Greenfriars Geheimnis - Michael Reich - E-Book

Greenfriars Geheimnis E-Book

Michael Reich

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Beschreibung

England 1912. Anthony Alquist erlebt eine glückliche, behütete Kindheit, bis er seine Eltern beim Untergang der Titanic verliert. Man bringt den Jungen zu der einzigen in England lebenden Verwandten, seiner Urgroßmutter, die völlig zurückgezogen auf dem jahrhundertealten Familiensitz lebt. Es dauert nicht lange, bis Anthony begreift, dass irgendetwas nicht stimmt; seltsame Vorfälle, Finch, ein alter Bediensteter, der offenbar etwas zu verheimlichen hat und eine strenge, unnahbare Hausdame, die eifersüchtig darüber wacht, das niemand zur Herrin des Hauses vordringt, beunruhigen ihn. Der einzige Hoffnungsschimmer in dieser Situation, die immer bedrohlicher wird, ist Felicitas, die Enkelin des alten Finch, die ebenfalls auf Greenfriars lebt und gemeinsam mit ihm beginnt das alte Haus und seine Geheimnisse zu erkunden. Es naht die St. Thomas-Nacht, die Ereignisse spitzen sich zu und ehe er sich versieht, befindet sich Anthony in einer anderen Welt und muss zahlreiche Abenteuer bestehen, um das uralte Bündnis, das seine Vorfahren einst mit den Völkern der anderen Welt schlossen, zu erneuern. Und das streng gehütete Geheimnis, des Fluchs der angeblich auf seiner Familie lastet, aufzudecken. Greenfriars Geheimnis. Taucht ein in die Welt der walisischen Sagen um Kobolde, Feen und andere Zauberwesen; folgt Anthony auf den Spuren seiner Familie, die anders ist, als alle anderen und Hüter vieler Geheimnisse. Ein spannendes und phantasievolles Abenteuer in der Tradition der klassischen, englischen Kinderbuchliteratur.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

1.

Teil Greenfriars

1.

Kapitel

2.

Kapitel

3.

Kapitel

4.

Kapitel

5.

Kapitel

6.

Kapitel

7.

Kapitel

8.

Kapitel

9.

Kapitel

10.

Kapitel

11.

Kapitel

12.

Kapitel

13.

Kapitel

14.

Kapitel

15.

Kapitel

16.

Kapitel

17.

Kapitel

18.

Kapitel

19.

Kapitel

20.

Kapitel

21.

Kapitel

22.

Kapitel

23.

Kapitel

2.

Teil In einer anderen Welt

1.

Kapitel

2.

Kapitel

3.

Kapitel

4.

Kapitel

5.

Kapitel

6.

Kapitel

7.

Kapitel

8.

Kapitel

9.

Kapitel

10.

Kapitel

11.

Kapitel

12.

Kapitel

13.

Kapitel

14.

Kapitel

15.

Kapitel

16.

Kapitel

17.

Kapitel

18.

Kapitel

19.

Kapitel

20.

Kapitel

21.

Kapitel

22.

Kapitel

23.

Kapitel

24.

Kapitel

Prolog

Kinder haben ein angeborenes Warnsystem, einen Instinkt, für alles, was nicht stimmt, was ihre Welt stören, oder gar aus den Fugen geraten lassen könnte.

Im Laufe der Zeit verlieren sie dieses Warnsystem, diese Sensibilität, sie wird ihnen aberzogen, und an ihre Stelle treten Konvention und angepasstes Denken. Man tut dieses nicht mehr und jenes, weil es sich als Erwachsener 'nicht gehört'. Stell dir doch nur vor, alle würden denken und handeln wie die Kinder!

Wie schade ist das. Was ist so schlimm daran, sich zu erinnern, wie wir mit großen Kinderaugen gesehen haben? Da konnte uns das ganze Universum in einer Glockenblume oder einem Schmetterling begegnen, und alle Probleme der Welt lösten sich in nichts auf, bei dem Anblick einer fliegenden Schwalbe, die in das grenzenlose Blau des Himmels emporsteigt. Was war verwundbarer als ein aus dem Nest gefallenes Vogelkind, grausamer als ein vom Jäger verwundeter, sterbender Fuchs.

Der Wald barg tausende von Geheimnissen, eines aufregender als das andere und das Gefühl eins zu werden mit den Bäumen, war es nicht um so vieles schöner als die flüchtigen Empfindungen der späteren, hektischen Jahre?

Welche Dinge haben eine wirkliche Bedeutung für ein Kind? Die zärtliche Berührung der Mutter, wenn sie einen Gutenachtkuss gibt; die tiefe Stimme des Vaters, wenn er Geschichten vorliest; die Nachsicht der Großmutter, und das Kitzeln von Großvaters Schnurrbart. All jenes ist so wichtig, und sollte in der Erinnerung niemals an Bedeutung verlieren. Denn ein Kind empfindet die Dinge, ehe es sie begreift.

Heute, da ich sehr alt bin, kann ich vieles wieder sehen, wofür ich in den Jahren nach meiner Kindheit zwangsläufig blind wurde. Was mir im Laufe der Zeit verloren gegangen ist, entdecke ich wieder, denn ich lebe mit und in der Erinnerung, die mich zärtlich umfängt, wie die Schwingen eines großen Vogels, mit dem ich durch die Lüfte segle und in dessen Obhut ich mich geborgen fühle. Wird es dir einmal so ergehen wie mir jetzt?

Wenn du dies als Erwachsener einmal lesen wirst, so musst du dich daran erinnern, wie es war, ein Kind zu sein und wahrhaftig zu glauben und zu fühlen.

Heute bin ich bereit, dir von mir zu berichten, von meinen Abenteuern in der Welt zwischen den Welten, denn ich sehe jetzt alles klar und deutlich vor mir. Ich begreife wieder, wie ich als Kind gesehen habe.

Ich werde gegen das Vergessen erzählen. Lass mich davon berichten, wie mich ein helles Licht durch die dunkle Nacht führte, ausgesandt von Wesen, von deren Existenz nur wenige, auserkorene erfahren; jene nämlich, die zu allen Zeiten ein kleines Eckchen in ihren Herzen bewahren um ab und an, denken, sehen, fühlen zu können, wie die Kinder.

1. Teil Greenfriars

1. Kapitel

Ich hatte schon immer einen Hang zur Natur, zu den Wäldern und Wiesen, Bächen und Seen. Welch wunderbare Geheimnisse aber unter der vom menschlichen Auge sichtbaren Erdoberfläche liegen, erfuhr ich erst mit Vollendung meines zehnten Lebensjahres. Und es eröffnete sich mir eine Welt in der Welt, so fantastisch und so voller Zauber, wie ich es mir niemals hätte träumen lassen.

Doch bevor ich diese Welt und ihre Millionen kleiner und kleinster Bewohner erkunden durfte, musste ich einige harte Prüfungen bestehen und einen langen Weg gehen.

Ich möchte dir davon erzählen, wie ich diesen Weg fand, und mit ihm die einzige, die wahre Wahrheit.

Was ich damals an Abenteuern erlebte, begleitet mich bis zum heutigen Tag. Die Erinnerung daran, selbst wenn sie zu manchen Zeiten nicht so präsent war wie jetzt, hat mir über viele schwere Stunden, die das Leben für jeden von uns bereithält, hinweggeholfen.

Lies aufmerksam, was ich hier niederschreibe, damit du bereit bist, wenn der Nachtvogel dich ruft. Und er wird rufen, eines Tages, denn ich stelle fest, dass die Mächte des Bösen wieder um sich greifen und unsere Welt jeden Tag ein Stückchen ärmer und kälter machen.

Ich habe mein Leben, so wie ich es einmal dem besten Freund versprochen habe, den ich damals hatte, wider das Vergessen gewidmet. Wir wissen nicht, was wir tun, wenn wir mit überkommenen Traditionen brechen und nicht mehr an das glauben, was die Alten uns erzählen und einst niederschrieben. Denn wir stoßen damit eine Welt voller Wunder und mit ihr ein ganzes Volk in die Dunkelheit des Vergessens, dessen unsichtbaren Schutz, den wir uneingeschränkt genießen, wir so dringend bedürfen.

So wie es damals war, in meiner Kindheit. Die Menschen glaubten nicht mehr an die Geschichten, die ihnen die Alten erzählten. Die immer härter werdende Realität, der Fortschritt und die technischen Errungenschaften jener neuen, so verheißungsvollen Welt, zu deren Ufern man aufbrach, raubten den Sinn für das Märchenhafte, Geheimnisvolle, nicht greifbare, aber dennoch stets präsente. Denn je weniger die Menschen glauben, desto schwächer wird die Kraft der Bewohner der Welt zwischen den Welten, der Hügelvölker. Je schwächer aber sie sind, um so weniger können sie uns beschützen, wenn das Böse wieder um sich greift. Und das tun sie. Sie halten unsichtbar und geräuschlos ihre schützenden, kleinen Hände über uns. Heute haben wir längst die Gestade jener wunderbaren Welt, die damals für uns so neu war, erreicht. Und wir haben erkannt, dass sie ebenso viele Gefahren wie Schönheiten in sich birgt. Wir sind längst in ihr gefangen und sie lässt uns, die aufgeklärten und abgeklärten Menschen, die an der Grenze zu einem neuen Jahrtausend stehen, nicht mehr viel Raum für das, was sich rational nicht immer erklären lässt, aber ein Recht auf einen Platz in unseren Herzen und Köpfen hat.

Aber ich habe Hoffnung. Ich sehe, dass in dem Masse, in dem unsere Welt immer kälter und technischer wird, auch die Sehnsucht nach dem 'anderen', nach dem, was man nicht mit Händen greifen und dem Verstand erklären kann, wächst. Noch grenzt man die Menschen, die sich für das Außergewöhnliche interessieren aus, schimpft sie Fantasten - welch eine große Auszeichnung! - und weltfremd, stempelt die letzten der Urvölker, die mit jener anderen Welt verstanden zu kommunizieren, die Ureinwohner der heutigen großen Zivilisationen, als Primitive ab und stellt sie aus wie die Fundstücke eines Museums. Doch es wird der Tag kommen, wo die, die ausschließlich an die Macht des Fortschrittes und die damit einhergehende Zerstörung unser aller Lebensräume glauben, erkennen werden, dass sie auf dem falschen Weg sind ...

2. Kapitel

Ich trage einen großen Namen, Anthony Alquist, 10. Earl of Darrowfalls, Herr von Greenfriars.

Während ich dies schreibe, ersteht vor meinen altersschwachen Augen eine Welt wieder, die längst vergangen ist und in der der Name der Blackwells von Greenfriars, meiner Ahnen, einen Klang hatte, in dem Tapferkeit und Aufrichtigkeit mitschwangen, auch wenn man ihn zur damaligen Zeit mit Schaudern und nur leise aussprach, denn es kursierten die Gerüchte vom Fluch der Blackwells, von dem ich dir später mehr berichten werde.

Es war eine Zeit, die noch nicht so laut war wie heute, doch bereits ihren eigenen Rhythmus hatte.

Der Fortschritt hatte schon seinen Einzug gehalten und das Leben der Menschen verändert. Viele, die einfachen Arbeiter und ihre Familien, lebten in ärmlichen Verhältnissen, hungerten oft und wussten nicht, wovon am nächsten Tage leben. Es gab keine sozialen Absicherungen, so wie heute, und viele waren auf sich allein gestellt, wenn sie krank wurden und nicht mehr arbeiten konnten.

Für andere wieder, eine bestimmte Schicht, der auch unsere Familie angehörte, die Fabrik- und Großgrundbesitzer, mit ihren ausgedehnten Ländereien und herrschaftlichen Häusern, war es eine weitaus bessere Zeit.

Das Leben in London, jener großen, alten Stadt an der Themse, in der ich geboren wurde und die ersten zehn Jahre meines Lebens verbrachte, war sehr aufregend, die ersten Automobile drängten in die Straßen der großen Städte und rissen sie aus der von Kutschen mit schnaubenden Pferden geprägten, muffigen Ruhe. Das Leben begann hektischer zu werden, das Rad der Zeit fing an, sich schneller zu drehen, und trieb auch das Lebenstempo der Menschen an ...

Ich allerdings bekam wenig davon mit. Denn ich war das, was man ein wohlbehütetes Kind nannte.

Meine Mutter entstammte dem vornehmen Geschlecht der Blackwells von Greenfriars, reicher Großgrundbesitzer, deren Ahnherr Gordon Blackwell, ein geheimnisvoller, faszinierender Mann, sich vor mehr als sechshundert Jahren das walisische Hochland zu seiner Heimat erkoren hatte; eine wilde urtümliche Landschaft, geprägt von einer unendlich scheinenden Weite, geschüttelt vom Unbill der Natur - der Wind peitscht unbarmherzig über die Felder, ungeheure Regenmassen ergießen sich und die Winter sind erbarmungslos kalt.

Dort also, in einem fruchtbaren Tal, ließ er sich nieder und erbaute für sich und die seinen ein weitläufiges Herrenhaus - Greenfriars.

Aber das aber war in jenen Tagen, von denen ich hier berichten will, ja schon lange, viele Jahrhunderte, vorbei, und unser guter Name, der einstmals für Mut, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Loyalität gestanden hatte - mehrere Könige, hatten sich der Blackwells als Ratgeber bedient -, war mit einem hässlichen, in den Köpfen der Menschen unauslöschbaren Makel behaftet. Ein großer, schwarzer Schatten, der ihn verdunkelte.

Überall munkelte und tuschelte man hinter vorgehaltener Hand von dem Fluch der Blackwells, der auf den Erben des einst so mächtigen Geschlechtes lastete, dem bereits zahlreiche Mitglieder der Familie zum Opfer gefallen waren.

Niemand wusste genau wann und wie die Legende von dem Fluch entstanden war, ihren Höhepunkt aber erreichte sie, als mein Urgroßvater, der neunte Earl of Darrowfalls, kurzer Hand in einer stürmischen, verregneten Nacht, den Stammsitz im walisischen Hochland, den die Familie seit sechshundert Jahren bewohnte, in Begleitung seiner sechs Kinder verließ. Das jüngste der Kinder, meine Großmutter Fiona, war erst drei Jahre alt.

Seine junge Frau aber, meine Urgroßmutter, ließ er allein dort zurück. Einsam und von allen verlassen, hauste sie seit dem in dem alten Gemäuer, und man sagte ihr bald nach, sie habe über die Hartherzigkeit ihres Mannes den Verstand verloren. Was hatte ihn zu diesem Schritt veranlasst? War es der Fluch, der seine Sinne getrübt hatte? Oder war er in Verzweiflung vor dem Fluch geflüchtet?

Wenn ja, es hatte ihm nichts genützt. Mit zweiundvierzig Jahren starb er an den Folgen eines ungeklärten Reitunfalls. Er war stets ein guter Reiter gewesen, wie seine Freunde berichteten.

Auch seine Kinder wurden nicht verschont; fünf von ihnen starben, bevor sie das Erwachsenenalter erreicht hatten. Lediglich das Jüngste der Geschwister, meine Großmutter, wurde verschont.

Sie folgte einer entfernten Verwandten, die nach Indien gezogen war, jenes riesige Land am anderen der Welt, welches zur damaligen Zeit noch zum britischen Königreich gehörte. Dort verliebte sie sich in den Sohn jener Verwandten, und sie heirateten.

Meine Mutter wurde geboren und verbrachte eine aufregende Kindheit in Indien, von der sie mir oft erzählte. Ich erinnere mich einer Geschichte, die sie auf meine Bitte hin immer wieder nacherzählte; meine Mutter hatte, wie es sich für Töchter aus gutem Hause gehörte, eine Aja, ein indisches Kindermädchen. Diese Frauen stammten meist aus einfachen Verhältnissen, besaßen aber oft übersinnliche Fähigkeiten, denn die Inder sind ein sehr sensibles Volk, das eine enge Bindung zu den Mythen und Legenden seiner Vorfahren hat. Die Aja meiner Mutter war darüber hinauseine Kräuterhexe, die alle Krankheiten mit nach ihren geheimen Rezepten angefertigten Tinkturen und Salben behandelte. Meine Großeltern hatten großen Respekt vor ihr. Eines Nachts drang eine Schlange in das Schlafzimmer meiner Mutter. Das Tier schlängelte sich lautlos über den Boden, in Richtung ihres Bettes. Die Aja schlief im gleichen Zimmer wie meine Mutter und gerade in dem Moment, wo die Schlange sich am Bett des Kindermädchens vorbei wand, sprang die Aja mit einem Satz hoch und warf sich auf die Schlange! Sie erwürgte das Tier mit bloßen Händen, konnte aber nicht verhindern, dass es sie biss.

Es herrschte große Aufregung im Haus! Alle glaubten, das Mädchen müsse nun sterben, doch die junge Frau setzte sich vor aller Augen im Schneidersitz auf den Boden und begann unverständliche Sätze in einem seltenen Dialekt laut vor sich hin zu sprechen. Die Nacht ging vorüber und die Aja lebte noch, als die Sonne aufging, schien aber sehr geschwächt. Sie erhob sich schwerfällig, ging in die Küche und begann sich aus Kräutern, die sie aus einem kleinen Leinensäckchen hervorholte, das sie immer bei sich trug, einen Tee zu kochen. Diesen Tee trank das Mädchen eine ganze Woche lang, morgens, mittags und abends, ohne dabei irgendetwas anderes zu sich zu nehmen. Von Tag zu Tag erholte sie sich und nach der Woche, war sie wieder ganz die Alte. Mein Großvater fragte sie, woher sie gewusst habe, dass eine Schlange im Zimmer gewesen sei, in jener Nacht und sie antwortete: »Das habe ich gespürt.« Es gab sogar Menschen in den englischen Missionen, alte Engländer, die schon ein halbes Leben in Indien verbracht hatten, die die Schlangen atmen hören konnten ...

Meine Mutter heiratete früh meinen Vater, den Offizier Major Richard Alquist, der im gleichen Regiment diente, wie mein Großvater, und kehrte mit ihm nach England zurück, als sich herausstellte, das das Klima dort seiner Gesundheit abträglich war.

Er hatte von seinem Vater ein Haus in London, am Eaton Square, geerbt, das sie bewohnen wollten. Sie blieben gegen den Willen meiner Großmutter, die Angst hatte, vor dem Fluch der Blackwells und in dem Glauben lebte, er sei außerhalb Großbritanniens nicht gültig. Schließlich wurde ich geboren, in dem kleinen, weißen, eleganten Haus am Eaton Square und verbrachte neun glückliche, unbeschwerte Jahre, die mir bis heute unauslöschlich als kostbarer Schatz im Gedächtnis geblieben sind ...

Ich erinnere mich meiner Eltern als schönes und strahlendes Paar. Ich glaube, sie waren sehr verliebt ineinander; immer wenn man sie zusammen sah, lachten sie und neckten sich. Mein Vater schenkte meiner Mutter schönen Schmuck und überhäufte sie mit Blumen.

An den Wochenenden gaben sie Soireen und Feste und luden dazu all ihre zahlreichen Freunde ein. Dann erstrahlte das Haus im Glanze der Gaslampen, die in allen Räumen brannten; großzügig arrangierte Blumenbouquets rochen lieblich und ihr Duft vermischte sich mit dem Parfum der eleganten Damen und den Toilettwassern der stolzen Herren, in ihren steifen Hemdbrüsten.

Auch aus der Küche stiegen verführerische Gerüche nach oben; noch heute rieche ich sie, diese Mischung, die schwer auf der Zunge lag und in der Nase kribbelte, und die das Haus tagelang in eine Wolke aus Rosen und Orangenblüten, Jasmin, Flieder und Oleander, Sandelholz, Moschus, Bergamotte, Veilchen und unzähligen Küchenkräutern, deren Namen ich nicht kannte, tauchte.

An diesen Abenden saß ich barfüßig und nur mit einem langen, weißen Nachthemd bekleidet, meinen ständigen Begleiter, Mr. Bill - einen großen, plüschigen, braunen Teddybären -, im Arm, auf der Treppe und verfolgte das Geschehen. Ich hörte den hellen Sopran meiner Mutter, die von meinem Vater am Klavier begleitet Frühlingslieder sang:

Letzte Rose,

wie magst du so einsam, hier blüh‘n?

Deine freundlichen Schwestern

sind längst schon, längst, dahin.

Keine Blüte haucht Balsam,

mit labendem Duft;

keine Blättchen mehr flattern

in stürmischer Luft.

Warum blühst du so traurig

im Garten allein?

Das ging so lange, bis einer der Diener mich entdeckte und meiner Mutter meldete, die mich dann belustigt lächelnd ins Bett zurückbrachte und zur Nacht bettete, nicht ohne mir ein Schlaflied zu singen und mir einen Gutenachtkuss zu geben.

Vielleicht sind mir jene Tage so gut in Erinnerung geblieben, weil sie, die goldenen, schon bald abgelöst werden sollten durch die schwärzeste Finsternis, in die ein Kind geraten kann.

3. Kapitel

Ich erwachte schreiend, von bösen Träumen - bevölkert von grimmigen Zauberern, Feuer speienden Drachen und unheimlichen Zaubergestalten - geschüttelt, in der Nacht vor meinem zehnten Geburtstag; fortan war sie da, jene böse Vorahnung, von der ich anfangs sprach. Sie bedrückte mein Herz. Ich hatte Angst.

In dieser Nacht hörte ich ihn zum ersten Male, den Schrei des Nachtvogels, jenes heisere Krächzen, welches erst leise, kaum zu unterscheiden, von den anderen Geräuschen der Nacht, über den Wipfeln der Bäume schwebt, um dann langsam anzuschwellen und in einem durchdringenden Schrei zu enden, der die Dunkelheit erfüllt und alle Lebewesen den Atem anhalten lässt. In der Tat, machte sich eine seltsame Stille breit, als der Schrei verklungen war; die sonst so vertrauten nächtlichen Geräusche aus dem Garten waren verstummt, kein Raunen und Rascheln mehr, kein Knacken der Äste.

Ich ging zum Fenster und sah hinaus; es war eine jener verzauberten Nächte, in der alles möglich scheint, in der die goldenen Sterne am Himmel funkeln; Millionen und Abermillionen kleiner Augen, die auf dich hinab sehen; sich hinter jedem noch so dünnen Ast ein Kobold versteckt hält und die Hexen auf langen Besen lachend über die Baumwipfel in die Unendlichkeit fliegen. Der Mond in jener Nacht, wolkenumflort, stand wie ein riesiges, leuchtendes Auge am Himmel - das Auge der Nacht, das auf uns kleine Kreaturen hinabblickt -, so groß, so imposant, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte und tauchte, den Garten in silbrigdunstiges Licht, als hätten tausende von Elfen im Auftrag einer guten Fee einen durchsichtigen, unendlich fein gewebten Schleier über die Erde gelegt, unter dem es leise wisperte und flüsterte. Ich sah ihn sofort, dunkel, Angst einflössend, zeichnete sich seine schattenhafte Silhouette vom Nachthimmel ab. Er breitete die riesigen Schwingen aus und flog in die unendlich scheinende Weite des sternenerleuchteten Horizonts. Seine bernsteinfarbigen Augen leuchteten mir in der Dunkelheit entgegen, wie die Leuchtfeuer zweier Leuchttürme in stürmischer Nacht. Ich fühlte, dass sie nur mich im Visier hatten, auch wenn er mich nicht sehen konnte, er wusste, dass ich hinter dem Fenster stehe und ihn beobachte. Er flog gegen den hell leuchtenden Mond, wurde bald zu einem schwarzen Punkt, der langsam immer kleiner wurde, um schließlich ganz aus meinem Blickfeld zu verschwinden ...

Meine Eltern bemühten sich, mir meine Geburtstage, zu einem unvergesslichen Erlebnis werden zu lassen. An jenen Tagen drehte sich von früh bis spät alles nur um mich.

Das ganze Jahr freute ich mich darauf, dieses Mal jedoch, konnte die Freude die Angst, die sich in mir breitgemacht hatte, nicht besiegen.

Man sang für mich und ließ mich hochleben, überreichte mir Geschenke und schnitt eine große Torte mit zehn Kerzen darauf an. Ich versuchte, mich zu freuen, doch so recht gelang es mir nicht. Nicht einmal, als ich am Abend mein eigentliches Geschenk erhielt; mein Vater unterbreitete mir, das er mir meinen sehnlichsten Wunsch erfüllte: Wir fuhren nach Amerika!

So viel schon hatte ich über dieses sagenhafte Land gehört, der beste Freund meines Vaters lebte dort, und ich stellte es mir in kindlicher Naivität wie das Schlaraffenland vor. Ich drückte Mr. Bill, ein Geschenk, eben jenes Freundes, fest an mich. Doch auch er konnte die seltsame Angst in mir nicht vertreiben.

Diese Reise sollte etwas ganz Besonderes werden. Und schon bei der Überfahrt sollte es anfangen; mein Vater hatte eine Kabine auf dem größten Schiff der Welt gebucht, der Titanic, größer und schöner als alles bisher gesehene. Ein Wunder der Technik, das Statussymbol der neuen Zeit. Ein großes Abenteuer erwartete mich!

4. Kapitel

Am 12. April, einem nasskalten Vorfrühlingstag, stach die Titanic in See. Noch nie hatte ich so viele Menschen auf einmal gesehen. Da war ein Trubel am Hafen von Southampton, wie noch nie zuvor. Die Menschen winkten mit bunten Fahnen und jubelten, als das Schiff mit hupenden Sirenen, die langsam über der weiten See verhallten, unter dem Gekreisch unzähliger Möwen ablegte. Auch auf dem Schiff selbst war ein buntes, lustiges Treiben. Alles war so neu und es roch überall nach frischer Farbe. Mein Vater unternahm mit mir lange Spaziergänge von einem Ende zum anderen und ich sah den Kapitän, einen alten, in seiner Uniform sehr würdig aussehenden Mann, mit weißem Bart, der uns freundlich zulächelte.

Jeden Abend spielte ein Orchester Walzer und andere Tanzmusik, die Herren im feinen Frack mit langen Zigarren im Mund spielten Karten, die eleganten Damen plauderten über die neueste Pariser Mode.

Tagsüber ging man trotz der Kälte an Bord spazieren, legte sich in dicke Decke gehüllt in die Liegestühle und genoss die klare, reine Luft des nahen Pols oder spielte Shuffleboard und Tennis. Es gab ein Schwimmbad und einen Fitnessraum! Ich hatte mich schon am ersten Tag mit einem Jungen meines Alters angefreundet, der mit seiner Familie in der dritten Klasse reiste.

Einmal nahm er mich auch dorthin mit. Da sah es allerdings anders aus, als in den eleganten Salons und Speisesälen der ersten Klasse. Die Menschen hockten dicht gedrängt in einer Kabine und einige kochten sich sogar ihre Mahlzeiten dort.

Johnny, so hieß mein neuer Freund, erzählte mir, dass seine Eltern Auswanderer seien, die nie mehr nach England zurückkehren wollten.

Am Abend, in unserer eigenen Kabine, fragte ich meinen Vater, warum es so viele Menschen an Bord gäbe, die so wenig Platz hätten und die man nie an oben an Bord sähe, wo doch in den großen Suiten der ersten Klasse, von denen manche so groß seien, wie drei oder vier der dritten, manchmal nur eine einzige oder zwei Personen wohnten.

Mein Vater wurde etwas verlegen und sagte, dass die Kabinen der ersten Klasse sehr teuer wären und die Menschen, die in der dritten Klasse führen, nicht das Geld dafür hätten. Aber er versicherte mir, dass es ihnen auch dort gut ginge und man für sie sorgte. Beruhigt schlief ich ein.

Auch die nächsten Tage verliefen ungetrübt. Ich sah John Jacob Astor, einen der reichsten Männer der Welt, der stolz seine junge, schwangere Frau am Arm über das Deck spazieren führte; Mr. Strauss, ein reizender älterer Mann, der mit seiner Frau an Bord war, schenkte mir Bonbons, und einer der Konstrukteure des Schiffes zeigte mir und einigen anderen stolz den riesigen Maschinenraum, den Tempel des Fortschrittes, den Hort der neuen Zeit.

Für einen Augenblick, vergaß ich meine Angst und überließ mich den vielen neuen Eindrücken und Erlebnissen. Ich hörte die Warnglocken nicht mehr, die laut vernehmlich in mir schrillten ...

Fünf Tage später saß ich frierend, in dicke Decken gehüllt neben einer mir vollkommen fremden Person in einem schlingernden Rettungsboot, über mir das sternenklare Firmament, um mich herum nichts als eiskaltes, bläulichschwarz schimmerndes Wasser.

Das stolze Schiff, das größte einer nach immer mehr Fortschritt und Technik ringenden Welt, gab es nicht mehr. Es lag auf dem Grunde des Meeres, in tintenschwarzer Tiefe, und nur seine nicht verlöschenden Lichter erhellten den Meeresgrund und strahlten zu mir hinauf.

Ich hielt meine Hand in die eiskalten Fluten, um sie, die ich für immer verloren hatte, noch einmal zu berühren, und stellte mir vor wie meine Eltern nun, in all ihrer Pracht und Schönheit, auf dem Grunde des Meeres zu den sanften Klängen einer Harfe spielenden Meerjungfrau tanzten ...

Ich kehrte heim in ein kaltes, verwaistes Haus, das keine Ähnlichkeit mehr mit dem vertrauten Heim aufwies, das ich verlassen hatte. Zwei der Dienstboten meiner Eltern hatten mich vom Hafen abgeholt.

Dicke, dunkelgraue Regenwolken zogen auf, als wir in den Eaton Square einbogen und ein schauerlicher Regenguss prasselte nieder, als wir dem Wagen entstiegen und das Haus betraten. Die Möbel waren abgedeckt, die Fensterläden fest verschlossen.

Lady Springall, meine Patentante, erwartete mich. Sie weinte und nahm mich in den Arm. Ich blieb regungslos.

Man brachte mich in mein Zimmer und dort zu Bett. Kurze Zeit später erschien unser Hausarzt und untersuchte mich; seit dem Unglück hatte ich kein Wort mehr gesprochen.

In der ersten Nacht in dem großen, verlassenen Haus, fand ich keinen Schlaf. Immer musste ich an den Nachtvogel denken und hörte wieder seinen heiseren Schrei.

Tagsüber saß ich in einem großen Sessel oder lag in meinem Bett, und starrte zur Tür, in der sicheren Gewissheit, das meine Mutter oder mein Vater hereinkommen und mich in die Arme nehmen würde. Doch niemand kam.

Lady Springall bemühte sich sehr, mich aufzuheitern, las mir lustige Geschichten vor. Einmal ging sie sogar mit mir hinunter in den Garten, der gerade aus seinem Winterschlaf erwachte und zu knospen begann. Ich mochte Lady Springall, Tante Maude, wie ich sie nannte, sehr; sie war eine füllige Matrone, mit dickem, feuerroten Haar, das hoch aufgetürmt auf ihrem Kopf thronte, wie ein unordentliches Vogelnest. Sie war immer lustig und zu Späßen aufgelegt; man fühlte sich einfach wohl bei ihr. Ihre eigenen Kinder waren schon erwachsen und seit dem Tod ihres Mannes, lebte sie auf einem großen Landsitz außerhalb Londons, auf dem meine Eltern oft zu Gast gewesen waren.

Doch auch sie vermochte mir keinen Trost zu spenden. Ich aß nur wenig und magerte ab. Meine Glieder wurden schwer und ich verlor an Kraft, meine Haut wurde weiß und dünn wie Pergament.

Des Nachts ging ich immer wieder zum Fenster, das mich magisch anzog. Der Mond, jetzt nur noch eine schmale Sichel, beruhigte mich. Ich stellte mir vor, es sei ein Licht, das meine Mutter im Himmel für mich angezündet hat, um mir zu zeigen, dass es ihnen gut geht, dort wo sie nun waren, und an mich dachten.

Die arme Tante Maude begann sich große Sorgen um mich zu machen. Dabei hatte sie schon genug andere Unannehmlichkeiten. Sie hatte sich sofort mit dem Familienanwalt in Verbindung gesetzt, um sich über die Vermögenslage zu informieren und ein Telegramm an meine Großeltern in Indien geschickt, die nun meine nächsten Verwandten waren. Wann sie jedoch aus dem fernen Land in London eintreffen würden, stand noch nicht fest, damals, musst du wissen, waren solche Reisen noch ein großes und aufregendes Unterfangen und dauerten viel länger als heute. Tante Maude erklärte mir, sie würden erst sehr lange mit der Eisenbahn fahren, dann mit dem Schiff und wieder mit der Eisenbahn.

Ich habe oft gedacht, würde meine Geschichte in der heutigen Zeit spielen, sie wäre sicherlich ganz anders verlaufen.

Als sich mein Zustand nicht besserte, entschied Tante Maude, dass ich die Zeit bis zum Eintreffen meiner Großeltern in England auf ihrem Landsitz verbringen sollte. Sie fand die Atmosphäre im Haus zu bedrückend. Eine kluge Entscheidung. Die Landluft und die veränderte Umgebung taten mir wohl und rissen mich aus meiner Lethargie.

Gleichwohl zeigten sie mir aber auch, dass etwas unwiederbringlich zu Ende war, und ich musste lernen, das ein Kapitel in meinem Leben, ein sehr glückliches, abgeschlossen war.

Der Eaton Square war Vergangenheit.

5. Kapitel

Einige Tage nach dem Eintreffen auf dem Landsitz meiner Patentante, saß ich an einem der großen Fenster in meinem Zimmer und spähte hinaus auf den Vorplatz. Ich sah den Wagen von Sir Harry Wilcox, dem Familienanwalt, vorfahren. Er entstieg dem Fahrzeug mit düsterer Miene und wieder war es eine böse Vorahnung, die mich unruhig werden ließ. So schlich ich leise aus meinem Zimmer und kauerte mich im Schutze des geschnitzten Treppengeländers auf die Stufen. Sir Harry durchquerte schnellen Schrittes die Halle und wurde von Tante Maude im großen Salon empfangen. Im Kamin brannte ein lustiges Feuer, an dem Sir Harry sich die Hände wärmte und meine Tante bot ihm etwas zu trinken an.

Sie schloss die große Flügeltür nicht ganz, so das ich die Gelegenheit wahrnahm, nach unten schlich und mich dicht an die Tür stellte. So groß war die innere Unruhe, mein Herz raste wie wild, das ich meine gute Kinderstube vergaß und mein Ohr gegen die Tür presste.

Die beiden setzten sich in die großen Clubsessel vor dem Kamin; ich hörte jedes Wort, das sie sprachen:

»Nun, Maude, ich möchte nicht lange um den heißen Brei reden«, sagte Sir Harry und zog ein längliches Kuvert aus der Jackentasche. »Die Sache ist die, dass heute Morgen ein Brief in meiner Kanzlei eingetroffen ist, dessen Inhalt mich dazu veranlasste sofort zu dir hinaus zu fahren, kurz, er kommt von Greenfriars.«

Meiner Tante entfuhr ein Ruf des Erstaunens, dann war es still. Sir Harry musste ihr den Brief gereicht haben, den sie nun las.

»Das kann nicht ihr Ernst sein!«, rief meine Tante plötzlich empört in die Stille hinein.

»Ich fürchte doch, Maude«, sagte Sir Harry bedrückt. »Und sie hat das Recht dazu. Ich habe einen Freund konsultiert, der sich in diesen Dingen sehr gut auskennt. Sie ist derzeit seine einzige, greifbare, leibliche Verwandte. Wenn sie also den Jungen zu sich holen will, und das ist, dem Inhalt dieses Briefes nach zu urteilen, unter allen Umständen ihre Absicht, so kann sie niemand daran hindern, zumindest nicht, bis die Großeltern des Jungen in England eingetroffen sind. Und das kann noch Wochen dauern! Du hast ja nicht einmal eine Bestätigung, dass sie dein Telegramm überhaupt erreicht hat.«

»Wie hat sie bloß davon erfahren?«

»Sie schreibt weiter unten, das Vormundschaftsgericht hätte sich mit ihr in Verbindung gesetzt, doch das kann eigentlich nicht sein. Das hätte ich erfahren. Ich habe ja die Lösung, den Jungen, solange bis Lord und Lady Bellamy aus Indien hier sind, bei dir unterzubringen vorgeschlagen und er wurde akzeptiert. Sehr rätselhaft, das Ganze - wie die ganze Person Guinevere Blackwell.«

Ich hörte, dass Tante Maude aufschluchzte und es machte mir Angst. Mit wild pochendem Herzen hörte ich weiter zu.

»Nein, nein, Harry!«, rief meine Tante. »Ich würde mir mein Leben lang Vorwürfe machen. Ich kann das Kind nicht allein hinaus in die Wildnis schicken! Das kann niemand von mir verlangen!«

»Sie kann es«, sagte Sir Harry entschieden. »Und Gott allein weiß, was sie damit bezweckt.«

»Sie ist verrückt!«, empörte sich Tante Maude. »Jeder weiß, das sie verrückt ist. Ich schicke das Kind zu einer Verrückten, von der niemand etwas weiß und die seit Jahrzehnten niemand mehr gesehen hat! Das müssen wir anfechten!«

»So sei doch vernünftig, Maude«, versuchte Sir Harry, meine Tante zu beschwichtigen. »Ihre Blutsverwandtschaft berechtigt sie dazu, den Jungen zu sehen, wenn sie es wünscht. Ich habe mich erkundigt. Und sie hat ausdrücklich diesen Wunsch. Du kannst nicht einen Menschen als verrückt abstempeln, nur weil er seit Jahren das Haus nicht verlassen hat.«

Sir Harry seufzte laut. »Um ganz ehrlich zu sein, so wie sich unsere liebenswerten Mitmenschen da draußen manchmal gebärden, kann ich ihr das nicht einmal verdenken! Außerdem ist sie alt, sehr alt. Und sie braucht einen Erben, Maude. Hast du daran schon einmal gedacht? Anthony ist außer seiner Großmutter der einzige lebende Verwandte von Guinevere Blackwell. Greenfriars ist die Zukunft des Jungen, daran führt sowieso kein Weg vorbei.«

»Du bist und bleibst ein - Anwalt, Harry!«

»Wir werden alle Hebel in Bewegung setzen Sir Harold und Lady Bellamy so schnell wie möglich nach England zu bringen, das verspreche ich dir. Ich habe gute Kontakte in Indien. Doch bis dahin ...«

»Du lieber Himmel, Harry«, sagte meine Tante leise. »Wie viel Unglück soll der Junge denn noch ertragen?« Es trat wieder Stille ein, die mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ.

»Wie alt mag sie bloß sein?«, fragte meine Tante plötzlich. »Sie muss doch wahrlich bald hundert sein.«

»Ich habe ein paar alte Akten gewälzt. Sie ist achtundachtzig. Seit dieser Geschichte damals ...«

»Da siehst du, dass sie verrückt ist! Warum sonst sollte ihr Mann sie einfach verlassen und allein zurückgelassen haben!«

»Das kann heute niemand mehr sagen. Das alles ist so viele Jahrzehnte her. Außer ihr weiß niemand was damals wirklich geschah, und sie schweigt.«

»Oh Gott!«

»Seit damals ist ihr Leben ein einziges Geheimnis. Es sieht so aus, als hätte sie Greenfriars seit sie ihr Mann mit den Kindern auf und davon ist, nicht mehr verlassen. Und dennoch ist sie, das habe ich herausgefunden, eine der reichsten Frauen Englands. Ihre Verbindungen reichen bis in die allerhöchsten Kreise und sind wie ein feines Spinnennetz, das sich über den ganzen Kontinent ausbreitet. Eine seltsame, geheimnisvolle Frau.«

»Und wenn ich den Jungen einfach nicht raus gäbe?«, fragte Tante Maude verzweifelt.

»Zwecklos. Du kannst nicht mit dem Kopf durch die Wand, Maude. Schon in den nächsten Tagen wird Lady Blackwells Wirtschafterin hier eintreffen, um den Jungen mit nach Wales zu nehmen.«

Meine Tante begann hemmungslos zu weinen.

Ich schlich wieder hinauf in mein Zimmer und kroch in mein Bett. Ich drückte Mr. Bill fest an mich und starrte in die Dunkelheit.

Wieder war Vollmond und sein bläulich-silbriges Licht ließ die Äste der Bäume ein unheimliches Schattenspiel an die Wände tanzen. Mir war unbeschreiblich kalt, ich fühlte mich einsam und kämpfte mit den Tränen.

In diesem Moment hörte ich ihn zum zweiten Male, den Schrei des Nachtvogels; er flog dicht am Fenster vorbei und der Schatten seiner riesigen Schwingen streifte meinen Kopf. Voller Angst presste ich die Hände vor mein Gesicht und kniff die Augen zu.

6. Kapitel

In den darauf folgenden Tagen, wirkte Tante Maude traurig und niedergeschlagen, war aber sehr zärtlich zu mir, und wir verbrachten viel Zeit gemeinsam. Und sie versuchte mir, so schonend wie möglich die Tatsachen zu erklären, und kämpfte dabei mit den Tränen. Ich klammerte mich an sie und weinte ebenfalls. Ich wollte nicht fort, nicht schon wieder.

Sie versprach mir, alles zu tun, mich aus Wales zurückzuholen. Ich hörte ihr zu und nickte stumm. In mir war eine große Leere; ich hatte die alte Welt noch nicht wirklich hinter mir gelassen, meine Eltern waren so lebendig für mich, und ich war für eine neue, unbekannte Welt nicht vorbereitet. Tante Maude sagte, ich müsse jetzt tapfer sein, und ich versprach es ihr.

Dann kam der Tag; dicke, bleigraue Wolken zogen am Horizont auf, wie Unheil verkündende Boten einer höheren Macht, die der raue Nordwind unbarmherzig vor sich her trieb. Ich saß am Fenster und beobachtete ihren Zug am Himmel. Bald nahmen sie die verschiedensten Gestalten an, ein Schiff mit geblähten Segeln, ein Stier mit zwei spitzen Hörnern, ein großer Kopf mit langem Bart und wilden, krausen Haaren ...

Ich überlegte, dass hinter ihrer undurchdringlichen Fülle meine Eltern auf mich warteten. Oh, könnte ich doch nur fliegen! Fort, fort ...

In diesem Augenblick rattert eine Kutsche die Auffahrt hinauf. Zwei schwarze Rappen, mit feurigen, dunklen Augen und im Wind fliehender Mähne, zogen das kohlrabenschwarze Gefährt. Auf dem Kutschbock saß ein Mann mit hohem schwarzem Zylinder, gehüllt in einen tiefschwarzen Überrock. Ein grellroter Schal, dessen Enden im Wind flatterten, war um den Hals geschwungen und verdeckten das halbe Gesicht. Die Kutsche hielt auf dem Platz vor dem Haus. Sie hatte etwas Unheimliches an sich, eine Aura des Geheimnisvollen umgab sie. Sie wirkte, als sei sie aus der Vergangenheit zu mir gekommen; wie ein Gruß aus dem Totenreich.

Der Kutscher stieg ab und öffnete den Schlag. Ein schlankes Bein im hohen Schaftstiefel und der Rocksaum eines dunklen Kleides wurden sichtbar.

Dann sah ich sie zum ersten Male in voller Größe; sie trug einen großen, schmucklosen, grauen Hut und über dem bodenlangen, dunkelgrauen Kleid, ein schwarzes Regencape. Das Erste was mir auffiel, waren ihre skelettartigen Hände mit langen, dürren Fingern und spitzen Nägeln, die wie Raubvogelkrallen wirkten. Sie war sehr groß und sehr dünn. Aus dem hochgeschlossenen Kragen ihres Kleides ragte ein langer, dürrer Hals hervor, auf dem der Kopf thronte. Sie war kaum ausgestiegen, als sie ihren Kopf hob und den Blick an der Front des Hauses auf und abgleiten ließ. An dem Fenster zu meinem Zimmer blieb er haften.

Sie hatte ein fahles Gesicht, oval und länglich, mit eingefallenen Wangen. Überhaupt war sie vollkommen farblos, wie eine Kohlezeichnung. Zwei dunkle, fast schwarze Augen, blickten kalt in die Welt, zwischen ihnen eine längliche Nase und darunter ein verkniffener Mund, mit schmalen Lippen, dessen Mundwinkel verdrießlich nach unten zeigten. Ich habe sie niemals Lachen oder Lächeln gesehen. Sie hieß Miss Whittaker.

Der Wind pfeift durch den Kamin und dieser lang gezogene, klagende Laut erinnert mich an jenen Tag, im April, als ich das Haus meiner Patentante verlassen musste, denn auch an diesem Tag pfiff der Wind um das Haus und brachte mir sein trauriges Abschiedsständchen. Es war kalt und ich erinnere mich des muffigen, abgestandenen Geruches, den Miss Whittakers Kleid ausströmte, als hätte sie es direkt aus einer Truhe geholt, die schon seit Jahren vergessen auf dem Speicher eines alten Hauses steht.

Auch in der Kutsche war es kalt; man wickelte eine warme Decke um meine Beine. Tante Maude protestierte dagegen, den langen Weg in der zugigen Kutsche zurückzulegen, schließlich gäbe es inzwischen die Eisenbahn und Automobile, doch Miss Whittaker wollte nichts davon wissen, und antwortete kalt, mit einer tiefen, rauen, eisigen Stimme, durch die alles Gesagte klang, als sage man es in einem jahrhundertealten, zugigen Kellergewölbe, das keine Zugverbindung nach Greenfriars existiere und davon abgesehen, Lady Blackwell großes Misstrauen und eine tiefe Abneigung gegen die neuen Fortbewegungsmittel hege, was sie sehr gut nachvollziehen könne.

Als die Kutsche anzog und die Abfahrt hinunter rollte, riss ich die Decke fort, kniete mich auf den Sitz und sah aus dem kleinen, ovalen Hinterfenster hinaus, sah Tante Maude, die mit aufgelösten Haaren, weinend, hinter der Kutsche herlief und mir nachwinkte. Langsam wurden sie und das große Haus kleiner und verschwanden schließlich, als die Kutsche auf die Straße einbog.

Mrs. Whittaker holte mich auf den Sitz zurück. Sie sah mich tadelnd an und sagte, sie sei nicht gewillt, dauernd hinter mir her zu sein, wie hinter einem zappelnden Fisch.

»Die Fahrt ist lang«, sagte sie streng. »Nun benehmen Sie sich - Mylord.«

Ich zuckte bei der ungewohnten Anrede zusammen.

Sie kauerte sich in eine Ecke, zog das Regencape enger um die Schultern und schlief ein.

Ich aber blieb wach und sah aus dem Fenster hinaus, sah Städte und Dörfer an mir vorüber ziehen. Allmählich wurde die Landschaft rauer, hügeliger, einsamer. Aus den breiten Straßen wurden schmale, steinige Landstraßen. Ich hörte den schweren, rasselnden Atem der Pferde, die die Kutsche immer weiter vorwärts zogen - fort von allem, was ich einst geliebt hatte, einem ungewissen Schicksal entgegen. Der Kutscher sang leise ein altes Lied, das mir bis heute in den Ohren klingt:

Komm, Mädchen tanz mit mir,

hell ist der Sonnenschein; mein Herz gehört nur dir,

sollst meine Liebste sein. Schön ist der Tag,,

schön ist die Nacht; mit dir verbracht ....

7. Kapitel

Unsere Fahrt erschien mir endlos. Wir übernachteten zweimal in einfachen, dunklen Landgasthäusern, dessen wenig Vertrauen erweckende Besitzer die seltsame Reisegesellschaft argwöhnisch beobachteten.

Als wir uns schließlich Greenfriars näherten, begann es zu dämmern. Das wilde, hügelige, walisische Umland, kaum bevölkert, Herberge unzähliger Fabelgestalten und Zauberwesen, machte auf mich einen unwirklichen, bedrohenden Eindruck.

Ich war eingenickt, und erst als wir schon Blackwells Market, ein kleines Dorf, eingebettet in ein Tal zwischen felsigem, schroffen Gestein, begrenzt von einem großflächigen Waldgebiet, Gordons Forrest, dessen Ursprünge mit der Erbauung des Herrensitzes eng zusammen lagen, hinter uns hatten, erwachte ich, weil mich Miss Whittaker unsanft weckte.

Ich sah aus dem Fenster, an dessen Scheibe vereinzelte Regentropfen glänzten und sah die wenigen Lichter der kleinen, strohgedeckten Häuser und einige versteinerte Gesichter, die dem Wagen, der offenbar gut bekannt war, neugierig nachstarrten. Und dann sah ich es zum ersten Male:

Greenfriars.

Das alte, verwinkelte Herrenhaus lag dunkel und einsam auf einer Anhöhe, umgeben von ausgedehnten Ländereien, die einst ein wunderschöner, blühender Garten gewesen sein sollen.

Wie soll ich seine Wirkung auf mich beschreiben? Ich war wie gelähmt und konnte den Blick - obwohl sein Anblick, dass vom Ruß geschwärzte, langsam verfallende Mauerwerk, die vielen kleinen verwirrenden Türme und Türmchen, die es aussehen ließen wie ein verwunschenes Märchenschloss, der verwilderte, von rankendem Unkraut überwucherte Garten, mir unheimlich war - nicht von ihm wenden. Hinter einem der hohen Fenster brannte ein einsames Licht, wie das Feuer eines Leuchtturmes, das den Schiffen auf hoher See heimleuchtet. Der Rest war in schwärzeste Dunkelheit getaucht und die Umrisse, hoben sich vom bleigrauen, von Wolken durchzogenen Himmel ab, wie der Schatten eins Dämons. Der gesamte Besitz schien mir entgegen zu schreien: Verschwinde! Ich sank verzweifelt auf den Sitz zurück.

Als wir durch die Toreinfahrt fuhren, erkannte ich erschrocken im Schein der Laternen des Wagens, ein eigenartiges Wesen, das auf einem der hohen Pfeiler saß, und mich neugierig aus glühenden Augen ansah.

Ich sprach Miss Whittaker darauf an.

»Wesen?«, fragte sie und schüttelte den Kopf. »Das war eine der hohen Steinfiguren, die auf den Sockeln rechts und links des Tores sitzen. Sie stellen Figuren aus der hiesigen Mythologie dar. Man kennt den Künstler nicht, der sie schuf. Sie sind schon sehr alt. Du wirst viele solcher Figuren auf Greenfriars entdecken. Die Familie Blackwell hat sich in allen Zeiten mit der Volkskunde dieser Gegend befasst und besonders mit den alten Sagen. In der Bibliothek werden Sie eine große Sammlung alter Handschriften finden, deren Ursprung noch auf Ihren Urahn Lord Gordon zurückgeht.«

Eine Steinfigur? Aber ich war mir sicher, dass sie mich angestarrt hatte, aus gierigen, glutroten Augen. War ich übermüdet? Hatte ich mir das nur eingebildet? Ich zog unwillkürlich den Kopf ein und zog die Decke, die über meinen Knien lag, enger an mich.

Eine lange, von hohen Bäumen gesäumte Auffahrt, führte zum Herrenhaus hinauf. Durch ein weiteres Tor fuhren wir in einen gepflasterten Hof und vor dem Hauptportal vor.

Der Kutscher öffnete den Wagenschlag - ein kalter, feuchter Luftzug traf mich und ließ mich erschauern. Irgendwo krächzte heiser ein Käuzchen, der Mond, der inzwischen aufgegangen war, warf sein silbrig-dunstiges Licht in den Hof; Nebelschwaden zogen um das Haus, wie fein gewebten Schleier.

Von der ersten Sekunde an, fühlte ich mich beobachtet.

Während der Kutscher das Gepäck ablud, sah ich mich um; außer aus einem Fenster über dem großen Hauptportal, drang kein Lichtschein nach außen. Grabesstille umfing uns, die mehr als anderes, bedrückend wirkte. Eine Wolke schob sich vor den Mond und für wenige Sekunden wurde es stockfinster; plötzlich war mir, als spüre ich einen warmen Atem in meinem Nacken und ich hörte ein heiseres Röcheln. Ich wandte mich langsam um und als im selben Augenblick die Wolke vorüber zog, und das Licht des Mondes erneut den Hof erhellte, sah ich mich eines jener unheimlichen Wesen gegenüber, die mir schon an der Toreinfahrt aufgefallen waren; die rot glühenden Augen des Wesens, das eine Mischung aus einem großen Hund mit spitzen Ohren und einer Art Drachen mit langem, gezacktem Schwanz war, starrten mich an. Es fletschte die spitzen Zähne und sein feurigheißer Atem zeichnete weiße Rauchwolken in die Luft.

Erschrocken und ängstlich schrie ich auf und wich einen Schritt zurück. Ich prallte gegen Miss Whittakers Beine, die hinter mir stand und das Ausladen des Gepäckes überwachte.

»Was ist denn?« fragte sie ungeduldig.

Ich deutete mit zitternder Hand in die Dunkelheit vor mir, in der, außer den langsam sich verziehenden Rauchwolken nichts mehr zu sehen war. Miss Whittaker stieß einen laut vernehmlichen Seufzer hervor, packte mich an der Hand und zerrte mich nach vorn.

Plötzlich standen wir vor einer großen Steinfigur, eine von zwei Figuren, die rechts und links, die Treppe flankierten, die zum Hauptportal hinaufführte. Miss Whittaker legte die Hand auf den Kopf des Ungeheuers. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass es hier auf Greenfriars von diesen Figuren nur so wimmelt. Sie werden sich wohl oder übel an sie gewöhnen müssen.« Sie streichelte den Kopf des Hund-Drachens mit einer Zärtlichkeit, die mich erschreckte. Dann sah sie triumphierend auf mich hinab. »Auf Greenfriars gibt es vieles, an das Sie sich gewöhnen müssen. Hier gehen die Uhren anders. Ich rate Ihnen, tun Sie es so schnell wie möglich.« Sie sah mit erhobenem Kopf fast angeekelt auf mich hinab. Warum nur hatte diese Frau eine solche Abneigung gegen mich? Sie packte wieder meine Hand und wir erklommen die Treppe zum Hauptportal.

Miss Whittaker betätigte den metallenen Türklopfer, einen eisernen Ring, der aus dem Maul eines großen Löwenkopfes hing, aus dessen wilder Mähne zwei Hörner herauswuchsen, und das laute Hämmern zerriss die absolute Stille um uns und hallte in den weiten Hallen und Fluren des weitläufigen Hauses wieder.

Nach geraumer Zeit, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, öffnete sich quietschend und knarrend das Portal; die großen Flügeltüren, die beidseitig mit dem Wappen meiner Familie geschmückt waren, schwangen nach innen auf und gaben den Blick auf eine geräumige, quadratische, dunkle Halle frei.

Ein Mann stand vor uns, dessen hohe, schlanke Gestalt einen langen Schatten auf die Treppenstufen hinter uns warf. Er hatte leuchtend weißes Haar und ging leicht gebückt. Seine wachen, warmen, ehemals dunklen, nun von langer Lebensdauer getrübten Augen, eingebettet in ein Gewebe aus Falten und Runzeln, die auf ein hohes Alter schließen ließen, musterten mich neugierig, jedoch nicht feindselig. Ein weises Lächeln lag auf den blutleeren Lippen und die tiefen Falten um den Mund herum, zeigten mir, das er das in diesem düsteren Haus nicht oft tat. Das Lächeln erstarb, als Miss Whittaker ihn missmutig anfuhr:

»Das hat ja wieder gedauert! Wir sind schon fast steif gefroren, Finch«, und ihn barsch zur Seite schob, um an ihm vorbei mit festem Schritt in die Halle zu stürmen.

Von der ersten Sekunde unserer Begegnung an, war da ein seltsames Gefühl der Sicherheit, das von ihm ausging, so wie von Miss Whittaker eine fast körperlich spürbare Gefahr; auch hatte ich das seltsame Gefühl keinem Fremden gegenüber zustehen, den ich das erste Mal sah, sondern einem alten Freund, dem ich mich anvertrauen kann, und der mich beschützt.

Die kalte, dunkle Fremde, war plötzlich nicht mehr ganz so kalt und dunkel ...

Der alte Mann beachtete sie gar nicht, sondern konzentrierte sich ganz auf mich. Er musterte mich so, als versuche er, in meinem Gesicht etwas zu finden, wonach er schon lange gesucht hatte. Wieder erschien das verhaltene Lächeln auf seinen Lippen. Er schien gefunden, was er gesucht hatte.

Miss Whittaker hatte bereits ihren Hut abgenommen und auf einem großen, runden, sehr alt aussehenden Holztisch, der in der Mitte der Halle stand, abgelegt und klatschte nun ungeduldig in die Hände:

»Na, wird's denn bald?«

Der intensive Blickkontakt zwischen uns riss ab und der alte Mann und ich erwachten wie aus einer Trance zum Leben.

Er trat zur Seite, neigte seinen Kopf und ich betrat zögernd die Halle. Hinter mir kam der noch immer stumme Kutscher mit dem Gepäck.

Als Finch die großen Türen des Hauptportals wieder schloss, krampfte sich mein Herz, als habe sich eine eiskalte Hand darum geschlossen. Alles um mich herum war groß und pompös, die schweren, geschnitzten Möbel und die zahlreichen Porträts meiner Ahnen, die, in mächtige, vergoldete Rahmen gezwängt, die Wände ringsumher bedeckten und mich aus dunklen, geheimnisvollen Augen grimmig ansahen.

»Willkommen auf Greenfriars, Master Anthony.«

Ich erschrak. Der alte Mann in der dunklen Livree war, ohne dass ich es bemerkt hatte, hinter mich getreten.

»Mylord«, setzte er fast liebevoll hinzu.

Ich errötete bei der ungewohnten Anrede und wusste nicht, was ich sagen sollte. »Bitte sagen Sie doch Anthony, Sir« stammelte ich verlegen.

»Das wäre wohl kaum angemessen«, sagte Miss Whittaker kalt. »Das ist Finch, der Majordomus des Hauses. Er wird Ihnen zur Verfügung stehen, wann immer sie es wünschen.«

»Guten Tag«, sagte ich kleinlaut.

Miss Whittaker, die inzwischen auch den Mantel abgelegt hatte, schüttelte verständnislos den Kopf. Sie wandte sich an Finch:

»Ich hoffe, es ist alles in Ordnung? Keine Vorfälle, während ich fort war?«

Der alte Mann schüttelte stumm den Kopf. Noch immer ruhten seine Augen auf mir. Wie alt mochte er sein?

Er half mir schließlich den Mantel auszuziehen.

»Ich habe das ehemalige Kinderzimmer herrichten lassen«, sagte er in gleichgültigem Tonfall zu Miss Whittaker, ohne sie dabei anzublicken. »Ich denke, es entspricht am besten den gewünschten Anforderungen.«

Miss Whittakers Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. »Das war so nicht abgesprochen, Finch«, flüsterte sie leise und es klang wie das gefährliche Zischen einer Schlange.

Finch wandte sich abrupt von mir ab und blickte die Hausdame streng an. Sein Rücken richtete sich und er wurde so noch ein Stück größer, als er sowieso schon war und sah auf Miss Whittaker hinab. »Dann habe ich Sie wohl falsch verstanden, Madam«, sagte er kalt. Sie standen sich gegenüber wie zwei Kampfhähne, die jeden Moment aufeinander losgehen wollten.

»Das Zimmer ist kalt, vollkommen verdreckt und altmodisch. Es ist seit einer Ewigkeit nicht mehr in Benutzung gewesen«, erwiderte sie. »Sie dürften das doch wohl am besten wissen.«

»Ich sagte bereits, ich habe es herrichten lassen. Es ist das traditionelle Kinderzimmer in diesem Haus, seit es für Lady Goodiva, die Tochter von Lord Gordon eingerichtet wurde.«

»Vor über sechshundert Jahren!«

Nun schwieg Finch. Die Stille, die eintrat, war bedrückend. Es war, als fochten die beiden ihren Kampf allein in Gedanken weiter.

Schließlich gab Miss Whittaker auf. »Also gut«, sagte sie leise. »Aber darüber sprechen wir noch, Finch! Und ich werde Lady Blackwell darüber informieren.«

Sie wandte sich abrupt ab und durchquerte die Halle, steuerte auf eine breite, geschwungene Treppe mit einem mächtigem, geschnitzten Geländer zu, die zu einer der Nordwand gegenüber dem Hauptportal vorgebauten, steinernen Galerie mit geschwungenen Arkadenbögen. Die Absätze ihrer Schaftstiefel schlugen auf den alten Marmorboden und das laute Geräusch hallte im ganzen Haus wider.

Am Treppenabsatz wandte sie sich zu uns um und funkelte uns böse an. »Nun, was ist Mylord? Ich werde Sie hinauf bringen.« Geringschätzig fügte sie mit einem Seitenblick auf Finch hinzu: »In Ihre neuen Gemächer.« Dann blickte sie wieder zu mir und bleckte die Zähne in unnatürlichem Grinsen: »Ich hoffe, es wird Sie nicht stören, Master Anthony, das man dem Zimmer nachsagt der Geist der verstorbenen ersten Bewohnerin, Lady Goodiva, wohne in ihm.« Sie wandte sich wieder an Finch. »Seine Lordschaft, der neue Herr auf Greenfriars ist nämlich etwas - ängstlich und hat eine lebhafte Phantasie.«

Sie warf den Kopf nach hinten und stieg stolz, die Brust vorgestreckt, den Rücken gerade durchgedrückt, ihren lange Rock mit beiden Händen gerafft, die Treppe hinauf.

Finch ergriff stumm meinen Koffer und tauschte einen schnellen Blick mit dem Kutscher, der abseits stand und die ganze Szene wortlos beobachtet hatte, sich aber nun abwandte und durch eine Seitentür aus der Halle verschwand.

Als sich Finch zu meinem Koffer hinunter bückte, raunte er mir leise zu: »Keine Angst, Master Anthony, Lady Goodiva war ein sehr sanftmütiges Geschöpf und hat niemals jemandem etwas zuleide getan. Weder im Leben, und schon gar nicht später.« Er kniff ein Auge zu und ließ mir den Vortritt, damit ich vor ihm die Halle durchqueren konnte.

Wir stiegen die große Treppe hinauf, dessen geschnitztes Geländer meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Es waren keine gewöhnlichen Schnitzereien, sondern, wie schon zu Seiten des Hauptportals seltsame, unbekannte Wesen dargestellt, und zwar mit solcher Genauigkeit und Liebe zum Detail, das man sie fast für lebendig halten konnte. Den Abschluss des Geländers bildete ein Drache, dessen gewundener Schwanz von zahlreichen Zacken bewehrt war. Er hatte sein Maul weit aufgerissen und zeigte unzählige, spitze Zähne; seine Klauen, mit den spitzen Nägeln, waren angriffslustig nach vorn gestreckt und schienen jeden warnen zu wollen, der die Absicht hatte, die Treppe ins obere Stockwerk zu erklimmen. Wie schon mehrmals zuvor, dachte ich wieder, dass das ganze Haus den Eindruck machte, als sei jeder Besucher, wer und was er auch sei, unerwünscht, und es gälte ihn unter allen Umständen abzuschrecken. Ein kalter Windzug fegte durch das alte Gemäuer und ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen.

Die breite Treppe lief nach etwa einem Dutzend ausgetretener Stufen auf ein quadratisches Podest aus und beschrieb dann einen Bogen nach links, auf die steinerne Galerie in der ersten Etage zu.

Ich erschrak, als ich das Podest betrat, unvermittelt hochsah und in ein Augenpaar blickte, dessen Pupillen von strahlendem Blau waren, wie das Wasser eines kristallklaren Bergsees, welche mich ebenso neugierig zu mustern schienen, wie schon zuvor die des alten Hausdieners.

Ich zuckte unwillkürlich zusammen und blieb stehen. Finch, direkt hinter mir, bemerkte es.

Es brauchte einige Sekunden, bis ich begriff, dass ich dem überlebensgroßen Ölporträt eines Mannes gegenüberstand, das an der Wand über dem Podest in einem schweren, goldenen Rahmen hing, den das Wappen meiner Familie zierte.

Das Porträt war so exzellent, mit feinstem Pinsel gemalt, das man für einen Moment im Halbdunkel wahrhaftig glauben konnte, man stünde einer lebendigen Person gegenüber, die einen zwar argwöhnisch und bestimmt, aber durchaus nicht feindselig anblickte.

Auffallend war die lange, schwarze, von eisgrauen Strähnen durchzogene Mähne des Mannes, die im rauen Wind des walisischen Hochlandes wie das Banner eines Königs wehte. Das Gesicht war kantig, rau, mit energischem Kinn und schmalen, verbissen aufeinandergepressten Lippen, die zeigten, dass der Mann willensstark und zu allem entschlossen war.

Am auffälligsten aber waren die hellen, klaren Augen, die weit in die Ferne zu blicken schienen und sich doch auf den Betrachter fokussierten.

Der Mann trug einen glänzenden, metallenen, wie aus Silber gefertigt wirkenden Brustpanzer und darunter weiche, wollene Kleidung, Hose und Überrock; ein scharlachroter Umhang war mit goldenen, Löwenköpfe darstellenden Spangen an dem Brustpanzer befestigt und wehte ebenfalls im Wind.

Er hatte die eine Hand auf ein großes, wertvoll aussehendes, zweischneidiges Schwert gestützt, dessen goldener Knauf, ebenfalls in Form eines Löwenkopfes gefertigt war. In der anderen Hand hielt er einen scharlachroten Schild, auf dem das Familienwappen prangte.

Im Hintergrund war das walisische Hochland dargestellt, mit sanft ansteigenden Hügeln und saftigen, grünen Wäldern, so detailgenau, das man den Wind in den Bäumen rauschen zu hören glaubte. Ganz klein, rechts unten in einer Talsenke zwischen den Hügeln, entdeckte ich Greenfriars.

Ich blieb vor dem Bild stehen und starrte wie gebannt zu dem Mann hinauf, dessen durchdringend blaue Augen mich noch immer kritisch musterten.

Eine Stimme ertönte hinter mir:

»Das ist euer Ahnherr, Master Anthony«, sagte Finch, der sah, das ich meinen Blick nicht von dem Bild abwenden konnte. Er beugte sich zu mir hinab und senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Gordon Lord Blackwell, der erste Earl of Darrowfalls, Feldherr und General, loyaler Diener seiner Majestät und Erbauer dieses Hauses. Er ging aus unzähligen Schlachten ungeschlagen hervor und -«, er unterbrach sich und lächelte, »und den Rest werde ich euch später erzählen, wenn Ihr ausgeschlafen seid, Mylord.«

Tief beeindruckt von dem Mann auf dem Porträt sagte ich gedankenverloren:

»Ein wundervolles Bild. Man kann ihn atmen hören und den Wind pfeifen, in den Blättern der Bäume. Der Maler muss ein Meister seines Faches gewesen sein.«

»Danke sehr, Mylord«, sagte Finch.

»Wofür?« Ich sah ihn fragend an.

»Für das Kompliment.«

Meine Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Wie? Sind Sie denn ...?«

»Ja, Mylord«, sagte Finch lächelnd, »ich bin der Maler des Bildes.«

Er streckte seine Hand aus und wies mir den Weg, den Rest der Treppe hinauf, in den ersten Stock.

8. Kapitel

Das Zimmer, das ich von nun an bewohnen sollte, war groß und quadratisch wie die Halle. Es hatte eine niedrige Decke aus sehr altem, dunklem, fast schwarzen Holz und auch die Wände waren getäfelt. Es wirkte düster und bedrückend auf mich und die Atmosphäre, die vorherrschte, war die eines geheimen, heiligen Ortes, welchen seit sehr langer Zeit kein menschliches Wesen mehr betreten hatte.

Die von den vergangenen Jahrhunderten fast schwarz gefärbte Wandtäfelung, war nur an einigen wenigen Stellen sichtbar; ringsumher waren die Wände bedeckt mit großflächigen, sehr alt wirkenden, verstaubten Gobelins.

Da der Raum nur von einer einzigen Öllampe, und dem Schein des flackernden Kaminfeuers erhellt wurde, konnte ich nur einen Teil des Zimmers richtig erkennen. Ich erkannte ein großes Himmelbett mit einem Karmesin roten Baldachin, der auf vier hohen, gewundenen Säulen ruhte. Er war mit kostbaren, altgoldfarbenen Stickereien verziert, die ebenso seltsame Wesen zeigten, wie das Treppengeländer in der Halle.

Das Zimmer hatte rechter Hand einen Erker mit hohen Fenstern aus Buntglasscheiben, auf die kunstvoll verschiedene Wappen gemalt waren. In dem Erker stand ein schwerer Tisch mit gewundenen Füssen und darum herum sehr alt wirkende Stühle mit hohen, geschnitzten Lehnen und Sitzen aus uraltem, brüchigem Leder.

Die Möbel, Tisch, Stühle das Bett und ein hoher, breiter Schrank links vom Bett, waren, so erkannte ich erstaunt, nicht etwa zu groß für mich, sondern passten sich der Größe eines zehnjährigen Kinderkörpers genauestens an.

Beeindruckt sah ich mich um, während Miss Whittaker, die uns bereits erwartete, meine Reisetasche entgegennahm und auf dem Bett platzierte.

»Wie ich es mir gedacht habe«, stellte sie mit Genugtuung fest, »vollkommen verdreckt. Ich werde morgen eines der Mädchen damit beauftragen ein anderes Zimmer herrichten zu lassen.«

Finch schwieg stoisch.

»Nein!«

Miss Whittaker sah mich an, als hätte ich ihr ins Gesicht geschlagen. »Wie?«

»Ich möchte hierbleiben.«

Warum hatte ich das gesagt? Es war, als habe sich ein anderer meiner Stimme, ja, meines ganzen Geistes bemächtigt. Das Zimmer gefiel mir durchaus nicht, es war düster und unheimlich und ich konnte mir nicht vorstellen, hier auch nur eine einzige ruhige Nacht allein verbringen zu können. Was ging vor in diesem Haus? Wieder war da die kalte Hand, die mein Herz umfasste und zusammenpresste.

Miss Whittaker zögerte. Dann sagt sie leise: »Wie Sie wünschen, Mylord«, und fügte kalt, fast gehässig hinzu: »Aber beschweren Sie sich nicht über Alpträume.«

Zum zweiten Mal in dieser Nacht hatte sie eine Niederlage erlitten. Ich blickte zu Finch. Er sah stur in Richtung des Erkers und erwiderte meinen Blick nicht, doch ein kaum merkbares Lächeln umspielte seine Lippen.

»Bitte gehen Sie sofort zu Bett, Mylord« sagte Miss Whittaker und sah kalt auf mich hinab.

»Das Haus ist sehr alt und die Kälte, die im Mauerwerk sitzt, kann selbst ein loderndes Kaminfeuer nicht ganz vertreiben. Milli, eines der Dienstmädchen, wird Sie morgen früh um punkt acht Uhr wecken und Ihnen das Frühstück servieren.«

Sie wandte sich zum Gehen, doch auf halben Wege drehte sie sich um und funkelte mich herrisch an. »Und bitte, berühren Sie die Gobelins an den Wänden nicht. Es sind Einzelstücke, handgefertigt.«

»Was suchen sie dann im Kinderzimmer?«, fragte ich.

Wie ich bemerkte, zögerte Miss Whittaker mit der Antwort. Schließlich sagte sie: »Die Gobelins sind nach Plänen und Zeichnungen Lady Goodivas angefertigt worden, die als erste dieses Zimmer bewohnte. Sie hat an manchen selber mitgestickt. Es war ihr Lebenswerk und sie hat verfügt, dass sie in diesem Zimmer zu bleiben haben.«

Sie wandte sich ab und schritt in Richtung Tür.

»Miss Whittaker?«

Sie hatte die Hand bereits an der Klinke, als sie innehielt und sich wieder zu mir umwandte. »Ja?«

»Wann kann ich meine Urgroßmutter sehen?«

Wieder zögerte sie, ehe sie antwortete: »Bald, Mylord. Lady Blackwell ist sehr alt und ihr Gesundheitszustand hat sich in der letzten Zeit sehr verschlechtert. So leid es mir tut, dem müssen wir Rechnung tragen. Sie darf sich auf keinen Fall aufregen.« Ihre dunklen Augen leuchteten mir aus dem Halbdunkel entgegen und erinnerten mich für einen kurzen Augenblick an die rot glühenden Augen des Fabeltieres neben dem Treppenaufgang des Hauptportals.

»Und jetzt eine gute Nacht, Mylord - und angenehme Träume.«

Sie richtete ihren Oberkörper auf, trat hinaus und schloss die Tür hinter sich. Finch und ich blieben allein zurück.