Grace - Paul Lynch - E-Book

Grace E-Book

Paul Lynch

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Beschreibung

Es begann damals 1845. Aber Grace, die einzigartige Heldin des Iren Paul Lynch, ist vollkommene Gegenwart in diesem bildreich-poetischen Roman, der mit ihren Sinnen und Gefühlen die grausame Wirklichkeit der großen Hungersnot erleben lässt. Grace, vierzehn, wird in Männerkleidern von zu Hause fortgeschickt, um irgendwo Arbeit, irgendwie Nahrung zu finden in einem Land, wo jeder danach sucht. Ihr zur Seite: der jüngere Bruder Colly. Seine muntere Stimme in ihrem Kopf. Und verschiedene andere merkwürdige Begleiter. Wer wird sie sein, wenn sie diese Wanderschaft durchsteht?

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PAUL LYNCH

GRACE

ROMAN

Aus dem Englischen von Christa Schuenke

OKTAVEN

Für Louise Stembridge, die uns verlassen hat.

Für Amelie Lynch, die sich zu uns gesellt hat.

Mein Leben, leichtes Spiel dem Todeswind,

Hängt federleicht auf meinem Handrücken.

— T. S. Eliot

Wer ist’s, der ohne Tod sich herverloren und sich’s

vermisst, durchs Totenreich zu ziehn.

— Dante Alighieri

Zu lichtem Äther löst die Zeit die harte

Kantigkeit der Fakten auf.

— Ralph Waldo Emerson

I SAMHAIN

Dieser Flutoktober. Und früh im Morgengrauen kommt ihre Mutter an und holt sie aus dem Schlaf, reißt sie aus einem Traum von der Welt. Am Arm wird sie durchs Zimmer geschleift, die Panik schießt ihr ins Blut. Bloß nicht schreien, denkt sie, nicht die andern wecken, so sollen die ihre Mam nicht sehen. Gehör verschaffen kann sie sich ja nicht, kriegt ja den Mund nicht auf, hat noch zu kauen an dem Schock, und darum redet ihre Schulter. Die protestiert laut knackend, hört sich an, als wär ihr Arm hinüber, ein Ast von einem Baum, glatt abgeknickt. Von einem Ort, der sprachlos ist, kommt die Erkenntnis: Ihre Welt muss aus dem Leim sein.

Als wär sie angeschirrt, schleift ihre Mutter sie zur Tür, ihr Körper krumm und schief wie ein verklemmtes Ackerwerkzeug, die Füße stumpfe Klingen. Vorn an der Türe Licht, dünn wie Messers Schneide. Ihre Augen kämpfen gegen die Finsternis, strengen sich an, die Mutter zu fixieren, doch sehen nur die knochenbleichen Finger, die ihr Handgelenk umklammern. Sie holt aus mit der freien Faust und trifft daneben, holt wieder aus, zielt in die Dunkelheit und trifft die Luft dazwischen, stemmt die Hacken in den Boden. Wille gegen Wille, sie gräbt sich fest, obwohl sich Sarahs Wille jetzt verwandelt hat in eine tierartige Kraft, eine Geheimkraft, denkt sie, wie bei dem Ochsen von Nealy Ford, eh er ihn totgemacht hat und ist weg, und nun brennt ihr Handgelenk im Klammergriff der Mutter. Von den Hacken auf die Zehen rollend, wird sie aus der Tür gezerrt.

Was draußen auf die beiden wartet, ist klirrende Kälte, als hätt sie ihnen extra aufgelauert, wie ein Tier, ein gieriges, im Dämmerschein des Morgens, der tief und grob und grau dort hockt. Noch nicht die richtige Winterkälte, obwohl die Bäume sich dicht aneinanderdrängen, alten Männern gleich, die sich zur Strafe nackt ausziehen mussten, und das abgehärmte Land liegt da und wartet. Die Bäume hier sind karge Ebereschen, doch ohne Beerenschmuck an den grazilen Gliedern. Kleinwüchsig und verdreht stehen sie, anscheinend reicht die seichte Erde ihnen nicht, um Fuß zu fassen, verkümmert sind sie und verkrümmt unter dem immertiefen Himmel. Und unter ihnen Sarah mit ihrer Tochter, dem fahlhäutigen Mädchen, vierzehn und noch immer knabenbrüstig, ins Gesicht hängt ihr das lange, offene Haar, sodass die Mutter nichts von ihr zu sehen kriegt als die entblößten Zähne im fratzenhaft verzerrten Mund.

Ihre Mutter drückt sie runter auf den Hackklotz. Da setz dich hin, sagt sie.

Einen Moment lang scheint’s, als habe eine weite Stille sich geöffnet, der Wind, in dieser Höhe sonst ein ruheloser Wanderer, regt sich nicht. Die Felsbrocken am Hang sind große Zähne, fest zusammengebissen, lauschend. In den verschlammten Pfützen ist das Mädchen ihre eigene Zeugin, sieht sie die Frau verzerrt, grau und grotesk über sich stehen. Der Augenblick der Stille ist zerstoben, ein Flügelschlagen, und schon huscht hügelwärts ein dunkler Vogel über ihren Kopf. Was ist denn bloß mit Mam passiert, wie ich geschlafen hab? denkt sie. Wer ist das bloß, der ihre Stelle eingenommen hat? Und plötzlich sieht sie, was das Herz am meisten fürchtet – aus Mutters Rock fährt dieses stumpfe alte Messer. Und dann, aus ihrer eigenen Finsternis, kommt die Geschichte ihres Bruders Colly, tief ernst die großen runden Augen, erzählt er die Geschichte einer Familie, deren Not so groß ist, dass sie das Messer an ihr Jüngstes legt. Oder war’s das Älteste? denkt Grace. Colly, immer ’ne Geschichte auf Lager, immer am Nörgeln, schwört bei seinem Leben, dass die Geschichte wahr ist. Lass doch mal den Blödsinn, hat sie damals zu ihm gesagt. Aber heute weiß sie, dass eins zum andern führt, und irgendwas hat auch zu diesem hier geführt.

Hinter sich hört sie Sarah keuchen. Hört, wie die Kleinen verstohlen die Tür aufmachen und zugucken wollen. Sie denkt an das letzte Lebendige, das sie haben bluten lassen, die Gans, wie sie ihr nachgerannt sind und sie sich entfaltet hat zu einem weißen Bogen, und wie ihr Schrillen da die Luft zerfetzte. Die unheimliche Erstarrung dieses Vogels, sein langer Hals hier auf dem Hackklotz, und ihre große Schwester nun, genauso starr wie das Tier, und dieses selbe stumpfe Messer, wegen dem das alles hier so lange dauerte. Und wie Boggs dort stand und hat gewartet. Der hat Mam ausgenommen wie ’ne Weihnachtsgans, denkt sie, und uns gleich mit. Grace sieht die Klinge und wird selbst zum Tier, sie bockt und stemmt sich gegen ihre Mutter.

Und dann der Colly, wie der angerast kommt, dieser bullige kleine Bengel von zwölf Jahren, wie ihm die Mütze runterfällt, wie er den Namen seiner Schwester schreit. Grace! Als tät’ er Gnade schreien. Sie hört in seiner Stimme eine schreckliche Verzweiflung, als könnte er, indem er ihren Namen ausspricht, sie retten, ihren Namen davor retten, dass er seinen Sinn verliert, als könnte ihr so lange keiner was zuleide tun, wie er noch ihren Namen hallen lässt. Sie spürt den Schwenk nach etwas Dunklem hin, das auf sie zukommt, wie Colly zerrt an seiner Mutter, wie er sich festklammert an Sarahs Taille mit den Armen, bis sie kurzen Prozess macht und ihn abschüttelt. Dann redet sie, und ihre Stimme zittert. Colly, mach hin, zurück ins Haus mit dir. Grace dreht sich um, sieht ihren Bruder, der mit roten Backen auf dem Podex sitzt, und sieht das Messer in der Hand der Mutter, halb versteckt, als würde sie sich seiner schämen. Auge in Auge, so begegnen sie einander, und Grace ist überrascht, dass sie nichts sieht bei ihrer Mutter – nichts, was für Wahnsinn spricht oder für Bosheit. Hört, als die Frau dann redet, wie in ihrer Kehle die Bänder sich zum Knoten schürzen. Genug jetzt, bitte, willst du wohl.

Dann fasst Sarah rasch dem Mädchen in die Haare, packt eine Faustvoll, legt ihn frei, den Hals wie Porzellan, und hebt das Messer.

Alles, was man sehen kann in einem Augenblick. Dann ist Collys Geschichte doch die Wahrheit, denkt sie. Das Letzte, was du wirst von Mam gesehen haben, denkt sie, das wird ihr Schatten sein. Du musst all das hier in Erinnerung behalten, denkt sie. Ein Schluchzen steigt aus ihrem tiefsten Innern auf und macht sich singend Luft.

Was ihr hier zustößt, ist der Herbst von ihrem langen Haar. Es fällt besinnungslos, fällt als ein Abendfarbenschimmern, ihr Haar, von Sonnenlicht durchwirkt, wird immer fahler. Sie schluchzt, weil ihr die Kopfhaut wehtut, wie ihre Mutter zerrt und säbelt. Schluchzt, als ihr Haar in Bändern fällt. Sie kneift die Augen zu, ganz fest, so lange, bis sie Sterne sieht. Als sie sie wieder aufmacht, hat die Mutter sie umrundet. Colly auf Knien, die Fäuste voller Haare. Der bitterkalte Wind leckt Grace den nackten Nacken. Sie hebt die Hände hoch, fasst sich benommen an den Kopf oder was davon übrig ist, die Mutter baut sich vor ihr auf, das Messer ist in ihrem Kleid verschwunden. Enttäuscht sieht Sarah aus, atemlos, bleich, erschöpft, am Hals wird ihre Haut schon schlaff, als ob sie wieder straff zu tragen einer Anstrengung bedürfte, für die sie nicht die Kraft im Leibe hat. Ihr Schlüsselbein ist eine Spange von verstoßner Schönheit. Auf ihrem Siebenmonatsleib lässt sie die Hände ruhen und wappnet sich mit ihrer Stimme gegen ihre Tochter. Was sagt sie?

Jetzt bist du die Starke.

Die Spiegelscherbe gibt die Welt gesprungen wieder. Grace fängt damit die Sonne ein in ihrem Wolkenfilz und biegt sie hin zu ihren Füßen. Lange, schmale Füße sind das, und, wenn auch unbeschuht, ganz unverkennbar ihre – so zart, typische Mädchenfüße, denkt sie, die Form so elegant, und würde man den Schmutz abwaschen, könnt’ man die Haut unter den Nägeln rosig schimmern sehen. Auf ihre schmalen Fesseln ist sie stolz, nicht so geschwollen wie bei Mam. Das vorspringende Knubbelknie mit der mondsichelförmigen Narbe. Sie dreht sich um und lenkt die Sonne mit dem Spiegel auf Collys Hinterkopf, der Junge schmollt, schnaubt Qualmwolken aus seiner Tonpfeife. Von drinnen hört sie rasche Füße trappeln, ein Kind fällt hin, an dem Geschrei erkennt sie, es ist Bran, der Jüngste. Colly murmelt einen Fluch, springt auf, als das Geschrei nicht enden will. Grace kann den Anblick ihres Kopfes nicht ertragen. Sie schwenkt den Spiegel nach der anderen Seite, sodass sie den Altweibersommer sieht, der zwischen zwei Felsbrocken sich spannt – ein Spinnennetz, das wie ein zarter Bogen schaukelt in der Brise, und wie es leis’ pulsiert, sodass es wie lebendig aussieht in der Sonne. Sie sticht mit ihrem Finger rein, zerreißt es, wischt, was hängen bleibt, sich ab an dem zerlumpten Rock. Wäre ihr Finger eine Klinge, er wäre wie ihr Hass, genauso scharf und spitz. Was würde ich damit nicht alles machen, denkt sie.

Bewegung an der Tür. Sie richtet ihren Spiegel dahin aus und sieht, wie ihre Mutter mit dem roten Umschlagtuch das Haus verlässt, sich’s um die Schultern wirft, so wie ein Fischer, der sein Netz auswirft nach einem Schwarm von Tageslicht. Sarah zieht sich einen Stuhl nach draußen, mitten auf die Straße, seufzt, setzt sich hin mit rotem Kopf, als würde sie auf jemand warten – Grace denkt, auf Boggs natürlich. Sarah ringt die Hände im Schoß. Sie seufzt wieder, steht dann auf und geht wortlos ins Haus, kommt zurück mit der Eschennadel, steckt damit ihr Tuch zusammen und setzt sich auf den Stuhl. Wenn Sarah in so einer Stimmung ist, traut keiner sich, sie anzusprechen, Colly und Grace jedoch behalten sie im Auge. Grace weiß, dass Colly seine Mutter gerade in eine Hexe sich verwandeln sieht und sie am liebsten mit der Faust kaltmachen möchte. Grace schaut die Mutter an, wie sie dort auf der Straße sitzt und hoch zum Berg starrt, und ihre Blicke bohren in die Löcher sich im schmutzig weißen Rock, den Sarah anhat, ein jedes groß genug, dass zwei, drei Finger reinpassen. Wie er sich bauscht, der Rock, unter der Taille, wie wenn sich beim Melodeon eine Falte knautscht. Und dann, für einen Augenblick, sieht sie in ihrer Mutter jemand anders und meint, hier in dem Spiegel Sarah so zu sehen, wie sie wirklich ist: eine Frau, die vielleicht mal jung war, was immer noch ein bisschen durchscheint. Wie grau sie jetzt geworden ist, in dieser fünften Schwangerschaft. Und dann ist diese Wahrnehmung verloschen wie ein Licht, und Grace hält sich von Neuem fest an ihrem Hass.

Plötzlich steht Sarah auf, schürzt ihren Rock. Geht los, die Straße rauf, die hoch zum Pass führt, die Arme vor der Brust verschränkt, den Körper vorgebeugt, dem Berg entgegen, ins dumpfe Farblos, wo bloß alles braun ist und nichts Gutes je gedeiht, das Land, wo nichts und niemand etwas von sich gibt als nur der Wind.

Sie weiß, die Kleinen sind vollkommen unschuldig, in jeder Hinsicht, und trotzdem – Boggs hat ihnen seinen Stempel aufgedrückt. Der gleiche feuerrote Schopf. Ein Ohrläppchen wie eine blank geputzte Münze. Die Nase platt wie von ’ner Bulldogge. Wie der ein jedes seiner Kinder abgestempelt hat! Letztes Jahr in der Stadt sah sie zwei Jungs, wie ihm aus dem Gesicht geschnitten waren die, auch so im selben Alter, doch Sarah, die ging einfach weiter, als hätt’ sie Scheuklappen. Darüber denkt Grace nach, als sie das Feuer wieder anmacht, das schon fast am Verglimmen ist. Erst Moos drauf, Knisterfunken speiend, und dann die Torfsoden, die tapfer liegen bleiben auf der Glut, als wären sie ihr ebenbürtig für den Moment. Mit ein paar Blechbechern voll Wasser bringt sie die Kleinen rasch zur Ruhe, guckt, wie das Feuer sich so nach und nach entschließt. Zu lange hat sie zugeschaut, wie es bergab gegangen ist mit ihrer Mutter – immer weiter und weiter bergab, bis nichts mehr von ihr übrig war als nur noch eine Art inneres Winterbild. Ganz glasige Augen hat sie gekriegt. Das war, nachdem Boggs sie das letzte Mal besucht hat. Der Mann – total verschwitzt, und hat die Ruhe weggehabt. Dieser Gang, so leicht hintüber. Und dieser rote Bart, fläzt da, als wär er seine eigne Majestät. Und wie er in der Stube sitzt und sich die Fingerhärchen zwirbelt und starrt dich dabei an, als ob er dich aufspießen will. Und überall die Jagdhunde, verrückte Biester, die folgen ihm auf Schritt und Tritt. Immer dasselbe, wenn er kommt. Und in der Nacht, was für Geräusche. Sarah winselt. Sogar bei Tage, wenn sie alle rausschickt. Und dann der Tag, wo er gefragt hat, ob er nicht mal könnt mit Grace alleine sein im Haus, und wie sich Sarah da vor ihm hat aufgebaut und hat gesagt, er soll das Mädel ja in Ruhe lassen, aber kaum war er weg, passierte eine seltsame Veränderung mit ihrer Mutter: Plötzlich waren ihre Augen schwarz und blicklos wie die von dem Ochsen von Nealy Ford – der Ochse, der stand immer da wie ’n Philosoph und ganz die Ruhe selber, bis er auf einmal losprescht, querfeldein, wie aufgeschreckt von ’ner Vision von seinem eigenen Ende. Das war, eh Nealy Ford, der Nachbar, ausgezogen war, ohne ein Wort zu sagen, hat einfach sich davongemacht, das Haus verlassen, das er frisch gekalkt, das Land, das er gedüngt hat und bestellt – schon wieder einer weg, hat Mam gesagt.

Grace geht hinaus und hakt den Riegel fest, setzt sich zu Colly auf den Hammerstein. Er krallt die Zehen ein und gräbt mit einer Hand in seiner Hosentasche, kramt ein paar Krümel Tabak raus. Wie Fragezeichen liegen sie in seiner Hand. Er hat noch immer Schlitzaugen vor Wut. Er stopft die Pfeife mit dem Daumen, Mist, sagt er laut und lässt sich runterrutschen von dem Stein. Kommt aber gleich zurück, die Pfeife brennt, er schwenkt einen kaputten Regenschirm. Sie schaut die Straße hoch, guckt, ob sie ihre Mutter sehen kann, zieht sich den Rock über die Füße, greift sich an den Kopf. Da drin ist etwas Unbekanntes, irgendwas, das krank macht, wie ein Strick, der langsam sich verknäult in ihrem Innern. Colly sitzt neben ihr, die Pfeife hängt ihm von der Lippe. Versucht, mit Bindfaden den Schirm zu reparieren, doch die Mechanik hat ’nen Knick. Grace spürt den Blick, der sie durchschaut, als könnte sie sich selbst von innen sehen. Wie unbequem sie dasitzt, Knie hochgezogen bis ans Kinn. Ihre verkorkste Schädelform und was das nun mit ihren Ohren macht. Die Scham, die man ihr anmerkt, dass sie so verschandelt ist. Dass ihre ganze Schönheit so zuschanden ist. Ich sehe aus wie ein verbeulter Tontopf, denkt sie. So ’n oller Teekessel mit blauen Augen. Ein Teepott mit zwei ekelig fetten runden Dingern dran als Ohren.

Sie dreht sich um, erwischt ihn, wie er guckt. Was ist denn? sagt sie.

Denk nich dran, Rattenzahn, die olle Schlampe, die is doch egal.

Sie greift sich an den Kopf. Denkt, jetzt muss man sich schon schämen, wenn dich einer ansieht.

Mein Kopf tut weh, sagt sie, der ist schon ganz erfroren in der Kälte.

Colly nimmt seine Mütze ab, wirft sie ihr hin. Hier, setz du auf. Mir is nich kalt. Grace setzt die Mütze auf, und Colly grient von einem Ohr zum andern. Huijui! Jetzt siehst du aus wie ich. Nich übel, oder?

Sie hält die Spiegelscherbe hoch, schaut rein und sieht, das Weiche unter beiden Augen ist ganz dick geschwollen. Betastet die verschorfte Wunde unterm linken Ohr. Zieht sich die Mütze drüber, doch nun sehen ihre Ohren erst recht riesig aus. Da quält sie sich ein Lächeln ab. Mit dem Ding, sagt sie, seh ich ja so aus wie du mit deinen großen Schlapperohren.

Collys Gesicht verknautscht sich zur gespielten Wutgrimasse. Hau bloß ab, du kahle Ziege.

Behaglich schweigend sitzen sie beisammen und sehen einer mächtigen Wolke zu, die wie ein schwereloser Berg tief hinzieht über ihren Köpfen und taucht das Land in ihren Schatten. Zwergenhaft klein, so sitzen sie dort in dem Spalt zwischen der Erde und dem Himmel, versuchen zu erkennen, was lautlos im Verborgenen liegt. Eine Amsel singt im Krickelkrackel eines Baums, und Grace beschließt, der Vogel singt für sie. Aus seiner Flugbahn wird sie eine Weissagung bestimmen. Sie denkt an Banger, der die Schmiede hat unten am Hang und der um sieben Ecken ein Cousin von Sarah ist. Was hatte der gesagt? Die Zeiten sind gefährlich, Grace. In Glásan hat’s Frösche geregnet und was nicht noch alles, darum ist die Kartoffelernte hin, da beißt die Maus kein’ Faden ab. Ein Zeichen von der Pukah-Fee, hat er gesagt. Sie weiß, dass nach der Missernte die Männer aus den großen Häusern im Unterland plötzlich Waffen trugen, um wenigstens ihr Nötigstes zu schützen. Dass Sarah darum sauer ist, und das, wo sie und Colly doch so gute Proviantbeschaffer sind. Was ist das bloß für ’n eigenartiges Jahr, denkt Grace, der Regen und die Unwetter, die haben den Sommer zum Winter gemacht, und diese Hitze im September und dann der brackige Gestank, der von den Feldern kam. Und jetzt noch dieser Flutoktober. Immerzu dieser Regen, wie in der Bibel, und alles tot. Und heute seit Wochen der erste trockene Morgen.

Was meinst du, Colly, wo Mam hingegangen ist?

Mir doch schnuppe.

Der Colly hat so eine Röte in den Backen, die nie verblasst. Ist immerzu am Denken, muss immerzu was basteln. Das Neuste sind jetzt Vogelfallen, obwohl ihn Sarah ausgeschimpft hat wegen dieser Dinger – du isst doch so was überhaupt nicht, nie im Leben. Aber Grace weiß, er hat ein paar gegessen, paar olle Krähen, nimmt sie an. Sie sah die verkohlten Knochen im Feuer. Wir sind vom selben Blut, wir zwei, denkt sie, nicht wie die Kleinen, und jetzt sieht ein Gesicht wie’s andre aus.

Sie dreht sich um, will lesen, was der Vogel prophezeit, doch der ist weg und hat nur ein Geheimnis hinterlassen. Und dann fällt es ihr ein, die Antwort ist so klar, dass sie erschrickt. Sie sagt sie flüsternd vor sich hin, wieder und wieder. Ja nicht laut aussprechen, denkt sie.

Und überhaupt, sagt Colly, Deibel noch eins, was hat Mam sich bloß dabei gedacht? Stark wird dich das bestimmt nich machen, dass sie dir die Haare abgeschnippelt hat. War das nich Samson, der deswegen sogar schwach geworden is?

Er hat’s noch nicht kapiert, denkt Grace. Möglich wär’s aber schon.

Weiß doch schließlich jeder hier, dass ich der Stärkste bin. Guck mal. Er krempelt sich die Ärmel hoch, macht eine Faust, drückt sie ganz fest zusammen, lässt seinen mageren Bizeps spielen. Das hier, das meine ich mit Stärke.

Colly, du bist zwölf.

Sie sieht, wie er an seiner Pfeife zieht, den Rauch zu tief einsaugt und kämpfen muss, dass er nicht hustet. Am liebsten möcht’ sie weinen um sich selbst, wegen der Schmerzenskälte da an ihrem Kopf, und wegen des Gefühls von Zungentaubheit, das sich breitgemacht hat in ihr drin, wegen der Zukunft, die man, wie sie weiß, längst für sie festgelegt hat, ohne sie zu fragen. Doch sie entschließt sich, Colly auszulachen.

Guck mal hier, sagt er. Er zieht und stülpt die Lippen vor, lässt in der Rauchwolke vor seinem Mund die Zungenspitze flattern. Nur kleine graue Püffchen kommen dabei raus und keine Ringe. Da, sagt er.

Was da?

Er senkt die Stimme. Ich glaub, Mam hat die Tullies.

Die was?

Die Tullies.

Was soll das denn sein?

Das is, die gehn in deinen Körper rein und fressen sich in dein Gehirn, und plötzlich bist du gar nich mehr du selber.

Wo hast du das denn her?

Ich hab gehört, wie einer das erzählt hat.

Er schweigt. Meinst du, dass Mam für immer weg is? sagt er dann.

Sie glaubt, dass Mam zurückkommt, aber dann, ja, und was dann?

Ich glaube, diesmal gehn die Tullies nich mehr weg. Ich glaub, die Olle, die is hin, endgültig.

Grace starrt ihm in die Augen, so lange, bis sie darin jene Angst erkennt, die er verbergen will. Die würde doch euch Rasselbande nie im Stich lassen, sagt sie.

Er zieht nachdenklich an seiner Pfeife. Ich komm schon irgendwie alleine klar.

Aber verstehst du denn nicht? sagt sie. Boggs wird wiederkommen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Darum hat sie doch solche Angst. Darum ist sie doch auch in letzter Zeit so komisch. Wir haben ja nichts für ihn. So, wie die Dinge liegen jetzt, die ganze Ernte hin und alles. Sie weiß nicht, was sie machen soll.

Grace leckt die Fingerspitze an, fährt sich damit unter die Mütze und rubbelt an dem Blut rum, das schon angetrocknet ist.

Ich weiß schon, was da los is, sagt Colly. Es geht darum, wie Boggs dich ansieht.

Als sie vom Stein hinunterrutscht, bleibt etwas Blut von ihrem Finger daran kleben. Na los, sagt sie. Wir müssen stoppeln gehn.

Warte mal kurz, sagt er. Die Hand am Kinn wie ein erwachsener Mann mit Knabenknochen, er denkt sich ständig irgendwelche Rätsel aus. Was is so fett wie Butter, is aber nix zum Futtern, is zehnfach dünn und gar nix drin?

Das hast du uns doch schon vergangene Woche raten lassen.

Kann gar nich sein, sagt er. Hab’s mir doch grad erst ausgedacht.

Colly!

Was?

Mam meint, ich soll hier weg.

Grace hält im Grau des Morgens Ausschau nach ihrer Mutter, und in der Ferne kommt die Sonne hochgekrochen und scheucht ganz sonderbare Farben auf. Das Land hat sich vermannigfacht, streckt sich in düsteren, immer anderen Formen, Schatten, die sich dehnen und verzehren und in das eine Dunkel fließen, als wäre alles immer nur ein Spiel für dieses Wahrheitsdunkel. Der Wind ist leise wie ein Tier, das schnuppernd sich im Gras duckt, unsichtbar. Dieser Wind, hier oben alle Tage ihr Gefährte, Blackmountain, eine hügelige felsengerippte Straße durch die Berge, genutzt von Reisenden, Kaufleuten, Viehtreibern, die die Herden runterbringen nach den Ortschaften am Meer, oder von Bauern, die auf ihren Karren schnell noch ihre Kartoffeln wegschaffen, die Pumsies, wie man sie hier nennt, bevor sie in der Erde schwarz und matschig werden. Männer, die für eine Mahlzeit bleiben und manchmal, wenn’s sehr spät geworden ist, auch über Nacht, und hin und wieder lassen sie ein bisschen Kleingeld da, meistens jedoch wird bloß getauscht. In letzter Zeit sind aber auf der Straße nicht mehr so viele Reisende zu sehen, und die paar, die noch hier vorbeikommen, die bringen nichts zu essen mit. Wenn’s heutzutage an der Türe klopft, ist’s immer öfter bloß die ausgestreckte Bettelhand.

Endlich kommt ihre Mutter über den Pass, Grace sieht ihr die Erleichterung von Weitem an, sie geht geschwind ins Haus. Drinnen hockt Colly auf dem Schemel, tief über das vergilbte alte Rechenbuch gebeugt. Die Kleinen balgen sich im Stroh. Finbar, der Ältere, dreht aus Brans Haaren einen Strick, so lange, bis er heult und Grace mit Schwung den kleinen Bruder hochhebt und ihn huckepack nimmt. Pssst, sagt sie zu ihm, und die Kerze neben Colly flackert, als sei was Unsichtbares eingetreten, doch halt, denkt sie, es ist ja schon was Unsichtbares eingetreten. Das hat sich hingesetzt und Mam in ’ner geheimen Sprache etwas eingeflüstert, und du musst jetzt die Konsequenzen tragen. Schritte, und als Grace sich umdreht, sieht sie Sarah, die unheilschwanger in der Tür steht und leise über ihre Füße klagt. Was hält das Weib denn in der Hand?

Huijui! Colly schmeißt das Buch weg und springt vom Schemel auf. Guck weg, ruft Sarah, wag es ja nicht hinzusehn!

Sie dreht sich um, greift nach dem Messer, zieht dem Hasen langsam das Fell über die Ohren, und wie gebannt schauen ihr alle zu. Dann steckt sie das Tier in den Kochtopf, gießt Wasser drauf und hängt ihn übers Feuer. Danach trägt sie den Krug vors Haus, wäscht sich die Hände, kühlt mit Wasser ihre Füße. Colly tut so, als würde er die Nase wieder ins Buch stecken, doch blinzelt heimlich immer wieder rüber, behält das Fleisch im Auge, als könnt’ es aus dem Topf raushüpfen und wieder rein ins Fell und dann mit einem Satz zur Türe rausgehoppelt. Grace sitzt da, reibt sich den Kopf, doch Colly schaut nicht hin. Die nackte Kopfhaut ist ihr ungewohnt, noch immer. Und diese Haarbüschel, die sie jetzt da oben hat, so willkürlich verteilt wie Grasbüschel. Haare wie Kiefernnadeln. Haare wie Schlehdorn, seiner Schlehbeeren beraubt. Sie denkt an den Hasen, wie der aussah, so gehäutet, ohne Kopf und zahnfleischrosa glänzend. Und seine Innereien, leuchtend rot, wie eine blitzartige Offenbarung des Geheimnisses, das ihn lebendig hatte werden lassen. Und dann, oh Schreck, ein Gedanke. Gegen was hatte Mam ihn eingetauscht? Grace beobachtet die Frau ganz genau. Wir haben Hederich gesammelt, als du weg warst, sagt sie. Haben ihn aufgekocht mit Brennnesseln und Wasser.

Sarah setzt sich und winkt Bran zu sich heran. Sie öffnet ihre Bluse bis zum Brustansatz und legt den Kleinen an. Meine Füße sind kaputt, sagt sie. Gib doch mal die Hutsche her für meine Füße.

Der Kleine schnappt nach der Warze, doch es kommt keine Milch.

Münder werden wässrig von dem Fleischgeruch, der förmlich in der Luft zu schmecken ist. Grace kann sich nicht erinnern, wann es das letzte Mal Fleisch gab. Sie denkt dran, wie die Spucke da nach Blei geschmeckt hat. Und dieser Mann mit dem Wolfsgesicht, der Geschichten erzählt hat am Feuer, zwei Ringeltauben hat er ihnen hingehängt, randvoll mit Schrot. Und hat erzählt, er ist mit Wölfen aufgezogen worden, hat bellen können, eh er sprechen konnte, hat er gesagt. Und hat prompt angefangen und die Decke angekläfft, hopst rum und zappelt mit den Ellenbogen. Bis Mam gesagt hat, Ruhe jetzt, weckst mir ja noch die Kleinen auf. Und wie dem seine Augen glänzten, wenn er sprach, als ob seine Geschichten nicht nur wahr sind, sondern als ob er alles selbst erlebt hat. Und dann hat er sich nach und nach beruhigt, hat dagekauert wie ein Tier und hat uns die Geschichte seiner Geburt erzählt. Ich heiße Cormac mac Airt, hat er gesagt, mich hat ein Wolf im Wald gefunden, wo eine Mammi mich allein zurückgelassen hatte, weil sie mich nicht haben wollte. Und dann haben die Wölfe mich aufgezogen wie ein Eigenes, wirklich wahr. Sie haben mich gelehrt, mit meiner Zunge aus dem Fluss zu trinken. Ich machte alles ganz genauso wie die Wölfe, doch später haben sie mich mal gesehen, wie ich mich im Stehen hab erleichtert wie ein Mann, und das hat sie nicht unbedingt beeindruckt. Da mussten alle tüchtig drüber lachen, nur Colly nicht, der hat den Mann die ganze Zeit so komisch angeguckt. Du heißt ja überhaupt gar nich Cormac mac Airt, hat er gesagt. Du bist der Peter Crossan. Und wie du geboren wurdest, waren die Wölfe doch in Irland schon längst ausgestorben.

Grace hatte sich so sehr gewünscht, dass Colly seine Klappe halten würde. Der Wolfsmann hatte Colly mit den Augen abgetatzt. Sieh dich vor, du kleiner buachalán. Wer zu viel weiß, dem wächst ein Baum aus dem Genick.

Und dann, zwei Tage später, war Boggs zu Besuch gekommen.

Alles guckt über den Tisch hinweg zu Sarah, die das Fleisch in eine Schüssel stapelt. Colly hat seine Ellenbogen ausgefahren, isst förmlich mit den Augen. Als Sarah mit der Schüssel an den Tisch kommt, versucht er, seine Schwester wegzuschubsen. Sarah schiebt Grace die Schüssel hin. Colly langt rüber, will sie nehmen, doch Sarah gibt ihm eine rasche Kopfnuss. Wirst du wohl stille sitzen, sagt sie.

Sie spricht mit ihrer Tochter. Das ist alles nur für dich.

Grace blinzelt.

Na los, iss schon! Alles deins.

Grace wird speiübel, und ihr Magen rebelliert. Mit einem Blick, halb zweifelnd, halb verwirrt, sieht sie erst ihre Mutter und dann Colly an, schaut dann den Kleinen ins Gesicht. Dann starrt sie wieder auf das Fleisch und schiebt die Schüssel schließlich in die Tischmitte.

Die andern haben doch auch Hunger, sagt sie.

Sarah schiebt ihr die Schüssel wieder hin. Ich hab das Fleisch extra für dich besorgt.

Ich will das nicht essen. Hier, Colly, iss du.

Sie sieht die Hand nicht aus dem Dunkel kommen, spürt nur den Schlag, und ihre Wange brennt. Sie schließt die Augen, sieht das Feuer langsam ausgehn. Plötzlich schreit Sarah los. Genau wie dein Vater, genauso ein Dickschädel bist du. Ihre Stimme kippelt, droht zu kippen. Wenn du wüsstest, was ich hab auf mich nehmen müssen, dass ich das Biest gekriegt hab. Jetzt iss schon. Iss, bis alles alle ist. Und was du nicht schaffst, nimmst du mit.

Die salzigen Tränen laufen ihr beim Kauen in den Mund, würzen das Essen, und es schmeckt himmlisch, doch sie kann es nicht genießen. Hört nur die Worte, die Mam sagt, möcht’ fragen, wie sie das gemeint hat, obwohl, im Grunde ihres Herzens weiß sie’s ja. Colly ist jetzt ruhig, kneift wütend die Augen zu. Sie isst, bis sie nicht mehr kann, dann schiebt sie die Schüssel wieder in die Tischmitte.

Mir ist schlecht. Mir ist schlecht von dem Zeug. Lass doch die andern auch was davon essen.

Den Rest nimmst du mit. Du brauchst das, du musst stark werden.

Sarah geht ein paar Schritte weg vom Tisch, Bran hängt an ihrem Arm. Sie zeigt auf Colly und auf Finbar. Schau hin, Grace. Schau sie dir gut an, lass dir Zeit und schau dir ihre Gesichter ganz genau an. Du weißt ja selber, die Ernte ist hin. Ich hab’s überall versucht, aber es gibt einem keiner ein Almosen. Ich bin inzwischen schon zu dick. Jetzt musst du selber sehen, wo du bleibst. Du musst dir Arbeit suchen, arbeiten musst du wie ein Mann, weil, einem Mädchen deines Alters, dem zahlt ja niemand einen ordentlichen Lohn. Und dann, in einem Jahr, kommst du mit vollen Taschen wieder heim. Das Fleisch hier hilft dir auf die Beine.

Die Worte klingen Grace im Ohr, als spräche Mam in einer fremden Sprache. Abrupt dehnt sich die ihr bekannte Welt über die Grenzen dessen aus, was der Verstand vorauszusehen in der Lage ist, als wären Berg und Tal auf einmal abgeflacht und unabänderlich zum Horizont geworden. Grace weicht dem Blick der Mutter aus, bemüht sich krampfhaft, nicht zu weinen, und tut es doch. Sie lässt den Blick über den Tisch schweifen, sieht, wie die Kleinen sie anstarren, sieht, was in Collys Augen ist, sieht in allen Augen nur das Weiße, und sie sieht, was sie hinter dem Weißen sind, und sieht auch die dahinter lauernde Gefahr, jene Gefahr, die sie gefürchtet hat und die nun endlich ausgesprochen ist, die eingelassen wurde in die Stube und grinsend unter ihnen sitzt.

Nass von Tränen wacht sie auf und weiß, sie hat um ihren eigenen Tod geweint. Eine Erinnerung an einen Traum, wie sie nach einem Sturz gebrochen daliegt, seltsame Zeugin ihres eigenen Gestorbenseins. Sie fasst sich an die feuchte Wange, erleichtert, dass sie aufgewacht ist, hört den anderen zu. Als würde jeder Atemzug, den einer von den Kleinen tut, mit dem der anderen sich verflechten, wie ein Seil. An ihrem Schienbein warm die Wölbung von Collys Fuß. Im Geiste ist er schon auf und davon, besteht nächtliche Abenteuer. Wie weit mag er wohl reisen in seinem Traum, fragt Grace sich, sie will hoffen, dass er glücklich ist. Und so steckt jeder Geist in seinem eigenen Kokon, denkt sie, und was man in der Nacht durchfährt, ist viel persönlicher als das, was man hinter einem Gesicht bei Tag sehen kann.

Und dann kommt sie. Die Trauer – um das, was sich verändert hat. Trauer um das, was ist.

Sarahs flüsternder Atem sagt, dass Grace sich ausziehen und was anderes anziehen soll. Im Handumdrehen ist sie aus dem Bett, steht nackt vor ihrer Mutter, verdeckt die kleinen Brüste mit dem Arm. Sarah packt sie bei der Hand, reißt ihr den Arm weg. Warst du nicht nackt, wie du zur Welt gekommen bist? Dann bringt sie Stoff, um Grace die Brüste wegzubinden, hält aber inne, sagt, ach was, das brauchst du gar nicht. Reicht ihr ein Männerhemd, in dem sie fast versinkt. Es riecht wie Steine, die man aus dem Fluss geholt hat. Sie hält die Hose vor sie hin und sieht sie prüfend an. Das hellbraune Tuch hat an den Knien braune Flicken. Sieht aus, als ob ein Hund darauf geschlafen hat, denkt sie. Von wem ist denn die? Sie steigt erst in ein Bein, dann in das andere, schaut an sich runter – was für ein Anblick, zwei Gabelbeinchen, die in Rupfensäcken schlenkern. Die Hosenbeine gehn über die Knöchel. Sarah krempelt sie hoch, tritt hinter Grace, bindet ihr einen Strick um die Taille. Eine Jacke, die nach regenfeuchtem Moos stinkt. Ein Mantel aus Fries, weit wabernd um den Hals, am Ellenbogen auseinanderklaffend.

Warum nicht gleich ’nen Sack anziehn?

Hier, flüstert Sarah. Nun zieh deine Stiefel an. Und probier die Mütze hier. Von deinem Bruder die, die ist dir ja zu klein. Musst sie weiter runterziehen. Es gibt ’ne Menge Jungs, die in den alten Sachen von ihrem Vater rumlaufen.

Grace steht da und starrt durch die Tür hinaus ins fahldunkle, sternlose All. Wie fremd die Haut an ihren Beinen sich in dieser Hose anfühlt, und wie die Kälte ihr am Kopf rumschnippelt. Sarah drückt ihr eine Kerze in die Hand, und als das Licht von Mams Gesicht abfällt, könnte man denken, sie sei gar nicht sie, als habe sie für ihre Tochter eine Maske aufgesetzt. Sie zupft an Grace herum, hängt ihr ein Bündel über die Schulter, krempelt ihr die Jackenärmel hoch. Dann schaut sie hinüber zu den schlafenden Kindern, schaut Grace lange und mit festem Blick in die Augen und sagt ihr flüsternd, was sie machen soll. Geh nach der Stadt und bummle nicht, bleib auf der Straße, die durchs Bergland führt. Frage nach Dinny Doherty, sag ihm, du bist dein Bruder. Der Dinny, der war immer gut zu uns. Er mag Collys Humor, also versuch, ein bisschen so zu sein wie er. Morgen ist der Samhain, da musst du bei ihm im Haus bleiben, dass du mir ja nicht rausgehst. Es wird viel los sein auf der Straße.

Vor Graces innerem Auge taucht ein Mann auf, der neben einer Rotte muskulöser Ponys herläuft und aus vollem Halse lacht. Das ist der Dinny Doherty, ein kleiner Kerl mit einem Lachen, das dröhnend von den Bergen widerhallt.

Jetzt geh, eh sich die andern rühren, sagt Sarah.

Grace dreht sich um, sucht Sarahs Blick und sieht ihr fest ins Auge. Wie willst du denn das Kleine nennen? fragt sie.

Sarah hatte die Augen zu, nun öffnet sie sie wieder. Wenn’s ein Mädchen ist, nenn ich sie Cassie. Und jetzt geh.

Cassie.

Eine Hand auf ihrem Arm. Der letzte Augenblick mit ihrer Mutter.

Plötzlich weiß sie Bescheid. Die alten Kleider hier sind noch von ihrem Vater. Vorm Schein der aufgehenden Sonne zeichnen die Berge sich als dunkle Masse ab. Grace tritt hinaus ins erste Licht des Tages, kalt an den Füßen ist der Weg, und in den Beinen so ein komisches Gefühl. Sie kann nicht aufhören zu weinen. Kann nicht verstehen, warum es so weit kommen musste. Als wäre ihr Leben ein Stein, den irgendwer einfach woandershin geschleudert hat. Sie stapft den steilen Pfad hinauf und bleibt genau am Fluchtpunkt stehen. Als sie sich umdreht, sieht sie ihre Mutter, die ihr nachschaut, als indigofarbenen Strich, der sich dann bald ins Haus zurückzieht. Inzwischen hat der Morgen seinen Fächer entfaltet aus blauendem Licht und strahlt das kleine Steinhaus an, das doch, mag es auch noch so klein sein, ein ganzes Universum birgt. Der Stuhl da auf der Straße und sein Schatten – eine doppelt leere Form. Sie denkt an Colly, daran, was er ihr gegeben hatte, eh sie schlafen gingen, die Hand weit auf im Dunkel, sodass sie mit den Fingern sehen musste, was es war: die Schachtel Zündhölzer der Marke Lucifers mit ihren angesengten Ecken von neulich, als er sie anzünden wollte. Jetzt sind da ein paar Strähnen drin von ihrem Haar. Damit du deine Kraft bei dir behältst, bis sie wieder gewachsen sind. Und dann sein Flüstern. Nimm mich mit. Bitte. Nimm mich mit. Und ihre Antwort. Und wie soll ich denn für dich sorgen? Dann lag er da und hat geschmollt.

Grace will grad los, da sieht sie Colly, er kommt aus dem Haus gerannt. Ihr hüpft das Herz vor Freude, sie will zu ihm, doch da ist Sarah schon zur Türe raus und hinter Colly her, kriegt ihn am Hemd zu fassen und will ihn zurückziehen. Wie sie da in der Ferne miteinander rangeln, die zwei, das hat was Trauriges und auch zugleich was Komisches, und dann gibt Colly einen Schrei von sich, aus seines Herzens tiefster Tiefe, der aufsteigt und den weiten Himmel widerhallen lässt.

Den ganzen Tag lang wartet Grace versteckt, wo sie vom Haus aus nicht zu sehen ist, wartet, bis Abendlicht das Moos umsäumt. Und dann, geduckt, verstohlen, rennt sie einen anderen Hang hinunter. Lass dich bloß nicht erwischen, raunt das Heidekraut ihr zu, das ihre Hosenbeine streift. Sie schleicht sich hinters Haus, kann hören, wie Sarah mit den Kleinen schimpft. Läuft dann rasch auf die Seite des Hauses und sieht dort, was sie gehofft hat: Colly sitzt auf dem Hammerstein und pafft. Sie würde ihm so gerne sagen, dass alles gut wird. Dass es gar nicht lange dauert, dann ist sie wieder da. Dass es doch bloß ein paar Monate sind. Dass er stark sein muss für die andern. Sie schnappt sich ein Steinchen und wirft es nach seinem Bein, trifft aber nicht, wirft noch eins. Da springt er wie ein toller Hund runter vom Hammerstein. Verdammt, was war das? sagt er.

Willst du wohl still sein! flüstert sie.

Er kommt auf sie zu. Grace? Bist du das?

Du sollst stille sein, hab ich gesagt.

Hell und klar dringt seine Stimme an ihr Ohr, und dann erscheint auch sein Gesicht, und wie er strahlt, als er sie sieht. Er zieht sie an sich. Bist du zurück? Bleibst du jetzt immer hier?

Ich bin noch weg.

Und was machst du dann hier?

Sie hört sich reden, und es klingt, als hätte jemand ihren Mund gestohlen.

Willst du noch immer mitkommen?

Immer noch alles nass. Im Windschutz eines Torfgrabens, den irgendwer gegraben hat und der so ziemlich ausgetrocknet ist, dort wartet sie auf ihn, wo denn auch sonst? Die Nacht hüllt alles ein, macht alles gleich. Er hat gesagt, er kommt, denkt sie, ist aber nicht gekommen. Nein, er ist nicht gekommen, weil, wäre er gekommen, wär er nicht ganz bei Troste. Er konnte ja nicht kommen, Mam hat scharf auf ihn aufgepasst – sie weiß doch, wie er ist. Er ist derart aufgedreht, sie hätt’s ihm angemerkt. Und nun bist du auf dich allein gestellt, mein Mädchen.

Sie legt sich hin und lauscht dem Puls der Dinge. Dem Schlussgesang der Vögel. Der Luft, die von Insekten wimmelt. Der Stimme des Windes und wie sie über allem spricht. Und, näher noch, dem Klang des eigenen Körpers. Dem Kratzen ihres Stoppelkopfs an ihrem Arm, auf dem er ruht. Den kurzen Atemzügen durch den Mund. Und wenn sie sich die Ohren zuhält, gibt’s einen Ton wie so ein fernes Donnergrollen, laut genug, ihr Herz zu übertönen. Näher noch, und da, unterm Pochen ihres Herzens, der stumme Angstschrei.

Erschrocken fährt sie aus dem Schlaf, als Colly sie gefunden hat. Mürrisch vor Müdigkeit ist sie, möcht’ ihm am liebsten eine reinhauen. Die Nacht ist fast vorbei.

Warum bist du denn nicht daheim geblieben? sagt sie.

Colly scheint nur ganz wenig Schlaf zu brauchen, und seine Laune trübt sich niemals ein, aber sie weiß sofort, wenn er was hat.

Boggs is zurück, sagt er, genau wie du gesagt hast. Wie hast du wissen können, dass er wiederkommt? Wir waren kaum im Bett, is er zur Türe rein. Ich musste warten, bis sie schlafen, und dann hat Bran gebrüllt, und als ich endlich rauskonnte, sind mir die Hunde nachgerannt, bis halb den Berg rauf. Ich musste immer wieder sagen, sie solln leise sein und aufhören mit dem Gekläff. Boggs hat ’ne Riesenwut im Bauch. Es is alles schiefgelaufen, hat er gesagt. Irgend so ’n Mistkerl oben in Binnion hat einen seiner Hunde totgeschlagen. Und dann hat er die ganze Zeit bloß von der Pacht gefaselt. Ich saß am Feuer. Er hat zu Mam gesagt, sie soll ihm was zu essen bringen, und als sie ihm die Suppe geben wollt, hat er den Napf quer durch die Stube gepfeffert. Und alles über meine Beine, der Napf is mir vor die Füße gerollt. Meine Hose is immer noch nass von dem Zeug. Was soll ’n das sein, hat er gefragt, doch wohl nich etwa Hederich? Nach allem, was ich hab für dich getan! Ich hab dir ’n Dach überm Kopf gegeben. Das Einzige, was ich von dir verlange, ist, dass du dich ab und zu ’n bisschen um mich kümmerst. Willst du, dass ich dich wieder auf die Straße jagen soll, zu all den andern Vagabunden, wie? Und dann hat er gemerkt, dass du nich da bist. Er hat nach dir gefragt, Mam hat gesagt, sie hat dich arbeiten geschickt, und da hat er sie ausgelacht. Zu was soll die schon nütze sein? hat er gesagt. Die ist doch nur zu einem zu gebrauchen, und dann hat er noch mal gelacht, so richtig laut und dreckig vor sich hin gelacht hat er. Mam hat gesagt, du hast dir deine Haare abgeschnitten und bist wie ’n starker Bursche losmarschiert. Da kann sie arbeiten, soviel sie will, hat er gesagt, Pumsies gibt’s trotzdem keine, nich einen Sack Kartoffeln gibt’s im Umkreis von einhundert Meilen, weder zu kaufen noch zu verkaufen, da dran is nix zu deuteln. Und da hat sie gesagt, was willst du damit sagen? Und da hat er gesagt, das wird er ihr erzählen. Das heißt, hat er gesagt, die kommt eh bald zurück, und zwar mit eingekniffenem Schwanz. Das heißt, es is schon jetzt so schlimm, wie’s sein kann, und es wird noch schlimmer werden, weil, da draußen sitzen Männer rum, die haben Hunger, die sitzen rum und haben Langeweile, die werden ihr Gewalt antun, das is der Lauf der Welt. So läuft das nun mal einfach mit der Wirtschaft, außer, jemand tut was – also die Krone, hat er gesagt. Und da hat Mam das Härteste gesagt, was ich jemals von ihr gehört hab. Ungelogen! Dann soll sie eben für uns stehlen gehn, hat sie gesagt.

Den ganzen Tag lang laufen sie, immer weiter in die weite Welt hinein, so weit, wie sie noch nie zuvor allein gegangen waren. Colly sprudelt unentwegt, als hätt’ er ganze Wörterströme in sich drin, schlenkert im Gehen mit den Armen wie ein Soldat. Grace merkt, wie ihr beim Laufen immer wieder mal die Puste ausgeht. Für den ist alles bloß ein Jux, denkt sie, doch mir zersprengt es fast die Brust, mein Herz hämmert wie eine Faust. Auf schwierigen Pfaden durchqueren sie das hügelige Sumpfland, alles wirkt öde, fast keine Bäume, von Osten keift ein widerlicher Wind. Wolkenschatten driften vor dem Moos. An diesem Ort ist kein Erinnern, denkt sie. Ein See wie Schiefer, ein einsamer Baum, ein Himmel, der den schlimmsten aller Regenfälle prophezeit. Sie setzen sich unter den Baum, wo Grace den Rest vom Fleisch für Colly auswickelt. Schmatzend und sabbernd nagt er die Knochen ab, während Graces Magen Töne macht, als ob man seelenruhig etwas aus ihm rausreißt. Colly blickt auf. Horch mal – das heillose Geschrei in meinen Eingeweiden, sagt er.

Das war mein Bauch, Blödmann.

Er sieht sie sprachlos an. War’s nich.

War’s doch.

Ich hab ’n Rätsel für dich: Is dürr wie eine Kratze und sieht dick aus wie ’ne Katze, hat aufm Kopp ’nen schwarzen Hut, weil ihm kein Haar mehr wachsen tut. Was is das?

Sie kneift ihm in die Rippen. Halt die Gusch, du Lusch, sagt sie.

Ach, hätte ihr die Mutter doch das Essen nicht so reingezwungen. Ihr Hunger hatte schon geschlafen, hatte sich irgendwie gelegt, war bloß noch so ein leichter Schmerz gewesen, mit dem man leben konnte. Jetzt ist er wieder hellwach – ein Tier mit reißenden Fängen, das in ihr sitzt, oder ein spitzes Messer, das sich in sie reinbohrt.

Colly greift in seine Hosentasche und holt eine Tonpfeife heraus. Die hat so rumgelegen, sagt er. Wirst lernen müssen, wie man raucht.

Grace verzieht angewidert das Gesicht. Kommt ja gar nicht infrage.

Willst du jetzt ein Mann sein oder nich?

Ich kann auch ohne Rauchen einer sein.

Nein, kannst du nich. Also pass auf, was ich dir sage. Der Tabak hilft, den Hunger für ’ne Weile hinzuhalten.

Colly will ihr beibringen, sich zu bewegen wie ein Junge. Du machst das ganz falsch. Behalt die Pfeife mal im Mund, so an der Seite. Du musst sie runterhängen lassen, so hier. Ja, so is gut. Und jetzt sag was zu mir.

Sie zieht an der Pfeife. Kannst du mir mal bitte etwas Tabak geben?

Ach du liebe Güte! Mach mal besser nich den Mund auf.

Stimmt etwas nicht mit meiner Stimme?

Frag lieber, was mit deiner Stimme stimmt.

Grace ändert ihre Tonlage. Sie wiederholt. Ich habe dich gefragt, ob irgendwas mit meiner Stimme nicht in Ordnung ist.

Dein Ton, du bist zu höflich. Du musst dich immer anhörn, wie wenn du andern sagen willst, was sie zu tun haben, auch wenn du’s gar nich tust. Wie wenn da ’n Hund sitzt und drauf wartet, dass du ihm was befiehlst. Das ist der Ton, wie echte Männer reden.

Gib mal Tabak rüber! sagt sie.

Er klatscht in die Hände. Genau so! Sag’s noch mal.

Sie stopft die Pfeife, drückt den Tabak mit dem Daumen fest, und er beugt sich mit einem dreckigen Grinsen zu ihr rüber, gibt ihr Feuer.

Zündhölzer, sagt sie, Marke Lucifer, wo hast du die denn her?

Hab ich geklaut.

Sie zieht an der Pfeife, saugt sich die Lunge voll und bläst den Rauch aus, als ob nichts gewesen wäre, ohne ein einziges Mal zu husten. Colly fällt glatt der Unterkiefer runter, er starrt sie an, merkt, dass sie ihn bloß auf den Arm genommen hatte. Sie spricht mit einer Stimme, die tief und heiser klingt, wie von der Aufregung erschöpft. Du rauchst ja wie so ’n kleines Mädchen, Colly, sagt sie.

Und er darauf: Du hörst dich an wie ’n Mann.

Die Sonne hat eine Kapuze auf, an der der Regen festgeheftet ist, dann geht er ab und fällt wie eine Pelerine runter. Diese ewige Schleife der Jahreszeiten und der Bindebögen zwischen ihnen. Du darfst nicht auf den Regen achten. Wenn du dich verkrampfst, kriecht dir die Kälte in die Glieder. Du musst laufen, als würde dich die Nässe gar nicht stören – so hier. Du musst dir sagen, du wirst wieder trocknen, denn das wirst du. So wie es diesen Oktober geregnet hat, das tötet die Erinnerung an den warmen September. Und morgen fängt der November an, da wird der Winter wieder wach, obwohl, viel schlimmer kann das Wetter ja dann nicht mehr werden. Die Pukah-Feen sind gekommen, um den November vom Kalender abzureißen und wieder einen Monat zu verderben.

Colly hat einen kaputten Regenschirm unter seiner Jacke hervorgeholt. Der ist zerfetzt und nützt bei solchem Regen gar nichts, aber er spannt ihn trotzdem auf. In den Niederungen kommen sie an Faulbeeten vorbei, die liegen an den fahlen Hängen wie die verrottenden Rippen eines wilden Tiers, das einfach tot umgefallen ist, denkt Grace. Die verwüsteten Stoppelfelder erinnern nur noch vage an Grün. Jetzt saugen sie sich nutzlos mit dem Regen voll. Überall große Pfützen, wie Weihwasserbecken, geweihtes Wasser für alle Blechbüchsen der Welt, falls ein Priester darauf aus ist, sie zu segnen.

Diese Straßen sind zu still. Das macht vielleicht der Regen, denn normalerweise ist es nicht so. Selbst die Kinder und die Bettler bleiben unter den löchrigen Dächern und kommen nicht raus. In den Ortschaften steht ein kleines Holzhaus hart am nächsten, alle voll mit Torfrauch, der den Vorüberkommenden, die angestrengt hinüberspähen, in den Augen brennt, und hin und wieder sehen sie ein Gesicht, das neugierig herüberschaut. Diesmal steht bei den Armen am Samhain kein einziger aufgespießter Rübenkopf vorm Haus. In Cockhill an der Brücke spricht eine Frau die beiden an, steht in zerlumpten Kleidern da im Regen und ist betrunken, wie es scheint. Sie murmelt irgendwas, eine Verwünschung, oder vielleicht bittet sie um Geld, doch als Colly mit ihr sprechen will, packt ihn Grace am Handgelenk und zieht ihn weiter.

Erzähl doch nicht den Leuten, was wir treiben, sagt sie.

Ich hab mir bloß ’nen Spaß gemacht mit der, sagt er. Gestunken hat die wie ein Hund.

Die Augen von ’nem Menschen, die verraten ja so allerlei, sagt Grace. Wer und was sie sind und was sie wollen und wie verrückt sie sind.

Als sie in die Stadt Buncrana kommen, sind sie durchnässt bis auf die Knochen. Colly hält die Lucifers, die in seiner Hosentasche nass geworden sind, mit beiden Händen fest und drückt sie an die Brust. Grace nimmt sie ihm weg und steckt sie in ihr Bündel. Wer will schon ein Mann sein, sagt sie. Da frierst du, weil die Hosen dir ständig an den Beinen kleben, das ist noch schlimmer als ein Rock. Und von der Hutkrempe, da rinnt das Wasser runter und läuft dir in die Augen. Nein, mit ’nem Kopftuch bist du besser dran. Die Männersachen, die sind einfach nicht bequem.

Colly schüttelt den Kopf. Aber mit ’nem Rock kannst du nich rennen.

Der Himmel wie aus Schiefer, er hängt so tief über dem kleinen Marktflecken, fast wie ein Sargdeckel, denkt Grace und würde den Gedanken am liebsten gleich wieder zurücknehmen. Alles unter diesen Wolken ist durch und durch durchnässt. Eine Pferdetränke läuft blubbernd über. An einer vergilbten Wand klappt ein Plakat für eine öffentliche Versammlung sich von allein zusammen. In einem Hauseingang sieht sie einen Mann, der sich kratzt und dabei starr zu Boden blickt, und es sind auch noch andere da, Leute, die aussehen wie aus ihren Körpern herausgetreten, Schatten ihrer selbst, die sich an Türen oder Wände drücken. Die Stadt ist wie im Stupor. Völlig verhuscht. Grace hört nur eine einzige Stimme, die zornig anschreit gegen den Regen, doch diese Stimme schlägt der Regen nieder. Eine solche Stille, Grace kann sich nicht erinnern, so etwas je erlebt zu haben. Man würde doch erwarten, dass mehr los ist, dass viel mehr Trubel herrscht, allein schon durch den Booley, wenn man die Rinder zum Samhain herunter von den Bergen und durch die Straßen treibt. Und wenn die Leute sich betrinken. Aber die Hauptstraße liegt da in sonntäglicher Ruhe. Grace lauscht, was sich verbirgt hinter dem Regen, doch der gleicht einer Maske, die über allem liegt. Und alles ist in dem Geräusch, der Regen aber, er allein entscheidet, was ist und was nicht ist.

Ein magerer angepflockter Esel dreht neugierig den Kopf. Colly beugt sich im Vorbeigehen vor und bleckt die Zähne. I-aaah! macht er. Grace zeigt auf eine Markise, die über die Straße hängt, und zieht ihn am Ellbogen darunter. Colly nimmt die Mütze ab und klopft sie aus. Grace schubst ihn weg. Hör auf, du machst mich ja ganz nass.

Noch nasser kannst du gar nich werden.

Die Kirche schlägt zur Viertelstunde, dann noch zweimal zur halben. Ein finsterfarbener Hund rennt auf der Straße, er hat den Kopf gesenkt, als hätte jemand ihn verprügelt. Und nun sieht Grace, dass man ihm einen Knochen an den Schwanz gebunden hat. Sie kneift Colly in den Arm. Was glaubst du, fragt sie, ist das so was wie ein Omen? Oder vielleicht ist es auch bloß ein Trick.

Neben ihnen geht eine Tür auf, ein Reisigbesen fegt etwas nach draußen und hält inne. Eine lispelnde Männerstimme keift über die Straße. Wollt ihr wohl aufhören, den Hund zu quälen?! Über den Besen guckt der Kopf des Rufers, der rüberschaut zu Grace und Colly, die dort stehen, Pfeife zwischen den Zähnen, und paffen wie die Alten. Der Mann schüttelt den Kopf. Ihr seht ja aus wie zwei begossene Pudel. Seid ihr wegen dem Wanderheiligen hier?

Wasn für ’n Heiliger? sagt Colly.

Das Lispeln könnte von der Lücke kommen, die er zwischen den Vorderzähnen hat, denkt Grace. Der Mann nickt die Straße runter. Gestern Abend in der Stadt, sagt er. Da is hier einer langgekommen, den Hut von einem Bischof, der wohl schon zweimal hundert Jahre tot is, aufm Kopp, und hat gerufen, dass er alles heilt, von Schmerzen bis zum Hunger, und bei jedermann, der’s nötig hat. Da haben sie aber Schlange gestanden, die Leute, das kann ich euch sagen.

Colly mustert den Mann von oben bis unten. Wir suchen Dinny Doherty. Den Pony-Mann. Wisst Ihr vielleicht, wo wir den finden?

Der Mann stützt sich nachdenklich auf seinen Besen. Rund um die Backen sieht er frisch rasiert aus, doch weiter oben, unter jedem Auge, sprießen die Stoppeln, denn da hat er einen Streifen ausgelassen. Sieht aus, als ließe er sich auf den Wangen noch ein Paar Brauen stehn, denkt Grace. Der alte Mann mit den vier Augenbrauen, denkt sie.

Den Dinny Doherty sucht ihr? sagt er.

Und Colly darauf: Wir kommen aus den Urris Hills, wir sind den ganzen Weg gelaufen.

Bei diesem Wetter? Und den Dinny Doherty sucht ihr?

Hab ich doch grad gesagt, Sir. Habt Ihr denn nich zugehört?

Und aus welcher Familie seid ihr?

Wir sind die Coyles.

Die Coyles? Dann müsst ihr ja meinen Cousin kennen. Den Tommy Thomas?

Colly schaut Grace an, die die Achseln zuckt.

Was, ihr kennt den Tommy nich? Den Tommy kennt doch jeder.

Der Mann schweigt, er sieht aus, als ob er einem Gedanken auf der Spur ist. Wartet mal, der Tommy is doch tot, zwei Jahre schon dies Jahr. Gar nicht so einfach, das immer alles im Kopf zu behalten, das kann ich euch sagen. Ihr seid aber nich hier, weil ihr Ärger machen wollt, ihr beiden, oder?

Ein Stück weiter die Straße runter hält ein Pferdewagen; Colly starrt rüber. Ein Mann steigt ab und hilft einer Frau beim Aussteigen, beide wie aus dem Ei gepellt, das sieht Grace sofort, der Mann mit seinem schwarz glänzenden Zylinder und die Frau mit ihren weißen Spitzenmanschetten. Der Mann hält ihr den Schirm, so geht sie schön im Trockenen. Und es sieht aus, als ob sie auf den Zehen schwebt.

Der alte Mann mit den vier Augenbrauen schiebt höhnisch das Kinn vor. Man könnt’ glatt meinen, dem gehört das hier, so wie der rumstolziert. Dann wendet er sich Grace und Colly zu. Macht bloß, dass ihr wegkommt, zurück mit euch in die Urris Hills, die Stadt wird immer voller von solchen wie euch, und die wollen alle genau dasselbe wie ihr, und dann lungern sie hier rum. Hier gibt’s weiter nix wie Ärger, am Ende werdet ihr da noch mit reingezogen, denkt an meine Worte.

Grace will schon gehen, als Colly plötzlich Luft holt. Unsre Mam, die liegt im Sterben, sagt er.

Der Mann sieht den Jungen mitfühlend an. Tut mir leid zu hören, mein Kleiner, sagt er. Was fehlt ihr denn?

Colly schaut dem Mann tiefernst in die Augen. Die hat den Arschkrebs, sagt er, kann nich richtig sitzen, liegen oder stehn und überhaupt nix machen. Liegt immer bloß auf der Seite und stirbt vor sich hin. Der Doktor sagt, wahrscheinlich hat sie sich wo reingesetzt, wo sie sich das hat weggeholt.

Grace schießt das Lachen pfeilschnell aus den Eingeweiden in den Mund, und sie kriegt es nicht abgewürgt. Der Mann mit den vier Augenbrauen droht Colly mit dem Besen, da machen sie rasch kehrt und rennen hinaus in den Regen, in seine Gewaltigkeit, seine Macht, alle Dinge zusammenzufassen in seinem Ausdruck, und Grace könnte schwören, dass sie hört, wie der alte Mann mit den vier Augenbrauen mächtig laut und heiser hinter ihnen her lacht.

Sie reißt Colly am Arm. Was du nur immer für Ausdrücke hast! Wo hast du das bloß her? So was hab ich ja noch nie gehört. Ist dir denn nicht was Leichteres eingefallen?

Was warn da dran falsch? Der olle Benny, der is ja Tatsache an Arschkrebs eingegangen.

Mann, Colly, das war doch ein Witz. Der olle Benny ist gestorben, weil er’s mit der Lunge hatte. Hast du nicht gehört, wie der gehustet hat? Das mit dem Krebs, das haben sie doch bloß gesagt, weil man ihn all die Jahre niemals aufstehen sah.

Colly schweigt. Dann redet er. Und wie soll ich das wissen, wenn mir keiner was sagt?

Da taucht wieder der Hund auf, dem man einen Knochen an den Schwanz gebunden hat, und stemmt die Schnauze in den Prasselregen.

Das is das traurigste Geschöpf, das ich je hab gesehn, sagt Colly.

Grace sieht im Blick des Hundes Kummer und zugleich Bedauern; sie fragt sich, ob ein Hund denn ein Verständnis haben kann von solchen Sachen. Diese Nacht ist anders als alle anderen, Samhain, die Nacht der Toten. Sie müssen einen Unterschlupf finden, bevor es dunkel wird, denn heute Nacht dürfen die Geister über den Himmel ziehen. Grace glaubt, wenn sie erst raus sind aus der Stadt, dass sie dann leichter einen unbenutzten Schuppen finden. Noch eine Nacht verbringen unter freiem Himmel ist das eine, aber unter einem Himmel voll Dämonen, das ist noch mal was anderes. Sie lassen die Stadt hinter sich, und in der Ferne schmiegen sich die Berge ängstlich aneinander vor dem Himmelsmummenschanz. Über ein Brückengeländer gelehnt, sehen sie zu, wie sich das Wasser hin und her wirft und mit dem Geist des Regens ringt. In der langsam herankriechenden Dunkelheit kommen sie an großen Bauernhäusern vorbei, vor denen aufgespießte Rübenköpfe stehen wie Wachsoldaten, mit Kerzen drin zur Abschreckung der Toten, und beiden ist’s, als ob sie ihnen hinterherglotzen mit ihren feurigen Augen und feurigen Mäulern.

Guck mal da!

Das ist Colly, der das ruft; er zeigt auf einen Kuhstall aus Feldsteinen. Das Ding hat an der einen Seite einen windschiefen Verschlag. Sie klettern über ein Gatter und stehen in triefnassem Sumpfgras, und dann schleichen sie auf leisen Sohlen und mit gespitzten Ohren rüber zu dem Verschlag. Colly zeigt auf eine Ratte, die kurz auftaucht und gleich wieder in einem Graben verschwindet. Grace hebt die Hand und flüstert lautlos, er soll horchen. Nur das Brüllen und Stampfen der Kühe drinnen im Stall, und der Regen, der aufs Dach prasselt. Und dann kommen die Hunde, vier, nein, fünf struppige Viecher von unterschiedlicher Größe und Farbe. Sie haben wilde Augen und zerfetzen die Luft mit ihrem Gebell. Colly bückt sich zu einem von ihnen. Na komm schon, mein Mädchen. Die magere Hündin drückt sich an ihn und lässt sich streicheln.

Der Stall ist verriegelt. Der Verschlag ist halb verfallen, die Balken schimmeln vor sich hin. Ein Wellblechdach, so rostig, dass man einen Stein durchfallen lassen kann, denkt Grace. Da würde ja nicht mal ein Vagabund drin schlafen wollen. Nicht mal die Pukah. Modriges Stroh und alte Lumpen, die irgendwer für die Hunde hingelegt hat, und der Uringestank, so heftig, fast schon rabiat. Etwas abseits, von der Straße nicht zu sehen, legen sie eine Feuerstelle an und sammeln nasses Reisig.

Colly setzt sich hin, und Grace sieht zu, wie er auf seinem Hintern hin- und herrutscht.

Was machst du denn da?

Ich will das Feuerholz anwärmen.

Das kriegst du doch mit deinem nassen Arsch nicht warm.

Hast du ’nen bessern Vorschlag?!

Wir müssen was für die Pukah dalassen. Wir wollen sie doch nicht verärgern in so einer Nacht wie dieser.

Sie suchen einen verwilderten Acker ab und finden einen Strauch, der schon all seine schwarzen Beeren los ist, alle bis auf ein paar Nachzügler, aber die sind so gut wie unerreichbar. Warte mal, Rattenzahn, sagt Colly. Schmal, wie er ist, krabbelt er unter den Strauch und langt mitten hinein, pflückt eine Beere, dann noch eine, kriegt sie allesamt zu fassen. Sechs unreife Beeren – die letzten Früchte des Jahres. Als er wieder rauskrabbeln will, erwischt ihn ein Dorn am Kinn. Autsch! Mich hat der Fingernagel von ’ner Hex gekratzt!

Grace reibt ihm mit dem Daumen über die Wange. Wie viele hast du?

Paar Stück. Keine Ahnung.

Das wird reichen müssen.

Der hat uns doch gar nich gesagt, der Mann, wo wir den Dinny finden, oder?

Wir versuchen’s morgen noch mal.

Heh!

Was ist denn?

Der Dinny Doherty, hat der nich irgend ’n Scheiß gemacht? Klar hat er, der Dinny!