Grenzfall – In den Tiefen der Schuld - Anna Schneider - E-Book

Grenzfall – In den Tiefen der Schuld E-Book

Anna Schneider

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Beschreibung

»Lassen Sie sich mit der Grenzfall-Serie auf die dunkle Seite der Alpen entführen. Allerfeinste Krimiunterhaltung!« Romy Fölck  Das Böse sprengt jede Grenze – der vierte Band der SPIEGEL-Bestseller-Serie um das deutsch-österreichische Ermittlerteam Alexa Jahn und Bernhard Krammer Chefinspektor Bernhard Krammer steht geschockt in der Wohnung seiner Kollegin Roza Szabo in Innsbruck. In ihrem Wohnzimmer liegt eine männliche Leiche mit einer Tauchermaske. Doch von Roza selbst fehlt jede Spur. Was ist geschehen? Warum hat sie nicht die Kollegen alarmiert, sondern ist wie vom Erdboden verschwunden?  Als klar ist, dass Roza das letzte Mal am Walchensee gesehen wurde, bittet Krammer Oberkommissarin Alexa Jahn von der Inspektion Weilheim um Hilfe. Aber Rozas Spur verliert sich am See. Die Ermittlungen geraten zusehends ins Stocken, doch eines wird immer klarer: Jemand ist hinter Roza her. Und wenn Alexa und Krammer sie nicht rechtzeitig aufspüren können, wird sie mit ihrem Leben bezahlen. »Perfekte Zutaten für einen äußerst spannenden Krimi vor beeindruckender Kulisse. ›In den Tiefen der Schuld‹ ist vielschichtig und tiefgründig und sehr zu empfehlen.« SR 3 Krimi-Tipp, Ulli Wagner »Hochspannend ... genial fügen sich wie bei einem Puzzle alle Teile zusammen.« Süddeutsche Zeitung Band 4 der packenden Krimiserie in der Grenzregion Deutschland – Österreich

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Seitenzahl: 447

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Anna Schneider

Grenzfall

In den Tiefen der Schuld

Kriminalroman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Der vierte Fall für das deutsch-österreichische Ermittlerteam Alexa Jahn und Bernhard Krammer

Chefinspektor Bernhard Krammer steht geschockt in der Wohnung seiner Kollegin Roza Szabo in Innsbruck. In ihrem Wohnzimmer liegt eine männliche Leiche. Mit einer Tauchermaske, auf der der Name Krisztina steht. Doch von Roza selbst fehlt jede Spur. Was ist geschehen? Wer ist Krisztina? Und warum hat Roza nicht die Kollegen alarmiert, sondern ist wie vom Erdboden verschwunden? 

Als klar ist, dass Roza das letzte Mal am Walchensee gesehen wurde, bittet Krammer Oberkommissarin Alexa Jahn von der Inspektion Weilheim um Hilfe. Aber Rozas Spur verliert sich am See. Die Ermittlungen geraten zusehends ins Stocken, doch eines wird immer klarer: Jemand ist hinter Roza her, der Name Krisztina eine Drohung. Und wenn Alexa und Krammer Roza nicht rechtzeitig aufspüren können, wird sie mit ihrem Leben bezahlen.

 

»Die Grenzfall-Reihe hat eindeutig Suchtpotential!« SR 3, Ulli Wagner

 

»Hochspannend ... genial fügen sich wie bei einem Puzzle alle Teile zusammen.« Süddeutsche Zeitung

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Schon als Kind lauschte Anna Schneider im Wirtshaus ihrer Großmutter gern den Geschichten der Gäste. Bald entwickelte sie eine Vorliebe für Kriminalfälle, bewarb sich nach dem Abitur sogar bei der Polizei, wurde aber abgelehnt. Zum Glück, denn so kam sie zum Schreiben. Für ihre Thriller lässt sie sich gern im Alltag inspirieren. So auch für die »Grenzfall«-Serie: Eine Zeitungsmeldung über einen vermissten Wanderer in Lenggries brachte sie auf die Idee. Die Nähe zur österreichischen Grenze tat ihr übriges. Die Serie spielt in beiden Ländern, Deutschland und Österreich, und lässt zwei gegensätzliche Ermittler aufeinandertreffen, die erst als Team zusammenzuwachsen müssen. Anna Schneider lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

Nachwort und Dank

[Leseprobe]

Prolog

[Newsletter]

1.

»Nun mach doch schon!«, herrschte Bernhard Krammer den Beamten an, der sich bemühte, das Schloss von Roza Szabos Wohnung zu öffnen. Seine Kollegin war am Abend zuvor spurlos verschwunden, und bis jetzt hatte er keine Ahnung, wo sie sich aufhielt.

Endlich sprang die Tür auf. Ohne ein Wort drängte Krammer den Beamten zur Seite. Er war noch nie hier gewesen und fragte sich, wie es nur passieren konnte, dass er schon seit Jahren mit Roza zusammenarbeitete, aber nicht ein einziges Mal bei ihr zu Hause gewesen war. Andernfalls hätte er in einer Minute erkannt, ob etwas verändert schien oder fehlte.

Was das über ihn selbst aussagte, beschämte ihn zutiefst. Es wurde allerhöchste Zeit, seine Haltung seinen Mitmenschen gegenüber zu ändern. Denn seit er draußen im Flur vor ihrer Tür gestanden hatte und die Angst vor dem, was sie hier vorfinden würden, ihm beinahe die Luft zum Atmen genommen hatte, war sein Wesen geläutert.

Er hoffte bloß, dass es dafür nicht bereits zu spät war.

Es blieb alles ruhig in der Wohnung, nichts bewegte sich. Auch wenn er es nicht näher begründen konnte und äußerlich nichts darauf hindeutete, spürte er dennoch deutlich, dass hier etwas nicht stimmte.

Der Beamte wollte ihn zurückhalten, doch Krammer nahm sich keine Zeit für die üblichen Routinen, für Fotos oder für Überzieher über den Straßenschuhen.

»Roza?«, rief er. »Roza, bist du hier?«

Als keine Antwort kam, hastete Krammer in den schmalen Flur. Zu jeder Seite gingen zwei Türen ab, die alle geschlossen waren. Es war ungewöhnlich stickig und warm, als würde die Heizung auf voller Power laufen. Abrupt hielt er inne. Es war nur eine feine Nuance, aber etwas drang jetzt in seine Nase, ein Hauch von Parfüm. Doch Roza trug nie welches.

»Du ruinierst hier alles, Bernhard. Nimm die Schutzkleidung!«, mahnte der Mann und hielt ihn fest.

»Lass mich in Ruhe!«, polterte Krammer los. »Bleibt alle draußen, hört ihr!«

Er erkannte sich selbst nicht wieder. Normalerweise ging er nicht so mit Kollegen um. Doch in den letzten Tagen hatte es zwei Anschläge auf Roza Szabos Leben gegeben. Dennoch hatte er sich von ihr abweisen lassen, hatte weder insistiert noch auf Erklärungen bestanden. Obwohl er hätte wissen müssen, dass wieder etwas passieren würde. Dass derjenige sich nicht geschlagen geben würde, der in ihr Leben drängte. Und der sie eindeutig töten wollte.

Krammer schob die Hand des Kollegen weg, der sich nun widerwillig entfernte, zog aber doch zur Sicherheit Handschuhe über, bevor er die erste Tür öffnete.

Die Küche. Gemusterte Kacheln mit blauen Schnörkeln darauf, eine Kochzeile mit Oberschränken, ein schmaler Tisch vor dem Fenster. Zwei Sektkelche befanden sich darauf.

Krammer trat näher, hielt sie gegen das Licht. Genauso unbenutzt wie die Champagnerflasche, die geöffnet danebenstand. Dom Pérignon. Er legte seine Hand an das Glas. Sie war zimmerwarm. Natürlich. Szabo war bereits am Vorabend hier gewesen.

Sofort kam ihm die Botschaft in der Briefbombe in den Sinn, die vor ein paar Tagen im Dezernat eingegangen und an Roza gerichtet worden war. Denkst du noch oft an mich?, hatte darauf gestanden.

Hatte der Absender ihr nun hier einen Besuch abgestattet? Es gab in der Wohnung bisher keine Unordnung, die Tür war fest verschlossen gewesen. Sie musste ihn selbst eingelassen haben, oder er besaß einen Schlüssel. Krammer betrachtete die Gläser, dachte an den Geruch des Parfüms. Eine Verabredung?

Er schüttelte den Kopf. Sie hatte sämtliche persönlichen Sachen im Büro zurückgelassen, hatte nicht einmal ihren Mantel mitgenommen. War einfach Hals über Kopf weggelaufen. Das sprach nicht für ein romantisches Date. Auch nicht dafür, dass sie mit jemandem mitgegangen war. Aber irgendetwas musste gestern Abend geschehen sein.

Er atmete tief durch, trat zurück in den Flur. Mit einem knappen Blick passierte Krammer ein Bild aus Ungarn, ihrer Heimat. Die Puszta, vermutete er. Im Vordergrund zwei Reiter mit blauen Röcken, kitschig gemalt, in einem vergolde-ten Rahmen. Daneben ein Schuhschrank. Drei Garderobenhaken mit Schals und einer Tasche daran sowie einem Hut, den er nie an Roza gesehen hatte.

Er ging weiter, sog den seltsamen Geruch tief in seine Lungen. Wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Dann hielt er auf die nächstgelegene Tür zu, ignorierte die drängenden Fragen der Kollegen, nahm sie nur noch als Hintergrundrauschen wahr.

Wenn die Wohnung so geschnitten war wie die meisten mit dieser Anordnung, lag dort das Wohnzimmer. Gegenüber musste ihr Schlafzimmer sein. Und zuletzt kam das Bad.

Seine Hand zitterte, während er die Klinke herunterdrückte. Der Geruch wurde stärker, als er die Tür ein Stück aufschob. Er versuchte sie weiter zu öffnen, aber sie ließ sich nicht bewegen. Etwas lag dahinter. Etwas Schweres. Sein Herz begann zu rasen.

Bitte nicht, dachte er. Nicht sie.

Sämtliche Vorhänge waren geschlossen, und Krammer tastete nach dem Lichtschalter.

Das grelle Deckenlicht flammte auf, blendete ihn für einen Moment. Rasch musterte er die dunklen, schweren Möbel, viel zu gediegen für Szabo, wie auch der Rest der Wohnung, die dicken grünen Vorhänge aus Samt. Auf einer gehäkelten Decke auf dem Couchtisch lagen welke Blütenblätter, die von den Rosen in der Vase stammen mussten. Aber auch hier weder Unordnung noch Kampfspuren. Nichts, das auf ein unbefugtes Eindringen hingedeutet hätte.

Nur der süßliche Duft, der ihm jetzt beißend in die Nase stieg.

Krammer wappnete sich, schob sich durch den schmalen Spalt in den Raum und sah hinter das Türblatt.

Jemand lag dort, mitten im Wohnzimmer. Der Statur nach zu urteilen definitiv ein Mann. Rasch bückte er sich, überprüfte den Puls. Der Parfümgeruch, den der Körper verströmte, nahm ihm dabei fast den Atem. Doch es war zu spät, um Hilfe zu leisten.

Das Bild, das sich ihm bot, war verstörend. Nicht nur, weil das Gesicht des Mannes komplett von einer schwarzen Tauchermaske verdeckt war, die ihn wie eine Figur aus Star Wars wirken ließ. Eine Kamera war daran angebracht, an der ein Licht rot blinkte.

Doch am meisten irritierte Krammer, dass quer über dem Glasvisier mit pinkfarbenem Lippenstift etwas geschrieben stand: In Liebe, Krisztina.

Der Kopf des Toten ruhte auf einem ebenfalls pinken Samtkissen. Rund um seinen Körper waren weiße Lilien drapiert, die den penetranten Geruch im Raum noch verstärkten.

Totenblumen, schoss es Krammer durch den Kopf.

Der Mann war in einen dunklen Anzug gekleidet, die Hände darüber verschränkt. Wie bei einem Begräbnis.

Er konnte den Blick nicht von der Szenerie lösen. So erleichtert er war, dass nicht Roza hier lag, musste dies dennoch der Grund für ihr Verschwinden sein. Und er hatte keine Ahnung, was all das zu bedeuten hatte. Oder was er als Nächstes tun sollte. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so aufgewühlt und gleichzeitig hilflos gefühlt.

»Was um Himmels willen …?«, fragte ein Kollege, der ihm gefolgt war, während die restlichen Beamten den Geräuschen zufolge bereits die anderen Zimmer überprüften.

»Roza?«, erkundigte sich Krammer bloß.

Der Mann schüttelte den Kopf. Sie blieb verschwunden.

Langsam erhob sich Krammer, bemüht, seine professionelle Haltung wiederzufinden. »Eine Leiche, offensichtlich männlich«, meldete er mit kehliger Stimme zurück. »Fordert die gesamte Mannschaft an, die Spurensicherung und der Gerichtsmediziner sollen sich umgehend auf den Weg machen. Aber nur der Hellinger, hört ihr! Sagt ihm, dass es um Roza geht. Und ich will, dass niemand hier reinkommt, bevor er da ist.«

»Weiß man schon, wer das ist?«, fragte der Beamte noch.

Krammer schüttelte den Kopf. Er konnte nicht einmal einschätzen, ob der Tote jung oder alt war. »Nein«, murmelte er. »Ich kann nur eins mit Gewissheit sagen: Nachdem er das Ding aufgesetzt hat, muss noch jemand hier gewesen sein.«

Sein Kollege nickte, scheuchte die anderen aus dem Flur und begann bereits zu telefonieren. Langsam ging Krammer aus dem Raum und schloss sorgfältig die Tür, bevor er seine Handschuhe auszog. Im Stillen betete er, dass es sich um einen Unfall handelte und nicht um Mord.

»Wo bist du nur hineingeraten, Roza?«, flüsterte Krammer leise.

2.

Alexa Jahn bahnte sich ihren Weg zwischen den Beamten hindurch, die die gesamte Wohnung der österreichischen Kollegin akribisch nach Fasern und anderen Spuren absuchten. Dicht dahinter folgte ihr Kollege Florian Huber. Obwohl sie auf dieser Seite der Grenze keine Befugnisse hatten, war es keine Frage gewesen, dass sie herkommen würden, nachdem sie im LKA Innsbruck erfahren hatten, dass die Kriminalinspektorin, die mit Krammer zusammenarbeitete, verschwunden war. Sie kannten Roza Szabo zwar nicht persönlich, aber Alexa hoffte, dass sie der Fall von ihren Gefühlen ablenken würde, denn das Wiedersehen mit ihrem ehemaligen Partner aus Aschaffenburg in der Woche zuvor hatte sie emotional ziemlich durchgeschüttelt.

Das Team vor Ort agierte hochkonzentriert, und obwohl viele Menschen auf engstem Raum beisammen waren, sagte niemand ein Wort. Wenn es um jemanden aus den eigenen Reihen ging, wurde noch gründlicher gearbeitet. Alexa und Huber hatten sich Schutzanzüge geben lassen. Niemand stellte Fragen, warum zwei deutsche Beamte da waren. Elly Schmiedinger, Krammers Sekretärin, hatte das Team vermutlich zuvor über ihr Kommen informiert.

Neugierig sah Alexa sich um.

Endlich trafen sie im Wohnzimmer am Ende des Flurs auf Bernhard Krammer, der mit leerem Blick mitten im Raum stand. Draußen war gerade eine Leiche abtransportiert worden, und Alexa befürchtete das Allerschlimmste.

»Elly hat uns gesagt, wo wir dich finden können«, begann sie und verkniff sich die Frage, wie es ihm ging. Weder wusste sie nähere Details, noch kannte sie ihren Vater, Bernhard Krammer, besonders gut, da sie von seiner Existenz erst wenige Wochen zuvor erfahren hatte. Aber sein Befinden war auch so deutlich zu erkennen: Seine Wangen waren eingefallen, die grauen Haare, die er stets mit einem akkuraten Seitenscheitel trug, waren zerzaust, und seine Arme hingen herab, als hätte er jegliche Kraft verloren. Er hatte bislang immer energisch und vital auf sie gewirkt, aber heute sah man ihm seine sechzig Jahre deutlich an.

»Alexa, Florian«, sagte er bloß. Dann wischte er sich über das Gesicht, als könne er damit die Bilder in seinem Kopf verjagen. »Entschuldigt, ich hatte euch völlig vergessen. Aber ich konnte ja nicht wissen …«

Er brach ab und presste die Lippen zusammen.

Ohne zu überlegen ging Alexa auf ihn zu und legte ihm die Hand auf den Oberarm. Es war das erste Mal, dass sie ihn berührte. Obwohl sie körperlich sonst eher Distanz zu Menschen hielt, war es ihr in diesem Moment ein Bedürfnis. Dennoch fühlte es sich seltsam an. Als würde sie eine Grenze überschreiten. Aber diese Geste der Verbundenheit musste sein. Krammer war völlig am Ende.

Er suchte ihren Blick, straffte sofort die Schultern und brachte ein knappes Lächeln zustande.

»Können wir irgendetwas tun?« Sie trat ein Stück zur Seite, um sie beide aus der ungewohnt intensiven Situation zu befreien. Immerhin waren sie an einem Tatort.

»Wenn ihr mir sagen könnt, wer der tote Mann ist, den wir hier gefunden haben, wäre mir schon geholfen.« Krammer schnaubte und schüttelte den Kopf. »Entschuldigt. Das war nicht fair. Ich sollte meinen Frust nicht an euch auslassen. Aber ich kann mir einfach keinen Reim darauf machen, was hier geschehen ist.«

Huber stand ein Stück von ihnen entfernt und betrachtete das Innere eines massiven Holzregals, in dem sich hinter Glastüren alte Bücher, Fotos und Vasen befanden.

Immerhin war es nicht Roza Szabo, die abtransportiert worden war, stellte Alexa erleichtert fest. »Was ist denn passiert? Der Tote hier … Du denkst doch nicht, dass deine Kollegin …« Sie brach ab.

Doch statt eines Wutausbruchs zuckte Krammer dieses Mal bloß die Schultern und sackte in sich zusammen. »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll, Alexa. Wirklich nicht. Wir haben heute in der Frühe bemerkt, dass Roza abgängig war, obwohl der Rechner lief. Sie hat gestern Abend Hals über Kopf das Büro verlassen. Und zwar buchstäblich: Ihr Mantel, ihre Tasche, Ausweispapiere, sogar ihr Handy – alles ist noch dort. Ein Video von der Pforte zeigt, dass sie schon gestern Nachmittag aus dem Gebäude gerannt ist, nicht lange bevor wir selbst dort eingetroffen sind. Der Mann, der Wachdienst hatte, dachte sich nichts dabei, weil ich selbst auch kurz zuvor so eilig weg bin …«

Er verstummte und musterte Alexa. Aber er musste es nicht aussprechen. Sie wusste genau, was er meinte: Krammer war ihr wieder einmal zu Hilfe gekommen. Das war der Grund gewesen, weshalb er Rozas Abwesenheit nicht bemerkt hatte. Sie atmete tief durch und verschränkte die Arme vor dem Körper.

Doch schon fuhr Krammer mit seiner Erzählung fort: »Ich habe am Abend noch lange an dem Bericht gesessen und bin dann direkt nach Hause.« Erneut hielt er inne und sah zum Fenster hinaus, so als hoffte er, seine Kollegin dort zu finden. »Roza hat wohl noch einen Termin abgesagt, den sie für heute Vormittag anberaumt hatte. Demnach schien sie bereits gestern gewusst zu haben, dass sie nicht zurückkommen würde. Als wir ihr Fehlen bemerkt haben, bin ich gleich mit einem Team hierhergefahren. Die Tür war geschlossen, aber nicht zugesperrt, was mich verwundert hat. Sie ist da sonst sehr genau, die Roza. Dann fanden wir die zwei Gläser und den Champagner in der Küche – und hier eben den Toten. Da, direkt hinter der Tür …« Krammer deutete auf den Bereich. »Ausgerechnet heute ist Rudi Hellinger, unser Gerichtsmediziner, wegen einer Tagung verreist, deshalb habe ich die Leiche direkt ins Institut überführen lassen. Zu allem Überfluss ist jedoch der Diensthabende dort erkrankt, und ihr wisst selbst, wie dünn die Personaldecke überall geworden ist. Erst recht am Wochenende. Deshalb fürchte ich, wir müssen bis Montag auf seine Rückkehr warten. Sie versuchen es natürlich schneller …« Er seufzte. »Aber Hellinger ist eh der Beste, den wir haben. Er kennt Roza schon seit Jahren und wird sich umgehend um den Fall kümmern, da bin ich sicher. Dennoch verlieren wir dadurch wertvolle Zeit …«

Alexa umrundete das Sofa, um sich anzusehen, wo der Mann gelegen hatte. In dem pinken Kissen, neben dem eine Tatortnummer stand, war noch deutlich die Vertiefung zu erkennen, wo der Kopf des Toten geruht hatte. Eine große, beschriftete Beweismitteltüte enthielt weiße Lilien. Blut- oder Kampfspuren gab es keine.

»Der Tote war ein Mann?«, äußerte sich nun Florian Huber von der anderen Seite des Zimmers. »Bei dem Geruch hier drin hätte ich eher auf eine Frau getippt.«

»Das sind die Blumen.« Alexa deutete auf die Tüte. »Lilien riechen sehr intensiv.«

Aber da war noch etwas. Eine süßliche Geruchsmischung hing schwer im Raum.

»Er trug eine Vollgesichtsmaske, wie man sie zum Tauchen benutzt«, sagte Krammer nun, »daher konnte ich seine Züge nicht besonders gut erkennen. Aber es war definitiv ein Mann.«

»Eine Tauchermaske? Könnte es auch ein Unfall gewesen sein? Vielleicht bei einem Sexspiel?«, fragte Huber.

»Ich weiß nicht, was ich denken soll, Florian. Möglich ist alles. Aber warum hier? Und die Blumen hat er wohl kaum zuvor um sich herum drapiert. Das schließt einen Tod ohne Vorsatz natürlich nicht aus, aber es war definitiv noch jemand anwesend.«

Und all das hat etwas mit Roza zu tun, fügte Alexa im Stillen hinzu.

Krammer zeigte ihnen Fotos von der Leiche. »Wir tappen völlig im Dunkeln, was die Todesursache angeht. Es deutet allerdings nichts auf eine Gewalteinwirkung hin. Oberflächlich waren keine Abwehrspuren oder Verletzungen zu sehen, und auch hier in den Räumen haben wir keine Anzeichen eines Kampfes gefunden. Natürlich ist die Spurensicherung noch nicht abgeschlossen. Aber wie ich es drehe und wende: Jemand liegt tot in dieser Wohnung, und von Roza fehlt jede Spur. Warum hat sie nicht einfach unsere Kollegen hergerufen? Oder den Notarzt …?« Abrupt brach er ab und wandte ihnen den Rücken zu.

Er musste nicht aussprechen, was ihn so umtrieb. Er war nicht bloß verletzt, weil seine Kollegin ihn nicht einbezogen hatte. Vielmehr würde Roza es vermutlich nur dann unterlassen, wenn sie selbst etwas mit dem Tod des Mannes zu tun hatte. Alexa konnte ihren Vater gut verstehen. Es musste schrecklich sein, wenn derjenige, mit dem man tagein, tagaus zusammenarbeitete, plötzlich im Verdacht stand, in ein Verbrechen verwickelt zu sein.

»Aber wenn Roza gestern Abend schon verschwunden ist, könnte doch auch jemand die Leiche in ihre Wohnung gebracht haben, ohne dass sie überhaupt davon wusste. In der Nacht, zum Beispiel«, warf Alexa ein.

»Und weshalb ist sie dann wie der Teufel aus dem Büro gerannt, wenn sie nichts damit zu tun hat?« Krammer fuhr herum, aber sofort schien er den aufgebrachten Ton zu bereuen und mäßigte sich. »Ohne ihre persönlichen Sachen?«

»Möglicherweise sollten wir vorerst nicht darüber mutmaßen, warum sie weg ist, sondern lieber herausfinden, vor wem sie geflüchtet sein könnte. Vielleicht kommen wir so weiter. Gab es in letzter Zeit einen Fall, bei dem jemand eine Rechnung mit ihr offen hatte?«

Krammer schaute Alexa lange an und schien etwas abzuwägen. »Da ist noch etwas, das ich euch erzählen muss«, begann er. »Es gab bereits zwei seltsame Vorfälle in den letzten Tagen: Erst kam eine Briefbombe bei uns im LKA an. Direkt an Roza adressiert, die das Ding aber zum Glück nicht geöffnet hat, sondern von den zuständigen Kollegen überprüfen ließ. Und dann hatte sie gestern Vormittag einen Unfall. Jemand hat sämtliche Radmuttern gelöst, sie verlor die Kontrolle über den Wagen, hatte aber riesiges Glück und ist erneut unverletzt geblieben. Sie hat auch das bloß abgetan, aber der Mechaniker, der den Wagen abgeschleppt hat, meinte, das könne kein Zufall sein. Auf jede meiner Fragen zu diesen Vorkommnissen reagierte sie abweisend und hat mich wie einen Idioten hingestellt. Natürlich hätte ich dem weiter nachgehen müssen, das ist mir jetzt auch klar. Aber ich steckte mitten in einem seltsamen Fall in Gnadenwald, war mit den Gedanken ganz woanders.« Er legte den Kopf in den Nacken. »Dann kam Florians Anruf, und wir sind auf die Alm, um dich zu suchen. Und jetzt …«

»Jetzt müssen wir die Nerven behalten und nach ihr suchen«, unterbrach ihn Alexa mit fester Stimme und nickte Huber zu. Der schien genau wie sie selbst entschlossen zu sein, Krammer zu unterstützen. Alexa fühlte sich ihm sowohl als Kollegin wie auch als Tochter verpflichtet. Erst recht, weil er ihr schon mehr als einmal aus einer brenzligen Situation herausgeholfen hatte. Zwar hatte Ludwig Brandl, ihr Chef, ihre Suspendierung am Vorabend mit milden Auflagen aufgehoben, da ihr letzter Einsatz eindeutig gezeigt hatte, dass sie wieder voll arbeitsfähig war. Vermutlich hatte er es jedoch vor allem deshalb getan, um etwaige Fragen im Keim zu ersticken, wieso sie in dieser Zeit überhaupt an einer Ermittlung beteiligt gewesen war – erst recht auf der anderen Seite der Grenze. Außerdem lag momentan kein wichtiger Fall auf ihrem Tisch in der Inspektion in Weilheim. Und es war Freitag, das Wochenende stand bevor, die Altfälle konnten also gut noch etwas länger warten.

»Das hat doch keinen Sinn«, hielt Krammer dagegen. »Ich habe ja nicht die leiseste Ahnung, wo ich überhaupt anfangen soll! Wir können sie nicht orten, ihr Auto ist in der Werkstatt. Trotzdem kann sie mittlerweile überall sein … Übrigens wurde ihr Handy mit Hunderten von Nachrichten eines Bots überflutet, aber sie sind vollkommen leer. Kein einziges Wort, das Aufschluss darüber gibt, wo sie sein könnte oder worum es hier überhaupt geht. Ich habe nicht den winzigsten Anhaltspunkt! Buchstäblich nichts! Ich will euch da nicht mit hineinziehen. Denn ihr seht ja selbst … Und mit jeder weiteren Stunde …« Er deutete wieder auf den Platz, wo die Leiche gelegen hatte.

Doch Alexa ließ sich nicht beirren. »Komm«, sagte sie resolut. »Hier stehen wir nur im Weg. Wir fangen an, wie wir es immer tun. Zuerst befragen wir die Nachbarn im Haus. Vielleicht ist denen etwas aufgefallen: ein Geräusch, ein Auto, eine fremde Person. Jemand, der das Gebäude beobachtet hat. Und sie können uns eventuell sagen, ob Roza gestern Abend noch einmal hier gewesen ist. Ob Licht bei ihr brannte oder sie ihr im Flur begegnet sind. Danach sehen wir uns sämtliche Unterlagen der letzten Fälle an und gehen jedes Gespräch von euch noch einmal genau durch. Womöglich hatte sie bloß einen Unfall und ist nicht in der Lage, sich zu melden. Oder Roza wollte dich einfach nicht in diese Sache mit hineinziehen und hat das Ausmaß der Bedrohung falsch eingeschätzt. Für all das gibt es einen Grund. Und den finden wir jetzt gemeinsam heraus, Bernhard. Mit vereinten Kräften. Immerhin sind wir Profis.«

3.

Zwei Stunden später saßen sie zu dritt in Krammers Büro, ohne einen Schritt weitergekommen zu sein. Die meisten Nachbarn waren nicht zu Hause gewesen, und sie würden wohl oder übel am Abend erneut sämtliche Stockwerke und benachbarten Häuser abklappern müssen. Auch hinsichtlich Kameras hatten sie keinen Erfolg gehabt. Es gab weder einen Laden in der Nähe, der einen überwachten Eingang hatte, noch irgendeine andere Bildquelle, die sie hätten anzapfen können.

Die SD-Karte aus der GoPro, die an der Tauchermaske angebracht war, brachte sie ebenfalls nicht weiter. Man hörte lediglich das Klappen einer Tür, dann einige dumpfe Geräusche. Kurz flammte das Licht auf, ansonsten war nichts anderes darauf zu sehen als Dunkelheit. Wozu die Kamera gedient haben könnte, blieb für Alexa ein Rätsel. Womöglich war das, worum es dem Täter ging, durch die in Dauerschleife laufende Aufzeichnung längst überschrieben.

Alexa startete erneut das Video, in dem Roza Szabo am Vorabend das LKA-Gebäude verließ. Sie rannte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht ließ allerdings keinen Zweifel daran, wie ernst die Sache war: aufgerissene Augen, der Mund leicht geöffnet, immer wieder wandte sie den Kopf. Sie hatte eindeutig Angst. Nur wieso? Und vor wem?

Sie schielte kurz zu ihrem Vater hinüber. Zwar hatte sie ihn zuvor besänftigt, aber natürlich warf Rozas Verhalten Fragen auf. Warum hatte sie ihn nicht ins Vertrauen gezogen, wenn sie bedroht wurde? Immerhin arbeiteten sie schon jahrelang eng zusammen.

Krammer ging mit Huber die Liste der ein- und ausgegangenen Anrufe im Büro durch.

»Auf meinen Seiten fällt mir nichts auf. Sie hat fast nur interne Gespräche geführt. Aber check doch mal diese Nummer hier, Bernhard.« Huber las sie vor.

»Die ist von einer Pizzeria. Gleich hier um die Ecke.«

»Hat sie da häufiger bestellt?«, fragte Alexa, obwohl es ihr nicht weiter verwunderlich erschien, dass eine alleinstehende Frau eine Bestellung abholte. Kaum jemand, der vergleichbare Arbeitszeiten hatte wie die Leute im Polizeidienst, kochte abends noch. Florian Huber konnte sich das vermutlich nicht vorstellen: Auf ihn warteten daheim Frau und Kinder, und vermutlich stand jeden Abend eine Mahlzeit für ihn bereit. Der pure Luxus. Sie selbst hätte ohne Lieferdienste und Mikrowelle kaum überleben können.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Krammer und fuhr sich durch die Haare.

Diesen Satz hatte er in den letzten Stunden immer und immer wieder von sich gegeben, wenn sie von ihm etwas wissen wollten. Das Geschehene rieb ihn ganz offensichtlich auf, und er war völlig überreizt. Alexa befürchtete allerdings, dass er dadurch wichtige Kraft und Konzentration verlor, die sie bei dieser Ermittlung gerade uneingeschränkt benötigten. Immerhin war Krammer der Einzige, der ihnen überhaupt etwas über Roza Szabo sagen konnte.

»Das Napoli ist zu Fuß nur zehn Minuten entfernt und liegt auf Rozas Heimweg. Insofern ist das gut möglich«, fügte Krammer schließlich nach kurzem Überlegen hinzu.

»Aber sie haben hier angerufen«, bemerkte Huber.

»Sicher bloß eine Rückfrage zur Bestellung. Oder es gab eine Verzögerung«, mutmaßte Alexa.

Huber nickte und ging mit dem Finger weiter eine Nummer nach der anderen durch.

Alexa widmete sich nun dem Bericht der Kollegen, die die Briefbombe untersucht hatten, die einige Tage zuvor im Büro eingegangen war. Der Umschlag war mit einem simplen mechanischen Auslöser versehen und wies einen fühlbaren Metallrahmen auf. Den zu bauen, war nicht sonderlich schwer. Aber es war genug Sprengstoff darin enthalten, um eine Detonation auszulösen, die die Öffnende gefährlich verletzen hätte können. Die Absicht des Absenders war somit eindeutig. Ungewöhnlich war lediglich, dass der Brief aus Ungarn kam. Aus Budapest.

Aber vielleicht hatte der Absender sie damit auch bewusst auf eine falsche Fährte locken wollen und sie sollten bloß glauben, der Anschlag hätte etwas mit Rozas Vergangenheit zu tun. Oder er wollte signalisieren, dass er schon längst über alle Berge war und eine Suche wenig Zweck hätte.

Interessanter war für Alexa der Zettel im Inneren. Denn die Nachricht Denkst du noch oft an mich? ließ eindeutig auf eine persönliche Beziehung zum Absender schließen. Aber warum hatte er diese Zeilen dann nicht in Landessprache geschrieben? Roza hätte den Wortlaut ja verstanden. Irgendetwas störte Alexa, doch sie konnte es noch nicht richtig fassen.

»Roza stammt doch aus Ungarn, oder?«, fragte sie deshalb nach.

Krammer nickte. »Dass der Brief aus ihrer Heimat kam, ist mir auch sofort ins Auge gestochen.«

»Hast du Roza darauf angesprochen?«

»Auf die Herkunft nicht«, gab er zu. »Aber sie spielte das alles ohnehin bloß herunter. Es handele sich um irgendeinen Irren, der damit seine Missbilligung gegenüber der Polizei zum Ausdruck bringen wolle.«

»So weit hergeholt ist das nicht«, wandte Huber ein. »Die Angriffe auf Feuerwehrleute, Rettungskräfte und Sanitäter häufen sich ja in letzter Zeit. Da bildet die Polizei keine Ausnahme – und einige Leute reagieren schon auf unsere bloße Existenz aggressiv.«

Krammer zuckte die Schultern. Zwar hatte Huber recht mit seiner Äußerung, es erklärte aber weder, warum ein Toter in Szabos Wohnung lag, noch wo sie selbst abgeblieben war. Den Wortlaut des Zettels erst recht nicht.

»Und was ist mit Perski?«, wagte Alexa schließlich zu fragen und kam damit auf den wunden Punkt in Krammers Leben zu sprechen. Als sie vor ein paar Wochen im Krankenhaus wegen einer Schussverletzung behandelt wurde, hatte ihr Vater einiges über seinen Widersacher erzählt, der zuletzt in der Jachenau eine Gruppe junger Männer für seine Zwecke instrumentalisiert hatte und von dem Krammer sicher war, dass er irgendwann wieder auftauchen würde, um sein Leben und seine Karriere endgültig zu vernichten.

»Immerhin ist er uns neulich als Einziger entwischt.«

Krammers Gesichtsmuskeln zuckten nervös, als sie den Namen erwähnte. Aber er schüttelte vehement den Kopf. »Selbst Perski braucht Zeit, um den nächsten Schlag vorzubereiten. Und er hätte das Ding garantiert so präpariert, dass kein Mensch bemerkt hätte, was es damit auf sich hat. Dann wäre Roza jetzt nicht mehr bei uns.«

Er sackte in sich zusammen und wandte rasch den Blick ab.

Offenbar war ihm die Zweideutigkeit seines Ausspruchs selbst aufgefallen. Doch Alexa war trotz seines Einwandes nicht bereit, diese Fährte so einfach auszuklammern. Auch Perski hinterließ nie Spuren. Und so sehr sie im Nachgang zu dem Vermisstenfall damals gesucht hatten: Niemand konnte ermitteln, wie und wohin er entkommen war. Er war wie ein Phantom. Und die Männer, die er angeheuert hatte, waren entweder tot oder gaben vor, ihn nie persönlich getroffen zu haben.

»Wurde die Herkunft der Mine aus dem Kugelschreiber schon analysiert, mit der die Nachricht in der Briefbombe geschrieben worden ist?«

Krammer blickte auf. »Bisher nicht. Roza ist ja nichts passiert, deshalb haben wir das gar nicht erst überprüft. Aber das ist ein guter Gedanke. Immerhin hat sich die Situation inzwischen grundlegend geändert.«

Sofort wählte Krammer die Nummer einer Kollegin und bat sie, die entsprechende Untersuchung zu veranlassen.

Alexa schob den Bericht zur Seite, stand auf und schaute sich an der Pinnwand noch einmal die Fotos der Leiche an, die man in Rozas Wohnzimmer gefunden hatte.

»Kann es eine Verbindung zur Schwulen- oder queeren Szene geben?«, fragte sie in den Raum hinein.

»Wegen des pinken Kissens?«, hakte Huber nach.

»Und weil man den Toten mit Parfüm überschüttet hat, und auch wegen der Aufschrift auf der Maske. In Liebe, Krisztina, mit pinkfarbenem Lippenstift … Vielleicht ist unser Opfer jemand, der sich in dieser Szene bewegt oder sogar das Geschlecht gewechselt hat? Transfeindliche Gewalt nimmt immer mehr zu. Die Kamera war dann vielleicht als ein Symbol für Voyeurismus gedacht.« Sie zögerte. »Oder es handelt sich bei dem Opfer um einen gewaltbereiten Freier.«

Krammer sah auf und musterte ihr Gesicht, als wäre sie ein Wesen von einem anderen Stern. Aber Alexa erinnerte sich noch genau an die Schlagzeilen, als Ungarn vor ein paar Jahren die Anerkennung von Transpersonen und intersexuellen Menschen abgeschafft hatte. Falls die Briefbombe und der Tote miteinander zu tun hatten, war ihr Gedanke in diesem Kontext keinesfalls abwegig.

Jetzt erhob sich Krammer, trat neben Alexa und deutete auf das Foto der Leiche. »Nur wieso dann diese Tauchermaske? Als Symbol? Dass ihm etwas die Luft zum Atmen genommen hat? Aber warum liegt er damit ausgerechnet in Rozas Wohnung?« Krammer atmete schwer und starrte an die Decke.

Alexa ließ ihm etwas Zeit. Doch nach einer Weile brach sie das Schweigen. »Ich stolpere immer wieder über den zeitlichen Ablauf. Schließlich ist nicht bewiesen, dass sie überhaupt von der Leiche wusste. Was, wenn Roza gar nichts mit dem Tod des Mannes zu tun hat? Und er bloß wie eine Art Voodoo-Puppe in ihrer Wohnung abgelegt worden ist?«

Krammer stutzte. »Du meinst, damit wir ihn dort finden? Und sie unter Verdacht gerät?«

»Zum Beispiel. Vielleicht wollte ihr jemand Ärger machen, sie in Untersuchungshaft bringen und damit aus dem Weg schaffen.« Um dann freie Bahn zu haben. Fragte sich nur, für was, fügte sie im Stillen hinzu.

Alexa betrachtete ihren Vater im Profil. Er stand da und starrte unverwandt das Foto seiner Kollegin an. Egal, ob Roza Szabo schuldlos in etwas verwickelt worden war oder selbst ein Verbrechen begangen hatte – sie musste geahnt haben, dass sie in Gefahr schwebte.

Krammer fiel es offenbar immer noch schwer zu begreifen, warum Szabo ihn nicht ins Vertrauen gezogen hatte. Und obwohl ihn vermutlich keine Schuld an dem Geschehenen traf, machte er sich Vorwürfe. Leider blockierte ihn das in seinem Denken. Er war weder offen für neue Ansätze noch schien er in der Lage zu sein, die Dinge abzuwickeln, wie er es sonst gewohnt war. Es würde ihm guttun, eine Runde um den Block zu drehen und frische Luft zu schnappen, um etwas Abstand zu bekommen. Aber sie wusste, dass sie mit diesem Vorschlag bei Krammer auf Granit beißen würde. Für ihn zählte gerade jede Sekunde, und doch wirkte er wie gelähmt. Möglicherweise war das ihre Chance, sich endlich bei ihm zu revanchieren.

»Wir sollten unsere Ermittlungen in zwei Aufgabenbereiche gliedern«, sagte sie deshalb bestimmt. »Zum einen müssen wir herausfinden, wer der Tote ist. Damit kommen wir ganz sicher ein Stück weiter. Dafür müssen wir jedoch die Resultate der Forensik und der Rechtsmedizin abwarten, wobei du ja sagtest, dass mit Letzterem erst mal nicht zu rechnen ist. Aber wir sollten die Liste aller vermissten Männer mittleren Alters noch einmal durchgehen. Vielleicht ist ein Ungar oder ein Wassersportler dabei. In der Zwischenzeit sollten wir Thesen entwickeln, was Roza veranlasst haben könnte, das Büro zu verlassen. Die Liste der Anrufer habt ihr durchgesehen, und ihr Handy wird ebenfalls untersucht.«

Alexa war allerdings fast sicher, dass darauf nichts zu finden war. Natürlich konnte es sein, dass sie es in ihrer Hektik einfach liegen gelassen hatte. Andererseits war Roza ein Profi und hatte bisher jedes Detail vor Krammer verborgen – und so hätte sie es wohl kaum zurückgelassen, wenn es darauf irgendwelche Hinweise auf den Fall oder ihren Aufenthaltsort gegeben hätte.

»Dann sollten wir sämtliche alten Fälle durchgehen: Gibt es jemanden, an dessen Verurteilung Roza beteiligt war, der gerade auf freien Fuß gekommen ist? Vielleicht war darunter ja eine Person, die Krisztina hieß. Oder jemand ist mit einer Frau, die diesen Namen trägt, verheiratet. Oder es handelt sich um eine Tochter oder andere Verwandte. Oder um eine Zeugin.«

Krammer nickte. »Elly hat schon damit angefangen. Sie hat alle Akten aus den letzten Jahren aus dem Archiv geholt. Bisher ist ihr offenbar nichts aufgefallen, sonst wüssten wir es. Aber das alles durchzusehen, wird ein paar Tage dauern.«

»Ich kann ihr dabei helfen«, bot Huber an.

Doch Krammer winkte ab. »Ich bin dankbar, dass ihr beiden mich unterstützen wollt, aber ich kann das nicht von euch verlangen. Ihr müsst wieder zurück nach Weilheim, euch um eure eigenen Fälle kümmern.«

Alexa und Huber wechselten einen Blick und verstanden sich sofort. »Heute vermisst uns keiner, und ab morgen ist Wochenende«, antwortete sie deshalb. »Und wenn du nicht gestern Nachmittag wegen mir aus dem Büro weggegangen wärst …«

Krammer wollte erneut etwas erwidern, aber sie schüttelte resolut den Kopf. Ihn hier alleine zu lassen, kam nicht in Frage.

»Die zehn Lilien.« Alexa deutete auf das Arrangement, das um den Toten herumdrapiert war, und unterband jeden weiteren Einwand. »Wir sollten alle Blumengeschäfte anrufen. Diese Zahl wird bestimmt nicht jeden Tag verkauft.«

»Dann mache ich das«, sagte Huber. »Die Geschäfte kann ich im Internet recherchieren.«

»Und wir beide könnten versuchen, die Marke des Parfüms herauszufinden.«

Krammer schaute sie verdutzt an.

»Du hattest gesagt, dass Roza nie welches benutzt. Wir bitten eine Angestellte aus einer Parfümerie, uns in Rozas Wohnung zu begleiten. Der Tote ist abtransportiert – was haben wir schon zu verlieren? Vielleicht ist es ein seltener Duft. Oder sie kann uns sagen, welche Bestandteile der Geruch hat.«

»Du hast recht«, sagte Krammer. »Einen Versuch ist es wert.«

Unter Umständen löste die Bewegung Krammers Anspannung ein wenig. Und es war allemal besser, als hier herumzusitzen und auf die forensischen Ergebnisse zu warten, fügte Alexa in Gedanken hinzu.

Unterwegs würde sie Krammer noch einmal bitten, die gesamte letzte Woche Revue passieren zu lassen. Vielleicht fiel ihr dabei ein Detail auf, das ihr Vater bislang übersehen hatte. Und sie musste mehr über Roza Szabo erfahren, um ein konkreteres Bild von ihr zu bekommen.

Immerhin hatte jemand zweimal versucht, sie zu töten. Und das bestimmt nicht ohne Grund.

4.

Er beobachtet mich.

Erst habe ich gehofft, es sei nur Einbildung. Dass ich vor lauter Angst aufzufliegen, schon Gespenster sehe.

Aber vorhin, als ich von der Toilette kam, hat er nicht schnell genug seinen Blick von meinem Rechner abwenden können. Er rückte die Papiere auf dem Tisch zurecht und bemühte sich, völlig lässig und unauffällig zu wirken. Aber sein Tic hat ihn verraten: die Art, wie er sich durch die Haare fährt und dann kurz blinzelt. Nur ein einziges Mal. Diesen winzigen Moment nutzt er, um seine Gefühle, seine Atmung und seine Mimik unter Kontrolle zu bringen.

Wenig später wirkt er wieder völlig gelassen. Als könne ihn nichts aus der Fassung bringen.

Das hat er seit Jahrzehnten geübt. Und das Training hat sich gelohnt. Niemand könnte erraten, was wirklich in ihm vorgeht. Sein Gesicht ist wie eine Maske.

Genau das ist Teil seines Erfolges.

Nur mir kann er nichts vormachen. Ich kenne ihn genau, weiß, wann ich Grund zur Sorge habe.

Und daran habe ich nun keinen Zweifel mehr. Er ahnt, dass etwas im Busch ist. Plötzlich ergibt alles einen Sinn: seine Fragen. Seine Seitenblicke. Sein Interesse.

Die viele Zeit, die er mit mir verbringen will.

Er sucht nach etwas.

Und ich muss alles daransetzen, dass er nichts findet.

Denn sollte es ihm gelingen, kann das nur eines zur Folge haben: Dann werde ich sterben.

5.

Schneller als erwartet hatte Alexa eine Angestellte der Parfümerie Weigand überredet, sie in die Wohnung zu begleiten, um etwas über das Parfüm herauszufinden, dessen penetranter Geruch im Vergleich zum Vormittag schon stark reduziert war. Natürlich: Die Tür stand seit Stunden offen, weil die Kollegen weiter nach relevanten Spuren suchten.

Krammer war froh, dass seine Tochter diese Idee aufgeworfen hatte, denn auch in diesem Fall war es offenkundig wichtig, schnell zu handeln, bevor sich der Geruch völlig verflüchtigte. Er hatte beim ersten Betreten vermutet, dass die verschiedenen, besonders intensiven Düfte in der Wohnung den einzigen Zweck hatten, den Verwesungsgeruch, der früher oder später entstehen würde, zu überdecken. Auch wenn er weiterhin nicht recht daran glaubte, dass es einen Sinn ergab, was sie hier taten, wollte er nichts unversucht lassen.

Zögernd kam die Angestellte in den Raum. Sie bewegte sich unbeholfen in der Schutzkleidung. Ihr Blick war unstet, und trotz ihres perfekt geschminkten Gesichts hatte Krammer das Gefühl, dass sie einen Hauch blasser geworden war. Vielleicht lag es aber auch an den dunkel nachgezogenen Brauen, die wie dicke Balken über ihren Augen thronten. Die ganze Situation war ungewohnt für die Frau und verunsicherte sie. Er konnte es ihr nicht verübeln, doch das waren keine guten Bedingungen dafür, ihnen zu helfen.

»Da lag wirklich eine Leiche?«, fragte sie heiser.

»Versuchen Sie bitte auszublenden, was hier geschehen ist. Sie können uns mit Ihrem Wissen vielleicht einen wichtigen Hinweis liefern, der unsere Untersuchung voranbringt.«

Die Frau nickte, konnte aber den Blick nicht vom Boden hinter der Tür abwenden, wo gelbe Nummerntafeln die Fundorte der Beweismittel markierten.

»Schließen Sie einfach die Augen«, sagte Alexa und berührte sie sanft am Arm. »Konzentrieren Sie sich bloß auf das, was Sie riechen, Frau Pollinger. Auf Ihre Kompetenz.«

Krammer beobachtete fasziniert, wie einfühlsam Alexa mit der nervösen Frau umging und ihr wieder Sicherheit gab. Genau, wie sie es zuvor auch bei ihm geschafft hatte. Es war so simpel, und dennoch hätte er es heute alleine nicht hinbekommen. Dabei hatte er Alexa viele Jahre an Erfahrung voraus. Aber seit Szabos Verschwinden war er völlig durch den Wind. Ohne Alexa und Huber hätte er wahrscheinlich immer noch nutzlos hier in der Wohnung herumgelungert, die Kollegen angeherrscht, und nichts wäre vorangegangen.

Er schluckte und hatte Mühe, diese Erkenntnis zu verarbeiten. Sein eigenes Wesen hinterfragte er nicht zum ersten Mal. Nun war er sich allerdings auch nicht mehr sicher, ob er als Kriminalist genauso zu versagen drohte.

»Gab es noch etwas anderes in dem Raum?«, fragte Frau Pollinger mit gerunzelter Stirn. Sie hielt tatsächlich die Lider geschlossen und besann sich ganz auf die Gerüche. Ihre Nasenflügel bewegten sich dezent im Rhythmus ihres Atems.

Alexa warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Blumen«, antwortete er schnell und war gespannt, was die Frau darauf erwidern würde.

Sie öffnete die Augen und lächelte. »Verstehe. Ich war kurz verwirrt, denn der Lilienduft passte nicht zu dem, was ich sonst wahrgenommen habe.«

Krammer hob die Augenbrauen. Das war eine Überraschung. Die Frau schien wirklich zu wissen, wovon sie sprach. Sofort keimte Hoffnung in ihm auf.

»Sie haben also herausgefunden, um welches Parfüm es sich handelt?«, entfuhr es ihm.

Doch sie schüttelte den Kopf. »Ganz sicher bin ich mir noch nicht.«

»Aber Sie haben eine Vermutung?«, hakte Alexa nach und gab Krammer mit einem Blick zu verstehen, dass sie gerne die Gesprächsführung übernehmen wolle.

»Jedes Parfüm besteht aus drei Duftnoten, die man als Kopf, Herz und Basis bezeichnet. Ich rieche etwas Florales, dieser Eindruck kann aber auch durch die Blumen verstärkt sein. Dann ist da eine Zitrusnote, vielleicht Mandarine oder Orangenblüte, würde ich sagen. Aber in der Basis ist eindeutig Vanille dabei.«

Sie schloss noch einmal die Augen und machte einen Schritt weiter in den Raum hinein.

»Leider wird Vanille für eine ganze Reihe von Damenparfüms verwendet, da der Geruch eine attraktive Wirkung auf Männer hat. Sie assoziieren damit sowohl Sinnlichkeit als auch Weiblichkeit, wissen Sie?«

»Aber Sie sind sicher, dass es sich nicht um einen Herrenduft handelt«, schlussfolgerte Alexa.

»Absolut«, erwiderte die Verkäuferin. »Da ist jedoch auch noch etwas anderes, das ich wahrnehme. Eine Holznote. Zeder oder Kaschmirholz. Letzterer ist ein synthetischer, kein natürlicher Duft. Es geht in die Richtung von Black Opium oder einigen Düften von Roja Parfüms. Die sind es aber vermutlich nicht. Trotz des fruchtigen Anteils riecht es für mich warm und seidig-intensiv. Eher ein Winterparfüm …«

Die Frau schloss erneut die Augen. Ihr Schutzanzug raschelte, als sie weiter durch den Raum schritt.

Krammer wusste nicht, was er von ihr halten sollte. Sie kam ihm vor wie eine Art Hellseherin. Sie konnte ihnen im Grunde alles erzählen. Er fuhr sich über den rechten Arm, der unangenehm kribbelte und ihm erneut das Gefühl gab, hier bloß seine Zeit zu vertun.

In dem Moment schüttelte Frau Pollinger den Kopf. »Ich kann es nicht mit Gewissheit sagen. Ich müsste zum Vergleich noch einmal in unserem Geschäft durch die Regale gehen und ein paar Proben nehmen.«

Alexa lächelte und nickte zustimmend. »In Ordnung. Der Kollege wird Sie gern wieder zurückbringen.« Dann hielt sie ihr eine Visitenkarte hin und bedeutete Krammer mit einem Blick, dasselbe zu tun.

Mürrisch folgte er ihrer Aufforderung. Ihm war klar, was Alexa damit bezweckte. Als Mitarbeiterin der Weilheimer Kripo hatte sie in Österreich keine Befugnisse.

»Melden Sie sich dann bei uns, wenn Sie konkreter werden können? Aber bitte bewahren Sie Stillschweigen darüber, was Sie hier gesehen haben. Auch Ihren Kolleginnen und der Familie gegenüber.«

Die letzte Bemerkung holte Frau Pollinger wieder in die Realität zurück und machte ihr erneut klar, dass sie sich an einem Tatort befand, was deutlich an ihrem unsteten Blick zu erkennen war. Doch sie fasste sich schnell und versprach, sich noch im Laufe des Tages zu melden.

Als sie mit einem Uniformierten im Treppenhaus verschwunden war, wandte sich Krammer an Alexa. »Und nun?«

»Ich finde schon, dass es uns geholfen hat«, sagte Alexa. »Immerhin gibt es einen Hinweis darauf, dass es sich bei dem Täter auch um eine Frau handeln könnte. Zumindest sollten wir in Betracht ziehen, dass eine Frau involviert ist. Die Blumen, das Damenparfüm, vor allem aber diese Notiz, die mit pinkem Lippenstift geschrieben wurde. Du hast wirklich keine Ahnung, wer diese Krisztina sein könnte?«

Krammer legte den Kopf schief. »Es scheint mir nicht sehr plausibel, dass eine Frau den Kerl hier ohne jede Spur überwältigt hat. Ohne dass jemand im Haus das mitbekommen hat.«

Alexa hob die Hände. »Aber vielleicht ist der Mann vor seinem Tod betäubt worden. Das würde auch zu dem aufgeräumten Eindruck der Wohnung passen. Außerdem könnte eine Frau den Auftrag gegeben haben. Diese Inszenierung, die Farben … für mich ist das nicht die Handschrift eines Mannes.«

Krammer seufzte. Ihn brachte das kein Stück weiter, denn dass Roza in den Tod des Mannes verwickelt war, widerlegte es leider nicht. Im Gegenteil. Und das blieb weiterhin seine größte Sorge. Für ihn deutete bisher alles darauf hin, dass der Mann nicht in dieser Wohnung ums Leben gekommen war. Aber Alexas Vermutung konnte er derzeit nichts entgegensetzen. Eine Frau wäre in dem Haus womöglich weniger aufgefallen. Roza als Bewohnerin erst recht nicht. Dennoch war es so, dass die meisten Verbrechen von Männern verübt wurden. Und vielleicht sollte die seltsame Aufbahrung sie auch bloß von dieser Tatsache ablenken.

»Bernhard, kann ich dich kurz stören?« Ein Kollege steckte den Kopf ins Zimmer.

»Natürlich«, antwortete er. »Das ist Oberkommissarin Alexa Jahn aus Deutschland, also kein Grund, dich zurückzuhalten. Schieß los.«

»Rozas privaten Laptop«, erkundigte er sich, »hat sie den mit ins Büro genommen?«

Krammer schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste. Der wäre mir aufgefallen. Wieso?«

»Weil auf dem Schreibtisch keiner steht. Es ist nur der Drucker da und das Verbindungskabel. Sonst nichts.«

Er wechselte einen Blick mit Alexa. Die Ermittlungen nahmen nun endlich Fahrt auf. Nur in eine Richtung, die ihm überhaupt nicht gefiel.

6.

Zurück im Büro trafen Alexa und Krammer auf Huber, der bezüglich der Lilien einen Erfolg vermelden konnte. Es war ihm tatsächlich gelungen, den Blumenladen ausfindig zu machen, in dem am Tag zuvor zehn Stück verkauft worden waren. Weiß. Genau wie die Blumen aus Rozas Wohnung.

»Aber es war ein Teenie, der die Blumen abgeholt und bar bezahlt hat. Sehr groß, hager, mit Baseball-Mütze, Collegejacke und Jeans.«

»Lohnt es sich, diese Spur zu verfolgen?«, fragte Krammer.

Alexa schüttelte den Kopf. »Wenn der Täter in der Wohnung keine Spuren hinterlassen hat, dann ist er auch nicht so dumm, dort anzurufen und seine Nummer zu hinterlassen. Sicher hat er irgendeinem Jungen auf der Straße Geld gegeben, damit er sie besorgt – und er selbst unerkannt bleibt.«

Sie hielt sich mit einem Kommentar zurück, dass dieses Detail wieder wie die Handschrift von Perski wirkte. Auch zuletzt hatte er ein paar junge Männer zu Handlangern gemacht.

»Wir könnten allenfalls versuchen, den Jungen zu finden. Vielleicht kann er den Auftraggeber beschreiben«, fuhr sie fort. Auch Huber schien das für einen guten Ansatz zu halten.

Doch Krammer schüttelte den Kopf. »Solange wir nicht wissen, was Rozas Rolle in dieser Geschichte ist, scheidet eine öffentliche Fahndung für mich aus.« Sein Tonfall duldete keinen Widerspruch. »Ich habe so wenige Kollegen wie möglich in die Sache involviert.«

»Und was habt ihr in Sachen Parfüm herausbekommen?«, fragte Huber, der Krammers Vorgehen nicht kommentierte. Immerhin leitete er die Ermittlungen.

»Nichts«, schnaubte Krammer und zuckte die Schultern.

Alexas Kopf fuhr herum. Sie hatte bisher durchaus Verständnis für die Frustration ihres Vaters aufgebracht. Seine destruktive Art machte es aber weiß Gott nicht besser und begann sie zu stören. Immerhin waren die meisten Ermittlungen mühselige Kleinarbeit. Das dürfte er besser wissen als sie. Es hieß geduldig zu sein, Ruhe zu bewahren, die Fakten immer wieder anders zusammenzusetzen und dann das neu entstandene Bild zu beleuchten. Bis endlich der rote Faden zum Vorschein kam, an dem man sich entlanghangeln konnte, um die Lösung zu finden.

Deshalb berichtete sie Huber, was sie in den letzten Stunden erfahren hatten. »Der Geruch in der Wohnung hatte sich stark verflüchtigt, die Mitarbeiterin der Parfümerie konnte uns aber zumindest sagen, dass es sich um einen Damenduft handelt. Eine Ahnung, welcher es sein könnte, hatte sie schon, wollte allerdings erst ganz sicher sein, bevor sie uns das konkrete Produkt nennt.«

Huber nickte. »Können die Forensiker denn schon abschätzen, wann sie fertig sein werden?«

»Im Laufe des Abends«, ließ Krammer vernehmen, der mit dem Rücken zu ihnen aus dem Fenster sah. »Aber dann müssen sie die Fasern und Spuren noch im Labor auswerten. Das wird wieder einige Zeit dauern. Und bis dahin ist Roza längst über alle Berge.«

Alexa verschränkte die Arme vor der Brust und ermahnte sich, ruhig zu bleiben. Es kostete sie einige Mühe, sich zu beherrschen. Immerhin taten alle, was sie konnten. Sie selbst hatte keine Sekunde gezögert zu helfen. Der Einzige, der ewig grantelnd herumstand, war Krammer.

Sie versuchte dennoch, sich von seiner Art weder provozieren noch entmutigen zu lassen. Immerhin gab es bereits einen Fakt, der wichtig sein konnte.

»Nur eins haben sie uns mitgeteilt«, sagte sie. »Rozas privater Rechner ist aus der Wohnung verschwunden. Bernhard hat es gleich überprüfen lassen, aber hier ist er auch nicht.«

»Damit haben wir den Beweis, dass ein Fremder in der Wohnung war«, dachte Huber laut nach. »Das passt doch: Dann hat deine Kollegin vielleicht gar nichts mit dem Toten zu tun.«

»Oder sie selbst hat ihn mitgenommen«, hielt Krammer dagegen. »Weil sie verhindern wollte, dass wir etwas darauf finden.«

Alexa ließ sich auf einen Stuhl fallen. Dass Krammer so schnell bereit war, Rozas Unschuld in Frage zu stellen, überraschte sie. Obwohl sie Huber erst wenige Wochen kannte, hätte sie schon jetzt ihre Hand für ihn ins Feuer gelegt. Ohne zu zögern.

»Wie kommst du darauf?«, fragte sie deshalb unumwunden.

»Meine Kollegin erhält im Minutentakt Hunderte seltsame Nachrichtenhülsen ohne jeden Inhalt auf ihr Handy, rennt daraufhin wie von Sinnen aus dem Büro, und ich soll den-ken, dass ein völlig Fremder ohne Grund und ohne ihr Zutun eine Leiche in ihre Wohnung legt? Nur jemand, der sehr naiv ist, würde da keinen Zusammenhang sehen«, knurrte Krammer.

Alexa zuckte zusammen. Das war deutlich. Sie presste die Lippen fest aufeinander, um keine patzige Antwort zu geben.

»Sie ist weg, bevor jemand die Leiche finden konnte. Vielleicht waren die Nachrichten auch ein Signal, dass sie aufgeflogen war und sich schleunigst aus dem Staub machen sollte. Was weiß ich!«, fuhr Krammer fort und drehte sich wieder um. Er hob kurz die Arme und atmete schwer.

Doch Alexa ließ sich nicht beirren. Sie waren schon einmal völlig anderer Auffassung bei einem Fall gewesen. Damals war es Krammer gewesen, der von Beginn an richtiglag. Aber das hieß nicht, dass er immer recht behielt. So war für sie auch dieser Bot, der Rozas Handy mit wortlosen Nachrichten überschwemmte, eine klare Demonstration von Macht. Der Verursacher wollte partout, dass Szabo seine Anwesenheit bemerkte, indem er ihre Kommunikation lahmlegte. Sie hatte sich durch die ersten beiden Anschläge nicht verunsichern lassen. Dieses Mal sollte sie ihn nicht mehr ignorieren können, sondern an ihn erinnert werden. Jede einzelne Minute.

»Ich sehe das anders«, erwiderte sie ruhig. »Hast du dir das Video mal ganz genau angesehen? Wie sie hier aus dem Gebäude läuft? Ich habe das vorhin getan. Mehrfach. Und ich sage dir, sie hatte Angst. Vor wem und warum weiß ich natürlich nicht, aber die Tatsache ist nicht zu übersehen. Und du selbst hast mir erzählt, dass es Anschläge auf ihr Leben gab. Das passt nicht dazu, dass sie zur Täterin wurde. Ich glaube, sie ist ein Opfer.«

»Das sich nicht an die Polizei wendet, wenn sie hier von der gesamten Mannschaft Rückhalt hat?«, hielt Krammer dagegen. »Na komm schon. Das tut doch nur, wer knietief in irgendeinem Schlamassel steckt. Es gibt auch in unseren Reihen schwarze Schafe. Ich hätte nur nicht gedacht, dass ausgerechnet sie …«

Alexa schüttelte vehement den Kopf. »Die Tatsache, dass sie ohne Handy, Mantel und Papiere weg ist, heißt für mich, dass sie nicht gefunden werden will. Vermutlich wegen demjenigen, der ihr schon zweimal nach dem Leben trachtete. Dass uns das die Suche nach ihr ausgesprochen erschwert, zeigt nur, dass sie es verdammt gut angestellt hat.«

»Natürlich. Szabo weiß genau, wie man Spuren vermeidet. Genauso gut konnte ihr Ziel sein, dass wir sie nicht orten. Weil sie untertauchen will. Und ich bin sicher, dass wir absolut nichts auf dem Mobiltelefon finden werden, was uns zu ihr bringt. Sieh es doch mal von einer anderen Seite: Sie hat die Bombe ganz klar erkannt. Der Umschlag kam aus Ungarn, wo sie Verwandte hat. Und bei dem Unfall war sie so langsam, dass nur ein Blechschaden entstanden ist. Sie kann auch gewollt haben, dass es so aussieht, als wäre jemand hinter ihr her. Vielleicht kennen wir ihr wahres Gesicht nicht.«

Alexa war fassungslos. »Und das glaubst du wirklich? Nachdem du so lange mit ihr zusammengearbeitet hast?«

Er blickte auf. »Bis gestern hätte ich das nicht gedacht. Aber jetzt …«

»Jeder gilt als unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen ist«, mischte sich Huber ein. »Es gibt immerhin noch eine Möglichkeit: Vielleicht wollte sie nicht, dass einem Fremden das Handy in die Hände fällt. Hier ist es schließlich sicher. Denn wenn ihr Laptop verschwunden ist, sucht vermutlich jemand etwas darauf: Daten, Dokumente oder Fotos.«

Eigentlich hätte Alexa Huber gerne beigepflichtet, ließ es dann aber bleiben. Es schien ihr besser, zu schweigen. Krammer hörte sowieso nicht zu. Aber sie konnte nicht umhin zu erkennen, dass sie bereits genauso reagiert hatte. Im allerersten Fall, in dem sie gemeinsam ermittelt hatten, wollte sie seine Sicht auch nicht gelten lassen. Je mehr er argumentiert hatte, desto stärker hatte sie an ihrer Meinung festgehalten, immer neue Argumente gesucht, diese zu untermauern. Auch sie hatte geglaubt, dass ihre Theorie auf realen Fakten basierte. Auf einem Alibi. Das sich im Nachhinein als falsch herausstellte.

Krammer jetzt weiter zu konfrontieren, brachte nichts. Sie musste etwas tun, damit er wieder zu seiner inneren Ruhe und Souveränität zurückfand.

»Willst du vielleicht noch einmal nach Hause, etwas essen und dich eine Stunde ausruhen, bevor wir wieder zurückmüssen? Wir können hier solange weiter die alten Fälle sichten und die Stellung halten.«

Er wandte ihr sein bleiches Gesicht zu, schüttelte aber den Kopf. Seine Wut war genauso schnell verraucht, wie sie entstanden war. Jetzt sah er wieder fahl und müde aus. Kraftlos. Was erneut dafür sprach, dass Stress und Frustration der Grund dafür waren, dass er sich so seltsam benahm.

»Ich kann Elly bitten, uns was zu besorgen«, sagte er dann. »Ihr habt ja auch seit Stunden nichts gegessen.«

Er wollte gerade aufstehen, als sein Telefon klingelte und zeitgleich Alexas Handy kurz vibrierte. Während er mit einem knappen »Ja?« das Gespräch annahm, las sie rasch die Nachricht, die eingegangen war.