Grazie, Genova - Bernadette Olderdissen - E-Book

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Bernadette Olderdissen

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Beschreibung

Sonne, Dolce Vita und eine Menge Katastrophen Alle beneiden Sonja, als ihr Traum plötzlich wahr wird: Sie bekommt eine Stellenzusage aus Genua! Hals über Kopf und mit nur zwei Koffern reist sie nach Italien. Doch schnell ist der Traum vom Dolce Vita ausgeträumt: Der Job in der Sprachschule ist nicht nur anstrengend, sondern auch schlecht bezahlt, die Wohnung überteuert und verschimmelt, und die italienischen Behörden sind ein einziges undurchschaubares Labyrinth. Als endlich amore und passione in Sonjas Leben einziehen, muss sie sich entscheiden: für die Liebe – oder für ihr geliebtes Genua?

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Bernadette Olderdissen

Grazie, Genova

Zwei Jahre al dente

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Sonne, Dolce Vita und eine Menge Katastrophen

 

Alle beneiden Sonja, als ihr Traum plötzlich wahr wird: Sie bekommt eine Stellenzusage aus Genua! Hals über Kopf und mit nur zwei Koffern reist sie nach Italien. Doch schnell ist der Traum vom Dolce Vita ausgeträumt: Der Job in der Sprachschule ist nicht nur anstrengend, sondern auch schlecht bezahlt, die Wohnung überteuert und verschimmelt, und die italienischen Behörden sind ein einziges undurchschaubares Labyrinth. Als endlich amore und passione in Sonjas Leben einziehen, muss sie sich entscheiden: für die Liebe – oder für ihr geliebtes Genua?

Über Bernadette Olderdissen

Die Globetrotterin Bernadette Olderdissen wurde 1981 geboren. Sie lebt in Toulouse, wo sie am Goethe-Institut Deutsch unterrichtet. Reich an Eindrücken, Bildern und neu geschlossenen Freundschaften von ihren zahlreichen Reisen verarbeitet sie ihre Erfahrungen in Artikeln und Büchern. Ihre Reisereportagen veröffentlicht sie u.a. bei Spiegel Online und dem Schweizer Globetrotter-Magazin.

Inhaltsübersicht

WidmungVorbemerkungTeil I Benvenuta in Italia!Teil II Ein italienischer (Alb-)TraumTeil III Vorwärts!Teil IV Primavera – FrühlingsgefühleTeil V Das zweite JahrTeil VI Arrivederci ItaliaDank

Für Sigrid, meine Mutter, und Ruth, meine verstorbene Großmutter – die stärksten Frauen in meinem Leben.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Alle beschriebenen Handlungen sind frei erfunden und beziehen sich nicht auf wahre Begebenheiten.

Teil IBenvenuta in Italia!

«Ziehst du etwa um?» Der junge Mann verzerrt das Gesicht und wuchtet meine beiden Koffer in den Zug.

«Ich wandere aus!»

Seine Augen treten hervor, er verschluckt sich. Ich klopfe ihm schnell auf den Rücken und sehe mich um: Wo sind bloß die Gepäckablagen in den Schweizer Waggons? Im Wagen nebenan stoße ich auf ein leeres Abteil mit Fahrradständern; ein rot umrandetes Schild klebt an der Tür, darauf sind Gepäckstücke abgebildet und durchgestrichen. Ich zerre einen meiner prall vollen Koffer in den Großraumwagen und überspringe sofort einen Atemzug – es stinkt nach Luft, die zu oft ein- und ausgeatmet wurde. Mein Koffer stößt immer wieder auf Widerstand, doch ich ziehe weiter.

«Au! Passen Sie doch auf!»

«Himmel, Arsch und Donnerzwirn!»

«Mamma mia!»

Ich ignoriere die Flüche meiner Mitreisenden und presse den Koffer – soweit möglich – zwischen zwei Sitze. Langsam bewege ich mich vorwärts, suche nach freien Ecken. Nichts. Also bleibt der zweite Koffer neben der Waggontür zwischengeparkt. Sobald der Zug anfährt, knallt es, etliche Fahrgäste schrecken hoch. Ich sehe unschuldig aus dem Fenster.

«Fahrkarten bit… was zum Teufel …»

Es rumst, und der Schaffner stolpert in den Gang.

«Wem gehört dieser Koffer?»

Er tritt gegen mein dreißig Kilo schweres Gepäckstück und beugt sich hinab, um es hochzuhieven. Ich mustere aus sicherer Entfernung seinen Hintern: Ein typischer Fall von Arsch frisst Hose! Er dreht sich um, ich stelle mich schlafend, doch zu spät – der Blick, der an Gollum erinnert, verfolgt mich bis hinter geschlossene Lider.

Etwa alle fünfzehn Minuten kontrolliere ich, ob der schwarze Koffer noch zwischen den Sitzen klemmt, mein Rucksack aus dem Fach über meinem Platz hängt und die Laptoptasche zwischen meinen Beinen steckt; Pizzaduft bestätigt mir, dass meine Provianttüte noch neben mir steht. Den mit einem Hängeschloss gesicherten Koffer im Türbereich überlasse ich seinem Schicksal – sein Gewicht wird jeden Dieb abschrecken.

Ich kann mich nicht auf das Buch in meinem Schoß konzentrieren, meine Gedanken schieben sich über die geschriebenen Worte – alles ist so schnell gegangen! Eine Woche hatte ich Zeit, um ein paar Klamotten, Schuhe und Kosmetika auf zwei Koffer zu verteilen, meine Stelle als Assistentin an einem Universitätsinstitut zu kündigen und den neidischen Exkollegen zu erklären, wie ich im Traumurlaubsland Italien einen Job als Lehrerin für Deutsch und Englisch ergattert habe. Dabei war das Ganze gar nicht traumhaft verlaufen:

Das Vorstellungsgespräch in Genua hatte auf mich den Eindruck einer improvisierten Stand-up-Comedy mit zwei Amateuren gemacht, dem Chef-Ehepaar Giulia und Massimo. Giulia stammte aus der deutschsprachigen Schweiz, hatte aber einen italienischen Vater, Massimo war ein Italiener, der fünf Jahre lang in Deutschland gelebt hatte. Das Gespräch fand auf Deutsch statt.

«Massimo, was sagst du zu dem Lebenslauf von Frau …?»

«Ich dachte, du hättest ihn gelesen!»

«Ich habe dir die E-Mail weitergeleitet!»

«Hast du nicht reingeschaut?»

Giulia legte die Hände auf den Tisch und betrachtete mich mit zusammengekniffenen Lippen und den Augen eines Welpen, der zu Unrecht einer Schandtat beschuldigt wird.

«Erzählen Sie uns einfach, was Sie bisher gemacht haben!»

Ich wiederholte den Inhalt meiner ausführlichen E-Mail:

«Wie ich geschrieben habe, habe ich noch nie als Lehrerin gearbeitet …»

«Sie haben gar keine Erfahrung?»

«Hast du das nicht gelesen?» Giulia brachte Massimo mit einem Handzeichen zum Schweigen.

«Warum haben Sie sich überhaupt bei uns beworben?»

«Ich suche eine neue Herausforderung im Ausland!»

Von der Straße her ertönte lautes Jauchzen, und die beiden stürzten ans geöffnete Fenster. Die Aussicht von der privaten Sprachschule im dritten Stock eines klotzigen Palazzos entlockte dem Paar viele «Ahs» und «Ohs». Ich sah ihnen mit offenem Mund nach.

«Massimo, hast du gesehen, wie viele Leute da unterwegs sind?»

«Dieser Umzug in die Via Balbi war sein Geld wert! Unser neuer Sitz wird eine Goldgrube!»

«Die zentrale Lage ist wichtig – und Werbung! Hast du die Flyer gesehen? Das war meine Idee!»

«Da ist die neue Praktikantin, Lisa!»

«Diese Schule ist unsere Lebensgrundlage! Wir werden hier alt und …»

Wie bei einem Tennismatch sprang mein Blick von Giulia zu Massimo – wo zum Teufel war ich hier gelandet? Während die Chefs weiterplauderten, erinnerte ich mich an meine Gratislektion Italienisch in einem Urlaub vor zwei Jahren, inmitten einer Gruppe italienischer Studenten: Sie begannen jeden zweiten Satz mit ‹Che cazzo›. Ich fragte den jungen Mann neben mir nach der Bedeutung. «Wörtlich heißt das ‹was zum Schwanz›», erklärte er lachend in perfektem Deutsch. «Die Deutschen beschwören den Teufel, wenn ihnen etwas suspekt ist, wir Italiener den Schwanz!»

Ich betrachtete Giulia und Massimo. Wenn ich den Studenten nicht falsch verstanden hatte, traf dieser Ausdruck hier zu.

Die beiden baten mich, am nächsten Morgen eine Probestunde als Lehrerin für Englisch zu geben – mit sehr gemischten Gefühlen sagte ich zu.

«Schlaf aus und fahr dann ans Meer», flüsterte mir meine genießerische Stimme zu. «Du hast doch gar kein Interesse mehr an dem Job!»

«Aber du kannst nicht einfach bei der ersten Hürde schlapp machen!», konterte die Vernunft. «Bring die Reise zu einem professionellen Ende, du hast nichts zu verlieren!»

Dieses Mal ließ ich die Vernunft gewinnen. Ich absolvierte eine Probestunde, auf die ich mich genau eine Minute lang vorbereitet hatte; mit auf den Tisch klopfenden Fingern wartete ich, während Giulia mir die auf drei DIN-A4-Seiten gesammelten Kritikpunkte entgegenschleuderte. Massimo war schon aus dem Raum gestürzt. Nach Giulias einleitenden Worten: «Ihr Tafelbild ist wie ein Blumengarten!», schalteten meine Ohren auf Autopilot – ich sehnte mich nach der Sonne vor dem Fenster.

Doch plötzlich, während meiner Tagträume von Wärme und dem Meer, vernahm ich die Sätze: «Trotz allem … ich gebe Ihnen die Chance, Sie können die Stelle haben. Eine italienische Weisheit sagt ‹Nessuno nasce imparato› – es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Ich denke, dass Sie sehr lernfähig sind, und Sie sind mir sympathisch!»

Ich schreckte auf und starrte die Frau an.

«Was?»

Zum ersten Mal schien mich Giulia direkt anzuschauen. Sie lächelte mir aufmunternd zu und wartete anscheinend auf einen Hurra-Schrei. Aber der blieb aus, damit hatte ich nicht gerechnet! Wollte ich das überhaupt? Che cazzo sollte ich jetzt tun?

 

Ich betrachte die vor dem Zugfenster vorbeisausenden Felder und frage mich, wie lange es wohl noch bis Zürich dauert. War meine Entscheidung richtig? Es gab viele Gründe, nein zu sagen zu diesem Schritt in ein neues Leben: Nein, weil die Chefs unheimlich waren; nein, weil ich Angst hatte vor der neuen Arbeit; nein, weil ich schon in zehn Tagen anfangen musste; nein, weil das Gehalt mies war; nein, weil mein Italienisch nur ausreichte, um eine Pizza zu bestellen; nein, weil ich nicht wusste, wo ich wohnen sollte; nein, weil es bestimmt viel bessere Angebote gab!

Was hatte ich mir nur gedacht, als ich mich auf diese Anzeige im Internet bewarb? Alles begann mit Fernweh, mit Träumereien von einem Neuanfang; ich verspürte immer öfter ein Kribbeln im ganzen Körper – eine Sehnsucht nach Abenteuer, die mich drängte, Bewerbungen in verschiedene Länder zu schicken. Aber Träumen war einfach, weil in der Traumwelt alles passte. Dieser Traum, der nun wahr werden sollte, fühlte sich wie eine Ohrfeige an – überraschend, schallend und schmerzhaft.

Ich wollte nicht eine von denen sein, die sich ein Leben lang von der heimischen Couch aus an herrliche Orte versetzen und Mutproben überstehen, ohne einen Millimeter das Hinterteil anzuheben. Aber träumen war wie das Paradies, und ich hatte den Eindruck, jemand habe mich plötzlich daraus verbannt und eine Wand der Realität davorgeschoben; ich konnte davor stehen bleiben oder nach einer Tür suchen, hindurchgehen und herausfinden, was mich auf der anderen Seite erwartete.

«INWENIGENMINUTENERREICHENWIRZÜRICHHAUPTBAHNHOF!»

«Ist das Ihr Koffer?» Der Schweizer Schaffner zerrt meinen umgefallenen Koffer von der Tür fort und schubst ihn mir entgegen. Gollum! Mit viel Fleisch auf den Knochen.

«Könnten Sie mir vielleicht einen Gepäckträger zum Waggon rufen?»

«In der Schweiz haben wir keine Gepäckträger!» Das Gesicht des Mannes sieht aus, als sei es beim Erbrechen erstarrt; er mustert mich auf meiner Gesamtlänge von ein Meter fünfundsiebzig.

«Kaufen Sie sich eine bequemere Hose, vielleicht hebt das Ihre Laune», murmele ich und wende mich ab.

«Wie bitte?», schnauzt der Schaffner in meinen Nacken.

«Nichts.»

Seufzend baue ich mich neben der Tür auf und mache mich auf das Schlimmste gefasst: Der Zug hat zwanzig Minuten Verspätung und ich noch genau vier Minuten Zeit, um mit gut hundert Kilo Gepäck das Gleis zu wechseln und den Anschlusszug nach Mailand zu erreichen.

Zürich hat einen Sackbahnhof.

Ich sehe mindestens achtzig Meter Bahnsteig vor mir, den meine Augen nach Gepäckwagen abjagen – vergebens! Mit fünf Gepäckstücken kann ich mich ungefähr einen halben Meter pro Minute vorwärtsbewegen. Ich laufe so schnell wie möglich und verfluche die nicht existierenden Schweizer Gepäckträger mit jedem Schritt. Noch eine Minute, und mein Zug nach Mailand ist weg!

Irgendwie schaffe ich es auf das richtige Gleis; da steht er – mein Direktzug nach Italien. Rücken und Arme sind vor Schmerz fast gelähmt, in meinem Kopf wütet ein Specht. Ich gehe weiter – Fuß vor Fuß. Der Rucksack reißt mich nach hinten, der Gurt der Laptoptasche schneidet in meinen Hals, die Tüte mit dem unberührten Essen wird mit jedem Schritt schwerer. Schweißperlen arbeiten sich von meiner Stirn zu meinen Augen und die Backen hinab, mir ist kalt unter dem durchtränkten T-Shirt. Endlich stehe ich am Zug. Ich atme auf und strecke die Hand nach der Tür aus.

In dem Moment fährt der Zug ab.

Ich starre den roten Rücklichtern nach. Die Koffer zerren an meinen Armen, erschöpft schmeiße ich alles hin. Hundert Kilo knallen zu Boden – ich setze mich genau zwischen sie und schlage auf einen Koffer ein, bis meinen Armen auch das zu viel wird.

«Mist, verdammt noch mal, so ein Dreck!» Auf meinen Schrei hin richten sich viele Augenpaare auf mich. «Das darf nicht wahr sein!» Meine Stimme zittert, und Tränen der Erschöpfung steigen in mir hoch. Was mache ich hier? Ich wünsche mir eine Decke, unter der ich mich verkriechen kann, weit weg von diesem kalten Bahnsteig und den abschätzenden Blicken anderer Passagiere.

Schließlich fließen keine Tränen mehr; ich erwache aus meiner Trance und klaube mein Gepäck vom Boden auf. Schritt für Schritt schleppe ich meine Last zum Informationsschalter am anderen Bahnhofsende, um mein Anschlussticket umschreiben zu lassen.

«Kein Problem, der nächste Zug geht in zwei Stunden. Ein Direktzug nach Mailand fährt heute aber nicht mehr, Sie müssen in Lugano umsteigen.»

«Wie lange habe ich dort?»

«Fünf Minuten.» Der Angestellte sieht, dass ich blass werde.

«Keine Sorge, der Zug wartet auf dem Gleis gegenüber.» Er lächelt mir aufmunternd zu, während er einen mitleidigen Blick auf mein Gepäck wirft. Ich nehme den Gutschein für ein Freigetränk und schiebe meinen Haushalt unter vielen amüsierten Blicken in eine Bar.

Kurz starre ich auf die Koffer, dann auf meine anschwellenden Handinnenflächen. Ich greife nach meinem Handy und der ausgedruckten Wohnungsanzeige für eine Zweizimmerwohnung in Genuas Altstadt. Mit zitternden Fingern wähle ich die Nummer der Maklerin. Laut Internetanzeige ist sie auch sonntags telefonisch erreichbar, was mir sonderbar erscheint – arbeiten die als eher arbeitsscheu und undiszipliniert verschrienen Italiener etwa auch sonntags?

Die Maklerin antwortet nach dem ersten Klingeln. Auf Spanisch, das ich zu veritalienischen versuche, erkläre ich mein Anliegen; fünf Minuten später notiere ich Zeit und Ort für den Besichtigungstermin am folgenden Tag.

Die Weiterfahrt nach Mailand dauert gefühlte vierundzwanzig Stunden: Koffer raus aus dem Zug, rein in den nächsten, bedauernde oder fragende Blicke, über die Gepäckmenge verärgerte Schaffner und Mitreisende sowie schmerzendes Pochen in den Armen. Als ich Mailand erreiche, schleppe ich mich in das Hotel in Bahnhofsnähe, in dem ich ein Zimmer reserviert habe. Der Rezeptionsmitarbeiter begrüßt mich herzlich: «Ihr Zimmer ist im zweiten Stock, Signorina, buona notte!»

«Aufzug?»

«Gibt es nicht, Signorina, rechts um die Ecke finden Sie die Treppe.»

Auf keinen Fall! Meine Schmerzgrenze ist überschritten, und mir ist alles wurscht. Ich gehe in die Knie, öffne einen Koffer, angle eine frische Unterhose und meinen Kulturbeutel heraus, lasse die schweren Gepäckstücke neben dem verwunderten Rezeptionisten stehen und krieche hoch in den zweiten Stock.

Um sechs Uhr schrillt der Wecker und reißt mich aus einem traumlosen Tiefschlaf zurück in meinen realen Albtraum. Meine Glieder und Rücken schmerzen von der zu weichen Matratze, ich drehe eine Schulter nach hinten und verziehe das Gesicht bei dem gefährlichen Knacken. Durch die dunkelroten Vorhänge fällt das erste Tageslicht. Ich sehe mich in dem spärlich eingerichteten Raum um und entdecke an der linken Wand ein abstraktes Gemälde, das einen Strand bei Sonnenuntergang darstellen soll. Der Gedanke, dass ich nach der ganzen Qual tatsächlich am Meer leben werde, hilft meinem Körper, sich aus der Umklammerung der Matratze zu lösen.

Wenig später stehe ich in den stinkenden Klamotten vom Vortag an der Rezeption. «Buongiorno!», begrüßt mich eine schwarz gelockte Schönheit hinter dem Tresen und strahlt. Von wegen! Zwei weitere Stunden Zugfahrt nach Genua erwarten mich.

«Valigie, per favore!» Ich deute auf meine Koffer, die der Empfangsmitarbeiterin bis ans Kreuz reichen. Ihr Lächeln verschwindet, als sie an dem schwarzen Koffer zieht und er sich nicht einen Millimeter bewegt. Ein flehender Augenaufschlag weckt mein Mitgefühl, und ich wuchte die beiden Ungeheuer selbst hinter dem Tresen hervor, der bei dem Unterfangen einen Teil seiner hölzernen Kante lassen muss. Weiter geht’s!

Nach einer weiteren anstrengenden Zugfahrt – eingepfercht in ein enges Abteil, in dem meine Koffer keinen Platz haben und daher auf dem Gang bleiben müssen, was wiederum den alle halbe Stunde vorbeikommenden Snackverkäufer stört – erreiche ich Genua.

Am Bahnhof holt mich mein neuer Chef Massimo ab, und wir fahren zu einer Bekannten des Ehepaars, die mich für ein paar Tage aufnehmen kann. Die große Wohnung liegt schön in den Hügeln hinter Genua, im vierten Stock eines großen Palazzo – Aufzug wieder Fehlanzeige!

So nett mich Angela, eine Frau mittleren Alters mit Pumuckl-Haaren, auch aufnimmt, ich kann ihre Gastfreundschaft nur für kurze Zeit in Anspruch nehmen. Aufgeregt denke ich an meinen Termin mit der Maklerin am Nachmittag. Trotz meiner Müdigkeit kann ich es kaum erwarten.

Die Maklerin hat mich zu der zentralen Piazza Matteotti bestellt. Auf dem Weg dorthin malt meine Phantasie in den buntesten Farben Entwürfe von meinem neuen Zuhause in Italien:

Ich sehe mich eintreten in ein großes, helles Dachzimmer. Schräg fallen die Wände zu den Seiten ab, rechts thront ein Esstisch mit vier Stühlen. Auf der anderen Seite lädt ein breites blaues Sofa zum Hinflegeln ein. Der flauschige Teppich in der Mitte des Zimmers fühlt sich an wie weiches Katzenfell.

Ich lächle und gehe auf das Fenster zu, öffne es und staune: Das Meer ist nur wenige Meter von meinem Haus entfernt. Tief atme ich die salzige Luft ein, berühre die hölzernen Fensterläden und freue mich darauf, sie jeden Abend zuzuziehen.

Hinter der Essecke gibt es eine kleine Einbauküche mit allem, was ich für meine bescheidenen Kochkünste brauche. Daneben führt eine Tür ins Schlafzimmer; ich gehe hinein und bewundere das große Doppelbett. Ein riesiger Kleiderschrank wartet auf die Ladung meiner Koffer. Auch dieses Zimmer ist hell, mit Meeresblick natürlich …

In einem schwarzen, halblangen Kostüm, den sonnenbebrillten Blick auf die Uhr gerichtet, erwartet mich die Maklerin vor der Kirche an der Piazza Matteotti. Sie schleudert mir einen Schwall Worte entgegen, in dem ich nach «Buongiorno» den Faden verliere. Auf ihren Pfennigabsätzen trippelt sie los.

«Allora, ich zeige Ihnen zuerst die Wohnung, für die Sie die Anzeige im Internet gefunden haben. Mittlerweile ist in dem Haus noch eine möblierte Wohnung frei geworden, einen Stock höher. Sie ist ein bisschen größer und kostet nur fünfzig Euro mehr pro Monat.» Ich verstehe «Wohnung frei» und «fünfzig Euro» und bin begeistert. Schnell befinden wir uns inmitten des berüchtigten Gassengewirrs von Genuas ältestem Stadtteil.

Es stinkt. Ich halte den Atem an. Hauptbestandteile der Note sind Hundekot und Urin, Feuchtigkeit, die sich tief in die alten Gemäuer geschlichen hat, und vergossener Alkohol. Das ist also der größte erhaltene Altstadtkern Europas, wie im Reiseführer zu lesen war. Dunkelheit und Verfall umklammern die kleinen Straßen und ihre fleckigen Gebäude, an denen der Putz abbröckelt. Dazwischen mischt sich eine kaum wahrnehmbare Brise mit dem Duft nach frisch gewaschener Wäsche, die zwischen Hauswänden tropfend und schlapp über den Gassen hängt. Erbrochenes vom Wochenende klebt noch in manchen Ecken und lässt darauf schließen, was die Genueser vor dem Diskoabend zu sich nehmen. Mitten auf dem Weg liegt ein zerbrochenes Ei. Eine Möwe versucht, aus einer Durchfallpfütze einen matschigen Hamburger zu retten. Wäscheklammern, Hundehaufen und Müll aller Art zieren die Straßen wie Konfetti. Ich lege einen unfreiwilligen Slalom ein, um den übelsten Bodenbelägen auszuweichen.

Zwei Nachbarinnen schreien sich aus gegenüber gelegenen Häusern an. Aus einem anderen Fenster brüllt Musik: Che sarà, sarà. Ein Mann krächzt dazu – von Rhythmus oder Tonlage hat er noch nie gehört.

Wir erreichen eine ansteigende Gasse. ‹Vico Vegetti› steht auf dem Straßenschild, ‹merda› in Großbuchstaben auf der ersten Hauswand – die Künstler dieser Aufschrift haben die Gedanken vieler vorbeikommender Passanten erraten. Über der ganzen ‹Scheiße› wacht an einer Fassade eine Madonnenfigur. Lächelnd, die Lippen entschuldigend zusammengepresst, sieht sie auf mich hinab. Aus einem höheren Stock des gleichen Hauses fliegt zwischen frischer Wäsche hindurch verschimmeltes Brot, das um ein Haar auf meinem Kopf landet. Eine Heerschar hungriger Tauben stürzt sich dankbar darauf.

Die Maklerin macht halt vor einer massiven grünen Tür, auf die ein großes weißes A geschmiert ist. Wir treten in den Hausflur. Ich schaue und schlucke: Die unebenen Treppenstufen sind anscheinend nicht mehr gereinigt worden, seitdem das Gebäude im siebzehnten Jahrhundert erbaut wurde. Der Putz bröckelt überall von den Wänden, bunte Kabel hängen heraus. Ich bemühe mich um eine tapfere Miene und folge der Maklerin.

Die erste Wohnung, die sie mir zeigt, bekommt so viel Tageslicht wie ein verscharrter Sarg. Eine schwache Glühbirne in der Wohnküche beleuchtet einen zerschlissenen braunen Sessel, einen mit Rostflecken bedeckten Herd und eine Waschmaschine. «Die Waschmaschine ist leider kaputt, soll aber in den nächsten Tagen repariert werden. Das Schlafzimmer ist oben.» Die Maklerin verweist auf Treppenstufen, von denen jede zweite zerbrochen ist. Die Stufen führen zu einer winzigen Kammer mit Bett. Ich gehe rückwärts wieder aus der Wohnung hinaus. Die Frau führt mich einen Stock höher.

«Buongiorno e benvenuta!», begrüßt mich in der nächsten Wohnung ein älteres Ehepaar, offenbar die Eigentümer. Mein erster Blick bleibt an den roten Türen haften und an drei Bildern mit einem Leuchtturm, der einem schäumenden Meer standhält. Auch diese Wohnung ist düster, und die spärliche Einrichtung steht lieblos verteilt, darunter zwei Sessel, zwei Stühle und ein quadratischer Holztisch mit dünnen Beinen. Ich öffne den Kühlschrank – ein Geruch nach faulem Fisch und Käsefüßen strömt mir entgegen. Im Inneren sehe ich lange schwarze Haare. Bewahrt man in Italien Leichenteile im Kühlschrank auf?

Ein Blick aus dem Fenster in einen kleinen Hinterhof lässt mich erschrecken: Unter eine Mischung aus herabgefallenen Klamotten und Wäscheklammern mischen sich Essensreste, Kinderspielzeug und – was ist das, etwa eine verwesende Taube? Gequält erwidere ich das schiefe Lächeln des alten Mannes, dessen linkes Auge zuckt. Seine Fingerspitzen berühren meinen Arm, er führt mich ins Schlafzimmer. Es ist etwas größer als die Toilette meiner Wohnung in Deutschland. Ein Doppelbett steht mitten im Zimmer, ein Ikea-Schrank mit einer zur Hälfte aus der Angel gebrochenen Tür an der Wand, die Gardine liegt auf dem Bett.

Als Nächstes folgt das Badezimmer – mit Abstand das größte Zimmer der ganzen Wohnung, wobei das Bidet den meisten Platz einnimmt. Mein Blick schweift durch das Bad, bleibt am Schimmel an der Decke und an den Wänden hängen, am abfallenden Putz.

«Meine Frau und ich, wir haben vier Kinder. Einer unserer Söhne wohnt in Luxemburg!» Der alte Mann plaudert auf Höhe meiner Schultern vor sich hin. Ich verstehe wenig, nicke aber und werfe das ein oder andere «Aha», «davvero» und «che bello» ein. Beim Hinausgehen fällt mein Blick nochmals auf den vom wilden Meer umtosten Leuchtturm, auf die einladenden roten Türen. Ich erbitte mir einen Tag Bedenkzeit und setze mich in ein Café vor der Kirche an der Piazza Matteotti. In meinem Hals kratzt es. Bloß keine Erkältung! Ich bestelle einen Cappuccino. Dann rufe ich meine Mutter an, dabei beobachte ich Sanitäter, die eine Krankentrage mitten auf dem Platz stehen lassen und weglaufen. Italien ist merkwürdig!

Ich denke daran, dass ich in fünf Tagen in der Sprachschule anfangen muss. Es bleibt also kaum Zeit. Nun, irgendwie kann man bestimmt was aus dieser Wohnung machen – wenigstens hat sie rote Türen und Bilder, die meine eigene Wahl sein könnten. Und wer weiß, ob andere möblierte Mietwohnungen in der Innenstadt zum Preis von fünfhundert Euro pro Monat nicht noch schlimmer sind! Fünf Minuten später rufe ich die Maklerin an: «Va bene, ich nehme die Wohnung!»

An: Susanne Reimann

Betreff: Stress!

Liebe Susi,

so, du kannst bald kommen: Ich habe eine Wohnung gefunden! Sie ist ganz anders, als ich sie mir vorgestellt hatte, aber ich versuche, das Beste draus zu machen. Später mehr dazu. Jetzt bin ich erst mal krank – habe eine fette Erkältung und kann kaum noch schlucken! Sicher wegen dem Stress. Die ersten drei Tage hier in Genua waren total chaotisch.

An der Sprachschule soll ich in so vielen Kursen meiner Kollegen zugucken wie möglich. Ich habe total Angst, dass ich den Job hier nicht schaffe, dass das überhaupt nichts für mich ist. Was, wenn die Schüler nichts kapieren oder mich blöd finden?

Und dann gibt es so viel bürokratischen Kram zu erledigen! Du wirst lachen, wenn ich dir von meinen Abenteuern erzähle: Gang eins war gestern die Agenzia delle Entrate, das Einwanderungsbüro, um die Steuernummer zu beantragen, die man in Italien für alle offiziellen Anliegen braucht. Die Agenzia öffnet gegen 9 Uhr, ich war schon eine halbe Stunde früher da – zusammen mit ungefähr 30 anderen Leuten aus aller Welt. Bis 9 waren es schon doppelt so viele.

Ich wurde in eine der vielen Schlangen geschubst, an deren Ende mich ein Nummernautomat erwartete. Als ich meine Nummer zog, stand unten so ein komischer Satz: «Vor Ihnen warten noch 107 Personen.» Ich dachte, die hätten sich verdruckt. Aber Fehlanzeige, da waren tatsächlich 107 Leute vor mir dran, und ich habe 90 Minuten gewartet! Das nächste Mal nehme ich einen Rucksack voller Bücher mit, dann kann ich wenigstens den Unterricht vorbereiten.

Heute war ich bei der Krankenkasse, muss mich ja für Italiens Gesundheitssystem registrieren lassen. Da stand ich wieder vor einem Kasten mit wirr beschrifteten Knöpfen. Ich habe mehrmals auf einen gedrückt, wo was von «Anmeldung Ausländer» draufstand, aber da kam keine Nummer raus. Als ich nachgefragt habe, meinte ein Typ: «Neueinschreibungen für Ausländer? Kommen Sie am Montag wieder. Wir schließen den Schalter um 11 Uhr, und morgen ist ganz geschlossen.» Es war gerade 10 Minuten nach 11! Ich hätte fast geheult und hoffe nur, dass die Erkältung nicht noch schlimmer wird und ich keinen Arzt brauche. Übermorgen, am Samstag, soll ich auch schon meinen ersten, vierstündigen Deutschkurs leiten. Wie mir davor graut! Drück mir mal die Daumen! Ich halte dich weiter auf dem Laufenden und umarme dich.

Deine Sonja

Am Freitag kann ich in meine neue Wohnung ziehen. Den ganzen Vormittag überflutet monsunartiger Regen die Stadt, Blitze durchzucken den Himmel, und alle paar Minuten kracht es. Ich muss dreiundneunzig Minuten auf das Taxi warten, das mich von meiner bisherigen Bleibe in die Altstadt bringt. Der Fahrer grunzt zur Begrüßung und schmeißt mich an der Piazza Matteotti raus, da die Altstadtgassen von Autos so befahrbar sind wie Autobahnen von Flugzeugen. Noch einmal durchlebe ich auf den fünfhundert Metern von der Piazza Matteotti bis Vico Vegetti die Kofferodyssee vom Züricher Bahnhof. Zum Glück muss ich das Gepäck dieses Mal nur in den zweiten Stock hieven.

Francesco, mein neuer Vermieter, und die Maklerin stehen bereits an der geöffneten Tür. «Benvenuta, che bello, dass du unsere neue Mieterin bist!» Der alte Mann strahlt mich mit seinem schiefen Mund an.

Ich bekomme einen fünfseitigen Mietvertrag, von dem ich neben meinem Namen und Geburtsdatum nur ‹Genova› und ‹Italia› verstehe. Egal – ich unterschreibe. Francesco führt mich erhobenen Hauptes ins Schlafzimmer, wo er die Gardine mittlerweile aufgehängt hat, und nicht nur das: Hinter dem Bett flattert ein leichter Vorhang in romantischem Tiefrot, der die nackte, abbröckelnde weiße Wand um ein Vielfaches verschönert.

«Habe ich extra für dich aufgehängt! Ich dachte, du findest hier bestimmt il grande amore, einen deiner Schüler, einen Ingenieur, und dann habt ihr ein schönes Zimmer.»

«Wieso denn gerade einen Ingenieur?» Ich muss lachen.

«Boh, ho questa idea.» Er zwinkert mir mit seinem nicht zuckenden Auge zu. Sein Lächeln macht mir Hoffnung und Mut. Ich bin zwar nicht auf der Suche nach amore, aber Leute kennenlernen und Freunde finden steht ganz oben auf meiner Liste.

Meine erste Nacht in der neuen Wohnung ist unruhig – ich kämpfe mit meiner ständig laufenden Nase und wache um sieben Uhr mit Fieber auf. Auch das noch! Ich fühle mich, als wäre ich durch eine Spaghetti-Maschine gepresst worden. Daran, wie ich es zur Sprachschule schaffe, erinnere ich mich später nicht mehr.

Ich habe keine Ahnung vom Unterrichten, und die Schüler haben keine Ahnung von Deutsch. Warum muss Giulia mir auch gleich einen Anfängerkurs zumuten? Die Stille im Raum ist wie im Horrorfilm, wenn die Zuschauer mit angehaltenem Atem zusehen, wie sich der Mörder seinem Opfer nähert. Ich sehe in verständnislose, verschüchterte Gesichter und ringe mit meiner eigenen Erschöpfung und Nervosität.

‹Guten Morgen. Ich heiße Sonja›, schreibe ich an die Tafel.

«Guuuuten Morrrgen. Isch aise Stefano», wagt sich ein junger Mann mit einer tiefen Stimme hervor, der links von meinem Pult sitzt und ungefähr mein Alter haben muss.

«Isch haisse Isabella», meldet sich daraufhin ein Mädchen und reckt ihre Finger in die Höhe, an deren Enden lange, künstliche Nägel in Pink und Schwarz funkeln. Die Blicke aller männlichen Schüler, die sich an die langhaarige Blondine heften, überdauern die vier Sekunden ihrer Antwort.

Auch die anderen Teilnehmer stellen sich vor, darunter zwei Jugendliche, ein älterer Anwalt mit Weihnachtsmann-Bart, eine Frau um die vierzig, eine junge Russin und als Letzter ein junger Mann, der mich seit meinem Eintreten verstört ansieht; er will ein Zittern seiner Hände verbergen, indem er ein Handgelenk mit der anderen Hand umfasst.

«I … iiisch äysse Emanuele.»

Stefano und der Anwalt Fabio antworten während der ersten Stunde dank ein paar deutscher Vorkenntnisse auf fast alle meine Fragen und unterstützen mich bei der mühsamen Arbeit, Aussprache und Grammatikregeln in meinem kaum existenten Italienisch zu erklären. Als ich nach der Hälfte des Kurses die fünfzehnminütige Pause einläute, beginnt mein Herz, ruhiger zu schlagen. Meine Handinnenflächen sind feucht, und das T-Shirt unter meinem Pulli fühlt sich an, als hätte ich es soeben aus der Waschmaschine gezogen.

«Scusa.» Ich fahre zusammen und drehe mich um. Vor mir steht Emanuele, der sich locker hinter mir verstecken könnte. Er betrachtet mich mit dem Blick eines Menschen, der abends daheim ins Bett gegangen und am nächsten Morgen auf dem Mars aufgewacht ist.

«La prossima volta arriverò tardi, …»

Ich zeige auf die Tür gegenüber unserem Kursraum – Emanuele schaut die Tür an, dann mich. Was gibt es daran nicht zu verstehen? Giulia und Massimo haben zwar versäumt, die Toilettentüren mit den gebührenden Figuren in Rock oder Hose zu versehen, aber wenn ich ihm die Richtung deute, müsste das doch klar sein, oder?

«Da, bagno, da!»

«No, non cerco il bagno …»

Mist! Was will er denn?

«Più lento, per favore!» Nach drei weiteren Versuchen glaube ich zu kapieren, dass er zum nächsten Kurs etwas später kommt und sich dafür vorab entschuldigen möchte. Ich nicke kurz und betrachte konzentriert das Buch vor mir, als Emanuele noch immer keine Anstalten macht, mich in Ruhe zu lassen. Schließlich dreht er sich langsam um. Ich atme auf.

Sobald der Unterricht um zwölf Uhr beendet ist, schleppe ich mich nach Hause zurück, wo die geöffneten, aber noch unausgepackten Koffer und jede Menge Krempel herumliegen. Ich stolpere über eine Tüte, fluche, werfe mich auf das halb bezogene Bett und heule. Warum habe ich bloß so lange davon geträumt, ganz allein im Ausland neu anzufangen?

Ich bin krank, in meinem Kopf hämmert es, meine Nase läuft, mein Hals brennt, und vor meinen Augen dreht sich mein winziges Schlafzimmer. So gern hätte ich ein bisschen Zeit, um gesund zu werden und mich an mein neues Umfeld zu gewöhnen. Ich möchte Genua erkunden, ans Meer gehen und meine erste eigene Wohnung herrichten. Doch ich habe keine Zeit – und im Moment auch keine Kraft. Kurzum: Sechs Tage nach meiner Ankunft in der neuen ‹Heimat› geht es mir beschissen, und ich hasse mein neues Leben. Ich hasse Genua und Italien überhaupt – warum habe ich mir das angetan? Warum liege ich hier einsam und heule in mein noch immer unbezogenes Kissen?!

Nach mehrstündigem Schlaf rappele ich mich am späten Samstagnachmittag auf, um die neu gekaufte Stereoanlage betriebsfähig zu machen. Das Radio würgt Krächzen und Kratzen hervor, also lege ich eine CD von Eros Ramazotti ein und fühle mich gleich besser – und so richtig italienisch! Dann teste ich meinen neuen USB-Stick, der meinen Computer mit dem Internet verbinden soll. Nichts passiert. Die Verbindung ist so tot wie die unten im Hinterhof verwesende Taube, die ich als Erstes sehe, wenn ich das Fenster öffne. Panik!

Auch das Handy funktioniert nur, wenn ich mich weit aus dem Fenster lehne – die Nachbarn rings um den muffigen Innenhof hängen genauso mit ihren Telefonen in der Luft. Das Stimmengewirr in verschiedenen Sprachen zwischen den feuchten, brüchigen Gemäuern erinnert stets an ein Fußballstadion vor Spielbeginn: Verständlich macht sich nur, wer am lautesten schreit – die Italiener und die Bewohner arabischer Herkunft. Alle anderen Nationalitäten müssen sich mit den hinteren Rängen zufriedengeben.

Es ist immer noch sommerlich warm und schwül in Genua, und ich sitze auch am Sonntag mit meinem Computer am Küchentisch, kurz davor, ihn aus dem Fenster zu werfen. Es steht offen, und ich lausche den Schreien aus der Wohnung über mir – lauthals streitet sich ein Paar auf Italienisch, ein Hund kläfft im Takt dazu, dann kommen Stimmen von Kindern und Jugendlichen hinzu:

«Cazzo, du verdammter Hurensohn, hast du beim cazzo deiner Schwester, der schmutzigen Nutte, denn Schinken auf den Augen, minchia?»

«Halt die Schnauze und geh!»

Meine Augen weiten sich, während ich mit dem Wörterbuch auf dem Schoß das Streitgespräch nachvollziehen will – unter ‹minchia› werde ich sofort fündig, es handelt sich um eine Variation des Wortes ‹cazzo›, jedoch sizilianischer Herkunft. Was es mit den ganzen Schwestern auf sich hat, ist mir nicht klar, doch lerne ich ab diesem Tag wirklich Italienisch. Ich entscheide mich gegen den Kauf eines Fernsehers – ein abwechslungsreiches und zugleich lehrreiches Unterhaltungsprogramm kann ich in dieser Wohnung auch gratis haben! Plötzlich höre ich zwischen dem Geschrei den Laut eines Schiffshorns in der Ferne.

«Schiffshorn! Meer!»

Mit einem Schlag wird mir bewusst, dass Genuas Hafen nur wenige Meter von meiner neuen Wohnung entfernt liegt. Es ist immer mein Traum gewesen, am Meer zu leben; in dem Trubel und Stress der letzten Tage habe ich fast vergessen, dass ich mir diesen Traum erfüllt habe! Ich knalle den Laptop zu, beschließe, das Fieber zu ignorieren, und mache mich auf den Weg zum Hafen. Die warme Sonne auf meinem Gesicht wirkt wie die erste Mahlzeit nach einer langen Hungersnot.

«Buongiorno!», strahlt mir der junge Verkäufer in der zum Glück auch sonntags geöffneten Focacceria in der Via San Lorenzo entgegen. «Che bel tempo oggi, eh?» Lächelnd stimme ich ihm zu, dass das Wetter wunderschön ist. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen, als ich den Duft nach Focaccia aus Käse, Oliven, Tomaten und anderen Köstlichkeiten aufsauge. «Danke, dass meine Nase wieder funktioniert!», sende ich ein schnelles Gebet zum Himmel.

«Probieren Sie diese Focaccia al formaggio, sie ist gerade frisch aus dem Ofen gekommen.» Er überzeugt mich – ich gönne mir zwei Stücke.

«Altro?», fragt er hoffnungsvoll. Ich schüttele den Kopf.

Mit der duftenden Focaccia in der Tasche schlendere ich die Via San Lorenzo hinab zum Hafen. In zwei Schaufenstern beschaue ich die ausgestellte italienische Wintermode – elegante Lederstiefel mit hohen oder flachen Absätzen, eine Menge Ponchos und lange Schals. Die Preise von achtzig Euro aufwärts lassen mich allerdings schnell weitergehen.

Am Hafen ist Flohmarkt. Klamotten, Hausrat, Briefmarken, Bücher und jede Menge anderer Plunder verteilen sich über die Tische; Kunden und Käufer feilschen um die Preise. Ich schlendere an den Auslagen entlang und nehme ein paar alte Kinderbücher auf Italienisch in die Hand – könnte ich damit mein Sprachniveau, das dem eines Säuglings entspricht, auf das einer Vierjährigen pushen? Plötzlich fällt mein Blick auf ein Buch mit einem zerknickten Umschlag: 101 Dinge, die man in Genua zumindest einmal im Leben machen sollte. Ich durchblättere die zum Teil mit Kaffee- oder Fettflecken dekorierten Seiten und bin begeistert: Das Buch beschreibt auf Englisch spannende und dazu wenig touristische Attraktionen rund um meine neue Heimatstadt. Ohne zu zögern, ergattere ich das Buch für zwei Euro und setze mich zufrieden auf eine der Bänke bei den Ausflugsbooten.

«Partenza per Pegli ore 14!», brüllt es aus einem Lautsprecher. Ich bleibe sitzen. Heute wünsche ich mir nur Sonne auf meinem Gesicht. Auf der rechten Seite des alten Hafens spielt eine Gruppe Peruaner Panflötenmusik. Die Töne rieseln auf mich ein, während ich meine Focaccia al formaggio esse, die Schiffe im Hafen betrachte und die Sonne, die sich auf dem Wasser spiegelt. Auf dem Meer!

 

Am Montag schnappe ich sofort nach dem Frühstück meine Tasche und gehe das Projekt Krankenversicherung wieder an. Diesmal spuckt das Gerät der tausend Nummern etwas aus: Ich betrachte den Zettel und lasse den Blick über den unteren Rand schwenken. ‹Con Lei aspettano altre 97 persone›. Stöhnend betrachte ich den Wartesaal, wo es von alten Leuten und vielen ungeduldigen Berufstätigen wimmelt. Einige sind eingeschlafen, andere starren die Wand an, manche lesen. Ich setze mich in eine Ecke und ziehe ein Lehrbuch aus meinem Rucksack – Zeit für Unterrichtsvorbereitungen!

Als ich an der Reihe bin, überfliegt der Mitarbeiter, der aussieht wie ein unrasierter, von Haarausfall geplagter George Clooney, meinen Stapel Papiere:

«Pass, Kopie vom Pass, Arbeitsvertrag, Kopie vom Arbeitsvertrag, Codice Fiscale, Kopie vom Codice Fiscale, Mietvertrag, Kopie …»

Ich trommele mit den Fingern auf den Schreibtisch. Der Mann sieht auf.

«Tutto bene, fehlt nur noch die Steuermarke.» Ich starre ihn an.

«Che?»

«Die Steuermarke von 14,62 Euro!» Der Beamte runzelt die Stirn, kritzelt das Wort und den Betrag auf ein Stück Papier und reicht es mir. «Sie gehen zum Tabakladen und besorgen die Steuermarke, dann kommen Sie zu mir zurück – Sie brauchen nicht noch mal eine Nummer zu ziehen.»

«Tabakladen?» Ich glaube, nicht richtig gehört zu haben.

«Tabakladen!» Er winkt mich weg.

Ich stehe auf – ist mein Italienisch so schlecht oder ist dieses Land verrückt?

Schüchtern zeige ich dem Verkäufer im Tabakladen den Zettel und warte, dass er mich auslacht. Er lacht nicht, stattdessen greift er in eine Schublade neben der Kasse und legt einen weißen Sticker mit schwarzer Aufschrift vor mich.

«14,62 Euro.»

Ich bezahle und betrachte den Aufkleber misstrauisch.

Zurück bei der Krankenkasse, stelle ich mich in Sichtweite des George-Clooney-Verschnitts hin und warte. Er hält sein Versprechen und winkt mich heran, sobald er frei wird; grinsend nimmt er die Steuermarke entgegen und klebt sie auf meinen Antrag.

«Jetzt müssen Sie einen Hausarzt aussuchen, und wir tragen ihn in Ihre vorläufige Krankenkassenkarte ein.»

«Che?» Wie soll ich auf die Schnelle den Arzt meines Vertrauens wählen, wenn ich gar keinen kenne? Der Beamte versteht, was ich meine:

«Nach der Postleitzahl natürlich!»

Ich schaue den Mann mit offenem Mund an. Mitleidig lässt er sich herab, mir das italienische Gesundheitssystem näher zu erklären.

«Allora! Es ist am besten, Sie nehmen einen Arzt, der seine Praxis in Ihrer Nähe hat: Wenn Sie krank werden, gehen Sie am gleichen Tag dorthin und lassen sich krankschreiben; die Krankschreibung schicken Sie sofort an Ihren Arbeitgeber und an die Krankenkasse. Die Tage danach dürfen Sie nicht mehr aus dem Haus gehen, oder nur, wenn Sie zum Arzt oder zur Apotheke müssen, und selbst darüber brauchen Sie eine Bescheinigung!»

Meine Augen werden immer größer. «Und warum darf ich nicht mehr aus dem Haus gehen?»

«Sobald die Krankenkasse Ihre Krankmeldung bekommen hat, schickt sie einen Mitarbeiter bei Ihnen zu Hause vorbei. Der soll überprüfen, ob Sie wirklich krank und nicht in den Urlaub gefahren sind. Capito?» Der Mann schmunzelt.

 

Am Samstag sitze ich in dem einzig freien Sessel in meinem Zimmer, dessen Farbe wie die der Türen tiefrot ist; auf dem anderen Sessel liegt ein geöffneter Koffer, aus dem verknotete Socken und Kabel quellen. Den Tisch und die Stühle nehmen Hosen, T-Shirts, Bücher und Tüten in Beschlag – es ist an der Zeit, etwas zu tun! Ich zerre einen Koffer ins Schlafzimmer und räume die Klamotten in den wackligen Ikea-Schrank; der zweite Koffer folgt.

Dann widme ich mich dem Badezimmer, lagere alle Kosmetika dort ab und lade schließlich die Unmenge an neuen Unterrichtsmaterialien auf die zwei Bücherregale im Wohnzimmer. Das einfache Brett gegenüber der Eingangstür neigt sich sofort wie der schiefe Turm von Pisa, und ich packe die Bücher schnell auf das stabiler wirkende Regal neben dem geöffneten Fenster. Es ist so dunkel in der Wohnung – regnet es etwa? Ich lehne mich hinaus: strahlender Sonnenschein!

Das gute Wetter lockt mich ins Freie – ich werde endlich einen Großeinkauf tätigen! In der Nähe der Piazza de Ferrari ist ein Supermarkt. Dort angekommen, füllt sich der Einkaufwagen schnell mit verschiedenen Pasta-Sorten und Soßen, Obst, Gemüse, großen Kekstüten von Mulino Bianco, Brot, Aufschnitt, Dutzenden von Joghurts, Wasch- und Spülmitteln, Schwämmen, Tesa, Ordnern, Stiften, Taschentüchern, Eiern, Gewürzen und Milch. Müsli könnte ich noch gebrauchen und ein paar Flaschen Wasser, so schwer ist das ja alles nicht. Ich verlasse den Laden mit zehn Tüten, von denen jede ungefähr vier Kilo wiegt; habe ich mich übernommen? Alle sechs Schritte muss ich innehalten und durchatmen. Meine Arme schmerzen und wecken ungute Erinnerungen an meinen einsamen Umzug vor einer Woche.

«Ciao, bella!» Ein Glatzkopf mit Bierbauch und Goldkette um den Hals steuert auf mich zu.

«Leck mich!»

Wütend packe ich die Tüten und schleppe mich weiter. An der Piazza de Ferrari fängt es an zu regnen. Verdammtes Küstenwetter, das von einer Minute zur anderen umschlägt! Endlich bin ich in den Gassen. Es kracht, und die Last in meiner rechten Hand wird leichter. «Verdammter Mist!» Joghurts, Milch, Obst und Waschmittel rollen auf dem schmutzigen Boden in Richtung Freiheit. Ich knalle sämtliche Tüten in die Gosse und hetze einem Vanillejoghurt nach, der sich vom Acker machen will. Als alles auf die noch durchhaltenden Tüten verteilt ist, schnaufe ich weiter.

«Posso aiutarla?»

Ich zucke zusammen. Helfen? Ich sehe in das vernarbte Gesicht eines älteren Mannes, der wie so viele Arbeitslose und illegale Einwanderer in Italien auf der Straße Regenschirme verkauft. Er hat mindestens zehn Schirme am Arm hängen.

«Würden Sie mir helfen, ein paar von den Tüten diese Gasse hochzutragen?»

Der Mann lächelt. «Nessun problema, Signorina!»

Nach fünf Minuten sind wir vor meinem Haus angekommen. Ich könnte den Mann umarmen.

«Das ist für Sie.» Ich halte ihm einen Fünf-Euro-Schein entgegen.

Der Mann zieht mit gerunzelter Stirn weiter, auf den Geldschein starrend, während ich die Tüten in den Hausflur zerre. Zwei Mal laufe ich die Treppen rauf und runter, bis alles in meiner Wohnung ist. Der Kühlschrank stinkt, doch mittlerweile ist mir das egal – ich kann mich nicht um alles kümmern!

Ich trete ins Schlafzimmer. Die von Francesco angebrachte Fenstergardine liegt in einem traurigen Häuflein auf dem Boden – der Stangenhalter ist aus der feuchten Wand gebrochen. Ich hole tief Luft, suche in den neun Einkaufstüten eine Rolle Packband und klebe die Gardine samt Stange an die Wand – fürs Erste sollte das halten.

Jetzt möchte ich an meine beste Freundin in Deutschland schreiben und Dampf ablassen, aber der USB-Stick zeigt keine Verbindung an – obwohl er am vergangenen Abend schwache Lebenszeichen von sich gegeben hat! Ich probiere es noch einmal, wieder und wieder. Nach zwanzig Minuten machen sich die ersten Verbindungsstriche auf meinem Computer bemerkbar – das reicht aus, um innerhalb von zehn Minuten eine Seite zu öffnen. Entnervt klappe ich den Laptop wieder zu. Ich werde in Italien etwas lernen müssen: sehr, sehr viel Geduld – pazienza!

 

Auch mein neuer Arbeitsplatz verlangt Geduld, denn es bleiben viele Fragen offen. Außer mir arbeiten zwei junge Frauen an der Sprachschule: Hannah aus Dublin, die mit ihrer deutschen Mutter jahrelang in Berlin gelebt hat, wie ich Lehrerin für Englisch und Deutsch, und Audrey aus Frankreich, die Französisch und Spanisch unterrichtet. Beide sind schon seit Jahren in Genua und haben sich in Einheimische verliebt; auf meine Frage, wie ihnen die Arbeit an der Schule gefalle, wirken sie geschäftig und wechseln schnell das Thema. Ich sehe meine Kolleginnen meistens rennend, oder aber sie wüten am Kopierer – dem Aussehen nach eines der ersten in Italien hergestellten Modelle. Jedes Mal entscheide ich mich, meine Fragen unausgesprochen zu lassen und mich allein durchzuwurschteln.

In der zweiten Arbeitswoche merke ich, wie mir das langsam besser gelingt: In meinem Deutsch-Anfängerkurs am Dienstag fragt mich Luca, der ständig alles mitschreibt, nach einer Grammatikregel – und ich weiß nicht, was ich ihm antworten soll.

«Vediamo …», ringe ich um Zeit und schreibe den problematischen Satz an die Tafel. Die Schüler studieren jedes Wort.

«Wer erkennt eine Regel?»

Nach kurzem Zögern meldet sich Antonio, der neben Luca sitzt, und macht einen Vorschlag. Ich überlege und bin beeindruckt: Das könnte es sein!

«Genau», schmunzele ich und alle sind zufrieden, selbständig die Regel erraten zu haben. Dank dieser kleinen Tricks schlägt mein Puls zu Beginn jeder Unterrichtsstunde schon etwas entspannter. Veni, vidi, vici! Was Cäsar konnte, das schaffe ich auch!

Nach dem Unterricht beschließe ich, dass ich endlich ans Meer muss, und blättere in meinem frisch erworbenen Flohmarkt-Buch. Der kleine Ort Nervi unweit von Genua ist berühmt für seinen Steinstrand und eine lange Meerespromenade – ganz nach meinem Geschmack! Gleich morgen will ich hinfahren.

Wie mir ein Blick auf den Fahrplan an Genuas zweitgrößtem Bahnhof Brignole zeigt, braucht ein Regionalzug bis Nervi fünfzehn Minuten – ich warte zwanzig Minuten, bis die nächste Bahn eintrudelt. In Nervi angekommen, führt ein kurzer steiler Weg neben dem Bahnhof zu der langen Promenade entlang der Küste. Schon von weitem rahmt ein kleiner Tunnel den Blick auf das in der Sonne funkelnde Meer. Ich stoße einen Schrei der Begeisterung aus.

Der Stress der vergangenen Wochen fällt von mir ab wie ein Albtraum beim morgendlichen Klingeln des Weckers. Bis zum Horizont erstreckt sich vor mir das Mittelmeer, auf dessen nahezu glatter Oberfläche die Sonnenstrahlen glitzern. Palmen säumen Teile der Promenade, und unebene Klippen fallen steil zum Meer ab. In der Ferne erhebt sich die Halbinsel von Portofino aus dem tiefblauen Wasser. Es gibt hier so viel zu entdecken! So viel Neues, so viele tolle Orte am Meer, und ich habe alle Zeit der Welt, sie zu erkunden. Auch wenn die Chefs mich mit Arbeit zuschütten und ich sogar samstagvormittags unterrichten muss, wird immer noch Zeit bleiben, la mia vita italiana ganz nach meinen eigenen Wünschen zu gestalten.

Ich atme tief durch, sauge die frische Luft ein und spaziere weiter in Richtung des kleinen Strandes am Ende von Nervis Promenade, dort klettere ich die wenigen Stufen zwischen Fischerbooten hinab und setze mich auf den steinigen Strand. Die Wellen streichen über die Kieselsteine, sanft wie Finger, die die Saiten einer Harfe zupfen.

Ich lächle, lege mich zurück und konzentriere mich ganz auf die warmen Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht und meinem Körper. Das Meeresrauschen versetzt mich in einen Zustand innerer Zufriedenheit, den ich lange nicht mehr verspürt habe. In diesem Moment wird das Meer zu meinem ersten Freund in meinem neuen Leben, zu meinem einzigen Verbündeten – es wird für mich da sein, wann immer ich das Bedürfnis nach Zuflucht, nach Geborgenheit verspüren sollte.

Nach einem erfüllenden Nachmittag stehe ich am Bahnhof und warte auf den Regionalzug. Ich hoffe, dass der Zug Verspätung hat, denn Nervi hat den schönsten Bahnhof der Welt: Aus zwei Gleisen bestehend, hängt er über der Meerespromenade, und viele der Stahl- oder Holzbänke eröffnen einen unverbaubaren Meeresblick. Niemals werde ich mich an dieser Aussicht über das Mittelmeer sattsehen, an den Fähren, die soeben den Hafen verlassen haben und nach Sardinien, Sizilien, Barcelona oder Tunesien aufbrechen.

Im Zug ergattere ich einen Fensterplatz auf der Meeresseite. Bis zur vorletzten Station wird die Bahn weiter am Meer entlangfahren. Von diesem Tag an habe ich meinen Stammplatz in Zügen Richtung Osten – bei Fahrt ab Genua auf der rechten Fensterseite, bei der Rückfahrt auf der linken. Ich schaue nach draußen, über das Meer; der Blick und die Musik umtanzen mich, versetzen mich in einen Zustand zufriedener Sattheit – ich fühle mich, als könnte nichts diesen Moment absoluter Besonnenheit stören.

 

Der Samstagmorgenkurs ist dagegen für mich wie Ketchup auf einer Pizza für die Italiener – ein unvorstellbares Ärgernis! Nach der langen Arbeitswoche voller Unterrichtsstunden ist es ein Albtraum, sich samstags auch noch früh aus dem Bett zu quälen.

Ich schlurfe in den Klassenraum und grunze mein obligatorisches «Guten Morgen». Dabei ist gar nichts gut an diesem Morgen: Mein Schlafzimmervorhang ist in der Nacht schon wieder abgefallen, und ich konnte nicht schlafen, weil mir das Licht aus den Fenstern der Nachbarn ins Gesicht schien. Splitternackt versuchte ich, den Stoff mit Kleber anzupappen. Kaum hatte ich mich wieder hingelegt, begann über meinem Kopf ein schreckliches Dröhnen, und ich fuhr erschrocken auf – che cazzo war das? Es hörte sich an, als würde jemand in der Wohnung über mir eine Vespa starten! War das etwa eine alte Waschmaschine? Aber doch nicht um diese Uhrzeit! Das Gerät tobte weitere zwei Stunden munter weiter und brachte die dünne Decke beinahe zum Einsturz. Zum ersten Mal beschäftigte ich mich intensiv mit der Frage, wie viele Waschgänge so eine Maschine durchläuft. Ich wäre am liebsten nach oben gerannt und hätte an die Tür dieser Frechlinge geballert, aber dazu fehlten mir der Mut und vor allem die Italienisch-Kenntnisse. Um drei Uhr schlief ich vor Erschöpfung ein.