Gras, als um sie herum ihre ganze Welt aus den Fugen gerät. Genau wie damals, vor über zehn Jahren, als die Männer der Königin ihre Mutter töteten und dann alles nach ihr absuchten. Sie konnte damals nur durchs Fenster im Obergeschoss klettern und sich auf dem Dach verstecken.

Kats Lungen scheinen ihr den Dienst zu versagen, helle Punkte tanzen vor ihren Augen, und der Rest versinkt in Dunkelheit. Vielleicht wird sie in Ohnmacht fallen oder sogar hier im süßen Sommergras sterben … Sie atmet keuchend ein, und Luft strömt in ihre Lunge.

Wieder hört sie donnernde Hufschläge auf sich zukommen, blickt aber erst auf, als sich eine Hand auf ihren Rücken legt.

»Alles in Ordnung?« Sie hört Hephs Stimme, und da wird ihr plötzlich bewusst, dass er neben ihr kniet und ihre Hand hält. »Hat dein Pferd dich abgeworfen? Ich hab nach dir gesucht. Der Stalljunge meinte …«

Sprachlos starrt sie ihn an – sie versteht kaum, was er sagt.

»Komm, steh erst mal auf und lass dich anschauen«, sagt Heph und hilft ihr hoch. Er wischt ihr den Dreck vom Kopf und streichelt mit beiden Daumen ihre Wangen. »Was ist los?«, fragt er besorgt. »Um Himmels willen, Katerina, was ist passiert?«

Kat dreht sich von ihm weg, legt den Kopf in den Nacken und schließt die Augen. Die Sonne scheint ihr warm ins Gesicht – doch Cleon, Sotiria und die Kinder werden ihre Wärme nie wieder spüren. »Sie sind alle tot.« Die Worte klingen nicht nach einer menschlichen Stimme, eher wie das gequälte Jaulen eines Tieres.

»Wer?«, fragt Heph, umfasst ihre Schultern und streicht sanft über ihre Oberarme. »Wer ist tot?«

»Meine Familie. Jacobs Eltern und seine kleinen Brüder. Die Familie, bei der ich aufgewachsen bin.« Kat schlingt die Arme um ihren Bauch und wiegt sich vor und zurück, stellt sich vor, es wäre Sotiria, die sie sanft in den Armen wiegt, um sie zu trösten, wie sie es früher so oft getan hat, wenn Kat hingefallen war oder nicht schlafen konnte, weil sie Helena zu sehr vermisste. »Olympias hat sie alle getötet. Sie konnte mich nicht finden, und deshalb hat sie meine Familie umgebracht.«

Sichtlich verwirrt blickt Heph sich um. »War ein Botschafter hier und …?«

Kat atmet zittrig ein und reibt sich die Augen. »Die Gazellen haben es gesehen«, erklärt sie schlicht.

Heph sieht sie einen Moment verständnislos an, doch dann dämmert es ihm.

Kat beobachtet, wie er erneut zu der Erkenntnis gelangt, dass sie mehr ist als die Tochter eines Töpfers. »Nach dem, was ich auf dem Schlachtfeld gesehen habe, würde ich dir alles glauben, Kat.«

Die tröstlichen Worte bringen sie zum Weinen, und ihr ganzer Körper erbebt unter dem Ansturm der Tränen. »Sie will mich töten – schon seit meiner Geburt will sie nur, dass ich sterbe«, stößt sie schluchzend hervor. »Ich weiß nur … nicht … warum.«

Heph schlingt die Arme fester um sie, und sie lehnt sich an seine Brust. »Aus Gründen, die nur der Königin und den Göttern bekannt sind«, murmelt er leise. Er drückt sie noch einmal, und Kat kuschelt sich in seine starken Arme.

Wie kann sie jetzt, wo sie weiß, dass in ihren Adern das Blut einer durch und durch bösen Frau fließt, noch mit sich leben?

Sie will sich ein Messer ins Fleisch stoßen und Olympias’ Blut bis auf den letzten Tropfen herausströmen lassen. Vor ihrem inneren Auge sieht sie erneut die grauenhaft zugerichteten Leichen von Jacobs kleinen Brüdern. Sie hört die Königin lachen und riecht den beißenden Qualm. Sie muss weinen, bis all ihre Gefühle, all ihre Erinnerungen fortgespült sind, bis nichts mehr von ihr übrig bleibt als eine leere Hülle kalter, stahlharter Rache.

Ein heftiges Schluchzen schüttelt ihren Körper. Ihr Verlangen nach Rache, hat sie das auch von der Königin geerbt – wie ihre grünen Augen?

Sie sehnt sich nach Jacob. Nach seinem breiten Grinsen und seinem kantigen, freundlichen Gesicht. Nach seiner Herzensgüte und seinem unerschütterlichen Glauben an sie. Jacob ist immer für sie da gewesen, wenn sie traurig war oder sich einsam fühlte. Er musste nichts sagen; wenn er sie in den Arm nahm, ging es ihr sofort besser. Aber auch ihn hat sie für immer verloren – er ist jetzt ein Aesarischer Fürst. Ein Feind ihres Bruders.

Und, wenn sie Hephs Bericht über die Schlacht Glauben schenkt, auch ihr Feind. Heph behauptet, Jacob hätte versucht, sie zu töten, aber das glaubt sie ihm nicht. Das kann sie nicht glauben. Jacob weiß nicht einmal, dass sie Prinz Alexanders Schwester ist. Es gibt so vieles, das er nicht weiß. Aber dass Jacob sie hasst, darf einfach nicht wahr sein. Wenn er sie hassen würde, könnte sie nicht weiterleben.

Heph hält sie im Arm, sie spürt seinen Herzschlag am Rücken und ein leichtes Prickeln, wo seine Bartstoppeln ihre Wange berühren. Einen Moment stellt sie sich vor, er wäre Jacob. Sie atmet tief ein – und riecht ein teures Zitrus-Parfüm, eine Tunika, die frisch aus der Wäscherei kommt, und den unverkennbaren Geruch von Pferden und Leder. Jacob roch nach Holzrauch und Lehmstaub.

Es ist Hephaistion, an den sie sich jetzt klammert; der unhöfliche, eitle Junge, den sie bei ihrer ersten Begegnung – als er sie bezichtigt hatte, beim Wetten aufs Blutturnier geschummelt zu haben – überhaupt nicht ausstehen konnte. Der mutige, gerissene Junge, der sie aus dem tiefsten, widerlichsten Kerker im Palast herausgeholt hat, nachdem man sie unter falsche Anklage gestellt und eingesperrt hatte.

Der Junge, der sie auf dem Schlachtfeld womöglich mit einem Kuss gerettet hat.

Oder war der Kuss nur ein Traum und ihre wundersame Genesung ihrem Schlangenblut geschuldet? Einen Augenblick schien es ihr, als würde sich Jacob zu ihr herabbeugen, aber dann verwandelte sich sein Gesicht in das von Heph, und sie verlor das Bewusstsein. Sie wollte Hephaistion danach fragen, aber nach der Schlacht war er mit der Versorgung der Flüchtlinge und den Reparaturarbeiten an der Bibliothek beschäftigt. Und jetzt … jetzt hat sie das Gefühl, als wäre sie vielleicht besser auf dem Schlachtfeld gestorben. Dann wäre das alles nie passiert. Dann wäre Jacobs Familie noch am Leben.

»Kat«, sagt Heph sanft und streicht ihr die Haare aus dem Gesicht. »Wenn Olympias nach dir sucht, weiß sie, wer du bist. Und wenn sie dich bei ihrer Rückkehr im Palast findet, werden nicht einmal Alex und ich dich beschützen können. Wir müssen dich in Sicherheit bringen. Weit weg von der Königin. Sie wird zurückkommen.«

Kat nickt, löst sich aber nicht aus seinen Armen – noch nicht. Morgen kann sie einen Plan schmieden. Morgen kann sie mutig sein. Ein kühler Windhauch streicht sachte über ihre tränennassen Wangen. Sie fröstelt und starrt über das wogende Gras hinweg in die Ferne.

Leb wohl, flüstert sie im Stillen.

Kapitel 4

Vom Fenster des Ratsraums aus beobachtet Alexander, wie eine bucklige Gestalt auf einem Esel über den Palasthof aufs Haupttor zureitet. Sechs Bauern begleiten den Jungen. Einer führt sein Pferd am Zügel, die anderen beiden folgen ihnen in einem klapprigen, mit Rüben beladenen Wagen. Doch wenn irgendjemand genauer hinsähe, würde er erkennen, dass die Männer zu gut genährt – und zu muskulös – sind, als dass sie irgendetwas anderes sein könnten als Palastwachen. Und dass der Junge niemand Geringeres ist als Prinz Alexanders jüngerer, geistig behinderter Bruder.

Obwohl Alex weiß, dass er Arrhidaios wegschicken muss, um ihn zu schützen, krampft sich sein Herz zusammen, als er seinen Bruder durchs Tor verschwinden sieht. Vor einer Stunde hat er beobachtet, wie Sarina, Arris Kindermädchen, frische Kleidung und eine Reisedecke in seine Satteltaschen packte. Sie dachte sogar daran, seine hübsch glänzenden Lieblingsknöpfe einzupacken, während Arri sich tränenreich von seiner Hausratte Herakles verabschiedete. Obwohl er schon zwölf ist – das Alter, in dem die meisten makedonischen Jungen mit dem Militärtraining anfangen –, weiß Alex, dass sein Bruder immer die Interessen eines Fünfjährigen haben wird.

Sorge nagt an Alex’ Herzen. Er ist sicher, dass die Aesarischen Fürsten Cynane entführt haben – auch wenn ihre Abgesandten das während der Friedensverhandlungen nach der Schlacht auf den Ebenen von Pella heftig bestritten. Als König Philipps Sohn würde Arri eine noch wertvollere Geisel abgeben als seine Halbschwester. Und trotz – oder gerade wegen – seiner geistigen Behinderung könnten sie ihn ohne weiteres als Marionettenkönig einsetzen und durch ihn selbst an die Macht gelangen.

Es war Kadmus, der dem Rat vorschlug, eine Entführung vorzutäuschen. Arri und die Palastwachen würden, als Bauern verkleidet, nach Mieza reiten und bei einer Familie unterkommen, die dem König immer absolut treu gedient hat. Sobald der junge Prinz in Sicherheit wäre, würde der Rat bekanntgeben, dass Arrhidaios entführt worden ist. Die meisten würden annehmen, die Aesarier hätten ihn verschleppt, und die Aesarier würden denken, einer von Makedoniens sogenannten Verbündeten – Thrakien, Byzanz, Persien oder Athen – hätte sich im Chaos der Schlacht in den Palast gestohlen und den jungen Prinzen entführt.

»Jetzt ist er sicher«, sagt Alex, mehr zu sich selbst als zum Rat, dem er sich mit diesen Worten zuwendet. Die unruhige Energie eines Geheimnisses, das auf keinen Fall aufgedeckt werden darf, pulsiert noch immer durch seine Adern, und er fängt an, nervös auf und ab zu wandern. »Guter Vorschlag, Kadmus. Danke.«

Alex spürt Hephs stechenden Blick, ehe er ihn sieht; wie die brennende, kribbelnde Hitze der Sommersonne im Nacken. Er verkneift sich ein genervtes Augenrollen. Heph führt sich auf wie ein eifersüchtiges Kind. Er weiß genau, dass Alex sich alle Vorschläge anhören und die besten in die Tat umsetzen muss – egal, von wem sie stammen. Die Kluft, die sich seit der Schlacht zwischen ihnen aufgetan hat, macht ihn auch traurig, aber er ist ein Prinz, der als König handeln muss, um sein Volk zu beschützen.

»Mögen die Götter ihn behüten«, sagt Gordias, der Religionsminister, und hebt seine krummen, altersfleckigen Hände.

»Mögen die Götter ihn behüten«, wiederholt Theopompos, der Proviantmeister, und lässt sich auf seinen Stuhl plumpsen, der unter seinem Gewicht bedenklich ächzt. Auch die anderen Männer im Saal nehmen Platz. Alle bis auf Alex.

Er kann nicht ruhig sitzen. In Bewegung zu bleiben hilft ihm, klarer zu denken und seine Sorgen etwas zu mildern. »Was ist mit den Aesariern?«

Theopompos zupft gedankenverloren an seinem blonden Bart, in den türkisfarbene Perlen eingeflochten sind. »Die Aesarier scheinen ihren Teil der Abmachung einzuhalten. Sie warten in Pyrrhia friedlich darauf, dass ihr Oberbefehlshaber ihnen die Entschädigung schickt, die sie uns schulden, und sie benachrichtigt, wo sie als Nächstes gebraucht werden.«

Nach der Schlacht bat der neue Hochfürst Gideon um Friedensverhandlungen, den Austausch ihrer Gefangenen und einen sicheren Ort, an dem die Aesarier ihre Verwundeten verpflegen konnten, und versprach im Gegenzug, für den grundlosen Angriff auf Makedonien Reparationszahlungen zu leisten. Alexander gestattete ihnen, sich in eine verlassene Festung, einen Tagesritt von Pella entfernt, zurückzuziehen. Früher war er dort manchmal mit seinen Kameraden, wenn König Philipp es ihnen erlaubte, eine Weile hierzubleiben, um sich in Gebirgskriegsführung zu schulen und auf die Jagd zu gehen.

Er traut den Aesarischen Fürsten nicht. Genauer gesagt, glaubt er ihnen kein Wort. Weder ihre Behauptung, sie hätten nichts mit Cynanes Verschwinden zu tun – wenn Alex und seine Männer die Festung nach ihr absuchen würden, würden die Aesarier sie vermutlich einfach verstecken –, noch ihr Versprechen, Makedonien zehn Talente Gold als Entschädigung zu zahlen, noch ihre Zusicherung, sie würden sich friedlich zurückziehen. Jederzeit könnten Tausende Aesarier aus aller Herren Länder wie ein gigantischer Bienenschwarm über Makedonien herfallen. Es gibt Gerüchte über eine Apparatur, die Feuer speit wie ein Drache und Stadttore in Brand setzen kann. Und der Großteil der makedonischen Armee befindet sich mit König Philipp im Krieg gegen Byzanz. Als Alexander seinen Vater bat, wenigstens ein paar seiner Männer zurückzuschicken, um ihr Heimatland zu verteidigen, weigerte sich der König und wies spöttisch darauf hin, dass Alex und die Fürsten doch ein Friedensabkommen ausgehandelt hätten.

»Haben unsere Spione aesarische Schiffe in unseren Gewässern gesichtet?«, fragt Alex. Sein Blut kocht noch immer, und er läuft weiter mit kurzen, schnellen Schritten auf und ab. »Nähern sich aesarische Truppen auf dem Landweg?«

Kadmus schüttelt grimmig den Kopf. In seinem schmalen, braungebrannten Gesicht glitzern seine grauen Augen wie geschliffenes Eis. »Nein, nichts. Aber heute Morgen sind die ersten Verstärkungstrupps aus unseren Festungen eingetroffen. Das sollte vorerst reichen, um Pella zu verteidigen, falls die Fürsten tatsächlich etwas aushecken.«

Theopompos trinkt in tiefen Zügen aus einem schwarzrot glasierten Kelch, donnert ihn auf den Tisch und wischt sich die tiefroten Tropfen aus dem Bart. »Chios, Euböa und Megara sind bereit, uns einige ihrer Soldaten zu schicken, wenn wir zahlen können.«

»Dafür haben wir kein Geld!«, ereifert sich Hagnon, der Finanzminister. »König Philipps Feldzug gegen Byzanz hat die Königliche Schatzkammer fast vollständig erschöpft. Und wir haben ein Friedensabkommen mit den Aesariern unterzeichnet! Einer derartigen Geldverschwendung werde ich nicht zustimmen.«

Wut steigt in Alex auf. Mit König Philipp würde Hagnon nie so respektlos reden. Dieses Recht nimmt er sich nur heraus, weil Alexander noch jung ist. Doch da der Finanzminister den Schlüssel zum Gold des Königs in Händen hält, versucht Alex, sich sein Missfallen nicht anmerken zu lassen.

Der Mann ist nicht nur knauserig, er genießt es auch, den Prinzregenten nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Alexander ist es – wie allen anderen – strengstens verboten, die Königliche Schatzkammer auch nur zu betreten. Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, Hagnon zu zeigen, dass diese Vorkehrungen wichtiger sind als seine kleinlichen Machtkämpfe. Abrupt bleibt Alex stehen. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit …

Kurz entschlossen setzt er sich auf den Platz direkt gegenüber von Hagnon und faltet die Hände auf dem teuren Ebenholztisch. Ein Sklave hat die Tischplatte blitzblankpoliert, und sie riecht nach Bienenwachs und Zitrone. Alex zwingt sich zur Ruhe, während Hagnon unaufhörlich weiter über leichtsinnige Geldverschwendung, aufgebrauchte Staatsschätze und dumme Entscheidungen zetert.

»Ihr habt guten Grund, Euch zu sorgen«, unterbricht ihn Alex und ruft sich in Erinnerung, was Katerina ihm über Schlangenblut erzählt hat – wie sie gelernt hat, sich die Magie in ihrem Innern zunutze zu machen. Entspann dich. Atme ganz ruhig. Denk eine Weile an nichts. Stell dir vor, du wärst ein leeres Gefäß, ohne Gedanken. Und dann denk an etwas, das dich glücklich macht.

Es ist schwer, an nichts zu denken. Als wolle er sich weismachen, in seiner Brust schlage kein Herz und durch seine Adern fließe kein Blut. Er verdrängt die Gedanken wie Spinnweben, doch ein paar Fetzen bleiben zurück. Dann denkt er an regenschwere Wolken, an den warmen Geruch von Leder und den Wind in seinen Haaren, wenn er auf Bukephalos reitet. Fast hat er das Gefühl, in seinem eigenen Geist zu schweben.