Schlangenkönigin - Eleanor Herman - E-Book

Schlangenkönigin E-Book

Eleanor Herman

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Beschreibung

Liebe, Götter, Herrscher – und ein großes Schicksal Prinzessin Myrtale ist dafür vorgesehen, Philipp II. von Makedonien zu heiraten – obwohl sie leidenschaftlich einen schönen Fremden, mit geheimnisvollen grünen Augen liebt. Genau wie ihre Freundin Helen, aber da sie ein Orakel ist, bleibt ihr die Liebe versagt. Es gibt Herzschmerz, Neid und geheime Treffen. Doch dann verkünden die Götter eines Tages, dass eine von ihnen beiden das Kind gebären soll, das das Schicksal der ganzen Welt verändern wird. Und Prinzessin Myrtale bekommt einen neuen Namen – Olympias. Derselbe Namen, den die zukünftige Mutter von Alexander dem Großen tragen soll. ›Royal Blood – Die Schlangenkönigin‹ erzählt die Vorgeschichte zur neuen Fantasy-Serie bei FISCHER FJB.

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Seitenzahl: 253

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Eleanor Herman

Schlangenkönigin

Royal Blood – Eine Story

FISCHER digiBook

Inhalt

Teil 1Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Teil 2Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Teil 3Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Teil 4Kapitel 12Kapitel 13

Teil 1

Kapitel 1

Sommer 362 vor Chr.

In gespenstisch blau-goldenem Dunst erleuchtet der Blitz die schlammige Straße vor ihr. Für einen Moment tauchen grüne Hügel und ein paar gekrümmte Olivenbäume auf, dann ist es wieder so dunkel, als hätte jemand eine dicke Decke über ihren Kopf geworfen. Der Donner dröhnt, die Erde erzittert unter Helenas Füßen. Doch sie schleppt sich weiter durch den Morast, zwingt sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ihre Stiefel sind durchweicht, ihr Umhang ist tropfnass, ihre Zähne klappern. Aber sie kann nicht anhalten. Noch nicht.

Sie hatte keine Wahl, sie musste bei Sonnenuntergang und mitten in einem Gewitter aufbrechen, ausgerechnet dann, wenn die Stadttore für die Nacht geschlossen wurden. Als sie sah, dass die Wachen schon dabei waren, sie zuzuschieben, blieb ihr fast das Herz stehen – denn wenn die massiven Tore erst einmal verriegelt waren, saß sie in der Stadt fest, und dann würde man sie mit Sicherheit finden. Gerade noch rechtzeitig schlüpfte sie hinaus und hörte, wie der riesige eiserne Riegel hinter ihr einrastete. Jetzt waren sie eingeschlossen, die Männer, die ihr Böses wollten.

Eile treibt sie vorwärts. Wenn der Morgen kommt, werden sie merken, dass sie nicht mehr da ist. Dann werden sie die Stadt durchsuchen und durch die offenen Tore stürmen. Bis dahin muss sie sich in Sicherheit gebracht haben. Aber wo? Die Straße führt zur Hauptstadt von Karien, nach Halikarnassos, zehn Meilen entfernt, am Meer. Das weiß sie, obwohl sie noch nie dort war. Man hat ihr nie erlaubt, Theangela zu verlassen.

Die Männer mit den gehörnten Helmen waren ihr auf den Fersen, um sie zu etwas Schlimmem zu zwingen – zu etwas noch Schlimmerem als dem, was Koinos mit ihr vorgehabt hatte. Sie war in dem Raum hinter dem Tuchladen gewesen und hatte in einem Bottich kochender Färberröte Wolle gefärbt, als sie sah, wie sie hereinkamen und nach Koinos fragten: zwei Krieger, groß und kräftig gebaut, auf dem Kopf Helme mit gewaltigen Hörnern. Einer der Männer hatte einen graumelierten Bart; der jüngere der beiden hatte dunkelbraune Haut.

Rauch stieg ihr in die Nase, und sie fühlte ein Prickeln in der Wirbelsäule. Nimm dich in Acht vor den hornbehelmten Fürsten, sie werden versuchen, dich brutal zu fesseln, sagten die Stimmen in ihrem Inneren, und ihr sträubten sich die Haare. Donner grollte wie das warnende Gebrüll eines Löwen. Helena schlang ihren Umhang fester um sich, rannte durch die Hintertür zu den Stadttoren und ließ das einzige Leben, das sie je gekannt hatte, hinter sich.

Vor zwölf Jahren hatte Koinos sie vor eben diesen Stadttoren auf dem Pikres-Hügel gefunden, dort, wo die Leute in Vollmondnächten ungewollte Kinder aussetzen, und Paare, die ein Kind verloren oder kein eigenes haben können, mit Laternen kommen und sich eines aussuchen. Die Kinder, die zurückbleiben, werden von wilden Tieren gefressen. Auf diese Weise beschafft sich Koinos alle seine Mädchen; er zieht sie in seinem Kinderheim auf, bis sie vier Jahre alt sind, und bringt ihnen dann nach und nach Weben und Sticken bei. »Kleine Finger machen das beste Tuch!«, sagt er immer. Mit vierzehn werden die Mädchen dann ins Haus der Aphrodite neben dem Tuchladen geschickt, um dort die Männer zu unterhalten. Helena hat sie gehen sehen – sie weiß, dass es nicht mehr lange gedauert hätte, bis auch sie ihnen gefolgt wäre.

Helena ist eine hervorragende Weberin, aber seit Monaten sind die anderen Mädchen beunruhigt von den prophetischen Stimmen, die von ihr Besitz ergreifen und unkontrollierbar aus ihrem Mund hervorsprudeln. Die Stimmen sind immer da, und selbst wenn sie gerade nicht sprechen, lauschen sie still am Rand ihres Bewusstseins. Um sie zum Leben zu erwecken, muss Helena Rauch einatmen, nur ein kleines bisschen aus einer Öllampe oder einer Feuergrube, einer Fackel oder einem Kochtopf. In letzter Zeit hat sie sich, so gut es eben ging, von jeder Art Rauch ferngehalten, was aber bedeutete, dass sie auch Licht und Wärme meiden musste. Außerdem kann sie trotz aller Vorsichtsmaßnahmen nie ganz sicher sein, denn oft reicht es schon, dass Zugluft ihr einen Hauch von Rauch in die Nase oder den Mund weht und er von dort in den Kopf steigt, um die Stimmen in Gang zu bringen. Sie dringen auch in ihre Träume ein, verwandeln sie in Albträume, in denen sie so laut schreit, dass das ganze Haus davon aufwacht.

Koinos wollte sie an diese fremden Männer verkaufen. An die Männer, die Magie suchen.

Wegen der Stimmen wollte er sie verkaufen.

Also hatte Helena keine andere Wahl als zu verschwinden.

Sturzbäche rauschen von den Hügeln herab und verwandeln die unbefestigte Straße in einen Sumpf. Nur mit großer Mühe kann Helena ihre Stiefel bei jedem Schritt wieder aus dem Dreck ziehen. Wie viele Meilen hat sie schon hinter sich gebracht? Wie weit schafft sie es noch? Links vor ihr ist ein Baum, dicht belaubt, mit ausladenden Ästen. Vielleicht kann sie sich eine Weile in seinem Schutz ausruhen und einen Moment dem strömenden Regen entfliehen. Dann plötzlich riecht sie es – den seltsamen, frischen Geruch, der auftaucht, kurz bevor der Blitz einschlägt.

Ehe sie sich rühren kann, fährt eine Lichtspur im Zickzack über den Himmel und trifft den Baum. Einen Augenblick schwebt der Blitz wie ein riesiger weißglühender Strang Wolle in der Luft, ein Ende berührt den Baum, das andere ragt meilenweit in den Himmel empor. Dann explodiert der Baum, schleudert seine Äste von sich wie ein Krieger seine Speere. Helena wirft sich zu Boden und legt die Arme über den Kopf. Als sie aufblickt, sieht sie die Überreste des Baums in einem Feuerball, zischend im Platzregen. Überall um sie herum stecken Äste im Boden. Rauch steigt in ihre Nase, alles verschwimmt vor ihren Augen.

Such in wogender See den Palast

Dessen Knie Gott Poseidon umfasst

Dich küsst mit Meeresgischt so hell

Und dich heimführen wird, sicher und schnell.

Die Stimmen murmeln in ihrem Kopf, kribbeln in Armen und Beinen, bewegen sich in ihr wie der Rauch. Sie muss sich am Meer in Sicherheit bringen.

Halikarnassos.

 

Der nächste Morgen ist fast gar kein Morgen, es wird nur ein bisschen weniger dunkel. Noch immer regnet es in Strömen. Helenas Magen knurrt, aber sie stolpert weiter, auf bleiernen Beinen, und sieht endlich die gigantischen Mauern, die rechteckigen Türme und das gewölbte Tor der Hauptstadt vor sich. Das Tor ist offen. Vor Erleichterung fängt sie an zu zittern.

Sie geht an florierenden Häusern und Geschäften vorbei, an öffentlichen Bädern, Plätzen und Brunnen, sieht aber nur wenige Menschen, die sich Umhänge oder Tücher über den Kopf halten und in Hauseingängen Schutz suchen. Kein Händler hat heute seine Waren im Freien ausgestellt. Die Tische vor den Tavernen sind leer, die Fensterläden an den Wohnhäusern sind geschlossen. Als Helena sich dem Hafen nähert, riecht sie die Salzluft, den feuchten Stein und den Holzrauch, der von den Dächern aufsteigt. Schnell legt sie die Hand über Nase und Mund und bemüht sich, ihn nicht einzuatmen. Gerade jetzt, mitten am Tag, muss sie um jeden Preis vermeiden, dass sie in einen Trancezustand verfällt, denn schon bald werden die Männer in die Stadt galoppieren und auch hier nach ihr suchen.

Am Rand des Wassers steht sie in fast horizontal dahintreibendem Regen, beobachtet die Boote, große und kleine, die an den langen Landungsstegen liegen und leise aneinanderstoßen. Der Hafen ist ungefähr kreisförmig, umschlossen von zwei etwa zwölf Fuß hohen Steinmolen, die von beiden Seiten im Bogen auf die Hafeneinfahrt zuführen. Die Mauern sind ausgestattet mit Toren und Brustwehren, verziert mit Säulen, die Helena an Beine erinnern. Dessen Knie der Gott Poseidon umfasst. Die linke Mole verbindet gleichzeitig das Festland mit einem Inselpalast mit Türmen, Mauern und Befestigungen. Das muss der Palast von König Maussolos und seiner Familie sein. Ja, dorthin muss sie gehen. Aber die Tore auf der Hafenmauer sind geschlossen.

Um einen besseren Blick auf die Insel zu bekommen, kämpft sie sich gegen den Wind einen Landungssteg hinunter. Rechts und links schubsen sich die dort ankernden Schiffe, sie krachen ächzend gegeneinander, ihre Taue knarren. Am Ende des Stegs muss Helena sich in den Wind lehnen, um nicht umgeblasen zu werden. Das Wasser wogt, ein brodelnder Mahlstrom. Selbst wenn sie schwimmen könnte, würde sie es wohl kaum durch diese Strudel und Strömungen schaffen.

Eine Welle schlägt gegen ihre Füße, eine andere gegen ihre Knie. Sie schluckt schwer, versucht, sich rasch wieder aufzurichten, aber schon türmt sich die nächste Welle über ihr und wirft sie mit der Wucht eines angreifenden Raubtiers auf den Steg. Als wollte es sie in seinen Schlupfwinkel schleppen und dort verschlingen, so wird sie hilflos ins Meer gezogen. Sie kneift die Augen fest zusammen, und ihr Atem, in der Lunge eingeschlossen, kämpft verzweifelt darum, sich zu befreien. Die See trommelt auf sie ein, wirft sie umher, schlägt sie windelweich. Fast ist sie bereit aufzugeben und in der brutalen, aufgewühlten Finsternis zu versinken. Ihr Bewusstsein beginnt zu schwinden.

Doch dann ist sie plötzlich an der Oberfläche. Keuchend. Um sich schlagend. Hart und schmerzhaft trifft die Luft ihre Lungen.

Auf einmal entdeckt sie aus dem Augenwinkel ein Objekt, das auf den Wellen tanzt – ein kleines Kanu, das seine Taue hinter sich herschleift. Bestimmt hat es sich im Sturm von der Anlegestelle losgerissen. Helena bekommt eins der Taue zu packen und zieht sich zu dem Boot. Sie hat keine Ahnung, wie sie hineinklettern soll, aber da hebt eine große Welle sie hoch und erledigt es für sie. Die Wucht des Aufpralls hallt in ihrer ganzen Wirbelsäule wider, von oben bis unten, sie liegt auf dem Rücken, würgt und hustet Meerwasser. Die nächste Welle fegt das Boot in Richtung der Insel und kracht auf Helena nieder wie die Hand eines Riesen. Helena duckt sich vor dem Schlag, Wasser schwappt um sie herum, stürzt auf sie herab. Sie hört ein leises Wimmern, wie von einem kleinen Kind, und erkennt vage, dass das Geräusch von ihr kommt. Auf und ab geht die wilde Fahrt, das Boot fällt von hohen Wellenkämmen hinunter in tiefe Wellentäler und steigt wieder empor, der Wind pfeift und heult.

Doch endlich setzt das Boot knirschend am Ufer auf.

Einen langen Augenblick – sie weiß nicht genau, wie lange er ist – bleibt sie einfach liegen, unfähig, die Augen zu öffnen, unfähig, sich zu rühren. Aber dann beginnt sie zu frösteln.

So kriecht sie aus dem winzigen Kahn und richtet sich unsicher auf. Vor ihr liegt ein Weg. Sie stolpert darauf zu und folgt ihm in einen Garten, wo Blätter um sie wirbeln und Äste zu Boden krachen. Auf halbem Weg zum Palast bricht sie zusammen, sie kann nicht mehr.

Nach einer Zeit flaut der Wind ab, und sie hört das vertraute Geräusch von Holz auf Holz – Fensterläden werden geöffnet –, dann eine junge Frauenstimme. »Wachen! Da liegt ein Mädchen im Garten! Bringt sie herein!«

Kapitel 2

Drei Jahre später. Herbst 359 vor Chr.

Einen Spatz auf der Schulter, einen anderen auf ihrer bronzenen Tiara, wartet Ada auf einem der fünf Sitze, die kreisförmig im Garten stehen. Vor ihr im Hafen schaukeln die Schiffe, ihre Segel knattern im Wind. Sie hört das Geflattere einer Taube und dreht ihren Kopf zu dem landenden Vogel. Das Tier spreizt seine rosa-grauen Federn und stolziert mit einem Zweig im Schnabel auf sie zu; bei jedem Schritt streckt es ruckartig den Kopf nach vorn.

»Herrin«, sagt Helena hinter ihr, »möchtet Ihr lieber rosa oder rote Rosen?« Seit Monaten arbeiten die beiden an einem Wandbehang mit einem höchst komplizierten Muster aus Vögeln, Wildtieren, Fischen und Blumen. Wenn er fertig ist, wird er das Prunkstück des Thronsaals sein. Heute hat Ada den Webstuhl für Helena ins Freie tragen lassen, damit sie den warmen Herbsttag an der frischen Luft genießen können. Schon bald werden sich die gnadenlosen nördlichen Winde auf sie stürzen und die kleine Hafeninsel monatelang in ihrem eisigen Griff halten. Dann drängen sich im Palast bei der Arbeit alle um die qualmenden Feuerschalen, die in den Innenräumen mit ihren dicken, feuchtkalten Mauern aufgestellt werden. Aber Ada hofft, bis dahin jeden Tag wenigstens ein paar Stunden draußen verbringen zu können.

»Rot«, antwortet sie auf Helenas Frage.

Als sie sich wieder dem Vogel zuwendet, sieht sie, dass an seiner Stelle jetzt ihr Bruder Idrieus vor ihr steht, lächelnd und mit einem Zweig im Mund. Seine dunklen Augen werden zu Halbmonden, ein Grübchen erscheint in seiner linken Wange. Jedes Mal, wenn sie sein Gesicht sieht – so schön und doch freundlich und verspielt – fühlt sie eine Welle von Glück, dass wenigstens ein Mitglied ihrer Familie geistig gesund ist und sie liebt.

»Sehr lustig«, sagt sie. Sehr talentiert, will sie damit eigentlich sagen. Von den fünf Hekatomniden-Geschwistern in Karien ist Ada die Einzige, die ihre starke Schlangenblut-Gabe nicht nutzen kann, um sich in ein Tier zu verwandeln. Noch nicht. Manchmal schlüpft ein Teil von ihr in die Falken, die über dem Hafen kreisen, dann spürt sie die Sonne, die ihre Federn wärmt, während sie auf den Luftströmungen dahinsegelt. Doch sie teilt nur die Erfahrungen der Vögel, ihr Körper bleibt, wo er ist. Selbst in der Trance ist sie sich immer ihrer schweren menschlichen Gestalt bewusst, die atmet, sich bewegt, vor sich hinmurmelt. Ihre Geschwister waren mit fünfzehn oder sechzehn Jahren in der Lage, sich zu verwandeln. Aber Ada ist inzwischen schon neunzehn und fragt sich allmählich, ob sie es jemals so weit bringen wird. Bei manchen, die Schlangenblut haben, kommt es nie dazu.

Menschen mit Schlangenblut – der Magie des Geistes – oder mit Erdblut – der Magie des physischen Körpers –, werden immer seltener, ihre Kräfte lassen nach, ihr Zauber – wenn sie überhaupt einen solchen besitzen – ist weniger wirksam. In der bekannten Welt ist Adas Familie die letzte mit einer so starken Blutmagie. Vielleicht wird Ada im Vergleich zu ihren Geschwistern immer schwach und unfähig bleiben.

Idrieus spuckt den Zweig aus und fährt sich mit der Hand durch seine langen schwarzen Locken. »Sie kommen mal wieder zu spät«, sagt er mit einem Blick auf die drei leeren Throne.

»Wie immer.«

»Ich frage mich, was sie machen.«

»Frag lieber nicht«, entgegnet Ada, noch ehe er den Satz vollendet hat. Die beiden ältesten Geschwister, Maussolos und Artemisia, haben sich schon immer ein bisschen zu sehr gemocht. Als Kinder haben sie sich gegen ihre drei jüngeren Geschwister verbündet, benutzten die Jüngeren als Sündenbock, wenn ihnen selbst Ärger und Bestrafung drohte, und quälten sie nach Herzenslust. Stets ergriffen sie Partei füreinander und bildeten eine vereinte Front gegen alle anderen. Als sie heranwuchsen, wurde aus ihrer gegenseitigen Zuneigung und Treue etwas Widernatürliches, nämlich körperliche Begierde, und nachdem ihre Eltern vor vier Jahren gestorben waren, verkündete der neu ernannte König Maussolos seine Verlobung mit seiner Schwester Artemisia. Das gesamte Königreich wurde gezwungen, die Hochzeit mit einem dreitägigen Fest zu begehen, und Ada hat sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass ihre Schwester und ihr Bruder Seite an Seite als König und Königin, als Ehemann und Ehefrau auf dem Thron sitzen.

Idrieus geht zum Webstuhl und inspiziert Helenas Arbeit. Sie blickt zu ihm auf, und Röte steigt ihr ins blasse Gesicht. »Du bist die kunstreichste Weberin, die ich je gesehen habe«, sagt er, und jetzt erreicht das Rot Helenas Stirn. Schweigend beugt sie sich noch tiefer über ihre Arbeit.

Ada lächelt über die Schüchternheit des vier Jahre jüngeren Mädchens. Helena ist bescheiden, fleißig und sehr loyal - alles, was man sich von einer Dienerin wünschen kann – oder von einer Freundin. Wichtiger noch – wie unangenehm Maussolos und Artemisia für Ada auch sind, das Geheimnis, das sie mit Helena teilt, tröstet sie. Ein mächtiges Geheimnis.

Es begann an einem stürmischen Nachmittag vor über drei Jahren, als sie aus dem Gartenfenster blickte und ein halbverhungertes Mädchen auf dem Weg liegen sah, halbertrunken, allem Anschein nach von Poseidon persönlich aus dem Meer gerettet. Ada ließ die Kleine in ihr eigenes Gemach bringen, ihr trockene Sachen anziehen und ins Dienerinnenbett stecken. Salome zündete ein Zedernholzstäbchen an und schwenkte es unter ihrer Nase, um eine Erkältung abzuwehren. Auf einmal jedoch begann das Mädchen unkontrollierbar zu zittern, als hätte sie einen Anfall, und rief immer wieder:

»Lügnerin wird sie genannt, verdorben bis ins Herz.

Die ganze Haarpracht auf dem Boden, welch ein großer Schmerz.«

Es klang fiebrig, fand Ada, obgleich die Stirn des Mädchens sich seltsam kalt anfühlte. Sie badete Gesicht und Brust der Kleinen in Minzwasser, entfachte eine Feuerschale neben ihrem Bett, um die Kälte zu vertreiben, und zündete mehrere Öllampen an, denn sie wollte nicht, dass das Mädchen in der Dunkelheit erwachte. Dann überließ sie es der Fürsorge ihrer alten Kinderfrau Salome. Als Ada zurückkam, war Salome in der Ecke tief und fest eingeschlafen, aber das Mädchen saß an Adas Webstuhl, und ihre Finger bewegten sich so flink hin und her, dass Ada ihnen kaum folgen konnte. Der von der Feuerschale aufsteigende Rauch umwaberte sie, aber sie hustete nicht und wandte ihr Gesicht nicht ab. Sie schien tief in einer Trance zu sein, denn sie starrte mit weit aufgerissenen Augen unverwandt geradeaus, den Kopf zur Seite geneigt, als lausche sie auf etwas. Dann sagte sie plötzlich:

»Flieg, flieg, flieg davon, sei endlich echt

Ein Raubvogel werde, denn das ist dein Recht.«

Ein Raubvogel. Das ist der Tiergeist, der zu Adas Schlangenblut-Begabung gehört. Wer war dieses Mädchen nur? Woher wusste sie das? Ada versuchte, in Helenas Bewusstsein zu schlüpfen, was sie bei jedem konnte, der kein Schlangenblut besaß, aber es war schwierig. Sie sah einen grauhaarigen Mann, der einen Ledergürtel schwang und ausholte, um ihn als Peitsche niedersausen zu lassen. Sie sah einen Blitz, der in einen Baum fuhr. Einen Wirbelwind hallender, flüsternder Stimmen. Weiter nichts.

Stundenlang beobachtete Ada das Mädchen beim Weben völlig fasziniert. Kein einziges Mal schaute die Kleine auf das komplizierte Muster, sondern griff mechanisch, ohne den Kopf zu wenden, nach den neuen Farben auf dem Seitentisch. Als Ada weitere Lampen anzündete, schien es für das Mädchen nichts zu ändern, sie hätte offenbar auch im Stockdunkeln mit dieser übermenschlichen Geschwindigkeit weben können.

Als Ada irgendwann ruckartig erwachte, mit steifem Hals, weil sie so lange auf einem Stuhl gekauert hatte, sah sie, dass die ersten Sonnenstrahlen durch die Ritzen der Fensterläden lugten. Das Mädchen lag wieder im Bett. Ada stand auf, streckte sich und ging zum Webstuhl. Dort war ein komplexes vielfarbiges Muster entstanden, das einen Falken, eine Löwin, einen Wolf, eine Taube und eine Spinne zeigte - eine Webarbeit, für die jeder normale Mensch mehrere Tage gebraucht hätte. Doch dieses Mädchen hatte sie in wenigen Stunden bewerkstelligt.

Und sie hatte die fünf Tiergeister der königlichen Geschwister gewebt, die Karien regierten. Woher kannte das Mädchen sie? Niemand außerhalb der Familie wusste darüber Bescheid.

Erst nach Mittag erwachte das Mädchen, riss die Augen auf und sah sich so ängstlich um wie ein in die Ecke getriebenes Kaninchen. Ada beruhigte sie und bot ihr einen Teller mit Essen an, das die Kleine gierig verschlang. »Eure Haare«, sagte sie leise und streckte eine knochige Hand nach Adas langen dunklen Locken aus, »auf dem Boden.« Dann drehte sie sich um und schlief sofort wieder ein.

An diesem Abend informierte Ada König Maussolos und Königin Artemisia, dass sie das Abendessen nicht mit ihnen einnehmen würde, weil sie sich nicht wohlfühlte – obwohl sie ihn Wahrheit nur die widerlichen Freier meiden wollte, die das Königspaar für sie eingeladen hatte: fette alte Männer mit braunen Zähnen, schmierigen Händen und nach Fisch stinkendem Atem. Als Artemisia in ihr Gemach platzte und dort Ada vorfand, die Honigkuchen mampfte und mit Salome Astragoloi spielte, packte sie Adas Webschere und begann, ihr die Haare auf Ohrhöhe abzuschneiden. »Das sollte dich glücklich machen«, schimpfte sie, während sie rupfte und schnippelte. »Kein Mann will ein kahles Mädchen heiraten. Weißt du, warum ich das tue? Du bist eine Lügnerin, verdorben bis ins Herz!«

Fasziniert, aber keineswegs entsetzt sah Ada zu, wie ihre Locken auf die Marmorfliesen fielen. Das Mädchen hatte recht gehabt … sie hatte genau diesen Augenblick vorhergesagt.

Also war sie ein Orakel, vielleicht das erste Orakel seit Jahrhunderten.

In vielen Heiligtümern lebten Frauen, die Rauch inhalierten und Verse rezitierten, die keinen Sinn ergaben – oder zumindest erst viel später, wenn man sie als Hinweis auf etwas auslegen konnte, was tatsächlich passiert war. Aber dieses Mädchen war echt. Sie hatte sogar den Wortlaut dessen vorhergesagt, was Artemisia sagen würde.

Ada beschloss, Helenas Fähigkeit für sich zu behalten und nicht einmal Idrieus davon zu erzählen. Sie würde die Gaben des Mädchens kultivieren und sie vor Maussolos und Artemisia beschützen. Zu diesem Zweck verbreitete sie das Gerücht, Helena hätte die Fallsucht und versänke gelegentlich in seltsame Trancezustände.

In den drei Jahren darauf brachte sie Helena Lesen und Schreiben bei. Das Mädchen lernte rasch, und mit gutem Essen und ausreichend Ruhe – was sie in Koinos‘ Einrichtung beides nicht bekommen hatte – erblühte sie rasch.

Groß und schlank, mit makelloser Haut, goldbraunen Haaren und großen blauen Augen wurde sie inzwischen nicht nur das Objekt der Begierde vieler junger Diener, sondern auch vieler hochwohlgeborener Besucher. Aber sie ignoriert alle. Ihre Treue gilt ausschließlich Ada. Vor Helena hat Ada echte Freundschaft nie gekannt, abgesehen von der mit ihrem Bruder Idrieus. Jetzt ist sie endlich nicht mehr so allein.

Oft schließen die beiden jungen Frauen sich in Adas Gemach ein, damit Helena mit der Stimme der Götter über die Zukunft sprechen kann. Und jedes Mal, wenn Ada die grausame Schönheit von Artemisia und die schimmernden, kalten Augen von Maussolos sieht, lächelt sie in sich hinein und denkt: Sie wissen nichts davon, sie haben keine Ahnung.

Ada zieht ihren Schal enger um sich; der Spatz auf ihrer Schulter zwitschert protestierend und hüpft auf die Stuhllehne. Obwohl die Sonne warm ist, trägt die Brise, die vom Wasser herüberweht, etwas vom kommenden Winter in sich.

»Man sollte doch meinen, dass sie sich nach vier Jahren Ehe allmählich miteinander langweilen«, meint Idrieus und setzt sich neben Ada.

Sie verzieht angeekelt den Mund. »Ich glaube, ihre Leidenschaft wird permanent von ihrer Perversion angefeuert.«

»Perversion?«, wiederholt eine sarkastische Stimme.

Erschrocken drehen Ada und Idrieus sich um. Es ist Artemisia, die auf ihren langen, schlanken Beinen aus dem Palast stolziert, die dunklen Augen ärgerlich zusammengekniffen. Ihre dichten, hüftlangen Haare fallen wie ein schimmernder blauschwarzer Umhang über ihren Rücken und ihre Schultern, in hartem Kontrast zu ihrer Alabasterhaut, die sie jeden Tag mit Eselsmilch bleicht. Dicht hinter ihr erscheint Maussolos mit seinen Hunden, gefolgt von der Kinderfrau Bremusa mit dem Sohn der beiden auf dem Arm. Adas Herz setzt einen Schlag aus. Jede Erwähnung von Artemisias unnatürlicher Liebe zu ihrem Bruder treibt ihre Schwester in einen Zustand bösartigen Wahnsinns.

»Was redet ihr da von Perversion?«, fragt auch Maussolos, unterwegs zu seinem Thron. Seine schwarzen Augen blitzen, und mit seinem langen schmalen Gesicht, dem gepflegten schwarzen Bart und den scharfen weißen Zähnen hat er große Ähnlichkeit mit dem Wolf, in den er sich verwandeln kann.

Artemisia beugt sich über ihn und küsst ihn mitten auf den Mund. »Sie meinen diese Perversion«, sagt sie mit heiserer Stimme. Maussolos legt den Arm um sie, ohne seinen eiskalten Blick jedoch von Ada abzuwenden, und sie ahnt, dass er sein Schlangenblut einsetzen wird, um irgendetwas Schreckliches zu bewerkstelligen. Dann fällt ihr plötzlich auf, wie aufmerksam seine Hunde ihn anblicken, so, als erwarteten sie seine Anweisungen, und ihr stockt der Atem. Auch die Spatzen spüren etwas und flattern ängstlich davon, als die Hunde zu Helena hinüberstürzen, die fassungslos und ohne sich zu rühren am Webstuhl sitzt.

»Halt!« Ada läuft zu ihrer Freundin, stößt sie vom Hocker und wirft sich mit ihrem ganzen Körper über sie, während die Hunde reißen, zerren … und den wunderschönen Wandteppich zerfleischen, an dem sie so lange gearbeitet haben. Als Ada wieder aufsteht, ist von dem Meisterwerk nur noch ein Haufen Fetzen übrig.

»Das nächste Mal«, sagt Artemisia, und ihre Stimme klingt wie das Schnurren der Löwin, in deren Gestalt sie schlüpfen kann, »das nächste Mal werden sie das mit dir machen, Ada. Oder mit deiner Dienerin.«

Die meisten Kinder hätten bei Anblick der zähnefletschenden, grausamen Hunde angefangen zu weinen, aber der zweijährige Pytr versucht sich aufgeregt aus Bremusas Armen zu befreien. Als sie ihn endlich absetzt, rennt er sofort zu den Hunden, die um die Überreste des Kunstwerks schleichen und es knurrend beschnüffeln. Ohne das geringste Anzeichen von Angst setzt sich der Kleine zwischen die Bruchstücke des Webstuhls und lacht. Über Adas Rücken läuft eine Gänsehaut, denn es ist kein normales Kinderlachen, sondern ein kalter, schneidender Laut, der sie an eine Schwertklinge erinnert. Mit seinen rundlichen Beinen und Händchen, den hüpfenden braunen Locken und großen braunen Augen müsste der kontaktfreudige kleine Junge eigentlich ein bezauberndes Kind sein. Aber so ist es keineswegs. Er hat etwas Unheimliches an sich, etwas Verstörendes, und immer wieder erscheint auf seinem pausbäckigen Gesicht ein Ausdruck, der ihr durch Mark und Bein geht. Wie mächtig wird sein Schlangenblut sein? Wie wird er es nutzen?

Schließlich steht Ada auf, klopft Erde und Gras von ihrem Gewand, beugt sich zu Helena und flüstert: »Geh in dein Gemach und mach dich bereit.« Gehorsam verlässt Helena den Garten. Als Ada zu ihrem Sitz zurückkehrt, sieht sie, dass Pixodarus, der jüngste Bruder, seinen Platz auf dem fünften Thron eingenommen hat, auf der Schulter eine große, haarige Tarantel. Mit seinen achtzehn Jahren besitzt auch er die dunkle Attraktivität der ganzen Familie. Doch er ist ein merkwürdiger, launenhafter Junge, manchmal ein wildes verwöhntes Kind, dann wieder so von seiner Gabe gequält, dass er sich in einen dunklen Kellerraum einschließt und mit dem Rest seiner Spinnen dort umherkriecht.

»Nun, da wir alle anwesend sind, können wir beginnen«, sagt Maussolos und zieht seine purpurnen Gewänder zurecht. Artemisia, die neben ihm sitzt, legt ihre juwelengeschmückte Hand auf die seine und blickt mit einem liebevollen Lächeln zu ihm auf.

»Wie wir alle wissen, suchen die Aesarischen Fürsten immer verzweifelter nach Personen mit Schlangen- und Erdblut«, fährt Maussolos fort. »Überall in der bekannten Welt schwärmen sie aus und halten Ausschau nach Menschen wie uns, sie drohen, verschleppen und sind notfalls auch bereit, Krieg zu führen. Nie hätte ich gedacht, dass sie es wagen würden, Halikarnassos anzugreifen, doch ich musste mich eines Besseren belehren lassen.«

Artemisia schnaubt verächtlich. »Ich glaube immer noch nicht, dass sie es versuchen.«

Aber Ada setzt sich auf. Die Fürsten lehnen jede Art von Magie ab – ganz gleich ob Blutmagie, Hexerei, Zauberkunst, oder Wahrsagerei, und sie gehen sogar gegen die Dorfmädchen vor, die zum Spaß einfache Liebestränke brauen. Als Helena ihr von den beiden Männern mit den gehörnten Helmen erzählt hat, die damals versucht haben, sie Koinos abzukaufen, wusste Ada sofort, dass es sich um Aesarische Fürsten gehandelt haben musste. Liebend gern würden sie ein Mädchen mit Helenas prophetischen Fähigkeiten in die Finger bekommen. Aber von denen, die Magie ausüben, sind die fünf Hekatomniden-Geschwister in der ganzen Welt die Berühmtesten.

»Wir müssen dringend Sicherheitsmaßnahmen ergreifen, um uns verteidigen zu können«, sagt sie, und ihre Gedanken rasen. »Wir sollten zumindest bereit sein, für den Fall, dass die Berichte, die Maussolos gehört hat, der Wahrheit entsprechen.«

Als im letzten Jahr die nahegelegene Insel Kos eine Invasionsmacht gegen Halikarnassos ausschickte, hatten die Geschwister gemeinsam eine effektive Verteidigungsstrategie aufgestellt. Anfangs hatte Ada Angst gehabt, obwohl sie zehn Jahre bei den besten Lehrern der Welt in jeder Waffendisziplin ausgebildet worden war und sich bei den angesehensten Experten Kenntnisse über militärische Strategien angeeignet hatte. Gegen die Koer hatte sie ihre Fähigkeiten erfolgreich unter Beweis gestellt – sogar Maussolos und Artemisia hatten ihren Mut und ihre taktische Klugheit gelobt. Aber die Aesarischen Fürsten, sollten sie tatsächlich kommen, würden wesentlich schwerer zu schlagen sein als fünf Schiffe wütender Inselbewohner.

Maussolos winkt ab. »Ich habe bereits die entsprechenden Befehle gegeben«, sagt er. »Aber wir müssen noch mehr tun. Wir müssen dafür sorgen, dass unser Blut stark bleibt. Wir dürfen es nicht mit schwachem Blut vermischen.«

Ada schaudert. Als Maussolos und Artemisia geheiratet haben, lautete ihre Begründung, dass sie durch die Geschwisterverbindung die Stärke ihres Schlangenbluts auch für die nächste Generation erhalten wollten, damit diese noch besser fähig sein würde, Karien gegen Feinde zu verteidigen. Doch Ada fragte sich, ob es sich dabei nicht vielmehr um eine nobel klingende Ausrede für ihren Inzest handelte.

Gestern hatte Helena sie in einer Trance gewarnt, dass Maussolos und Artemisia etwas Grässliches planten, und nach dem momentanen Verlauf des Gesprächs glaubt Ada zu wissen, was das ist. Ihrer wachsenden Panik zum Trotz setzt sie ein gelassenes, aber interessiertes Gesicht auf und sagt: »Unsere Blutlinie ist bereits die stärkste der Welt, Maussolos. In den meisten Familien überspringt das Schlangenblut mehrere Generationen, aber in unserer besitzt jedes Mitglied jeder Generation diese Gabe.«

Maussolos mustert sie durchdringend. »Und ich beabsichtige, dafür zu sorgen, dass es so bleibt, liebe Schwester. Du bist jetzt im heiratsfähigen Alter, und wenn wir deine Heirat arrangieren, müssen wir sowohl unseren Reichtum als auch unsere Blutlinie festigen.«

Ada zuckt innerlich zusammen, schweigt jedoch. Ohne ihr Zutun greift ihre Hand nach dem silbernen Anhänger, den sie als Schutzamulett an einem Lederband um den Hals trägt. Die sechsblättrige Blume des Lebens ist das Symbol der Blutmagie - alle fünf Geschwister besitzen ein solches. Man sagt ihm verschiedenartige Wirkungen auf die einzelnen Bluttypen nach. Für diejenigen mit Schlangenblut verhindert die Lotusblume, dass ihre Kräfte außer Kontrolle geraten, und spätestens seit dem Tod ihrer Eltern, die dem Wahnsinn verfallen sind, weiß Ada, dass diese Gefahr sehr ernst zu nehmen ist.

»Wenn wir dich außerhalb der Familie verheiraten«, fährt Maussolos unbeirrt fort, »müssen wir eine gewaltige Mitgift aufbringen, und deine Kinder werden eine geringere Chance haben, Schlangenblut zu besitzen. Daher haben Artemisia und ich den Entschluss gefasst, dass du Idrieus heiraten wirst. Nächsten Monat. Und dass ihr Kinder zeugen werdet.«

Ada öffnet den Mund, bleibt aber noch immer stumm. Sicher, sie liebt Idrieus. Da sie aufgewachsen ist mit einer geisteskranken Mutter, einem ebenfalls geisteskranken kleinen Bruder, einem kühl-abweisenden Vater und zwei älteren Geschwistern, die sich wegschlichen, um undenkbare Dinge zu tun, blieb Ada nur Idrieus. Sie wurden von denselben Lehrern unterrichtet, absolvierten gemeinsam das Kampftraining, lernten zusammen im Hafen schwimmen und spielten den Dienern zu zweit ihre Streiche. Ein Leben ohne Idrieus kann Ada sich nicht vorstellen. Aber er ist ihr Bruder.

Der Gedanke, mit ihm … wie Artemisia und Maussolos …

Übelkeit steigt in ihr empor. Verstohlen schielt sie zu Idrieus, dessen Gesicht unergründlich geworden ist. Er wird nichts sagen. Er wird tun, was immer notwendig ist, um den Frieden zu wahren. Das tut er immer.