Grave 3: Weltenbruch und Schicksalsthron - Henriette Dzeik - E-Book

Grave 3: Weltenbruch und Schicksalsthron E-Book

Henriette Dzeik

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Beschreibung

Selbst der Lauf des Schicksals kann geändert werden!

Die Gorgone Stheno reist ins sagenhafte Hyperborea, um Zeus’ Erben und den mächtigen Donnerkeil zu finden – eine Waffe, die über das Schicksal der Welt entscheiden könnte. Doch die vier Winde, die einst dem Göttervater dienten, stellen sich ihr entgegen und hüten ein gefährliches Geheimnis. Währenddessen führt Grave, Hades’ Sohn, einen erbitterten Kampf gegen die Urgötter. Getrieben von seiner Liebe zu Nero und der Hoffnung, die Welt zu retten, stellt er sich seiner größten Herausforderung.

Spicy Romantasy zwischen Göttern und Helden. Erzählt aus mehreren Perspektiven mit vielen gefährlichen Missionen und nicht nur einer heißen Love Story. Das Spin-off zur »Flame«-Serie (auch eigenständig lesbar).


//Dies ist der dritte Band der »Grave«-Saga. Alle Romane der spicy New Adult Fantasy-Serie im Loomlight-Verlag: 

  • Grave 1: Höllenschwur und Knochenflut 
  • Grave 2: Meereskampf und Kronenfluch
  • Grave 3: Weltenbruch und Schicksalsthron//

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Die Gorgone Stheno reist ins sagenhafte Hyperborea, um Zeus’ Erben und den mächtigen Donnerkeil zu finden – eine Waffe, die über das Schicksal der Welt entscheiden könnte. Doch die vier Winde, die einst dem Göttervater dienten, stellen sich ihr entgegen und hüten ein gefährliches Geheimnis. Währenddessen führt Grave, Hades’ Sohn, einen erbitterten Kampf gegen die Urgötter. Getrieben von seiner Liebe zu Nero und der Hoffnung, die Welt zu retten, stellt er sich seiner größten Herausforderung ...

Die Autorin

© Privat

Man erzählt sich, dass Henriette Dzeik auf einem Floß treibend von Nixen gefunden, von Hexen entführt und in einem Schloss, das an goldenen Ketten hing, von Feen aufgezogen wurde. Sie kämpfte gegen den Drachen, der diesen schönen Käfig bewachte, und erlangte schließlich durch einen Deal mit einem verrückten Flaschengeist die Freiheit. Heute lebt sie mitt ihrer dämonischen Familie in einem minimalistischen Palast, wo sie auf Papier all ihre Träumereien wahr werden lässt.

Für mehr Informationen über Henriette Dzeik und ihre Bücher folgt der Autorin auf:

Instagram @henriettedzeik

Homepage: henriettedzeik.de

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Henriette Dzeik

Grave Weltenbruch und Schicksalsthron

LOOMLIGHT

Für alle, die in diesem Universum einen Platz gefunden haben.

Liebe Leser:innen,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte.Auf der letzten Seite findest du eine Themenübersicht,die Spoiler für die Geschichte enthält.Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest.Wir wünschen dir das bestmögliche Leseerlebnis!

Henriette Dzeik und das Loomlight-Team

Was ihr wissen solltet, bevor ihr mit diesem Buch beginnt

Zu seinen Lebzeiten machte Zeus die Welt glauben, dass er der mächtigste Gott sei, der jemals existierte. Er zog in den Krieg gegen die Titanen, die als unbezwingbar galten, und besiegte Kronos, von dem man sagte, er würde die Zeit selbst beherrschen. Zeus wurde bewundert und gefürchtet. Bald nannte man ihn den König der Götter, den Herrscher des Himmels, denn ihm folgten die Blitze. Er regierte auf dem Olymp über diese Welt, an seiner Seite die elf olympischen Gottheiten, die seine tödliche Macht stärkten. Denn wenngleich seine Kraft in ein gleißendes Licht gehüllt war, bedeutete sie letztendlich Schwärze und Finsternis für jeden, der sich ihm in den Weg stellte.

Doch in Wahrheit spiegelte die Furcht, die er in anderen auslöste, das wider, was sich in seinem Inneren verbarg: Zeusʼ Geheimnis war seine eigene Angst. Er wusste, dass niemand tiefer fallen konnte als er, der vom Olymp aus herrschte.

So fürchtete Zeus die Drakon, die ihm noch mächtiger als die Titanen und Götter erschienen.

Er fürchtete die Menschen, als Prometheus ihnen das Feuer brachte.

Er fürchtete seine beiden Brüder, vor allem Hades, weshalb er ihm die Hölle zusprach.

Er fürchtete auch seine eigenen Kinder, weil er selbst seinen Vater Kronos getötet hatte.

Doch am meisten fürchtete er den Tod. Den Untergang seiner Herrschaft, die Vergänglichkeit der Unsterblichkeit.

Seine Ängste trieben ihn dazu, seine Augen und Ohren überall in der Welt haben zu wollen. Durch eine List band er die vier Windgottheiten Boreas, Zephyros, Notos und Euros an sich. Von da an waren sie gezwungen, ihn und seine Blitze zu begleiten und ihm jedes Wort von Bedeutung, das in der Welt gesprochen wurde, zu überbringen. Auch sie waren sehr mächtig, denn sie beherrschten die Stürme, die über das Land fegten, ebenso wie den Sommer, den Frühling, den Herbst sowie den eisigen Winter.

Die Windgottheiten mussten Zeus zwar dienen, wohlgesonnen waren sie ihm jedoch nicht. Da Zeus vor allem für sein Begehren und das Vergnügen mit seinen zahlreichen Frauen lebte, wollte er sie mit einem Geschenk besänftigen. Er hatte eine wunderschöne Tochter. Ihr Name lautete Reva.

Dem König der Götter war sie seit jeher ein Dorn im Auge. Bereits in jungen Jahren zeigte sie Anzeichen seiner eigenen Macht der Blitze. Mithilfe von Kräutern und Tränken sorgte er dafür, diese zu unterdrücken und eines Tages dachte er sogar darüber nach, Reva zu töten. Bis er das Interesse der Winde an ihr bemerkte. An ihrem siebzehnten Geburtstag übergab er ihnen seine Tochter, die sie mit sich nahmen.

Mit Unterstützung der Winde und der Olympier herrschte Zeus für viele Jahrhunderte. Doch wie es das Schicksal in vielen Fällen will, endete sein Leben nicht auf eine der Arten, die Zeus seit einer Ewigkeit gefürchtet hatte. Im heißen Krieg, in welchem er die Menschheit vollständig vernichten wollte, kamen neue Götter von einem fernen Planeten auf die Erde, vor deren Ankunft ihn keiner der Winde warnen konnte. Und selbst wenn sie es getan hätten – Zeus wäre dieser fremden Macht dennoch unterlegen gewesen. Bis Nyx, die Urgöttin der Nacht, ihn tötete, wurde er in ein Verlies an den Grund des Meeres verbannt.

Die vier Winde hingegen waren nach Zeusʼ Gefangennahme frei. Doch es gab eine Erinnerung, die sie an ihre Zeit unter dem einstigen König der Götter behielten: Reva.

Prolog

VON DEN WINDEN GELIEBT

REVA

Jeder der Winde ist auf seine Weise schön. Boreas, der Gott des Winters und der Nordwinde, hat silbernes Haar und nachtblaue Augen. Seine Berührungen verursachen Frost auf meiner Haut. Am Anfang habe ich ihn und seine Kälte gefürchtet. Doch ich wusste auch, dass ich nur noch auf der Erde weilte, weil sie mich begehrten und Zeus entschied, dass ich ihr Geschenk sein sollte. Den Winden zu gefallen, von ihnen geliebt zu werden, hält mich am Leben. Und deshalb entschied ich in der ersten Nacht, in der Boreas mit mir zusammen sein wollte, er in mich und seine Kälte in jede meiner Zellen drang, keine Angst vor ihm zu haben. Ich sagte mir, sein Frost, der mich in einer eisigen Umklammerung hielt, wäre besser als der Tod. Erst viel später realisierte ich, dass auch auf diese Weise ein Teil von mir gestorben ist.

Euros und Zephyros, die über Herbst und Frühling herrschen, sind beide sanft und geheimnisvoll, mit freundlichen Augen, die Zuversicht ausstrahlen. Wenn sie mich berühren, fühle ich mich leicht, als könnte ich schweben. Es dauerte nicht lang, bis ich ihren Duft nach Blumen, Gras, Laub und feuchter Erde mit einem Gefühl von zu Hause verband. Mich ihnen hinzugeben, war leicht. Als sollte es so sein.

Meine Faszination weckte auch Notos, der Gott der Südwinde und des Sommerregens, mit seinen indigoblauen Augen und dem dunklen Haar, das mich an schwarze Tinte erinnerte. Mit der Zeit habe ich mein Herz an alle vier Winde verloren. Denn am Ende war niemand von uns frei. Wir alle waren Gefangene, Untergebene in einem Spiel aus Macht und Intrigen. Außerdem hatten sie mich vor dem Tod beschützt, mir eine Gnade erwiesen, die mein Vater nicht besessen hätte.

Das größte Stück meines Herzens jedoch gehörte Notos. Er war derjenige, von dem ich mich geliebt fühlte, bei dem meine Haut und mein Innerstes zu kribbeln begannen. Nach dem ich mich sehnte. Den auch ich begehrte. Ich wollte jede Nacht mit ihm verbringen. Nur mit der Zeit … wo Liebe erblüht, können auch Hass und Zorn entstehen. Jahre habe ich darauf gewartet, dass Notos mich für sich beansprucht. Seinen Brüdern sagt, dass zwischen uns etwas Besonderes ist und ich nur noch mit ihm zusammen sein werde.

Doch dieser Tag, auf den ich so sehr wartete, kam nie. Irgendwann tat es nur noch weh, von ihm berührt zu werden. Und ich begann mich zu fragen, ob er mich wirklich liebte. Ob alle Winde mich liebten oder sie mich in Wahrheit für das bestraften, was mein Vater ihnen angetan hatte.

1

SOMMER UND WINTER

REVA

Je nachdem, in welchem Flügel man sich im Palast der Stürme befindet, sieht man beim Blick nach draußen den Herbst, den Frühling, den Sommer oder den Winter. Den Sommer habe ich schon sehr lange nicht mehr gesehen oder gespürt. Er fehlt mir, auch wenn ich selbst dafür verantwortlich bin, dass er mich meidet.

Mein erster und einziger Versuch, den Palast der Stürme zu verlassen, war vierzehn Jahre, nachdem ich zu den Winden kam. Notos und ich hatten das Bett miteinander geteilt. Seine Brüder waren an jenem Abend nicht in Hyperborea, dem Reich, das ihnen gehört. Auch nachdem unser Höhepunkt verklungen war, blieb er auf mir liegen, wir küssten uns, während ich nach dem Messer tastete, welches ich zwischen den Laken versteckt hatte. Ich liebte Notos. Doch noch größer war mein Drang nach Freiheit. Also umfasste ich den Dolch, stieß meinen Geliebten von mir und zielte auf seine Brust. Aber er war schnell. So schnell und stark, dass er meine Hand wegschlug, die Klinge statt mitten ins Herz über seine Brust und seinen Hals fuhr, dort lediglich eine tiefe Wunde hinterließ.

Notos starb nicht und meine Flucht missglückte. Die Winde bestraften mich nicht. Boreas sagte lediglich, es wundere ihn, dass ich es nicht schon eher versucht hatte. Anschließend versorgte er den Schnitt, den ich mir mit meiner vermeintlichen Waffe selbst zugefügt hatte, und erinnerte mich daran, dass die Welt dort draußen gefährlich sei für jemanden wie mich. Dass sehr viele Rache an Zeus nehmen wollten, die sie aufgrund seiner Gefangennahme allerdings nicht vollenden konnten. Und dass ich eine Zielscheibe auf meiner Brust trage.

Ich hatte darauf erwidert, dass es doch keinen Unterschied mache, ob ich morgen dort draußen sterbe oder in einhundert Jahren im Palast der Stürme. Doch Boreas hatte nur gelacht, so kalt, dass etwas von seinem Frost meine Kehle hinabfloss. Er machte deutlich, dass ich nie in meinem Leben gekämpft hatte oder mit Schmerz konfrontiert worden – und somit weder der Flucht noch dem Tod gewachsen war. In diesem Moment wurde ich wütend auf Boreas, noch wütender als auf Notos, der mich nicht genug liebte, um mich für sich allein zu beanspruchen. Doch dann begriff ich, dass ich so empfand, weil Boreas die Wahrheit sagte. Mein Vater war der Herrscher über den Himmel, der König der Götter. Wir könnten nicht verschiedener sein. Denn ich trage keinen Funken seines Willens oder seiner Kraft in mir.

Ich wärme mich an dem prasselnden Kamin, schlage eine Seite in dem Buch um, das Zephyros mir aus dem Palast der Titanen mitgebracht hat. Er ist derjenige, der mir am meisten von der Welt außerhalb Hyperboreas erzählt. Doch egal wie bunt und detailreich er sie schildert – ich kann mir kaum vorstellen, dass etwas anderes als dieses Gefängnis existiert. Es ist zweifelsohne ein schönes und angenehmes Gefängnis. Die Winde umsorgen mich, ich bekomme die erlesensten Getränke und Speisen, trage Kleider aus kostbaren, schweren Stoffen. Sie erfüllen mir all meine Wünsche, nur nicht den nach Freiheit.

Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, ist dieses Verlangen mit den Jahrzehnten verblasst. Und abgesehen von jenem einen Versuch habe ich nie mehr etwas unternommen, um zu fliehen. Doch es gibt nach wie vor Nächte, in denen ich von Notosʼ schockiertem Gesicht und all dem Blut träume. Es war an meinen Händen, unter meinen Nägeln. Der metallische Geruch hat sich in meiner Nase festgesetzt.

Ich schlucke, schlage das Buch zu. Übelkeit drückt auf meinen Magen und mein Kopf fühlt sich sonderbar an. Schwankend komme ich auf die Füße, laufe zu dem Rundbogen, an dem Eiskristalle glitzern. Kalte Luft strömt mir entgegen und ich ziehe das gefütterte Cape enger um mich, atme ganz tief ein. Nach einigen Atemzügen weitet sich meine Lunge, der Druck auf meiner Brust verschwindet, ebenso wie das Kribbeln und sonderbare Zucken, das ich in letzter Zeit häufiger in meinen Gliedmaßen spüre. Die Panik ist mir vertraut, aber mittlerweile erscheint es mir, als würde sie ausufern, von meinem Inneren nach außen schwappen. Nicht bloß, weil ich Notos stärker als je zuvor vermisse, sondern auch, weil die Wände des riesigen Palastes näher rücken.

Ich verbringe mein Leben an diesem Ort.

Es gibt kein Entkommen.

Nur das hier.

Heute.

Morgen.

Für die Ewigkeit.

Hart schlucke ich. Sage mir, es könnte schlimmer sein. Doch was ist schlimmer? Ich kenne kein Schlimmer, keinen Vergleich. Schließlich war ich noch nie frei. Und Freiheit steht auch nicht in Aussicht. Lediglich dieses Gefängnis oder der Tod, weil ich dort draußen so sehr in Gefahr bin, wie die Winde behaupten.

Frost beginnt über meine Finger zu kriechen. Ich wirbele herum und erblicke Boreas in dem Übergang vom Flur zum Wohnbereich. »Du hast mich erschreckt«, sage ich. In Wahrheit hat er mir nicht wirklich Angst eingejagt, doch ich fühle mich ertappt. Dabei sind meine Gedanken stumm, er kann sie weder hören noch lesen. Trotzdem treibt mich die Sorge um, er könnte erfahren, dass ich nicht hier sein will. Schließlich glaube ich, dass die Winde meinen einen Fluchtversuch schon längst vergessen haben. So, wie ich mich verhalte, kämen sie nicht auf die Idee, ich könnte es ein weiteres Mal versuchen. Und auch ich traue mir nicht zu, diese Kraft aufzubringen. Ich habe mich mit meinem Schicksal abgefunden.

»Verzeih mir«, erwidert er und kommt auf mich zu. Instinktiv gehe ich auf die Zehenspitzen, lege meine Lippen auf seine. Er schmeckt nach Schnee und ein wenig nach Rauch, als wäre er in der kalten Nacht unterwegs gewesen.

»Schon vergessen«, erwidere ich, als wir uns voneinander lösen und ich mein Gesicht an seine Brust lege. Kurz darauf vernehme ich seinen vertrauten Herzschlag und seufze, während er mich enger an sich zieht. Ich hätte nicht gedacht, dass es sich irgendwann so mit Boreas anfühlen würde. Doch nachdem mich der Sommer von sich gestoßen hatte, flüchtete ich mich in die Arme des Winters, fand Gefallen an seiner Kälte. Sie sorgt dafür, dass ich etwas spüre. Dass mein Kopf ganz klar ist.

»Du hast mir gefehlt«, murmele ich und es stimmt. Er ist in den vergangenen Wochen häufiger fort gewesen und auch wenn ich viel Zeit in seinem Gemach und umgeben von seinem Geruch verbringe, ist es nicht dasselbe, wie von ihm gehalten zu werden.

Boreas neigt meinen Kopf zurück, küsst mich erneut und dieses Mal ist es keine Begrüßung, sondern Leidenschaft. Mein Unterleib zieht sich vor Verlangen zusammen. Der Winter ist nicht sanft wie seine Brüder. Mit ihm zusammen zu sein, hat mich stärker gemacht, so erscheint es mir zumindest. Als hätte er etwas von seiner rauen Schale, dem Frost und dem Eis an mich abgegeben.

Meine Hände fahren über seine Brust, hinauf zu seinem Gesicht, wo ich seine Wangen umfasse, während er ebenso meinen Körper erkundet. Einen Wimpernschlag später trägt er uns durch den Nebel zum Bett. Kurz darauf liege ich auf den wärmenden Fellen, die es bedecken. Dabei blicke ich in seine nachtblauen Augen, die über mein Gesicht wandern. »Du bist wunderschön, Reva«, murmelt er dann. »Und auch du hast mir gefehlt.«

»Dann geh nicht so oft fort«, wispere ich und erschauere, als er mein Cape von meinen Schultern schiebt, meine Haut mit Küssen bedeckt. Eine Gänsehaut breitet sich auf meinem Körper aus, als seine Finger über mich gleiten, mich geschickt entkleiden, bis ich nackt vor ihm liege. Auch er streift seine Kleidung ab und ich strecke meine Arme nach ihm aus, weil ich ihn endlich spüren – ihm endlich nah sein muss. Denn obwohl ich Frühling, Herbst und Winter habe, fühlt mein Leben sich einsam an. Lediglich wenn einer der Winde mich ausfüllt, verschwindet die Leere.

Ich stöhne, als Boreas mit einem kraftvollen Stoß in mich dringt, schlinge meine Beine um seine Hüfte. Ich lächele, als ich ihn so tief in mir spüre, von ihm und von den weichen vertrauten Fellen gehalten werde. Frost kriecht an den Wänden hinauf zu der kuppelartigen Decke, zeichnet eine hellblau funkelnde Spur auf dem cremefarbenen Gestein des Palastes der Stürme.

»Mehr«, verlange ich, woraufhin Boreas mich noch härter nimmt und diese wunderbare Kälte in meinen Adern brennt. Ich brauche das. Brauche ihn, um zu wissen, dass ich noch am Leben bin. »So gut«, wispere ich. Mein Mund sucht seine Lippen und durch die Leidenschaft zwischen uns, springt noch mehr von seinem Frost auf mich über, bis meine Kehle davon ganz taub wird. Meine Brust schmerzt heftig, gleichzeitig beginnen meine Muskeln zu zittern. Boreas kennt meinen Körper, hebt leicht meine Hüfte an und als er trotz der Kälte diesen einen Punkt in mir trifft, zerspringe ich. Mein Schrei hallt von den Wänden wider, während sein Stöhnen ebenso wie der Frost meine Kehle hinabrinnt. Mein Unterleib zuckt, als er sich in mir ergießt und wir uns beide dem Nachbeben unseres Höhepunktes hingeben.

Meine Zähne schlagen aufeinander, als er sich von mir herunterrollt. Dankbar lächele ich, als er die Felle um mich schlingt, mit den Händen über sie und mich reibt, um meinen Leib zu wärmen. »Ich wünschte, du würdest mich noch einmal küssen«, flüstere ich, weil ich ihn schon jetzt wieder vermisse.

»Zuerst wärmen wir dich auf«, erwidert er bestimmt und fährt damit fort, über meinen Körper zu reiben, bis ich nicht mehr aufgrund seiner Kälte bebe. Anschließend hebt er mich in seine Arme, trägt mich zu der im Boden eingelassenen Wanne, von der aus man die eisige Landschaft außerhalb des Palastes betrachten kann. Ein weites Feld, ein gefrorener See und ein Wald, dessen Bäume gänzlich mit klirrendem Frost überzogen sind.

Sanft schält er mich aus den Fellen, ehe er mich in das heiße Wasser gleiten lässt. Ich stöhne auf, ignoriere die Nadelstiche auf meiner Haut, weil ich weiß, dass es gleich besser wird. Boreas wäscht mich, so wie immer, massiert und knetet meine Muskeln und lässt seine Finger ebenso zwischen meine Beine gleiten, bis ich mich winde und ein zweites Mal meinen Höhepunkt finde.

Ich bin müde und mein Körper fühlt sich wohlig schwer an, als er mir wieder aus der Wanne hilft, mich abtrocknet, ehe ich zum Bett laufe und mich ankleide. Am liebsten würde ich mich direkt wieder in die warmen Felle schmiegen, doch ich verbringe meine Abende immer mit den Winden. Ein Seufzen herunterschluckend gehe ich zu der ausladenden Kommode, in deren Holz sich Schnitzereien mythischer Wesen befinden und nehme den goldenen Kamm, der darauf liegt. Während ich in den Spiegel schaue, fahre ich damit durch mein schwarz glänzendes Haar. Glatt fällt es bis hinab zu meiner Hüfte und ich schiebe es links und rechts mit zwei Spangen hinter den Ohren zurück. An vielen Tagen erscheint es mir lästig und vermutlich hätte ich es längst abgeschnitten, wüsste ich nicht, wie sehr die Winde es lieben.

Im Gemach des Winters wirkt meine olivfarbene Haut blass und meine mandelförmigen dunkelbraunen Augen, die im Licht silbern schimmern, beinahe schwarz. Meine hellrosa Lippen werden von derselben Blässe gezeichnet, was ich ebenfalls der Kälte zuschreibe. Ich trete einen Schritt zurück und streiche meine Kleidung glatt. Dann wende ich mich von dem Spiegel ab und gehe zu Boreas, der in seinem offenen Ankleidebereich steht. Stirnrunzelnd beobachte ich, wie er zwei Dolche an einem Waffengürtel befestigt, der kurz darauf unter seiner Tunika verschwindet. Für gewöhnlich tragen die Winde keine Waffen am Leib, schon gar nicht, wenn wir zum Essen verabredet sind.

Der Winter dreht sich zu mir und küsst meine Schläfe, ehe er meine Hand nimmt und mich in den schmalen Flur führt. Dort sinkt er auf ein Knie und hilft mir in meine Stiefel. Dann nimmt er meine Hand erneut und gemeinsam treten wir in den Korridor des Palastes. Abgesehen von den Gemächern besteht er nahezu gänzlich aus Glas, sodass man in die Tiefe blickt, wenn man sich durch seine Gänge bewegt. Wie der Olymp schwebt er im Himmel, obgleich ich den einstigen Herrschaftssitz meines Vaters nie mit eigenen Augen gesehen habe. Unter uns befindet sich ein Teil des Sees sowie der mit hellblauem Frost überzogene Wald. Manchmal nimmt Boreas mich dorthin mit und trotz der eisigen Kälte liebe ich diese Momente.

Mein Daumen fährt über seine Hand, während wir den vertrauten Weg zum Speisezimmer einschlagen. Bevor wir den Eingang erreichen, halte ich ihn zurück. »Was sind deine Pläne für heute Nacht?«, flüstere ich ihm zu und suche seinen Blick. Leicht ziehen seine Brauen sich zusammen und er streicht mit den Fingern über meine glatten Haarsträhnen, löst dabei eine der Spangen, sodass mein Haar nach vorn über meine Schulter fällt. Vermutlich fragt er sich, weshalb ich flüstere, doch nach wie vor regt sich in mir der Wunsch, einer der Winde würde sich für mich entscheiden. Und in letzter Zeit erwische ich mich häufiger bei dem Gedanken, es könnte Boreas sein. Und trotzdem bringe ich nicht den Mut auf, ihn zu fragen, warum es für ihn in Ordnung ist, mich mit seinen Brüdern zu teilen.

»Ich verbringe den Abend nicht im Palast der Stürme, Reva«, sagt er sanft.

Ich schlucke, kann meine Enttäuschung kaum verbergen. »Aber … wohin musst du jetzt schon wieder?«, wispere ich zurück. »Wir haben nie Zeit zum Reden.«

Mit leicht schräg geneigtem Kopf mustert Boreas mich. »Du kannst mit Euros und Zephyros reden.« Er klingt vollkommen ernst und ehrlich. Als wären seine Brüder und er nicht verschiedene Persönlichkeiten. Als könnte er nicht verstehen, dass es nicht dasselbe ist, mit einem von ihnen statt mit ihm zu sprechen.

Ich zwinge ein Lächeln auf meine Lippen. »Natürlich.« Ich versuche, mich an ihm vorbeizudrängen, doch sein Arm schnellt hervor, schlingt sich um meine Taille und zieht mich zurück. Eine Sekunde später liegen seine Lippen auf meinen. Ich keuche, als seine Zunge meinen Mund erobert, er mich so intensiv kostet, dass meine Knie weich werden. Doch so schnell und heftig es begonnen hat, genauso plötzlich ist es wieder vorbei.

»Es gibt Dinge, die ich zu erledigen habe, Dinge, die sich nicht aufschieben lassen.« Wieder streicht er über mein Haar, sein kühler Atem auf meinen Lippen verursacht mir eine Gänsehaut. »Es ist zu deinem Schutz, Reva«, fügt er dann hinzu, bevor er einen Schritt zurücktritt. Kurz berühre ich meine kalten Lippen mit meinen Fingerspitzen, woraufhin ein seltenes Lächeln Boreasʼ Mundwinkel umspielt. »Du kannst die Nacht in meinem Gemach verbringen, wenn du willst.«

Ich nicke wortlos, ohne eine Antwort zu geben, und zucke zusammen, als ein Räuspern ertönt. Meine Augen weiten sich, weil ich Notos hinter Boreas entdecke. Der Blick aus seinen indigoblauen Augen ist unergründlich und ich erstarre. »Guten Abend, Notos«, bringe ich schließlich hervor.

Er schenkt mir lediglich ein knappes Nicken, ehe er an seinen Bruder gewandt »Können wir?« fragt. Dieser streicht ein letztes Mal über meine Wange, dann werden beide vom Nebel verschlungen. Obwohl der Winter mich berührt hat, liegt der Geruch von Meer und Sommer in meiner Nase. Mein Herz hämmert wie verrückt und mir ist derart schwindelig, dass ich mich an der Wand abstützen muss.

Notos zu vermissen, ist wie ein Messerstich in meiner Brust, was absurd ist, weil ich diejenige war, die das Messer gegen ihn gerichtet hat. Jahrzehnte sind seitdem vergangen. Und trotzdem tut es weh. Es tut weh, obwohl äußerlich bloß eine sehr blasse Narbe auf seiner gebräunten Haut zu sehen ist. Tief atme ich durch, versuche, mich zu beruhigen.

Seit meinem Verrat ist Notos nur dreimal mit mir zusammen gewesen. Jedes Mal schien er dabei sehr wütend zu sein, als würde er sich selbst nicht begreifen. Als er das vierte Mal zu mir kam, habe ich ihn abgewiesen. Etwas, das ich nie zuvor getan hatte. Weder bei ihm noch bei seinen Brüdern. Weil ich es immer als meine Aufgabe angesehen hatte, sie glücklich zu machen. Doch an jenem Abend mit Notos konnte ich es nicht. Denn als er mir einmal im Palast begegnete, ganz offenbar betrunken, verriet er mir, er hätte sich einer anderen Göttin hingegeben. Zwar haben die Winde und ich einander nie mit Worten die Treue geschworen, doch für mich war stets klar, dass sie nur mit mir das Bett teilen – und ich mit ihnen. Den Gedanken, dass es mich bei den anderen vielleicht nicht so sehr gestört hätte wie bei Notos, habe ich bis heute nicht zugelassen. Vielleicht war es deshalb so hart, weil es sich in diesem Moment so angefühlt hat, als hätte er weitergemacht und mich vergessen.

Unser letzter Augenblick der Nähe liegt beinahe ein Jahr zurück. An meinem Geburtstag bin ich mit allen Winden zusammen gewesen, doch Notos hatte mich lediglich geküsst. Trotzdem ist es das Einzige, was ich von jenem Tag noch gestochen scharf in Erinnerung habe.

Wieder breitet sich das sonderbare Kribbeln und Zucken in mir aus. Energisch straffe ich die Schultern, balle und strecke meine Finger, um zu Sinnen zu kommen, weil ich es als Vorboten meiner Panik einstufe. Die Begegnungen mit Notos sollten mich nach all der Zeit nicht mehr so sehr aus der Fassung bringen. Ich zwinge meine Beine, sich in Bewegung zu setzen, und halte die Luft an, während ich die Stelle passiere, an der Notos stand. Dann durchquere ich den Raum, unter dem sich die Landschaften von Frühling, Herbst und Winter kreuzen und erreiche schließlich den Tisch, an welchem Zephyros und Euros sitzen. Letzterer steht auf und zieht den Stuhl für mich zurück.

Dankend nehme ich Platz. Der Tisch, der ebenfalls aus Glas besteht, wirkt zu groß für uns drei, andererseits bin ich froh, mich nicht Notosʼ Anwesenheit stellen zu müssen. Ich ziehe meinen Teller zu mir heran, auf dem Rosmarinkartoffeln und gebratenes Gemüse angerichtet sind. »Danke«, sage ich zu Zephyros, der sich meist um das Essen kümmert und jede Mahlzeit auf eine Weise würzt, dass sie nahezu paradiesisch schmeckt. Ich trinke einen Schluck von meinem Traubensaft, der stets einen leichten Nachgeschmack von Kräutern hat, bevor ich die goldene Gabel in die Hand nehme und beginne zu essen.

Das Mahl verläuft überwiegend schweigend, lediglich durchbrochen vom Rascheln von Eurosʼ Seiten, der wie so oft ein Buch liest. Manchmal überrede ich ihn, von seiner Lektüre zu erzählen, doch heute bevorzuge ich die Stille.

2

DER ZAUBER DES FRÜHLINGS

REVA

Zephyros reicht mir seinen Arm, um mich bei ihm unterzuhaken, und ich folge der Einladung wie nahezu jeden Abend. Euros hat sich bereits von uns verabschiedet und ist in seinem Flügel verschwunden. »Seit einigen Wochen ist er zurückgezogener denn je«, sage ich zum Frühlingswind.

»Die Welt dort draußen verändert sich«, erwidert er. »Und das beschäftigt ihn.«

Ich nicke aufmerksam. Auch wenn Zephyros dazu neigt, in Rätseln zu sprechen, so weiß ich es doch zu schätzen, dass er diese Informationen überhaupt mit mir teilt. »Was genau verändert sich?«

»Das Gefüge der Macht. So ist es schon immer gewesen. Auch Götter kommen und gehen.« Sanft streicht er mit seiner freien Hand über meine. »Park oder Garten?«

»Park«, entscheide ich und kurz darauf reißt uns der Nebel mit sich. Ein Lachen dringt aus meiner Kehle, als ein farbenfroher Schmetterling direkt an mir vorbeifliegt und ich zwei kleine Vögel beobachte, die sich auf eine spielerische Art gegenseitig zu jagen scheinen. Ich löse mich von Zephyros und wirbele zwei Mal um die eigene Achse, atme den frischen Duft nach Gras und Blüten ein, ehe ich mich wieder bei ihm unterhake und ihn auf einen der Wege ziehe. »Ich liebe diesen Ort«, sage ich, während jegliche Last, die nach der Begegnung mit Notos noch auf mir lag, abfällt. »Es ist, als könntest du zaubern.«

Zephyros lacht. »Nun, als Windgottheiten verfügen wir durchaus über ein gewisses Maß an magischen Fähigkeiten.«

»Das stimmt«, gebe ich ihm recht. »Und trotzdem …« Mein Blick schweift über die Umgebung, die intensiven Farben der Natur, die Bäume und Pflanzen, welche die Wege säumen, die Bänke und Brunnen, und ich vernehme die Laute der Insekten und Tiere. Vielleicht mag ich diesen Ort deshalb so sehr, weil hier derart viele Geräusche und derart viel Leben ist. Ganz anders als im Palast, wo es lediglich meine eigenen Schritte sind, die von den Wänden widerhallen.

»Weshalb besitze ich keine magischen Fähigkeiten?«, frage ich. »Wo Zeus doch mein Vater ist.« Meine Mutter habe ich nie kennengelernt. Bis mein Vater mich an die vier Winde übergab, bin ich in der Obhut einer Amme aufgewachsen, die mir kaum etwas über meine Mutter erzählen konnte. Alles, was ich weiß, ist, dass sie eine Halbgöttin war und da die Amme in den seltenen Momenten, in denen sie von ihr sprach, in der Vergangenheit redete, habe ich immer angenommen, sie wäre nicht mehr am Leben. Mit der Zeit konnte ich mich mit der Vorstellung abfinden. Es erschien mir zwar traurig, aber immer noch besser, als hätte sie mich willentlich zurückgelassen.

»Darauf habe ich leider keine Antwort.« Auch Zephyrosʼ Augen folgen den beiden Vögeln.

»Ich frage mich bloß bis heute, weshalb Zeus mich dann töten wollte.« Schon meine Amme hatte mir stets gesagt, ich solle gehorchen und mich unauffällig verhalten. Dass ich Glück haben würde, wenn ich überhaupt das achtzehnte Lebensjahr erreichte. »Ich stelle keine Gefahr dar.«

Sanft streicht Zephyros über meine bei ihm untergehakte Hand. »Zeus war immer sehr … speziell, vielleicht sogar paranoid, sobald es um seine Kinder ging. Da er selbst seinen Vater getötet hatte, fürchtete er, ihn könnte dasselbe Schicksal ereilen. Womöglich rechnete er damit, dass du irgendwann Kräfte zeigen würdest.« Gemeinsam folgen wir einem der Pfade und nun fliegen die beiden Vögel ganz dicht an uns vorbei, als suchten sie die Nähe der Windgottheit, die sie erschaffen hatte. »Doch letztendlich hat Zeus ein Mal eine gute Entscheidung getroffen.« Zephyrosʼ braungrüne Augen finden mich und ich werde von Wärme geflutet. Von dem Duft nach Frühling, dem grünen Gras, der frischen Luft, dem Geruch von Veilchen und Krokussen. Instinktiv suche ich seine Nähe, sodass meine Schulter die seine streift. Ein Prickeln breitet sich auf meinen Armen aus, und ich weiß nicht, ob es von der Berührung stammt, oder sich in das sonderbare Zucken verwandeln wird, welches ich seit geraumer Zeit immer wieder empfinde. Zephyros dreht mich zu sich, ein Arm schlingt sich um meine Taille, seine Hand wandert an meine Wange. Ohne meinen Blick loszulassen, neigt er meinen Kopf zurück. Und dann küsst er mich. Langsam. Gefühlvoll. Intensiv. Ich schmecke ihn und den Frühling auf meiner Zunge. Mein gesamter Körper wird von diesem betörenden Aroma geflutet. Meine Knie werden weich und ich falle förmlich gegen Zephyros, der mich nun gänzlich umschlingt, mich hält, während unser Kuss sich vertieft.

Als wir uns schließlich voneinander lösen, ist mir ganz schwindelig. Trotzdem lächele ich, weil meine Brust sich so warm und leicht anfühlt. Sachte streiche ich mit den Fingerspitzen über Zephyrosʼ Wangen, die ein leichter Bartschatten bedeckt, ehe ich durch sein weiches, karamellblondes Haar fahre. »Du bist unfassbar schön«, wispere ich ihm zu. »Und aufmerksam. Und liebevoll.« Sanft küsse ich ihn noch einmal. »Was machst du hier mit mir?«, flüstere ich noch leiser, als dürfte ich diese Worte nicht aussprechen. »Wolltest du nie eine Frau für dich allein?«

»Ich will nur dich, Reva«, erwidert er ernst. »Meine Brüder und ich haben uns damals geschworen, dich um jeden Preis zu beschützen. Wir haben dich gewählt.«

Wir haben dich gewählt.

Unsere Augen halten einander noch eine Weile fest, bevor ich langsam nicke und von den Zehenspitzen wieder auf meine Füße sinke. »Und ich kann mich sehr glücklich schätzen, euch zu haben.« Meine Aussage schmeckt nicht so verheißungsvoll wie der Frühling selbst auf meiner Zunge. Dennoch schenke ich ihm ein Lächeln. »Lass uns ein wenig laufen und die Natur genießen. Ich bin den ganzen Tag drin gewesen.« So wie immer. Wenn sie beschäftigt sind. Manchmal ärgert es mich, dass ich nichts kann, außer den Winden zu gefallen. Ich habe dem Malen eine Chance gegeben, musste mir mit den Jahren jedoch eingestehen, dass ich kein bisschen Talent dafür besitze.

Ich habe versucht, die Kräfte nachzuahmen, welche die Winde besitzen. Als könnte ich auf diese Weise auch nur einen Funken Magie aus mir herauskitzeln.

Ich habe Kleidung genäht, die beim Tragen halb auseinandergefallen ist.

Ich bin heimlich in den Trainingsraum der Winde geschlichen und habe gemerkt, dass ich eine recht passable Bogenschützin bin. Doch eine Leidenschaft habe ich nicht dafür entwickelt.

Bleiben mir noch die Bücher, mit denen ich überhäuft werde. Über Jahrhunderte hinweg habe ich sie verschlungen und mich stets an dieses gute Gefühl geklammert, das sie in mir auslösten. Ähnlich dem, das ich empfinde, wenn Zephyros mich hält und küsst und alles andere in Vergessenheit gerät. Es keine Rolle spielt, wie viele Jahrzehnte ich mich bereits im Palast der Stürme befinde. Doch eines Abends, als ich mich mit Euros über eine Geschichte unterhielt, die ich gerade las und er sie als leichte Lektüre abtat, wurde mir die Freude daran ein wenig genommen. Wahrscheinlich ahnt er nicht einmal, dass seine Worte mich beschäftigt haben. Aber seitdem denke ich, dass ich mich womöglich tatsächlich zu den Geschichten hingezogen fühle, die leicht sind. Die gut ausgehen. Wo die Protagonistin zwar ein wenig stolpert, doch das Glück am Ende immer auf ihrer Seite ist.

Manchmal überlege ich, ob ich genau wie diese Geschichten bin. Denn ich habe nie für eine Veränderung gekämpft. Nicht wirklich zumindest. Bei der ersten Hürde, meinem ersten und einzigen Fluchtversuch, bin ich gescheitert und habe es nicht noch einmal probiert. Mir hat der Mut gefehlt. Außerdem war ich erschrocken über mich selbst, dass ich dazu in der Lage war, Notos zu verletzen. Denn es war falsch. Tief in meinem Herzen konnte ich deshalb nie die Frage vergessen, wer ich in Wahrheit bin. Dass es vielleicht besser ist, es nie herauszufinden. Und was will ich auch mehr? Ich lebe in einem Palast, in dem es mir eigentlich an nichts fehlt. Werde begehrt von drei Winden, denn der vierte hat mir nie vergeben.

Doch insgesamt genieße ich Annehmlichkeiten, von denen andere bloß träumen können. Es wäre gierig, mehr zu wollen und töricht, sich nach etwas anderem zu sehnen, wo ich bereits so viel besitze.

»Ich habe darüber nachgedacht, den Park umzugestalten«, reißt Zephyros mich aus meinen Überlegungen.

Ich blinzele, mustere nun die weite grüne Wiese, die uns umgibt, auf der vereinzelt hellblaue Blumen wachsen. In einiger Entfernung steht ein Tisch, daran zwei Stühle mit filigranen eisernen Lehnen, die sich jedes Mal kühl an meinem Rücken anfühlen. Manchmal sitzen Zephyros und ich dort, essen Gebäck und trinken frisch aufgebrühten Kräutertee aus seinem Garten. Dann werde ich stets von Ruhe durchströmt. Gleichzeitig sind es auch die Momente, die Beklommenheit in mir auslösen, weil es mir erscheint, als existierten lediglich die Winde und ich in dieser Welt. Niemand sonst. Bloß wir.

»Tatsächlich?«

Zephyros nickt. »Vielleicht willst du mir dabei helfen … mit ein paar Ideen.«

Oh, ich weiß, was er da versucht. Er kennt mich. Er realisiert, dass meine Stimmung hinter meinem Lächeln nicht die beste ist. »Danke, dass du dabei an mich gedacht hast. Ich helfe dir gern und werde mir gleich morgen meine Gedanken dazu machen.«

Die Windgottheit gibt einen zufriedenen Laut von sich, ehe ich ihn an der nächsten Weggabelung nach rechts ziehe. »Boreas ist in letzter Zeit sehr beschäftigt«, wechsele ich das Thema. Die Röcke meines Kleides Rascheln, als sie das Gras, das hier ein wenig höher wächst, streifen.

»Seine Anwesenheit ist aufgrund einiger Gegebenheiten im Palast der Titanen vonnöten.«

»Aufgrund einiger Gegebenheiten?«, wiederhole ich.

Zephyros lacht leise. »Mach dir darüber keine Gedanken.«

Ich seufze leise. »Kannst du mir wenigstens noch einmal die violettfarbene Lagune beschreiben?«

Sanft drückt Zephyros meine Hand, ehe er mit seiner angenehmen Stimme derart detailreiche Bilder in meinem Kopf hervorruft, dass sie mir das Gefühl geben, in den vergangenen Jahrzehnten nicht bloß diese Umgebung gesehen zu haben.

Schließlich erreichen wir das Ziel unseres Fußmarsches. Der Ort, an den ich Zephyros fast immer lenke, weil sein Bereich an den des Sommers grenzt. Mein Herz, das seit ich so viel mit Boreas zusammen bin, mit Sicherheit von Frost durchzogen ist, beginnt, schneller zu schlagen. Wir befinden uns an einer Steilklippe, graue Felswände, teilweise mit Moos bewachsen, stürzen sich ins Meer, das in dieser Sekunde tobt, einen extremen Gegensatz zu der friedvollen Landschaft darstellt, die Zephyros für uns gestaltet hat.

Ich schlucke schwer, betrachte das dunkle Blau und das Weiß der schäumenden Gischt. In einiger Entfernung am Ufer steht ein kleines, schief wirkendes Haus, vermutlich wegen des Sturms, wegen Notosʼ Zorn, dem es Tag für Tag standhalten muss. Es gab Zeiten, in welchen ich in ebendiesem Haus übernachtet habe. Es ist schon so lange her, dass ich mich kaum mehr daran erinnern kann. Doch sehr wohl weiß ich noch, dass das Meer einladend und türkisblau war, der Strand, der nun durch große Steine und Algenreste durchzogen wird, einst feinen, hellen Sand aufwies. Die gläsernen Türen des Hauses, die zu dem ausladenden Balkon führten, waren stets geöffnet, während Notos und ich uns liebten, dabei dem Gesang der Wellen lauschten. Doch nun wüten sie, sind ein Abbild dessen, was der Gott des Sommers für mich fühlt.

»Er hat dir längst verziehen«, spricht Zephyros leise. »Er weiß nur nicht, wie er wieder einen Schritt auf dich zumachen soll.«

»Trifft er sich noch … mit ihr?«

»Schon lange nicht mehr«, versichert der Frühling mir.

Meine Augen brennen und ich rede mir ein, dass es an dem unbarmherzigen Wind liegt, der mir vom Ozean her entgegenpeitscht. Zephyros hat mir schon einmal geraten, Notos Zeit zu geben. Dass er irgendwann zu mir zurückkehren würde. Und welches Recht hatte ich schon, ihn zu konfrontieren oder Forderungen zu stellen, nachdem ich versucht hatte, eine Klinge in seinem Herzen zu vergraben …

»Ich glaube nicht, dass er jemals zu mir zurückkehren wird«, wispere ich, während Tränen über meine Wangen rinnen, deren Richtung der eisige Sommerwind vorgibt. »Nicht wirklich zumindest.«

»Er war schon immer der Sturste von uns allen«, erwidert Zephyros. »Und seine Wunden sitzen tief. Aber sie heilen. Gib ihn nicht auf.«

Aber er hat mich doch aufgegeben, denke ich.

3

GEFALLENE KÖNIGIN

ARACHNE

Nach allen Schrecken, die mir in meinem Leben widerfahren sind, hätte ich nicht gedacht, noch so große Furcht empfinden zu können, wie in diesem Moment.

Meine Muskeln brennen, als stünden sie in Flammen.

Jeder Knochen meines Körpers fühlt sich an wie gebrochen.

Meine Kehle schmerzt.

Mein Herz hämmert.

Mein Mund ist zu einem stummen Schrei geöffnet, während die Frau durch das dunkelgrün schimmernde Wasser auf mich zukriecht. Die seelenlosen Löcher ihrer Augen fixieren mich nach wie vor, das schwarze Blut, das aus ihnen fließt, lässt mich erschauern. Ihr langes Haar, das dieselbe Farbe wie das Blut aufweist, wiegt sich im flachen Wasser des Brunnens, in welchem ich nach wie vor knie. Sie ist so dünn, dass sie mehr tot als lebendig wirkt. Und trotzdem strahlt sie unbestreitbar Gefahr aus, sodass ich den Worten der Hexen glaube.

»Sie wird sich um dich kümmern.«

Sie haben mich gejagt, aber nicht getötet, weil sie wissen, dass sie es erledigen wird.

In derselben Sekunde zuckt Mortems Anblick durch meine Gedanken. Das, was er gerade erdulden muss. Ich habe mir geschworen, ihn zu retten. Und deshalb werde ich nicht sterben.

Endlich gelingt es mir, zurückzurobben. Gleichzeitig klirren die Ketten, welche die Frau an das Gestein des Brunnens fesseln, als lägen sie auch um meine Handgelenke. Trotzdem erkenne ich, dass ihre Länge genügt, um den Brunnen zu durchqueren. Es ermöglicht ihr, mich zu erreichen und das stellt mich vor ein Problem.

Meine Beine zittern unkontrolliert, während ich mich aufrichte. Doch immerhin habe ich mir augenscheinlich nicht den Rücken gebrochen, wenngleich es sich bei meinem Aufpralle exakt so angefühlt hat. Begleitet von dem Klirren der Ketten und meinem hektischen Atem taste ich mit meinen Fingern über das Innere des Brunnens. Es ist zu glatt, kein Stein ragt ausreichend hervor, um sich daran nach oben zu ziehen.

»Zwecklos.« Die raue Stimme der Frau lässt mich zusammenzucken. Es ist erst das zweite Mal, dass sie spricht. Und es klingt, als hätte ihr Mund seit Jahren keinen Laut mehr geformt.

Ich wirbele zu ihr herum, zu ihrer zusammengesunkenen Gestalt. Erst jetzt erkenne ich, dass ihre Arme zittern, genau wie meine Beine. Vielleicht spielt sie Schwäche vor, um sich ihre Beute, mich, am Ende leichter einzuverleiben. Doch ihre hagere Gestalt und die Ketten signalisieren mir auch, dass sie tatsächlich entkräftet ist.

»Was willst du?«, fauche ich sie an, als sie sich erneut mühsam vorwärtsbewegt, als würde allein ihr Wille sie dazu antreiben, während ihr Körper längst aufgegeben hat.

Ein heiseres Lachen entfährt ihr, während sie zurück auf ihre Fersen sinkt. »Ihr habt diese weite Reise auf euch genommen, weil ihr etwas von mir wollt«, bringt sie hervor.

Ich erstarre, eine Hand nach wie vor an der eiskalten, feuchten Wand des Brunnens.

»Ist es nicht so?«

Meine Zunge fährt über meine spröden Lippen. »Was sollten wir von dir wollen?«

»Ihr wollt meine Hilfe. Ihr wollt die Urgötter besiegen. Und dafür braucht ihr mich.«

Langsam wende ich mich ihr gänzlich zu. »Woher weißt du das?«

»Ich weiß alles, was im Hexenreich vor sich geht.«

»Warum?«, wispere ich.

»Weil ich mit ihm verbunden bin. Ich bin die wahre Königin. Doch eine List und diese ewigen Fesseln … binden mich an den Grund des Brunnens.«

Meine Gedanken rasen. Ich erinnere mich, wie Mortem sagte, die Königin selbst sollte stark genug sein. Und dass die sogenannten Erntenächte für ihn keinen Sinn ergeben. Doch für mich tun sie das nun. Denn offenbar ist Asraa überhaupt nicht die wahre Königin, so, wie wir es angenommen hatten. Verschiedene Szenen spielen sich in meinem Kopf ab. Der Moment, in welchem ich von dem Weg aus Eis stolperte. Dass ich glaubte, nicht von allein gefallen zu sein. Die fremde Stimme in meinem Kopf, die mich antrieb zu laufen. Die mich irgendwie hierherlockte, noch bevor mich die Hexe in den Brunnen stieß.

»Du hast unsere Ankunft erwartet«, stelle ich schließlich fest.

»Natürlich habe ich das.« Die Frau, die behauptet, die rechtmäßige Hexenkönigin zu sein, windet sich ein wenig, als würden die Ketten ihr Schmerzen bereiten. Ein Teil von mir, derjenige, der sich sehr gut daran erinnert, wie es ist, gefesselt zu sein – wenn auch an einen fremdartigen Körper statt an eiserne Ketten –, macht instinktiv einen Schritt auf sie zu.

»Du weißt, dass wir die Urgötter besiegen wollen und bietest uns deine Hilfe an?«, hake ich nach. Wie soll diese Frau uns helfen?

Es ist, als würde sie mich aus ihren schwarzen Löchern, in denen sich einst ihre Augen befanden, mustern. »Nun, nichts in dieser Welt geschieht ohne Gegenleistung.«

»Sprich weiter«, fordere ich, obgleich ich mir nicht sicher bin, wie lange sie noch durchhält. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie in den nächsten Sekunden bewusstlos zusammenbricht.

»Du befreist mich von meinen Ketten, dafür verhelfe ich deinem Drakon und dir zur Flucht. Ihr nehmt mich mit, dafür löse ich euer Urgott-Problem.«

Mein Blick gleitet über sie. »Dazu bist du in der Lage? Ihn zu retten? Die anderen Hexen haben eine Art … Scheiterhaufen errichtet.« Die Urgötter unschädlich zu machen erscheint mir gerade unendlich weit entfernt. Gerade zählt nur Mortem für mich. Ich kann – will – ihn nicht verlieren.

»Sie zehren von seinen Kräften«, erklärt sie. »Und ja – ich bin stärker als meine Schwestern.«

Ich hebe eine Braue. »So wirkst du nicht.«

Ihre Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln. »Du siehst nicht alles von mir.«

»Doch wenn du uns begleitest, musst du das Hexenreich verlassen«, weise ich auf das Offensichtliche hin. Trotzdem muss ich sichergehen. Schließlich könnte es auch sein, dass sie ihren Platz als Königin zurückgewinnen will. Ich habe keine Gewissheit, dass sie die Wahrheit sagt. Die Hexen leben schon seit einer sehr langen Zeit unter sich. Dass sie Mortem und mich so bereitwillig begleiten will … Andererseits: Sie wurde hier unten gefangen gehalten. Vermutlich fühlt sie sich den anderen nicht mehr besonders verbunden.

»Wenn ich mit ihnen fertig bin, wird nicht mehr viel vom Hexenreich übrig sein«, zischt sie, bestätigt damit meine Vermutung. »Die Zeit ist reif für einen Neuanfang.« Sie legt den Kopf in den Nacken, schaut nach oben, zur Öffnung des Brunnens. Als könnte sie trotz der schwarzen Höhlen ihrer Augen den schmalen Lichtstreifen erkennen, der auf uns herabfällt. Ich fröstele, was weniger an meiner durchnässten Kleidung liegt. »Zerstöre meine Ketten, Arachne.« Leicht zucke ich zusammen. Ich habe ihr nie meinen Namen genannt.

»Ich weiß alles, was im Hexenreich vor sich geht.«

Ich frage mich, ob sie eine Form des Gedankenlesens beherrscht, dabei bin ich bisher nur Chaos begegnet, der diese Fähigkeit besitzt.

»Gib mir zuerst dein Wort, dass du mich nicht in eine Falle lockst«, beharre ich. Allerdings bin ich mir nicht sicher, wie viel man auf das Wort einer gefallenen Hexenkönigin geben kann.

Sie schnaubt. »Deinem Drakon läuft die Zeit davon und du willst einen Schwur?«

»Auch dir läuft die Zeit davon.« Trotzdem hat sie recht und ich wate einen Schritt auf sie zu.

»Ihr habt keinen Verrat von mir zu befürchten. Darauf gebe ich dir mein Wort«, erwidert sie nach kurzem Schweigen und neigt minimal den Kopf.

Ich nicke, obwohl ich mir sicher bin, dass sie es nicht sehen kann, und nähere mich ihr, bis ich mich direkt vor sie in das kühle Wasser kauere. Es wundert mich, dass sie überhaupt noch Haut über ihren Knochen hat. Wer weiß schon, wie lange sie bereits an den Grund des Brunnens gekettet ist. Aus der Nähe wirkt sie noch schauriger, doch ich schlucke meine Furcht herunter, betrachte die eisernen Ketten, die sich um ihre Handgelenke winden und sie an das Gestein in etwa zwei Meter Entfernung fesseln. Vorsichtig berühre ich die Ketten. »Ich habe keine Ahnung, wie ich sie zerstören soll«, teile ich ihr mit. »Ich trage keine Waffe bei mir und ich nehme an, dass es magische Fesseln sind, nicht wahr? Es ist unwahrscheinlich, dass sie sich mit einem Stein zerschlagen lassen.« Ganz abgesehen davon hat sie das vermutlich schon versucht.

»Doch etwas befindet sich in deinem Rucksack. Etwas, das er dir gegeben hat.«

Irritiert blinzele ich. Doch dann begreife ich. Das im Glas eingefangene Drakonfeuer. Während meiner Flucht vor den Hexen war der Gedanke so präsent, die Flammen noch nicht einzusetzen. Ich nahm an, sie für Mortem aufzusparen. Doch in Wahrheit benötige ich sie jetzt.

Zögerlich lasse ich meinen Rucksack von den Schultern gleiten. Nach wie vor habe ich einige Zweifel. Aber in einer Sache hat die Hexenkönigin definitiv recht: Mir läuft die Zeit davon, um Mortem zu retten.

Energisch ziehe ich den Reißverschluss auf, greife hinein und hole zwischen unserem Proviant das Glas hervor. Es ist heißer als erwartet und ich fluche leise. »Weshalb haben die anderen Hexen dich hier unten eingesperrt?«, hake ich nach, weil diese Information mir plötzlich wichtig erscheint.

»Große Macht weckt noch größere Eifersucht. Es kommt nie gut an, hervorzustechen, anders als die anderen zu sein.«

Mit der Hand am Schraubverschluss halte ich inne. Damit kann ich etwas anfangen. Schließlich war ich den Großteil meines Lebens sehr anders als die anderen. »Wie ist dein Name?«

»Nafia«, erwidert sie schlicht.

»Ich werde das Drakonfeuer weiter hinten an deinen Ketten, näher am Gestein, freilassen, Nafia.«

Sie ruckt ihr Kinn, als Zeichen, dass sie einverstanden ist.

»Ich sage ›jetzt‹, wenn du deine Arme unter Wasser tauchen kannst.« Ich beiße mir auf die Unterlippe. Ich habe keine Ahnung, ob es funktionieren wird. Aber das sage ich besser nicht laut. Ich wate an ihren Ketten entlang, bis zu dem Punkt, an welchem sie zusammenlaufen. Tief atme ich durch, dann hebe ich den Deckel des Glases an, neige es leicht zur Seite. Als hätte ich es mit Magie befeuert, springen die Flammen mit einem ohrenbetäubenden Zischeln auf das Eisen über. Ich keuche, weiche jedoch nicht sofort zurück. Erst, als ich sicher bin, dass die Flammen auf beide Seile übergegangen sind, knalle ich den Deckel zurück aufs Glas und reiße es an mich. Adrenalin rauscht durch meine Adern, während ich die winzige Drachenflamme, die nach wie vor in dem Glas gefangen ist, förmlich in meinen Rucksack werfe, gleichzeitig auf Abstand gehe. Die Flammen an den Seilen schlagen viel höher als gedacht, fressen sich in Richtung Nafia. Auch ich laufe nun in ihre Richtung. »JETZT!«, schreie ich über das Zischen des Feuers und das Rasen meines Pulses hinweg. Sie taucht unter und instinktiv werfe auch ich mich in das knietiefe Wasser. Kurz darauf wird der Brunnen von einer Erschütterung erfasst. Wasser schwappt über mich, eine Druckwelle prallt auf meinen Körper und ich presse die Hände auf meine Ohren. Und dann wird es still. Sehr still.

Einige Sekunden verstreichen, ehe ich auftauche. Die Sicht ist schlecht, als würde mich Nebel umgeben. Rauch liegt in der Luft. Auf dem grün schimmernden Brunnenwasser züngeln drei verlorene Flammen. Teile der eisernen Ketten schwimmen auf der Oberfläche. Scharf ziehe ich die Luft ein und mein Herz setzt einige Schläge aus, als ich sehe, dass Nafia bäuchlings auf der Wasseroberfläche treibt. Kurz bin ich wie erstarrt, dann wate ich hastig zu ihr.

Götter, sie darf nicht tot sein. Ich umfasse ihre schmalen Schultern, frage mich erneut, wie sie es mit all den anderen Hexen aufnehmen soll, und richte sie auf. Mit überraschend ruhigen Fingern taste ich nach ihrem Puls und gebe einen Laut der Erleichterung von mir, sobald ich ihn finde. Dann schlage ich ihr zwischen den Schulterblättern auf den Rücken. Sie würgt, ehe sie einen Schwall Wasser erbricht.

Ich knie mich neben ihr ins Wasser, während sie ihren ersten rasselnden Atemzug nimmt, befreit von ihren Ketten. Und obwohl die schwarzen Löcher anstelle ihrer Augen wie seelenlose Abgründe wirken, fühle ich mit der einstigen Königin. Es erinnert mich an den Moment, in welchem ich die Hülle der Spinne ablegte und meine menschliche Gestalt zurückbekam. Erst jetzt begreife ich, dass die Haut, in der ich nun stecke, mir nicht mehr fremd erscheint. Und zum Teil ist es Mortems Verdienst. Er hat dafür gesorgt, dass ich mich selbst wieder in meinem Körper spüre.

Mortem, der gerade leidet. Von dem ich nicht weiß, wie lange er noch durchhalten kann.

Ich fixiere Nafia. »Wie fühlst du dich? Und wie kommen wir jetzt von hier zurück zur Hexenwiese, um die anderen Hexen aufzuhalten?«

Noch einmal atmet Nafia tief ein und wieder aus. Ihre Lunge klingt bereits viel freier. »Ich brauche noch etwas.«

»Und was?«

»Dein Blut.«

Meine Brauen schnellen in die Höhe. »Mein Blut?!«

»Nur wenige Schlucke. Damit ich die Strecke schaffe.«

Ich betrachte sie. Ihre spitzen Eckzähne, welche ich auch bei ihren Schwestern gesehen habe und die nun überdeutlich zum Vorschein kommen. Fest presse ich die Lippen zusammen. Mein erster Instinkt ist es, Nein zu sagen. Aber dann rufe ich mir Mortem in Erinnerung. Ich tue das hier für ihn. Und hoffe, dabei wirklich nicht zu sterben. Ganz abgesehen davon fällt mir gerade kein besserer Plan ein.

Fluchend ziehe ich den Ärmel meines Oberteils hoch und halte Nafia mein Handgelenk hin. »Wenn du mich tötest, werde ich dich als Geist heimsuchen. Und dann wird dir dieser Brunnen noch wie das Paradies erscheinen.«

Meine Drohung beeindruckt sie nicht. Zu sehr ist sie bereits auf das konzentriert, was ich ihr anbiete. In der nächsten Sekunde graben ihre Zähne sich in mein Fleisch. Es tut mehr weh als erwartet und ich halte den Atem an. Nach dem vierten Schluck denke ich darüber nach, ihr meinen Arm zu entreißen, allerdings stelle ich mir das noch schmerzhafter vor. Doch bevor ich handeln kann, lässt sie von mir ab. Ich beobachte, wie sie ein fünftes Mal schluckt und sich aufrichtet.

Ihr Äußeres verändert sich dabei. Ihre Haut, die unendlich blass war, gewinnt wieder an Farbe, bis sie dem mokkafarbenen Ton gleicht, der mir von den anderen Hexen vertraut ist. Ihre Haare bleiben schwarz, wirken jedoch weniger stumpf. Ihr Gesicht ist nicht länger eingefallen und ihre Haltung erscheint viel gefestigter – nicht so, als würde sie jeden Moment wieder in sich zusammensacken. Ihre Lippen sind dunkelrot, als wäre mein Blut hineingeflossen, um ihnen diese Farbe zu verleihen. Ihre Brauen sind beinahe so dunkel wie ihr Haar und elegant geschwungen. Nafia hat ein hübsches Gesicht und es ist ein Gedanke, der mich überrascht. Kurz wandert mein Blick zu ihren Handgelenken. Die Eisenringe haben sich gelöst und die Haut ist von einem auffälligen Rosa, aber immerhin weist sie keine offenen Wunden auf.

Als ich ihr erneut ins Gesicht schaue, registriere ich, dass ihre Augen geschlossen sind. Ich blinzele. Ich erinnere mich bloß an die schwarzen Löcher. Außerdem löst es Unruhe in mir aus, dass sie schon wieder so still und reglos ist. »Nafia –«

Was ich sagen wollte, erstirbt auf meiner Zunge, weil sie die Lider aufschlägt. Es erwarten mich keine Löcher. Ihre Iriden sind von einem sehr dunklen Blau. In ihnen liegt ein grünlicher Schimmer. Doch vielleicht ist auch das Wasser des Brunnens dafür verantwortlich, das sich in ihnen spiegelt.

Ihre Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln. »Jetzt bin ich bereit.«