Gratwanderung - Sitala Helki - E-Book

Gratwanderung E-Book

Sitala Helki

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Beschreibung

Schrillbunt und extravagant - Jacques liebt die Provokation. Mit seiner fröhlichen Art versteht er es, die Männer um den Finger zu wickeln, doch bei Lars stößt er auf Widerstand. Jacques wäre jedoch nicht Jacques, ließe er sich davon aufhalten. Der quirlige Franzose hebelt Lars’ Abwehrmechanismen aus und erobert nicht nur dessen Bett. Überwältigt von ihrer intensiven Verbindung trifft er plötzlich vollkommen unerwartet auf einen veränderten Lars; hart und abweisend.
Lars lebt gefangen in einem immerwährenden inneren Konflikt zwischen totaler Belanglosigkeit und überfordernder Intensität. In seiner Verzweiflung stößt er Jacques von sich, doch stellt sich sein inneres Gleichgewicht dadurch nicht wie erhofft wieder ein. Denn es bedarf der bunten Sonnenseite, welche sich den Schatten entgegenstellt.
Ein kräftezehrender Kampf beginnt, der aussichtslos und verführerisch Erfolg versprechend zugleich erscheint.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Sitala Helki

Gratwanderung

Richtung Liebe

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Titel

 

Gratwanderung - Richtung Liebe

Sitala Helki

Impressum

© Sitala Helki 2018

 

c/o Papyrus Autoren-ClubPettenkoferstr. 16-1810247 [email protected]

 

www.sitalahelki.de

 

Alle Rechte vorbehalten.

Bildmaterialien Cover:Stas Ponomarencks/shutterstock.com, ArtOfPhotos/shutterstock.com, rawpixel/pixabay.com, pixel2013/pixabay.com, Tabol/pixabay.comCovergestaltung:Caro Sodar

 

Lektorat/Korrektorat: B. Frielingsdorf, I. Döbler, M. Kuntz, K. Meier, B. Jamin

 

Sämtliche Personen und Ereignisse dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung der Covermodels aus.Nachdruck, Vervielfältigung und Veröffentlichung, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher, schriftlicher Genehmigung der Autorin.E-books sind nicht übertragbar und dürfen weder kopiert noch weiterveräußert werden.

Klappentext

Schrillbunt und extravagant - Jacques liebt die Provokation. Mit seiner fröhlichen Art versteht er es, die Männer um den Finger zu wickeln, doch bei Lars stößt er auf Widerstand. Jacques wäre jedoch nicht Jacques, ließe er sich davon aufhalten. Der quirlige Franzose hebelt Lars’ Abwehrmechanismen aus und erobert nicht nur dessen Bett. Überwältigt von ihrer intensiven Verbindung trifft er plötzlich vollkommen unerwartet auf einen veränderten Lars; hart und abweisend.

Lars lebt gefangen in einem immerwährenden inneren Konflikt zwischen totaler Belanglosigkeit und überfordernder Intensität. In seiner Verzweiflung stößt er Jacques von sich, doch stellt sich sein inneres Gleichgewicht dadurch nicht wie erhofft wieder ein. Denn es bedarf der bunten Sonnenseite, welche sich den Schatten entgegenstellt.

Ein kräftezehrender Kampf beginnt, der aussichtslos und verführerisch Erfolg versprechend zugleich erscheint.

1.

Jacques

 

Na, das ist ja mal eine Sahneschnitte nach meinem Geschmack: Groß, breitschultrig und genau die richtige Menge Muskeln unter dem engen, schwarzen Shirt. Ich stehe auf dunkelhaarige Typen, obwohl seine Haare beinahe schon zu kurz sind; erinnert etwas an eine Bundeswehr-Einheitsfrisur. Gerne würde ich einen Blick auf sein Gesicht erhaschen, doch Monsieur Traumkörper zieht es vor, in sein Bier zu starren. Weshalb geht er denn in einen Club, wenn er keinen Wert auf Interaktion legt? Vielleicht nervt ihn auch nur der Typ, der ihn die ganze Zeit zuquatscht. Wäre ich heute nur zu meinem eigenen Vergnügen hier, würde ich ihm liebend gern zur Rettung eilen.

Seufzend wende ich mich wieder Marius zu. Schließlich bin ich nicht hier, um einen Kerl abzuschleppen, sondern um meinen Freund auf andere Gedanken zu bringen. Der hat nämlich vor ein paar Tagen wiederum seinen – festen – Freund in flagranti erwischt. Tja, so ist das, wenn man monogame Beziehungen eingeht. Man wird automatisch enttäuscht; früher oder später. Einer der Gründe, weshalb ich rein gar nichts von diesem Konzept halte. Warum soll man sich auf einen Einzigen festlegen, wenn es doch so viel Auswahl gibt? Wie zum Beispiel den da drüben.

Erneut schaue ich in seine Richtung und grinse gleich darauf über mich selbst. Hier gibt es so viele Typen, die mich regelrecht ansabbern, und auf welchen springe ich an? Natürlich auf den, der am schwierigsten zu bekommen zu sein scheint. Andererseits versprechen diese doch meist den größten Faktor an Spaß und Aufregung.

Ich atme tief durch und besinne mich auf meine Aufgabe. »Na, komm. Lass uns tanzen«, versuche ich zum wiederholten Mal Marius zu ermuntern. Schließlich ist dies doch der Hauptgrund für einen Clubbesuch, abgesehen vom Dunkelkammersport. Ich ziehe an Marius’ Arm, doch er lächelt nur schwach und schüttelt entschuldigend den Kopf. »Ne, danke. Lass mal. Ich gehe besser wieder. War keine gute Idee.«

Zwar verstehe ich nichts von Beziehungen, dennoch kenne ich Schmerz. Dass mein bester Freund leidet, geht auch mir nahe. Den Arm um seine Hüfte gelegt, ziehe ich ihn an mich heran und küsse sanft seine Schläfe. »Ach, chéri. Das ist doch keine Lösung. Vergiss den Idioten. Such dir ’nen schnuckeligen Kerl.«

Kaum sind die Worte draußen, erkenne ich, dass es genau die falschen waren. Marius schließt die Augen, presst die Lippen aufeinander und schüttelt den Kopf. Noch einmal ziehe ich ihn an mich und bin kurz überrascht, als er sich gegen mich fallen lässt. Sein schweißnasses Haar kitzelt meine Nase. Hier drin herrschen gefühlte vierzig Grad. Was zwar den Vorteil hat, dass viele textilarm herumlaufen, doch gleichzeitig sieht man Dinge, die man nicht sehen will. Von Gerüchen, die man nicht wahrnehmen möchte, mal ganz abgesehen.

»Hat dir ganz schön zugesetzt, was?« Ich spüre ihn schwach nicken. So habe ich Marius noch nie erlebt. »Chéri …« Nur wenige Zentimeter schiebe ich ihn von mir und warte, bis er ohne meine Unterstützung steht. Ich beuge mich vor und gebe ihm einen kurzen, freundschaftlichen Kuss. »Du weißt doch, dass ich ihn momentan beruflich beurteilen muss. Soll ich ein wenig Rache üben?« Vielsagend lasse ich die Augenbrauen zucken. Ein mieser Versuch, die Stimmung aufzulockern.

»Was? Nein, bitte nicht. Bleib professionell.« Sein schockierter Gesichtsausdruck verrät, dass er noch lange nicht so weit über diesen Mistkerl hinweg ist, wie er mich noch vor ein paar Stunden glauben machen wollte.

Da ich weiß, dass jedes Wort, das ich in diesem Moment über besagten Kerl sagen würde, falsch ankäme, versuche ich es auf andere Weise. »Na gut. Soll ich dich dann vielleicht auf andere Gedanken bringen?« Ich blinzle ihn an, obwohl das sicher unnötig ist. Wir kennen uns lange genug.

»Danke, Jacques. Ist nett, aber ich bin nicht in Stimmung.« Dennoch schließt er die Augen und lehnt sich genießerisch in meine Hand, die seine Wange streichelt. Das Lied im Hintergrund wechselt und harte Beats dröhnen auf einmal durch den Raum.

Ich beuge mich vor, um direkt in Marius’ Ohr zu sprechen. »Lass das mal meine Sorge sein.«

Ganz kurz lacht er auf. Na, immerhin. »Nein, ich gehe nach Hause. Bleib du ruhig hier.« Als hätte er Mühe, mich auf Abstand zu halten, legt er seine flache Hand gegen meinen Oberkörper. Mir gefällt die Vorstellung nicht, dass er sich verkriecht. Andererseits kenne ich Situationen, in denen man schlichtweg seine Ruhe haben will, ebenfalls.

»Sicher?«, frage ich dennoch.

Er nickt.

»Ich kann auch mitkommen. Wir bestellen uns eine Pizza und schauen irgendwelchen Schrott im Fernsehen an.« Marius verzieht das Gesicht und bringt mich damit zum Lachen. »Okay, aber bau keinen Mist, verstanden? Du kannst mich jederzeit anrufen.«

»Weiß ich doch. Danke, Jacques.«

Mit einem flüchtigen Kuss auf meine Wange verabschiedet er sich. Ich schaue ihm hinterher, als er aus dem Club verschwindet. Er tut mir wirklich leid. Es hatte ihn richtig erwischt. Er war so glücklich und ich hätte schwören können, dass dieser Falk ebenfalls bis über beide Ohren in ihn verliebt ist. So täuscht man sich.

Gut, dann werde ich doch mein Glück bei der Sahneschnitte versuchen.

Gemütlich schlendere ich zu ihm hinüber. Die Hüfte seitlich gegen die Bar gelehnt, welche definitiv schon bessere Zeiten gesehen hat, stelle ich mich neben ihn und warte gar nicht erst darauf, dass er hochsieht. Stattdessen ziehe ich gleich alle Register und passe einen ruhigen Moment in der Musik ab.

»’allo. Isch bin Jacques.«

Als Sohn einer Deutschen und eines Franzosen spreche ich beide Sprachen zwar fließend und akzentfrei, aber den lieben Vorurteilen zum Dank wird Franzosen ja gerne besondere Leidenschaft nachgesagt, was ich zugegebenermaßen ohne schlechtes Gewissen ausnutze. Zumal sich zumindest in den letzten Jahren niemand wegen meiner Fähigkeiten beschwert hat.

Die Sahneschnitte hebt minimal den Kopf, mustert mich von der Seite und starrt wieder in sein Getränk. Ich freue mich, den richtigen Riecher gehabt zu haben, denn auch das Gesicht steht seinem Körper in nichts nach. Doch offenbar muss ich den wohl noch mehr aus der Reserve locken. »Und ’ast du auch einen Namen?«

»Kein Interesse«, erklärt er abweisend, ohne mich anzusehen. Ich bin versucht, etwas zu erwidern wie Das ist aber ein seltsamer Name. Stattdessen dränge ich mich an seine Seite. Ein Duft schwebt zu mir herüber. Ist er das? Merde, riecht der gut. Dabei bin ich meist weniger auf diese Reize fokussiert. Dennoch ist da etwas, ich kann es schwer beschreiben. Rau, männlich, der klassische Beschützertyp. Ich will ihn. So viel steht fest. Mein Zeigefinger streicht von seiner Schulter über den Bizeps. Mon dieu! Was für Muskeln! Allein die Vorstellung, wie der Rest dieses Körpers aussehen mag, lässt meinen Schwanz erwachen.

»Sischer?«, frage ich weiterhin näselnd, jetzt ganz dicht an seinem Ohr. Hier ist sein Geruch noch stärker und ich habe Mühe, mich davon abzuhalten, ihn abzulecken. »Du ’ast ja noch gar nischt rischtig geschaut.«

Blitzschnell packt er mein Handgelenk. Ich zucke zusammen und gehe instinktiv einen Schritt zurück. Meine Muskeln spannen sich an. Sein Blick schreit Konfrontation, dennoch fühle ich mich nicht ernsthaft bedroht. Irgendetwas sagt mir, dass sein Groll nicht mir gilt. Mir imponiert, dass er selbst im Sitzen eine solche Autorität ausstrahlen kann.

»Auch wenn du Franzose bist, verstehst du doch sicher diese Worte: Kein Interesse! Ich stehe nicht auf Tunten.« Seine Stimme klingt kalt und abweisend. Mit einem verächtlichen Geräusch lässt er meine Hand los. Als wäre ich dadurch gleichzeitig aus dem Club verschwunden, dreht er sich wieder weg und beginnt offenbar von Neuem die Bläschen im Bierschaum zu zählen.

Mein Lächeln fühlt sich nun künstlich an und sieht bestimmt auch so aus. Ich widerstehe der Versuchung, über mein eng anliegendes, glänzendes, neonoranges Shirt zu streichen. Es passt perfekt zu meinem Teint und stellt eines meiner Lieblingskleidungsstücke dar. Und nur weil ich gerne meine Augen mit Mascara und einem dünnen Lidstrich betone, um dessen Präzision mich viele Frauen beneiden, bin ich noch lange kein Mann zweiter Klasse.

»Aber du stehst doch sischer auf Schwänze.« Natürlich habe ich mittlerweile erkannt, dass meine Versuche nicht fruchten. Doch ich habe vor, dieses Spielfeld mit erhobenem Haupt zu verlassen. »Glaub mir, isch ’abe da einiges zu bieten.« Bevor er reagiert, packe ich seine Hand und lege sie auf meinen Schritt. Ganz kurz wandert seine Augenbraue anerkennend nach oben, doch dann verfinstert sich sein Blick erneut.

»Such dir wen anderes zum Spielen.« Sein Bier stehen lassend steht er auf und verschwindet. Meine Güte! Dem ist definitiv nicht mehr zu helfen.

»Mach dir nichts draus«, höre ich jemanden hinter mir. »Der ist schon seit Wochen mies drauf. An den kommt grad niemand ran.«

Hm, der ist jetzt mal keine üble Alternative. Ebenfalls sehr groß – locker eineinhalb Köpfe größer als ich, was zugegebenermaßen nicht allzu schwer ist – und noch um einiges breiter als der andere eben. Einziges Manko: Er ist blond. Ich stehe nicht auf Blonde. Aber hey, im Darkroom ist es bekanntlich dunkel und ansonsten sieht der echt heiß aus.

»Ich bin Ulf.« Er streckt mir seine Hand entgegen. Oh, sehr höflich. So etwas mag ich.

»Jacques«, erwidere ich lächelnd, halte seine Hand absichtlich zu lange fest. »Du kenns’ den Typen?« Ich trete näher an ihn heran, wobei ich den Kopf in den Nacken legen muss. Ulf leckt sich in einer nervösen Geste über die Lippen. Ha, den habe ich an der Angel. Sehr schön. Wie nebenbei streiche ich mit dem Daumen über seinen Handrücken, wodurch er bemerkt, dass wir uns immer noch festhalten. Hektisch entzieht er mir seine Hand. Mon dieu, ist der niedlich.

»Ja, er ist mein bester Freund. Und normalerweise sind solche Läden nichts für mich, aber ich versuche auf ihn aufzupassen.« Ist ja sehr ehrenhaft, aber ganz ehrlich? Ich bin nicht hier, um mir irgendwelche Lebensgeschichten anzuhören; seien sie auch noch so spannend oder dramatisch.

Mit schief gelegtem Kopf lächle ich ihn an. »Das ’eißt, du ’ast kein Interesse?« Auffordernd lasse ich meinen Blick an ihm entlangwandern und lecke mir über die Lippen. Ein leichtes Zittern durchfährt ihn und er streicht sich mehrfach durch die Haare.

»Ähm, na ja, ich bin eigentlich nicht so der Typ für eine schnelle Nummer.«

Mühevoll verbeiße ich mir das Grinsen und bedeute ihm mit einem Fingerzeig, sich herunterzubeugen. »Wir können auch eine lange Nummer draus machen, wenn du möchtest«, raune ich in sein Ohr. Zwar höre ich sein Luftschnappen nicht, aber ich sehe die Bewegung seiner Lippen. Das reicht mir als Zustimmung. Ich dränge mich noch dichter an ihn, presse meinen halb erigierten Schwanz gegen seine Hüfte. »Isch bin sehr standhaft«, stelle ich ihm in Aussicht.

Er zuckt minimal zurück und mustert mich mit hilflosem Blick. »Aber ich mag es nicht im Darkroom.«

»Isch wohne nicht weit weg von ’ier«, unterbreche ich ihn, streiche anerkennend über seinen Oberarm. Er schluckt, taxiert mich ein weiteres Mal und fährt sich erneut mit zittrigen Fingern durch die Haare.

»Oh, okay. Warte nur einen Moment, bitte.«

»Bien sûr.« Mit dem Rücken gegen die Theke gelehnt beobachte ich lächelnd, wie er zu besagtem Sahneschnittenfreund geht. Ich glaube ihm, dass er nicht häufig in solchen Lokalitäten unterwegs ist, so unsicher, wie er herumläuft. Die zahlreichen anerkennenden und interessierten Blicke scheint er überhaupt nicht zu registrieren. Umso besser.

Die beiden reden kurz miteinander, dann deutet Ulf zu mir. Die mürrische Sahneschnitte reißt die Augen auf und grinst schließlich, bevor er Ulf auf die Schulter klopft. Offenbar wünscht er ihm viel Spaß. Ja, den wird er haben.

 

2.

Lars

 

 Ich möchte jetzt nicht behaupten, dass dieser Tag der schlimmste meines Lebens ist. Diesen Rang kann und will ich ihm nicht zugestehen. Aber in Summe gesehen rangiert er definitiv auf den ersten zehn Plätzen; wenn nicht sogar auf den ersten fünf.

Dies mag übertrieben dramatisiert klingen, doch heute scheint mein Leben zu einer Slapstick-Hommage zu verkommen.

Ich stehe am Fahrradständer vor meinem Fahrrad nach einer 24-Stundenschicht, welche eher 26 Stunden gedauert hat; kein ungewöhnlicher Umstand. Wie vielerorts in Deutschland sind wir hier bei uns im Krankenhaus derart unterbesetzt, dass ich regelmäßig Zeit an meinen regulären Dienst anhänge, um alles Liegengebliebene zu erledigen.

Natürlich ist das noch kein Grund, diesen Tag zu verfluchen. Doch die drei Geburten in der letzten Nacht hatten es in sich. Ein Kind überlebte leider nicht und bei einem zweiten steht es nach wie vor auf der Kippe. Und dieser Drachen von Oberschwester, Ruthilde, trägt mit ihrer wenig charmanten Art grundsätzlich nicht zu gehobener Stimmung bei. Weder bei mir noch bei den Patientinnen. »Hör’n Se uff zu schreien. Das hält ja kein Mensch aus!« Dies ist noch einer ihrer freundlichen Ausdrücke. Tja, Anschwärzen beim Chef ist in diesem Fall nicht angesagt, weil besagte Frau dessen Schwiegermutter ist.

Zudem hat er mich ohnehin auf dem Kieker. Annäherungen intimer Art innerhalb des Personals – und dann auch noch zwischen zwei Männern – sieht er überhaupt nicht gern. Dabei war Adrian nicht einmal auf meiner Station tätig gewesen. Aber gut, das Thema hat sich bereits vor einem Vierteljahr erledigt. Denn der Tag, an dem er mich verlassen hat, der kämpft tatsächlich ganz stark um den ersten Platz, wenn es darum geht, der beschissenste meines Lebens zu sein. Nicht nur, weil er mich verlassen hat, sondern auch, weil ich an dem Tag erfahren habe, dass ich mich womöglich mit HIV angesteckt habe. Nicht heroisch bei der Arbeit, sondern zugedröhnt beim latexfreien Ficken mit Kerlen, die ich bis dato kaum kannte und auch nicht kennen will. Etwas, das ich normalerweise nie tue. Immer safe. Außer mit Adrian. Selbst mit meinem anderen Freund, Marius, gab es immer nur Gummis.

Tja, aber es war einer dieser Abende, an dem Adrian und ich uns mal wieder über Nichtigkeiten gestritten haben. Ich ging aus, trank zu viel und warf mir irgend so eine Pille ein, die mir irgendwer zusteckte. Meine Erinnerungen an diesen Abend bestehen nur noch schemenhaft, aber ich weiß noch, dass es richtig geil war. Gut, der Kater danach und die Panik, als ich einen der Beteiligten eine Woche später zufällig beim Einkaufen traf, waren mehr als ernüchternd.

»Sag mal, du bist ja ganz schön abgestürzt, was?«, hatte der grinsend gefragt.

»Wieso? Soweit ich mich erinnern kann, warst du recht angetan von mir.« Der Typ arbeitet in dem Supermarkt, in dem ich häufiger einkaufe. Bisher war er mir kaum aufgefallen und bei Licht betrachtet entspricht er absolut nicht meinem Beuteschema. Was Drogen doch alles bewirken.

»Ich will mich ja auch gar nicht beschweren, aber nächstes Mal bitte wieder mit Gummi. Ist ja nicht so, dass wir was hätten, aber ist sicher besser.« Dieser Satz haute mich beinahe um. Erst dachte ich, er macht einen Scherz, aber es war sein Ernst. Ich hatte ohne Kondom gefickt? Ach du Scheiße! Warum sagte denn keiner was? Sofort begann eine unaufhaltsame Gedankenspirale. Spürte ich irgendwelche Anzeichen von Krankheiten? Kribbelte es nicht verdächtig in meinem Schritt?

»Wer war denn eigentlich noch so da?« Ich konnte nur hoffen, dass er sich erinnerte oder die anderen zumindest kannte. Denn ich stehe zwar auf Abenteuer, aber weniger auf vermeidbare Krankheiten. Vielmehr habe ich eine Heidenangst davor, mir selbstverschuldet etwas einzufangen, dass sich nicht mit ein paar Antibiotika behandeln lässt.

»Na, da war doch noch dieser Kerl aus deinem Fitnessstudio …«

Ich nickte und meinte mich dunkel an das Gesicht von Jens zu erinnern. Er gehört zu der Sorte Menschen, die man ab und an sieht und sich dann neutral grüßt. Soviel ich weiß, ist er sauber, aber das würde ich schnell herausfinden können.

»Und Marco, glaube ich.«

»Marco?« Der Name sagte mir nichts.

»Aber klar doch.« Er grinste mich an und zwinkerte. »Ihr habt doch noch ausgeknobelt, wer wen von euch ficken darf.«

»Scheiße«, nuschelte ich.

»Ach, ich glaube, es hat dir gefallen, so hart durchgevögelt zu werden.«

In der Hoffnung, nur zu träumen, schloss ich die Augen. Ich lasse mich nicht vögeln. Zumindest von keinem Kerl, den ich nicht kenne. Selbst Adrian kam dieses Privileg nur selten zuteil. Okay, jetzt nur nicht in Panik geraten. Ich atmete tief durch und hoffte, möglichst entspannt auszusehen.

»Sag mal, hast du zufällig die Nummer von diesem Marco?«

Er sah mich enttäuscht an. Vermutlich dachte er, ich wollte mich mit dem treffen. Dennoch las er sie mir bereitwillig aus seinem Handy vor.

»Soll ich dir meine auch geben?«

Ich schüttelte den Kopf und verkniff mir das »Wozu?«. Stattdessen wandte ich mich um und sagte noch schnell: »Danke. Ich weiß ja, wo ich dich finde.«

 

Auf dem Parkplatz des Supermarktes rief ich bereits Marco an und hoffte, er würde das Gespräch annehmen. Marco war über meinen Anruf reichlich verwirrt, denn er wusste überhaupt nicht mehr, wer ich war. »Aber wenn wir wirklich ohne Gummi gevögelt haben, solltest du dich vielleicht vorsichtshalber testen lassen.«

Im Grunde war mit diesem Satz bereits alles gesagt, dennoch fragte ich nach: »Wieso?«

»Na ja, ich bin positiv.« In diesem Moment wäre ich am liebsten tot umgefallen. Wie bescheuert kann man eigentlich sein? Er faselte zwar noch irgendetwas von Nachweisgrenze und keine Sorgen, aber mal ehrlich: Er brauchte sich ja auch keine mehr machen.

Und ja, grundsätzlich weiß ich, dass die Gefahr einer Ansteckung praktisch nicht gegeben ist, wenn der Sexualpartner unter der Nachweisgrenze ist. Aber die Information, dass wir alle unsafe gevögelt haben und dann noch dazu Marcos Aussage waren in diesem Moment zu viel. Mein logisches Denkvermögen setzte aus und ich sah mich schon lebenslang Pillen schlucken, die mein Körper irgendwann nicht mehr verträgt, und mich mit Nebenwirkungen und Leberversagen kämpfen.

Kopflos fuhr ich sofort ins Krankenhaus und stürmte zu meinem Kollegen, der immer meine Tests durchführt.

»Ist noch ein bisschen früh, oder? Du bist doch erst in zwei Monaten wieder dran«, erwiderte er auf meine Bitte eines schnellstmöglichen Tests.

Nachdem ich ihn zu Stillschweigen verdonnert hatte und ihm in kurzen Worten umriss, worum es ging, wurde er ernst.

»Was ist mit ’ner PEP?«

»Zu spät«, erwiderte ich resigniert. »Die 72 Stunden sind schon lange vorbei.«

Er atmete einmal tief durch. »Okay. Ich veranlasse sofort den Suchtest und rufe dich dann an.«

Das war mir viel zu ungenau. Ich brauchte Gewissheit, und das am besten zwei Tage zuvor. »Können wir nicht gleich ’nen PCR machen? Der ist doch wenigstens spezifisch.«

Seine Stirn zog sich kraus, doch dann sah er mich wieder neutral an und erklärte im ruhigen Ton: »Ja, und noch viel zu früh. Frühestens 15 Tage nach einer möglichen Ansteckung gibt es damit ein sicheres Ergebnis.« Das war mir selbstverständlich bewusst, aber irgendwie hoffte ich wohl auf ein Wunder. »Außerdem müsste ich dann die Kosten erklären. Wie du weißt, ist das nicht gerade billig.«

Ich gab mich also geschlagen, ließ mir Blut abnehmen und fuhr nach Hause.

 

Ich machte mir die größten Vorwürfe und Adrian, der auf mich wartete und gerade dabei war, Essen zu kochen, verstärkte mein schlechtes Gewissen zusätzlich. Er hatte schon immer feine Antennen für meine Stimmung, doch ich wimmelte ihn ab, schnappte mir das Telefon und rief Ulf an – mein ältester und bester Freund, den ich noch aus unserer Zeit im Kinderheim kenne. Was hatten wir damals nicht alles an Blödsinn angestellt?

Ulf ist ebenfalls schwul, doch im Gegensatz zu mir ungeoutet. Kommt als Profisportler eben nicht so gut, auch wenn in den Medien immer gerne so getan wird, als wäre Homosexualität kaum noch ein Thema.

 

Ulf ist der Einzige, mit dem ich offen über alles reden kann. Er kennt mich und hat mich bereits in den übelsten Verfassungen gesehen und stets wieder aufgebaut. Dazu ist er immer sehr analytisch und direkt, was ich zu schätzen weiß. So auch in dieser Situation.

»Hattest du seitdem Sex mit Adrian?«

»Ja.« Sicher hatten wir den.

»Ungeschützt?« Eine Frage, die mir einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte.

»Immer«, brachte ich krächzend hervor.

»Du musst es ihm sagen.«

»Aber ich liebe ihn. Ich kann es ihm nicht sagen.«

Zwar führten Adrian und ich eine offene Beziehung, aber es gab klare Regeln. Die oberste lautete: immer safe. Wenn ich ihm jetzt beichtete, dagegen verstoßen zu haben, wäre es vorbei. Diesen Vertrauensbruch würde er nicht akzeptieren.

»Willst du, dass der Mann, den du liebst, an AIDS stirbt?«, fragte Ulf aufgebracht.

»Nein!«, schrie ich ins Telefon. Rechtfertigungen lagen mir auf der Zunge, dass ja noch gar nicht sicher sei, dass ich mich infiziert hätte. Ich könnte doch auch einfach das Ergebnis abwarten und erst dann mit Adrian reden.

»Also?« Ich hörte ihn tief durchatmen. »Lars, hab einmal den Arsch in der Hose und steh zu dem Scheiß, den du gemacht hast!«

Sagte sich so leicht.

Ich tat es nicht. Aber dass ich bei unserem abendlichen Stelldichein plötzlich Kondome hervorkramte, alarmierte Adrian natürlich. Ich konnte die Fassade nicht länger aufrecht erhalten und gestand ihm unter Tränen, was passiert war.

Er war vollkommen fassungslos und die Ohrfeige, die er mir verpasste, hatte ich eindeutig verdient. Er hatte ja recht. Ich hatte unverantwortlich gehandelt. Nicht nur mir selbst, sondern vor allem ihm gegenüber; dem Mann, den ich liebte. Kurz zuvor hatte mich bereits Marius verlassen.

Ja, ich fuhr damals zweigleisig, aber ich konnte und wollte mich die ganze Zeit nicht entscheiden. Irgendwie liebte ich beide. Tja, und nun blieb mir keiner mehr.

Adrian verließ mich auf der Stelle. Selbst der Anruf aus dem Krankenhaus, dass mein Schnelltest negativ war, konnte ihn nicht umstimmen.

»Komm endlich mit deinem scheiß Leben klar, Lars! Du zerstörst dich nur selbst. Wach auf und hol dir Hilfe.« Ich verstand nicht, was er mir damit zu sagen versuchte, oder vielmehr: Ich wollte es nicht verstehen.

 

Seitdem hatte ich keinen Sex mehr. Also zumindest keinen mehr mit einer anderen Person. Das ist nun drei Monate her und heute bekam ich das endgültige Ergebnis. Ich hatte alle Tests, die machbar sind, beantragt und unter jedem stand nur ein Wort, das mich interessierte: negativ.

Die Erleichterung hält sich dennoch in Grenzen. Schließlich habe ich alles verloren und wenn ich nicht aufpasse, gesellt sich mein Arbeitsplatz noch dazu. Denn mein Chef war alles andere als begeistert, dass ich diese ganzen teuren Tests auf Kosten des Krankenhauses hatte durchführen lassen. Also durfte ich vorhin nach meinen 26 Stunden in seinem Büro antanzen und meine Abmahnung abholen.

Jetzt will ich nur noch mein Fahrrad schnappen, nach Hause fahren und die nächsten zwei Tage durchschlafen. Doch gestaltet sich die Sache mit dem Fahren schwierig, zumindest mit meinem Rad. Dieses steht zwar noch an Ort und Stelle, aber irgendein Arschloch meinte offensichtlich, die Schneidfähigkeit seines Messers an meinen Reifen testen zu müssen.

Das bedeutet: Fahrrad zur S-Bahn tragen und auf diese Weise nach Hause fahren. Morgen werde ich dann neue Reifen kaufen müssen. Damit der heutige Tag noch besser wird, ist der Fahrstuhl zum S-Bahngleis natürlich defekt.

Kurz vor Mittag brennt die Junisonne gnadenlos. Schweiß rinnt meinen Rücken herunter und meine Schulter protestiert gegen das Gewicht des Fahrrads. In der Unterführung zum Bahnsteig steht die Luft. Der Versuch, flach zu atmen, um den Gestank der vollgepissten Ecken so wenig wie möglich wahrzunehmen, misslingt kläglich. Die Muskeln meines Oberarms zittern, dennoch halte ich nicht an. Jede Sekunde länger in dieser Atmosphäre verstärkt den langsam, aber bestimmt heraufkriechenden Brechreiz.

Mit jeder Stufe, die ich hochgehe, schlucke ich, als könnte ich meine Atemwege somit reinigen. Auf halber Treppe dringt Gepöbel von oben herunter. Na, ganz toll. Auf irgendwelche Idioten habe ich ja im Moment besonders Lust. Jetzt bleibe ich doch kurz stehen und atme mehrfach durch. Hier geht es schon deutlich besser.

Wenige Stufen trennen mich noch vom Bahnsteig. Noch sehe ich den Unruhestifter nicht, dafür aber überdeutlich ein Handy, das auf mich zufliegt. In letzter Sekunde kann ich meinen Kopf so weit zur Seite reißen, dass es so gerade eben an mir vorbeisaust.

»Ey!«, schreie ich hinauf. Nicht, dass gleich noch mehr hinterherkommt.

»Du hältst deine Schnauze!«, höre ich jemanden, bevor ein Typ Marke Anabolikajunkie an mir vorbei die Treppe herunterhechtet.

Kopfschüttelnd hieve ich mein Fahrrad die letzten Stufen hinauf. Die Hitze scheint den Menschen nicht sonderlich zu bekommen.

 

Schnaufend stelle ich mein Rad endlich oben ab. Mit dem Handrücken wische ich mir über die Stirn. Kurz schaue ich mich um. Merkwürdig, hier befindet sich kein einziger weiterer Mensch. Wer weiß, mit wem er da gesprochen hat.

Ich lasse mich auf eine der Bänke nieder, um zu warten. Laut Anzeige kommt die nächste Bahn in knapp zehn Minuten. Ich hole mein Handy hervor und checke meine E-Mails, als ich plötzlich eine Art Röcheln höre, gefolgt von einem Husten. Ein kurzer Rundumblick, doch ich sehe niemanden.

»Was …?« Aus dem Augenwinkel meine ich etwas zu sehen. Da, hinter dem S-Bahn-Häuschen – war da eine Bewegung?

Jetzt höre ich ein Wimmern. Ganz eindeutig. Ich stehe auf, lehne mein Fahrrad gegen den Sitz und nähere mich dem Geräusch, immer darauf bedacht, dass es auch eine Falle sein könnte.

»Ach du Scheiße!« Es ist keine Falle. Denn ich bezweifle, dass sich jemand dafür krümmend und blutend auf die Erde legt.

Schnell hocke ich mich neben die Person. Ein Mann, etwa in meinem Alter und schwul. Ja, das erkenne ich tatsächlich sofort. Nicht, dass mein Gay-Radar dermaßen perfekt funktioniert, aber ein Typ in roter Latexhose, dunkelblauem Glitzeroberteil und dazu passenden Schuhen ist entweder schwul oder hat eine Wette verloren. Geschminkt ist er obendrein auch noch. Ich ahne, weshalb er hier in dieser Verfassung liegt.

Außerdem – den kenne ich doch! Ist das nicht der, der mich letztes Wochenende im Club angemacht hat? Ja, ich bin mir recht sicher. Tja, Ulfs Meinung nach habe ich bei dem echt was verpasst.

»Hey, kannst du mich hören?« Vorsichtig berühre ich seinen Arm, was ihn heftig zucken lässt.

»Alles in Ordnung«, versuche ich ihn zu beruhigen. »Der Typ ist weg.«

Er hustet und spuckt gleich darauf Blut aus.

»Scheiße!« Ich weiche zu spät aus. Diese Sneakers werde ich dann wohl entsorgen können. Hektisch tippe ich auf mein Smartphone und rufe im Krankenhaus an.

»Schickt mir ’nen RTW. Schnell. Überfall am S-Bahnhof Schildstraße, junger Mann, schätzungsweise Anfang 30, offenbar innere Verletzungen, bei Bewusstsein, aber nur schwach. Beeilt euch!«

Wieder röchelt der Typ. »Tut dir was weh?« Das ist zugegeben eine blöde Frage, aber ich muss herausfinden, ob er unter Schock steht.

»Oui, je …«, erwidert der Typ leise. Stimmt, der ist ja Franzose. Mein Schulfranzösisch ist so lange her, damit muss ich jetzt nicht anfangen.

Er versucht sich aufzurichten, doch sein Arm schmerzt offenbar höllisch. »Nein, liegen bleiben.« Er reagiert nicht, versucht in Panik wegzurobben. Ich krame in meinem Kopf nach den passenden Vokabeln. »Ähm, was heißt das noch mal auf Französisch? Ah, ja. Rester1.« Einerseits möchte ich ihn festhalten, anderseits ihm aber keine weiteren Schmerzen zufügen. Daher streiche ich lediglich über seinen Handrücken.

Tatsächlich wird er ruhiger und legt sich wieder hin. Seine Kurzatmigkeit gefällt mir nicht. Er kneift die Augen fest zusammen. »Merde!«

Okay, das verstehe sogar ich. Wo zur Hölle bleibt der Krankenwagen? Das Krankenhaus ist doch um die Ecke.

Der Typ windet sich. Ich würde ihm gerne helfen. Stabile Seitenlage wäre eine Option, zumindest je nach Verletzung. Also starte ich einen nächsten Versuch. »Wo hast du Schmerzen?«

»Überall«, erklärt er angestrengt flüsternd. Nicht sonderlich hilfreich.

»Darf ich dich vorsichtig abtasten?«, frage ich und sein skeptischer Blick lässt mich grinsen. »Ich bin Arzt.«

»Was für ein Arzt?« Wieder stöhnt er schmerzerfüllt.

»Ich bin Frauenarzt«, erkläre ich, während ich behutsam an ihm entlangstreiche.

Skeptisch verfolgt sein Blick mein Tun. »Ähm …«

»Keine Angst, Erste Hilfe bekomme ich auch bei Männern hin.« Er nickt andeutungsweise. Als ich seinen Arm berühre, atmet er wieder stoßweise. »Entschuldige«, nuschle ich und beende die kurze Untersuchung ab. Ich tippe auf einige Brüche und wie es mit den inneren Organen aussieht, kann ich nur vermuten. Ihn jetzt zu bewegen könnte zusätzlichen Schaden hervorrufen. Besser ich besinne mich darauf, ihn bei Bewusstsein zu halten und dafür zu sorgen, dass er sich so wenig wie möglich bewegt. Ich streichle behutsam seine Wange und versuche mir vorzustellen, wie er ohne den Dreck, das Blut und das Make-up aussieht.

Endlich höre ich die Sirenen. »Okay, der Krankenwagen ist da. Die bringen dich gleich ins Krankenhaus.«

»Merci«, flüstert der Typ. Seine Augen blicken mich dankbar an.

»De rien2«, erwidere ich automatisch.

Die Sanitäter eilen heran und ich stehe auf. Oder vielmehr: Ich will aufstehen, denn der Typ hält meine Hand fest. »Was …?«

»Bitte bleib.«

 

 

 

 

1 bleiben

2 gern geschehen

 

3.

Jacques

 

Stimmen reden wild durcheinander. Es wackelt und ich glaube, diese Liege, auf der ich mich befinde, dreht sich um sich selbst. Ich fühle mich wie in einer Achterbahn – und ich hasse Achterbahnen! Der chemische Geruch beruhigt mich nicht. Mein Schädel nimmt mit jedem Herzschlag an Volumen zu und trotz geschlossener Augen ist die Umgebung viel zu hell.

Meine Gedanken kämpfen sich träge durch mein matschiges Hirn. Der Versuch zu sprechen, misslingt. Lediglich ein gurgelndes Krächzen bringe ich zustande. Dabei wünsche ich mir, dass endlich die Sirene abgestellt wird. Dieses schrille Geräusch verschlimmert alles.

Nur vage spüre ich eine leichte Berührung an meiner rechten Hand. Unter Aufbietung meiner letzten Kräfte öffne ich die Augen einen Spalt. Der süße Typ, der mir vorhin zu Hilfe kam, mustert mich besorgt. Ich versuche zu lächeln, um ihn zu beruhigen, aber ich glaube, ich bewege nicht einen einzigen Muskel. Dafür spüre ich meine spröden Lippen und schmecke frisches Blut.

Jetzt beugt er sich zu mir herunter. Ganz schlechter Zeitpunkt, dennoch kribbelt es, als er sanft mit zwei Fingern meine Schläfe berührt. Irgendwoher kenne ich den Kerl. Doch die höllischen Schmerzen verhindern jegliches Denken. Einer meiner Mandanten vielleicht? Ich weiß es nicht. Sagte er nicht vorhin, er sei Arzt? Dann wohl nicht. Verdammt, ich sollte mit dem Nachdenken aufhören. Das fiese Dröhnen in meinem Schädel wird unerträglich.

»Na, Lars. Dein neuer Stecher?«, fragt einer der Sanitäter neben ihm. Lars heißt er also. Nein, der Name sagt mir nichts. Egal. Vielleicht kommt er mich später besuchen. Doch bei meinem Glück steht der nicht auf Kerle oder zumindest nicht auf mich. Vor allem, wenn ich bedenke, wie er mich vorhin angeguckt hat. Andererseits: Warum begleitet er mich? Nur weil ich ihn darum gebeten habe, wohl kaum, oder? Oh Mann! Wann funktioniert mein Verstand denn wieder? Den hat dieser Arsch doch hoffentlich nicht herausgeprügelt.

»Schnauze!«

»Wusste gar nicht, dass du auf so etwas stehst.« Lars packt den Sanitäter blitzschnell am Oberarm und zerrt ihn an sich heran. Erschrocken versucht dieser zurückzuweichen. Erfolglos.

»Schnauze, hab ich gesagt«, knurrt Lars regelrecht.

»Schon gut. Beruhige dich, Mann! War nicht so gemeint.«

Ich frage mich, wo der Fahrer seinen Führerschein gewonnen hat. Würde mich nicht überraschen, wenn wir gleich im Graben landen. Gerade schneidet er offenbar ziemlich scharf eine Kurve. Es ruckelt und die Bewegung schmerzt höllisch. Mit einem unterdrückten Stöhnen kneife ich die Augen zusammen. Sofort widmet sich Lars wieder mir.

»Alles in Ordnung? Was tut dir weh?«

Würde ich nicht gerade damit kämpfen, meinen Kopf vom Platzen abzuhalten und ihm vor die Füße zu kotzen, würde ich ihm mein schönstes Lächeln schenken. Aber ob das eine kluge Idee wäre? Schließlich ist er eben sehr aggressiv auf den Sanitäter losgegangen, nur weil der angedeutet hat, Lars könnte an mir interessiert sein.

 

Endlich hört das Geruckel auf und die Sirene wird abgestellt. Hektik bricht aus. Meine Güte, die sollen sich mal beruhigen. Ich habe nicht vor, hier in diesem Ding zu sterben.

»Hat der ’nen Ausweis dabei?«, höre ich jemanden. »Krankenversicherung?«

Wieder schaukelt es. Kurz darauf sehe ich den Himmel und dann eine weiß-graue Raumdecke.

»Keine Ahnung«, erwidert Lars, der nebenher läuft. »Soviel ich weiß, ist er Franzose.«

Ich versuche mich zu drehen, um an mein Portemonnaie zu kommen.

»He, nicht bewegen«, werde ich augenblicklich getadelt.

Mann, sind die dämlich!

»Was sollen wir denn in den Aufnahmebogen schreiben?«

Wieder ergreift Lars meine Hand. »Wie heißt du?«

»Ja…« Ich versuche zu schlucken. Mein Rachen ist derart trocken, dass ich kaum sprechen kann. »Jacques«, bringe ich krächzend hervor. »Mein Ausweis.« Erneut drehe ich mich minimal. Er scheint zu verstehen, denn er greift mir sofort an den Hintern. Unter anderen Umständen würde ich das genießen.

»Jacques Dijon«, liest Lars vor. »Er hat zwei Ausweise.« Das stimmt. Dank meiner deutschen Mutter besitze ich eine doppelte Staatsbürgerschaft.

»Versichertenkarte?«

»Hier ist keine. Vielleicht eine französische Versicherung?«, mutmaßt Lars.

»Oui«, hauche ich, doch ich bezweifle, dass das irgendjemand hört. Können die anstelle der dämlichen Formalien nicht erst einmal dafür sorgen, dass diese Schmerzen aufhören?

»Okay. In Untersuchungsraum drei mit ihm. Danach zum Röntgen und haltet mir die Bullen vom Hals.«

 

Ich weiß nicht, wie lange man um mich herumwirbelt, mich verbindet, näht, röntgt und immer wieder in ein anderes Zimmer schiebt. Ständig werden mir die gleichen Fragen gestellt. Wann lässt man mich denn endlich in Ruhe?

Zwischenzeitlich kann ich nicht sagen, was mehr schmerzt: mein Kopf oder einzelne Teile meines Körpers. Hinzu kommt diese ständige unterschwellige Übelkeit. Ich mochte Krankenhäuser noch nie sonderlich. Müdigkeit überrollt mich so heftig, dass ich alles nur noch gedämpft wahrnehme. Sollen die doch ihre Untersuchungen machen. Ich ruhe mich jetzt aus.

»Hey, bleiben Sie bei uns!«, ruft eine Stimme weit entfernt. »Herr Dijon? Können Sie mich hören?«

Ich antworte, glaube ich zumindest. Vielleicht rolle ich auch nur meine Zunge hin und her. Wen interessiert das schon?

»Er verliert das Bewusstsein! Schnell!«, ruft jemand und dann ist urplötzlich Ruhe.

 

Als ich das nächste Mal die Augen öffne, ist es angenehm ruhig. Die betongrauen Wände könnten nicht erst seit Kurzem einen neuen Anstrich vertragen. Tageslicht täte der Atmosphäre sicher ebenfalls gut. Mein linker Arm ist eingegipst und in meinem rechten steckt eine Kanüle, durch die eine Infusion läuft.

Ich kann Orientierungslosigkeit nicht leiden, aber momentan stört es mich kaum. Stimmen dringen nun zu mir durch und neben meinem Bett steht eine junge Frau, die mich freundlich anlächelt.

»Ah, da sind Sie ja wieder. Willkommen unter den Lebenden.«

Leben? Dessen bin ich mir nicht so sicher. Alles erscheint unwirklich und unscharf. Mein Mund ist ausgetrocknet und in meinem Hals hat sich ein fester Schleimklumpen gebildet, der sich nicht wegschlucken lässt. Der Versuch, zu fragen, wo ich mich befinde und was passiert ist, endet in einem gurgelnden Röcheln gefolgt von einem schwachen Husten.

»Ruhen Sie sich noch ein wenig aus. Dann werden Sie in ein Zimmer verlegt, bevor der Doktor mit Ihnen spricht.«

Zimmer? Doktor? Ich schaffe es nicht, mich durch den wattigen Nebel, der sich auf meinen Verstand gelegt hat, durchzukämpfen. Auch ist es mir unmöglich, mich zu orientieren. An der hässlichen Wand gegenüber hängt eine Uhr, die ich nur verschwommen erkennen kann. Mir ist kalt. Der Hochsommer scheint in diesem Raum noch nicht angekommen zu sein. Sofern es überhaupt noch Sommer ist oder jemals war. Mich würde auch nicht wundern, sollte ich soeben in der Matrix aufgewacht sein. Oder vielleicht bin ich auch in einer Versuchsanstalt von Aliens. Momentan erscheint meinem Hirn alles gleichermaßen logisch.

 

Nach gefühlten Stunden, in denen mein Verstand immer wieder davondriftet, bin ich mir recht sicher, mich in einem Krankenhaus zu befinden. Mein Hirn arbeitet noch schleppend, doch den Gesprächen nach zu urteilen liege ich in einem Aufwachraum, nachdem ich operiert wurde. Wenn ich doch nur noch wüsste, weshalb.

Nach der Verlegung in ein Krankenzimmer kommt endlich jemand herein, der mir hoffentlich ein paar Fragen beantworten kann.

»Monsieur Dijon? Mein Name ist Dr. Stellinger. Ich habe Sie wieder zusammengeflickt.«

Aha. Ich nicke andeutungsweise und bereue diese Bewegung augenblicklich.

»Also, sind Sie bereit für die Wahrheit?«

»Klar«, gebe ich krächzend von mir.

»Gut. Also, Ihr linker Arm ist gebrochen, eine einfache Fraktur. Sie haben diverse Prellungen erlitten, eine Gehirnerschütterung, Schürfwunden und eine Platzwunde am Kopf. Doch am meisten Sorgen hat uns Ihre Milz bereitet. Sie haben eine Milzruptur dritten Grades erlitten. Das war auch der Grund für Ihre Ohnmacht. Die Notoperation war unumgänglich. Wie es aussieht, werden Sie uns noch einige Tage erhalten bleiben.«

Na, ganz klasse. Mein Chef wird sich freuen. »Was …« Ich räuspere mich, doch klingt meine Stimme beim nächsten Versuch noch genauso rau und belegt. »Was ist eigentlich …?«

»Was passiert ist?«

Ich gebe ein zustimmendes Brummen von mir, da Kopfnicken ja nicht sonderlich angenehm ist. »Erinnern Sie sich nicht? Sie wurden überfallen.«

Schreie, Schmerzen; Erinnerungsfetzen kämpfen sich durch das Dickicht in meinem Kopf und werden doch so fest umklammert, dass sie sich nicht logisch zusammensetzen können. Lediglich ein paar dunkle Augen, die mir Halt geben, erscheinen deutlich. Jemand hat mir geholfen. »Ah«, mache ich. Tatsächlich wird es mit jedem Atemzug besser.

»Kommt es wieder? Gut. Ansonsten hätte es sein können, dass der Schaden bedenklicher ist, als wir vermutet haben.« Noch schlimmer? Wie sähe das denn aus? »Ihre Sachen sind hier.« Der Arzt deutet auf eine Tüte neben dem Nachttisch. »Ist das Ihr Handy? Die Polizei hatte es gefunden.« Er hält mein Smartphone hoch, oder besser gesagt: was davon übrig geblieben ist.

»War es, ja.«

»Sollen wir irgendjemanden für Sie kontaktieren? Wir haben nichts dergleichen finden können und der Kollege, der Sie begleitet hat, hatte auch keine weiteren Informationen.«

Meine ersten Gedanken gelten meinem Vater und meiner Schwester, aber ich möchte ihnen keine Sorgen bereiten. Zumal sie aus Frankreich kaum etwas tun können. Dann doch lieber … »Marius. Marius Wenke. Ihm gehört die Sonnenschein-Apotheke.«

»Gut. Die Polizei wird später noch vorbeikommen, um Ihre Aussage aufzunehmen. Fühlen Sie sich fit genug dafür?«

Keine Ahnung. Werde ich ja sehen. Dennoch nicke ich und stöhne beim einschießenden Schmerz auf.

»In Ordnung. Ich lasse Ihnen gleich noch etwas gegen die Schmerzen bringen.«

 

~*~

 

»Jacques! Du meine Güte! Was machst du denn für Sachen?« Zerzaust, hektisch atmend und mit gerötetem Gesicht rauscht Marius auf mich zu. Im ersten Impuls scheint er mich an sich reißen zu wollen, besinnt sich allerdings offensichtlich. Stattdessen fährt er sich durch die Haare und schüttelt den Kopf.

»Ich mache gar nichts«, verteidige ich mich schwach. Schließlich habe ich nicht darum gebeten.

»Oh Mann! Du …« Er schluckt und mustert mich eingehend. Ohne zu fragen, hebt er die Bettdecke an und verzieht das Gesicht. »Scheiße.«

»He. Lass dem Sterbenden noch ein wenig Würde, ja?«

»Blödmann!« Marius seufzt, setzt sich neben mich auf einen Stuhl und greift nach meiner Hand. »Weißt du, wer es war?«

»Irgend so ein homophobes Arschloch. Hab ich noch nie gesehen.« Ich schließe die Augen und versuche mich zu entspannen. Zwar helfen die Medikamente recht gut, dass die Schmerzen nicht mehr so präsent sind. Dennoch habe ich das Gefühl, überall zieht und sticht es.

»Dass so etwas einfach so am helllichten Tag passiert.« Er klingt resigniert. Marius, der Gerechtigkeitsfanatiker.

»Vermutlich war das mein Glück.«

»Bitte was?«

Lächelnd registriere ich seine Fassungslosigkeit. »So gab es wenigstens einen rettenden Engel.« Einen großen, heißen, attraktiven Engel. Wäre die Situation anders gewesen, hätte ich mir den Kerl geschnappt.

»Jacques«, tadelt er mich.

»Beruhig dich. Der Typ ist abgehauen, kaum dass wir im Krankenhaus waren. Obwohl der echt heiß aussah.« Seufzend denke ich noch einmal an diesen wohldefinierten Körper. Uns Schwulen wird ja gerne Oberflächlichkeit nachgesagt und in diesem Fall bekenne ich mich eindeutig schuldig.

»Ist sicher auch besser so«, findet Marius.

»Wieso?«

»Na ja, Matratzensport fällt mit deinen Verletzungen vorerst weg, mein Lieber.«

Spielverderber. Man wird doch wohl noch mal träumen dürfen.

»Wie geht es jetzt weiter?« Netter Versuch, das Thema zu wechseln.

»Gute Frage. Ich brauche erst einmal ein neues Handy. Das alte …« Marius’ Blick folgt meinem zum Nachttisch. Dort liegen die Überreste meines Smartphones, inklusive gesplittertem Display und abgeplatzter Hülle. Keuchend sieht er zu mir zurück.

»Ja, das war nicht ganz sturzfest.« Marius’ Augen verengen sich bei der lapidaren Erklärung. Er kann es nicht leiden, wenn ich die Dinge herunterspiele. Doch darauf nehme ich jetzt keine Rücksicht. Es gibt andere Bereiche meines Lebens, die deutlich wichtiger sind. »Und danach: keine Ahnung. Mein Chef wird sicher vollkommen begeistert sein.«

»Ich verstehe echt nicht, weshalb du noch für diesen Mann arbeitest«, erwidert er resigniert. Er spielt darauf an, dass mein Chef ein arrogantes, cholerisches, egoistisches Arschloch ist. Ach ja, homophob hab ich noch vergessen. Doch seine Firma gehört nun einmal zu den renommiertesten Unternehmensberatungen in ganz Europa. Da kündigt man nicht so einfach. Vor allem nicht, wenn man in näherer Zukunft Leiter der deutschen Niederlassung werden soll. Denn so wenig er mich menschlich leiden kann, achtet er mich fachlich durchaus; zumindest bis zu einem gewissen Grad. Letztendlich ist jeder austauschbar.

»Marius, bitte.«

Er atmet tief durch und lächelt angestrengt. Zugegeben, ich genieße es, dass er sich aufgrund meines Gesundheitszustands zusammenreißt. Andererseits schwirrt mir schon der Kopf, wenn ich daran denke, was mein Kollege Dennis und ich noch alles vorbereiten müssen.

»Was ist mit deiner Familie?« Ich presse die Lippen aufeinander. Diese unangenehme Angewohnheit, beim Themenwechsel die Stimmung noch stärker zu vermiesen, muss ich ihm dringend abgewöhnen. »Oh nein! Sag nicht, du hast ihnen noch nicht Bescheid gegeben.«

Er soll gar nicht so tun. Schließlich kennt er mich lange genug. »Na ja, mein Vater und Nicole machen sich nur unnötige Sorgen und außerdem ist doch nicht viel passiert«, erkläre ich kleinlaut.

»Nicht viel passiert? Jacques, du wurdest übelst zusammengeschlagen, notoperiert, hast innere Verletzungen! Das nennst du ›nicht viel‹?« Marius gestikuliert hektisch in der Luft herum.

»Wenn du das so dramatisierst, dann …«

»Ich dramatisiere nicht! Jacques, verdammt! Du nimmst immer alles auf die leichte Schulter! Bei deinen Bettgeschichten – okay. Das ist deine Sache, aber das hier betrifft auch die Menschen, die dich lieben! Ich werde jetzt losgehen und dir ein neues Handy besorgen und dann rufst du deine Familie an.« Aufgeregt springt er auf und schiebt heftig den Stuhl zurück, sodass er mit einem fiesen Quietschen über den Boden schabt.

»Marius …«

»Wenn du es nicht machst, tue ich es!«

Lächelnd strecke ich meine rechte Hand nach ihm aus. »Komm her«, verlange ich leise, doch Marius sieht mich nur skeptisch an. »Du hast ja recht. Komm her.«

»Natürlich hab ich recht.« Er klingt wie ein bockiges Kind.

Schmunzelnd ziehe ich ihn näher. »Danke«, flüstere ich.

»Wofür?«

»Dass du mir den Kopf gerade gerückt hast.« Denn natürlich war das keine Bagatelle, leider.

»Immer wieder gerne.«

 

~*~*~

 

Wie vorhergesehen ist mein Chef stocksauer. Durch meinen zweiwöchigen Aufenthalt im Krankenhaus ist der Zeitplan nicht mehr einzuhalten, was wiederum weitere Kosten verursacht.

Zwar bin ich endlich wieder zu Hause, doch noch immer krankgeschrieben. Nun gut, zum Home Office muss ich ja nicht einmal meine Wohnung verlassen und so schaffe ich es hoffentlich, etwas der verlorenen Zeit aufzuholen. Tippen mit nur einer Hand gestaltet sich allerdings als extrem mühselig, ähnlich wie der komplette Alltag. Hinzu kommt, dass die Prellungen mir ebenfalls noch zu schaffen machen. Mittlerweile kann ich die meiste Zeit immerhin wieder schmerzfrei atmen. Dennoch entstehen bei manchen Bewegungen noch immer heftigste Schmerzen. Deshalb schaut Marius jeden Tag vorbei und hilft mir.

»Jacques, du sollst doch nicht arbeiten«, tadelt er mich, kaum dass er meine Wohnung betreten hat.

»Ich lese und schreibe doch nur ein paar E-Mails. Das wird mich schon nicht überanstrengen.« Wir klingen wie ein altes Ehepaar.

»Wenn es nur ein paar wären. Wie lange sitzt du schon an der Kiste? Und lass mich raten, du hast heute bereits das eine oder andere geschäftliche Telefonat geführt.« Die Hände in die Hüften gestemmt, sieht er mich missmutig an.

»Ähm«, mache ich und kann nicht verhindern, ertappt auszusehen. Schließlich benötige ich meine ganze Energie, um nicht laut loszulachen. Jetzt noch eine Schürze, einen Staubwedel und ein Häubchen und das Bild wäre perfekt.

»Schon klar. Jetzt komm. Ich habe extra gekocht und dann werden wir uns einen gemütlichen Abend machen.«

Uh, gemütlich gefällt mir. Grinsend wechsle ich auf das Sofa. Okay, vermutlich wäre es bei mir recht schnell mit der Erregung vorbei, weil mich ein fieser, stechender Schmerz überkäme, aber allmählich habe ich das Gefühl, dass mir mein Saft bald aus den Ohren kommt.

»Was du gleich wieder denkst«, beschwert er sich halb im Ernst. »Nur, weil Falk mich … Moment.« Er kramt sein vibrierendes Handy aus der Hosentasche.

Ja, die Geschichte mit seinem Ex ist bitter: Erst so verliebt und dann schnappt der sich plötzlich seinen besten Freund, auf den er offensichtlich schon immer scharf gewesen ist. Ich hatte reichlich Mühe, ihn objektiv zu bewerten, als ich letzten Monat in dessen Firma eingesetzt wurde.

»Wenke«, meldet Marius sich knapp. »Was? Aber wieso? Können Sie nicht …? Verstehe. Haben Sie schon bei A.S.S. angerufen? Okay. Ja, ich komme. Bin gleich da.« Marius legt auf und sieht mich mit zerknirschtem Gesichtsausdruck an. »Entschuldige, Notfall in der Apotheke. Irgendetwas mit der Software.«

»Kann das nicht bis morgen warten?« Ich hatte mich echt auf Abwechslung gefreut. Allmählich gehe ich hier ein, so allein.

»Wir haben heute Notdienst. Die Kollegin hat schon bei der Firma angerufen, aber sie kennt sich mit dem ganzen Kram nicht so aus. Entschuldige, ich beeile mich.« Er gibt mir einen kurzen Kuss. »Und halt die Füße still.«

 

~*~

 

Marius’ Mahnung kam nicht von ungefähr. Stillsitzen war noch nie meine Stärke. Ohne konkretes Ziel gehe ich nach draußen. Ich bin schlicht nicht für die Couch gemacht. Auch wenn mein Modell bequem ist, noch dazu schön groß und breit. Das eignet sich auch sehr gut für andere Dinge, als nur darauf herumzugammeln. Gerade letztens mit diesem Ulf. Der Typ war echt der Hammer! Tja, nur habe ich für die nächsten vier Wochen immer noch strengstes Verbot. Das ist echt Folter. Eigentlich darf ich mir nicht mal einen runterholen. Zu anstrengend für den Körper, zu viele Muskelkontraktionen. Aber ehrlich: So werde ich nur depressiv oder zumindest schlecht gelaunt. Ähnlich wie der Typ, der gerade in meine Richtung joggt. Glücklich sieht der nicht aus. Weshalb tun sich Leute so etwas an, wenn sie doch erkennbar keine Freude daran haben? Für mich ist Sport ja grundsätzlich Mord, vom Bettsport mal abgesehen. Dabei verbrennt man schließlich auch genügend Kalorien und es macht definitiv mehr Spaß als albernes Durch-die-Gegend-Rennen.

Okay, dafür hat der Kerl eine echt gute Figur. Das muss ich zugeben. Denn obwohl er einen schlabbrigen Pulli trägt, dessen Kapuze ihm ins Gesicht hängt, erkennt man deutlich das breite Kreuz. Meine sämtlichen Sinne springen auf ihn an. Ich bin eindeutig untervögelt.

Kurz bevor er an mir vorbeiläuft, erkenne ich ihn. »Lars?« Er zuckt zusammen, verlangsamt sein Tempo und bleibt schließlich neben mir stehen.

»Kennen wir uns?«, fragt er abweisend.

Ich grinse, doch er scheint sich tatsächlich nicht mehr an mich zu erinnern. »Jacques. Du hast mir vor ein paar Wochen bei dem Überfall an der S-Bahn geholfen.«

Seine Augen weiten sich und er mustert mich ungeniert von oben bis unten. Ja, ich weiß, dass ich momentan alles andere als attraktiv aussehe. Meine Haare könnten einen neuen Schnitt vertragen und meine Klamotten sind eher praktisch als sexy, obwohl es Menschen geben soll, die auf diesen Schlabberlook abfahren. Lars zumindest steht er.

»Wow! Na, dich hätte ich jetzt nicht erkannt«, gesteht er.

Schlagartig werde ich rot und räuspere mich. »Ähm, ja. Äh, danke übrigens noch mal für deine Hilfe.«

»Kein Ding.«

»Kein Ding? Wenn du nicht gekommen wärst, hätte der mich vermutlich totgeprügelt!«

Lars zuckt mit den Schultern. »War Zufall. Kannst dich bei dem Arsch bedanken, der meine Fahrradreifen an dem Tag aufgeschlitzt hat.«

Ganz ehrlich? Wenn ich wüsste, wer das war, würde ich das sogar tun.

 

4.

Lars

 

Na, sieh einer an: die Tunte von neulich. Ohne diesen Fummel kann er sich durchaus sehen lassen. Andererseits fühlt er sich ziemlich offensichtlich nicht wohl.

»Kleiner Tipp«, sage ich, »wenn du weniger auffällig herumläufst, dann passiert so etwas auch nicht.«

»Wie bitte?« Seine Stimme nimmt empört eine höhere Tonlage an. Dabei fällt mir auf, dass der französische Akzent vollkommen fehlt. War also nur eine Masche.

»Du lebst doch sicher nicht hinter dem Mond und weißt, dass es genug homophobe Arschlöcher in freier Wildbahn gibt. Denen muss man es nicht auf dem Silbertablett präsentieren. Dann lebt man deutlich friedlicher.« Kameradschaftlich klopfe ich ihm auf die Schulter, doch er zuckt heftig vor mir weg, als verursache die bloße Berührung Ekel.

»Einen Dreck werde ich! Wem meine Art nicht passt, der kann mich mal!« Meine Güte, ist der niedlich. Aber mein Bedarf an Männergeschichten ist vorerst gedeckt und so eine Dramaqueen wäre mir wahrlich zu anstrengend. Trotzdem kann ich nicht leugnen, dass er mir gefällt. Dabei fällt er so gar nicht in mein Beuteschema.

»Ja, und zwar dich krankenhausreif schlagen«, erwidere ich.

»Willst du damit etwa sagen, ich habe selbst schuld?« Oh, böse Fangfrage. Außerdem fördert Aufregung seine Genesung sicher nicht. Ich weiß von dem Milzriss. In einem schwachen Moment habe ich mich tatsächlich bei den Kollegen nach ihm erkundigt.

Abwehrend hebe ich die Hände. »Natürlich nicht. Entschuldige. Ich werd dann mal wieder.« Mit dem Kopf deute ich vage den Weg entlang. Jacques gibt ein Geräusch von sich, welches eine Mischung aus Zustimmung und Schnauben darstellt.

»Ach, und noch etwas«, setze ich hinterher, als ich bereits ein paar Schritte gegangen bin. »Verausgab dich nicht. Du musst dich noch schonen.«

 

Den Rest des Weges sehe ich ständig Jacques vor mir. Er sah heute deutlich besser aus. Die Platzwunde an seiner Stirn ist verheilt, sodass nur noch eine frische Narbe daran erinnert, und die Hämatome in seinem Gesicht haben von Grünblau zu einem blassen Gelb gewechselt. Im Grunde bewundere ich ihn ja. Nicht, dass ich in solchem Fummel herumlaufen wollte, Gott bewahre, aber sein Umgang mit seiner Sexualität wirkt so natürlich, so selbstbewusst. Ich verstecke meine Vorlieben zwar ebenfalls nicht, aber ich vermeide es, sie derart offensichtlich vor mir her zu tragen. Mit seiner Art kann der vermutlich so einige Kerle bekommen. Zugegeben, bis vor Kurzem wäre auch ich schwach geworden. Einfach mal ausprobieren. Doch die Zeiten ändern sich. Seit diesem Mist vor ein paar Monaten gibt es kein Herumgeficke mehr. Das hat mir die Augen geöffnet und außerdem nehme ich keine Drogen mehr. Okay, das hatte ich mir nach dem Absturz an meinem achtzehnten Geburtstag bereits geschworen, aber da kannte ich mich mit dem Zeug einfach noch nicht aus. Sonst hätte mich das Ecstasy nicht derart aus den Latschen kippen lassen. Aber hey: Ich war jung, wurde kurz vorher von meinem Freund verlassen und wollte Spaß haben. Rückblickend gesehen sind das natürlich bescheidene Gründe, um zu Drogen zu greifen, aber andere nehmen für weniger welche. Und es ist ja auch nicht so, dass ich nicht ohne könnte.

Außerdem braucht man auch keine, wenn man Jacques ansieht. Da meint man, die bereits intus zu haben. Bin ich fies? Möglich, aber mal ehrlich: Welcher Mann, der ernst genommen werden will, läuft bitte schön so herum? Obwohl sein Anblick heute durchaus zu ertragen war. Mehr als das sogar. So schlank und schmal sieht der echt scharf aus und dabei macht er nicht den Eindruck, als ließe er sich leicht die Butter vom Brot nehmen.

Halt, stopp! Keine Männer mehr. Und vor allem nicht derart komplizierte.

 

~*~

 

»Scheißkerl!« Frustriert lasse ich von mir ab. Ständig gleiten meine Gedanken zu Jacques. Nicht ausschließlich in sexueller Hinsicht, aber aus einem mir unerfindlichen Grund fasziniert er mich. Nur warum? Er ist doch auch nicht viel anders als alle anderen, die so herumlaufen. Gut, doch, ist er.

Seit drei Wochen halte ich bei meiner täglichen Joggingtour verstärkt Ausschau, doch Jacques habe ich seit diesem einen Abend nicht mehr gesehen. Natürlich wäre es ein Leichtes für mich, seine Adresse herauszubekommen, aber ich weiß doch selbst nicht einmal, ob ich ihn überhaupt wiedersehen will. Ach, wem will ich etwas vormachen? Natürlich möchte ich das. Er fasziniert mich. Dieser Überfall war bestimmt nicht der erste, den er erlebt hat, und dennoch steht er auf und bietet den Idioten die Stirn. Das finde ich bemerkenswert. Außerdem sieht er tatsächlich heiß aus.

 

Okay, wenn wichsen nicht klappt, kann ich genauso gut einkaufen gehen. Mir sind eh das Brot und der Salat ausgegangen. Hoffentlich gibt es nicht nur noch verwelktes Zeug, wäre so spät am Abend nicht ungewöhnlich.

Mein Fahrrad ist schnell aus dem Keller geholt. Zwar besitze ich ein Auto, aber im Normalfall nutze ich jede Gelegenheit zur Bewegung. Sport tut mir gut, dann denke ich nicht so viel nach. Nur gut, dass es sich niemand unter den Nagel gerissen hatte damals. Denn ich war so perplex gewesen, als Jacques mich bat, ihn zu begleiten, dass ich es doch tatsächlich am Bahnsteig stehen ließ.

Ich schnappe mir also mein Fahrrad und steuere absichtlich nicht den Supermarkt bei mir um die Ecke an. Ich habe nämlich keine Lust, heute auf diesen einen Typen von unserem Gruppenfick zu treffen, der versucht, mir mit seinen Bambi-Augen ein schlechtes Gewissen zu vermitteln, weil ich mich nicht mehr gemeldet habe.

Noch während ich mein Rad abschließe, höre ich jemanden rumpöbeln. »Na, du Schwuchtel? Für den CSD bist du etwas spät dran, findest du nicht?«

»Hast du ein Problem?« Seufzend schließe ich die Augen und warte einen Moment. Ganz vielleicht träume ich ja auch nur. Langsam drehe ich mich um und tatsächlich: Dort steht Jacques; zwei Einkaufstüten in der rechten Hand. Die rote Hose glitzert an einigen Stellen sehr auffällig und auch das hautenge weiße Muskelshirt ist mit diesen Strasssteinen, oder wie die Dinger heißen, bestückt. Hinzu kommt, dass seine Augen dunkel geschminkt sind, was grundsätzlich nicht schlecht aussieht. Es entspricht nur nicht meinem Geschmack.

Die Szene, wie der im Verhältnis kleine Franzose auffordernd sein Kinn hebt und den anderen überheblich ansieht, wirkt grotesk.

»Ja, habe ich«, erwidert der andere. Oh, oh. Das wird nicht gut ausgehen. Hirnlose Muskeln und derart offensichtlich auf Krawall aus, dass ich nicht verstehen kann, weshalb Jacques nicht einfach verschwindet. »Ich kann Typen wie dich nicht leiden.«

»Ich kann dich beruhigen«, erwidert Jacques ungerührt und geht gemächlich an ihm vorbei. »Das beruht auf Gegenseitigkeit.«

Weit kommt er nicht, denn Jacques wird am Arm festgehalten. »Ey! Mach mich nicht blöd an, Alter!« Jacques schaut auffordernd auf die Hand, die ihn festhält, doch der andere scheint den Griff zu verstärken. Jacques verzieht sein Gesicht. Ach du Scheiße! Das ist sein verletzter Arm.

»Würdest du bitte?«

»Einen Dreck werde ich. Echt, ihr scheiß Schwulen denkt, euch alles erlauben zu dürfen. Aber nicht mit mir. Ich zeige dir, was mit Leuten wie dir passiert, wenn sie mich blöd anmachen.«

Okay, ich habe genug gesehen. Ein paar weitere Passanten schauen zwar ebenfalls neugierig, doch eingegriffen hat bisher niemand.

»Das war doch keine Anmache!« Jacques’ Blick verrät, dass er jetzt doch Angst bekommt. Vermutlich hatte er angenommen, dass hier nichts passiert, wenn so viele Menschen herumlaufen.

»Fresse!«, knurrt der Typ, zerrt erneut an Jacques. Der kneift die Augen zusammen.

Schnell stehe ich neben dem Typen. »Gibt es hier ein Problem?«

Erwartungsgemäß zuckt er zusammen. Meine Körpergröße sowie meine kräftige Statur verleihen mir eine Art natürlichen Respekt.

»Nein, nein. Alles in bester Ordnung«, erwidert er zuckersüß. »Nicht wahr?« Offenbar verstärkt er seinen Griff abermals, denn Jacques’ Augen weiten sich plötzlich.

»Lass ihn los«, fordere ich mit fester, ruhiger Stimme.

»Sonst?«

Ohne mir die Mühe einer Antwort zu machen, greife ich nach seinem Unterarm und packe fest zu. Sehr fest. Der Typ gibt Jacques mit einem zischenden Geräusch frei. »Au, verdammt! Was soll der Scheiß?«

»Du hast dich an dem Falschen vergriffen«, erkläre ich warnend. Er reißt die Augen auf und sieht mehrfach zwischen mir und Jacques hin und her.

»Alles in Ordnung?«, frage ich Jacques, ohne den anderen loszulassen.

Jacques bewegt seinen Arm testend hin und her, schließt und öffnet seine Hand zur Faust. »Hm, glaub schon.«

»Willst du die Polizei rufen?«

Der Typ zittert mit einem Mal. »He, ich hab doch gar nichts gemacht. Ich …«

»Fresse!«, schnauze ich ihn an. »Sonst erlebst du gleich mal, wie man sich als Opfer wirklich fühlt.«

»Ne, lass mal«, antwortet Jacques. »Ich habe keine Zeit und auch keine Lust, mich mit solchem Abschaum abzugeben.«

Ich ziehe den Kerl noch einmal dicht an mich heran und beuge mich zu ihm herunter. Die Angst, die mir aus seinen Augen entgegenstrahlt, erfüllt mich mit diebischer Freude. »Solltest du mir noch einmal unangenehm auffallen, kommst du nicht so glimpflich davon, verstanden?« Diesen plötzlich trotzigen Blick kann ich dagegen gar nicht leiden, weshalb ich meinen Griff verstärke. »Verstanden?«, frage ich eindringlich und gleich darauf schreit er unterdrückt.

»Ja, verdammt.«

Verächtlich schubse ich ihn von mir. Elendiger Abschaum.

Er reibt sich über den Arm und stolpert regelrecht davon. »Scheiß Schwuchteln!«, schreit er noch, bevor er um die Ecke verschwindet.

 

Mit einem triumphierenden Grinsen drehe ich mich wieder zu Jacques. Ungesund blass lächelt er mich angestrengt an. Jetzt zittert er auch noch und schwankt.

»Hey, alles in Ordnung?« Schnell lege ich einen Arm um seine Hüfte. »Willst du dich setzen?«

Jacques schüttelt den Kopf. »Passt schon. Danke dir. Auch dass du dazwischengegangen bist.« Sein Blick verrät Unsicherheit. Offenbar ist er so etwas nicht gewohnt.

»Stets zu Diensten«, erwidere ich lächelnd und bedaure den Moment, als ich ihn loslasse. »So, und jetzt muss ich einkaufen, wenn ich nicht verhungern will.« Ich deute mit dem Kopf in Richtung Supermarkt.

»Oh, okay. Wie wäre es, wenn ich dich zum Dank zum Essen einlade? Ich kenne da einen netten Italiener.« Mit dem in der Öffentlichkeit? Na, ich weiß ja nicht … »Oder wir können zu mir und wir bestellen uns was«, schlägt er alternativ vor.

Was hat der Kerl nur an sich, dass ich überhaupt auf die Idee komme, seinen Vorschlag in Erwägung zu ziehen? Ich stehe nicht auf dieses klischeebehaftete, schwuchtelige Getue. Ich will ihn nicht näher kennenlernen wollen. Deshalb werde ich die Einladung ablehnen. Egal, ob er mich so lieb anlächelt und seine leichte Berührung an meinem Unterarm unpassende Schauer über meinen Körper jagt. Ich brauche einfach nur mal wieder was zum Vögeln. Mehr nicht. Das hat rein gar nichts mit Jacques zu tun.

Ha, ha. Ich war schon immer gut darin, mich selbst zu belügen.

»Okay. Wohnst du weit weg?« Sein überraschter Blick lässt mich lächeln. Vermutlich begehe ich ein Fehler, andererseits wirkt er nicht wie eine Klette auf mich. Und ganz vielleicht will er sich auch wirklich nur bedanken. Schließlich habe ich ihm das Leben gerettet. Da sollte ein Essen tatsächlich drin sein.

»Non, gleich um die Ecke.«

 

~*~

 

»Wow! Sag mal, was machst du denn beruflich, dass du dir so eine Wohnung leisten kannst?« Ich klebe regelrecht an der Glasfront des Lofts. Der Blick über die Stadt von hier ist sagenhaft. Im Gegensatz zu Jacques’ Erscheinungsbild wirkt seine Wohnung ruhig und stilvoll. Dunkle Holzmöbel und weiße Accessoires in angenehmem Kontrast. Keine übermäßige Dekoration. Hätte ich definitiv nicht erwartet.

Mir wird ja schon gerne Dekadenz nachgesagt, weil ich allein in einer Drei-Zimmer-Wohnung lebe. Früher war es eine WG, doch nach dem Studium zogen die anderen aus. Mein Exfreund Adrian war der Letzte, mit dem ich zusammengewohnt habe. Vermutlich spielt eine gewisse Faulheit eine Rolle, dass ich geblieben bin. Andererseits mag ich die Ruhe und den Platz. Doch das ist nichts gegen diesen Luxus hier.

Ein leises Lachen ertönt direkt hinter mir. »Ich bin Unternehmensberater. Diese Wohnung bezahlt die Firma. Wir bauen zurzeit einen Sitz in Deutschland auf, den ich demnächst leiten werde.« Ich pfeife anerkennend durch die Zähne. »Hört sich hochtrabender an, als es ist«, wiegelt er ab.