Von Liebe und Lügen - Anna Schneider - E-Book

Von Liebe und Lügen E-Book

Anna Schneider

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Beschreibung

Alte Liebe, neue Liebe, keine Liebe: Was ist Wahrheit, was ist Lüge? Jonah und Lynn sind ein Traumpaar und geben in ihrer Clique den Ton an. Doch dann muss Lynn ein Jahr vor dem Abitur mit ihren Eltern nach Asien umziehen. Sie hinterlässt eine Lücke: Nicht nur für Jonah ändert sich ohne Lynn alles, auch die Clique gerät aus dem Gleichgewicht. Plötzlich scheint jeder sein eigenes Spiel zu spielen, niemand weiß mehr, was der andere tut, was Wahrheit ist und was Lüge. Was Jonah niemandem erzählt: Er fühlt sich immer wieder beobachtet. Wird er langsam verrückt und sieht Gespenster? Aber Gespenster können keine Todessymbole hinterlassen, oder?

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Anna Schneider

VON LIEBE UND LÜGEN

Thriller

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

© 2017 Anna Schneider, 82131 Gauting

www.schneideranna.com

[email protected]

Covergestaltung © Traumstoff Buchdesign traumstoff.at

Covermotive © Ints Vikmanis und Avisnana shutterstock.com

Satz: Corina Bomann, my-digital-garden.de

Lektorat: Susanne Zeyse

Autorenfoto: Susanne Krauss

Herstellung und Verlag BoD – Books on Demand, Norderstedt

ISBN 9783744845960

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung bedarf der ausdrücklichen Zustimmung der Autorin. Alle Rechte, einschließlich des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Dies gilt ebenso für das Recht der mechanischen, elektronischen und fotografischen Vervielfältigung und der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Handlung und die handelnden Personen sowie deren Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Du und ich - wir sind eins. Ich kann dir nicht wehtun, ohne mich zu verletzen.

(Mahatma Gandhi)

Prolog

Der Schäferhund hob den Kopf und spitzte die Ohren. Max Wiesinger hielt dem Tier ein dünnes T-Shirt unter die Nase, damit es Witterung aufnehmen konnte.

»Such!«

Sofort setzte sich der Hund in Bewegung, die Schnauze dicht über dem Boden. Wiesinger folgte ihm rasch und hielt dabei die Leine locker, um dem Tier maximale Bewegungsfreiheit zu lassen. Seit gestern war ein Mädchen verschwunden. Wiesinger wusste, dass in so einem Fall jede Minute zählte.

»Such!« rief er mit drängender Stimme. Wenn sie sich hier im Wald aufhielt, würde sein Amigo ihren Geruch wittern, ihren Spuren folgen.

Er kannte die Vermisste. Jeden Morgen sah er sie zum Bahnhof radeln. Ein hübsches Mädel. Nur zwei Jahre älter als seine Betty. Wenn irgendjemand … Er schüttelte sich, wusste, dass er diese Gedanken verdrängen musste.

Der Hund blieb stehen, wandte den Kopf. Er kannte seinen Führer, hatte sein Zögern bemerkt. »Lauf, Amigo!«, rief er ihm beruhigend zu, worauf das Tier weiter durch das Unterholz drängte. Fünf Jahre arbeitete er nun schon mit dem Hund. Er war der Beste in der gesamten Hundestaffel und in der Lage, jede Art von Drogen, Brandbeschleuniger, Sprengstoff und Spuren verlässlich und schnell aufzuspüren.

Das würde ihm auch dieses Mal gelingen. Er musste positiv denken. Sie würden sie finden. Lebend. Sie mussten einfach.

Sie überholten einen Trupp von Kollegen, die schweigend in einer langen Reihe durch den Wald gingen, mit Stöcken in den Büschen und im Unterholz nach verdächtigen Gegenständen stocherten.

»Such das Mädchen, such!«, feuerte er seinen Hund an.

Über ihm dröhnte laut der Hubschrauber, der von oben das gesamte Waldgebiet um den See absuchte. Bald würden die ersten Schaulustigen und die Presse hier auftauchen. Und sie alle würden Fragen stellen: Was passiert war, ob es ein Verbrechen gegeben habe, ob das Mädchen überhaupt noch lebte. Als nächstes kamen dann die Gerüchte, wahllos in die Welt gesetzt von verängstigten Eltern, Mitschülern und allen anderen Bewohnern der Stadt.

Die Eltern hatten am heutigen Morgen das Bett ihrer Tochter unberührt vorgefunden. Ihr Handy war abgeschaltet und in der Schule, in der sie während der Ferien an einem Projekt arbeitete, war sie nicht aufgetaucht. Keiner ihrer Freunde hatte sie gesehen und auch die Suche in den umliegenden Krankenhäusern war ergebnislos geblieben.

Daraufhin war die Mutter zur Polizei gegangen. Sie war ganz grau im Gesicht gewesen, ihre Augen rotgeweint. Immer wieder stammelte sie, dass ihrer Tochter etwas Furchtbares zugestoßen sein müsse. Dann hatte sie sich in seinen Arm gekrallt. »Bitte. Finden Sie sie. Wir kennen uns doch. Bitte!«

Wiesinger holte tief Luft, beschleunigte seinen Gang und hob schützend den Arm, damit ihm die spitzen Zweige nicht ins Gesicht schlugen. »Such!«, stachelte er seinen Hund noch einmal an. Wäre der Vater des Mädchens nicht irgendein hohes Tier, hätten sie sicher nicht gleich mit diesem riesigen Aufgebot nach der Vermissten gesucht, sondern erst einmal einen Tag abgewartet.

Sie war Schülerin an der Nobelschule am See und kannte sich hier in der Gegend aus. Vielleicht gab es doch eine harmlose Erklärung für ihr Verschwinden.

Amigo zog plötzlich stärker an der Leine, so dass Wiesinger in einen leichten Trab verfallen musste, um mit ihm Schritt zu halten. Die Sicht im Wald verschlechterte sich zunehmend. Ein kurzer Blick nach oben sagte ihm, dass das angekündigte Unwetter früher als erwartet kam. Eine dicke, schwarze Wolkenfront hatte sich bereits über den Wald geschoben. Der Hubschrauber flog dröhnend direkt über ihn hinweg und hatte bereits den Suchscheinwerfer eingeschaltet.

Amigo bellte einmal kurz auf, dann legte er sich mit ganzer Kraft in sein Geschirr. Das Tier hatte eine Spur. Der Wald begann sich zu lichten, wieder überholten sie einige Kollegen, die den Abschnitt zwischen Uferböschung und Waldrand durchkämmten. Es hatte sich merklich abgekühlt und der See schlug Wellen von dem aufkommenden Wind.

Amigo japste, zerrte noch stärker. Wiesinger ließ den Hund von der Leine. Das Tier rannte los, hielt auf einen Steg zu, während der Scheinwerfer des Hubschraubers seine Linien über das Wasser zog. Im nächsten Moment erkannte Wiesinger, worauf das Tier zusteuerte: Ein Rucksack. Kariert. Sofort schob sich das Bild des Mädchens auf dem Fahrrad vor sein geistiges Auge, die Haare, die sich über der karierten Tasche hoben und senkten. Wiesinger wurde flau im Magen.

Bellend tänzelte Amigo auf dem Steg, wedelte mit dem Schwanz, stupste immer wieder gegen den Rucksack.

»Braver Junge.« Er gab Amigo seine Belohnung und tätschelte ihm den Kopf, bevor er seinen Funkspruch absetzte: »Wir haben was. Einen karierten Rucksack, definitiv von der Gesuchten. Ihre Kleidung liegt darunter. Schickt ihr die Spurensicherung?« Er ließ den Blick resigniert über die dunkle Wasseroberfläche gleiten, sah Blitze über den Himmel zucken. »Und sagt auch gleich den Tauchern Bescheid. Sie ist irgendwo da draußen.«

1. Teil

SCHICKSAL

Die erste Nacht

Die kalte, feuchte Luft hält mich eisig umklammert. So eng wie möglich ziehe ich die Decke um meinen Körper, obwohl ich weiß, dass sie mich nicht wärmen kann. Alles dreht sich in meinem Kopf, ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Mein Kopf zerspringt fast. Wäre mir nur nicht so kalt. Eiskalt.

Ich spüre meine Füße nicht mehr! Panisch beginne ich sie zu kneten. Mein Blick fällt auf den Ofen. Mit dem könnte ich die kleine Kammer sehr gut heizen. Doch das kann ich nicht riskieren. Der dunkle Rauch würde mich sofort verraten. Das Feuerholz, das daneben aufgestapelt ist, scheint mich zu verhöhnen.

Resigniert ziehe ich mich wieder auf die Pritsche zurück, während meine Zähne vor Kälte aufeinander schlagen. Verdammt. Vorgestern war es doch noch so schwül und warm! Ich hatte ein Top an, Flipflops. Ich versuche an die Sonne zu denken, an laue durchtanzte, verschwitzte Nächte. An eine andere Zeit. Denn jetzt sehne ich mich nach einer Winterjacke, einem Schlafsack, irgendetwas, das warm macht.

Bewegen. Ich muss warm werden. Doch weit komme ich nicht. Nur ein paar Meter in die eine, dann wieder in die andere Richtung. Nicht genug.

Ich trete so nahe wie möglich ans Fenster, blicke auf den dunklen See hinaus. Dann reiße ich den Schrank auf, der darunter ist, auf der Suche nach einer zweiten Decke. Nichts. Nur ein paar Bücher und anderer Plunder. Ich humpele zurück zu meiner Pritsche, fasse an mein Unterhemd, aber das ist immer noch nicht getrocknet. Kein Wunder!

Wenn ich wenigstens Strom hätte. Ein Tee, heißer Dampf, warmes Porzellan, wäre genug. Doch der Herd in der winzigen Kochnische funktioniert genauso wenig wie der Wasserkocher. Kein Strom. Immerhin habe ich das Handy und das hat noch Akku. Mein einziger Trost. Aber es musste jetzt aus bleiben, damit es mich nicht verriet. Scheißkälte! Ich hatte mir das alles anders vorgestellt. Doch es ist es zu spät. Es gibt kein Zurück mehr. Jetzt nicht mehr.

Ich lege mich wieder auf die Pritsche, versuche meine Glieder warm zu reiben. Da höre ich es. Ein Geräusch. Ich verharre. Lausche. Da ist es wieder. Nur ein leises Knacken. Von draußen. Ich unterdrücke mein Zittern, beiße mir auf die Finger, um kein Geräusch zu machen. Das Holz knirscht. Mein Herz pocht wild. Draußen bewegt sich jemand um die Hütte herum.

Sie haben mich gefunden. So schnell? Das darf nicht wahr sein!

Ich gleite von der Pritsche, ducke mich darunter. Ich muss unsichtbar sein. Mein Blick fällt auf das Unterhemd. Scheiße! So schnell wie möglich krieche ich zu dem Stuhl, ziehe es zu mir, hechte wieder zu der Pritsche, kauere mich darunter. Bitte. Nicht reinkommen. Wer immer da draußen ist, soll wieder gehen. Sonst war alles umsonst.

Ich überlege abzuhauen, durch die Tür. Wenn ich schnell genug bin, wird er mich nicht sehen. Aber ich kann mich nicht rühren, wegen dieser Scheißkälte, bin wie gelähmt. Das Geräusch ist jetzt direkt über mir. Ich schließe die Augen. Horche genau hin. Ist jemand auf dem Dach? Wozu?

Alle meine Sinne konzentrierten sich auf das, was draußen passiert. Fieberhaft überlege ich, ob die Tür verschlossen ist, kann mich aber nicht erinnern. Hoffentlich ist sie zu! Ich schiebe mich tiefer in meine Nische.

Da. Wieder ein Knacken. Seitlich von meinem Versteck. Dann, mit einem Mal, ist alles wieder völlig still. Nur das Laub in den Bäumen raschelt im Wind, leises Plätschern ist vom See zu hören.

Sekundenlang verharre ich reglos. Stiere zum Fenster. Warte auf einen Schatten, eine Bewegung. Doch alles bleibt ruhig.

Aber ich habe mir das nicht eingebildet. Da war jemand! Vielleicht wartet er auf mich, will mich in Sicherheit wiegen, mich rauslocken. Aber so dumm bin ich nicht. Ich bleibe unter der Pritsche, wage mich nicht hinaus.

Für einen Moment habe ich die Kälte vergessen, konzentriere mich nur auf die Laute in meiner Umgebung. Als ich Minuten später nichts höre, merke ich, dass ich wieder zittere wie Espenlaub. Ich würde mir den Tod holen, wenn ich hier bliebe.

Lautlos schiebe ich mich wieder auf die Liege hinauf, werfe die Decke über mich, stopfe mir die losen Enden unter den Körper und rolle mich zusammen. Puste in meine Hände, die so furchtbar kalt sind.

Ich muss durchhalten, rede ich mir gut zu. Es ist ja nicht für lang. Nur ein paar Tage. Mehr nicht. Ich bin zäh, ich schaffe das.

Franzi

Franzi kauerte in ihrem Zimmer auf dem Bett. Sie war in den Anblick eines Fotos vertieft, auf dem sie mit ihrer besten Freundin Lynn zu sehen war. Es fühlte sich an, als wäre das Foto schon vor einer halben Ewigkeit gemacht worden, obwohl es erst wenige Wochen her war. Fast schon irreal, wie aus einem anderen Film. Franzi seufzte.

Sie erinnerte sich, wie Lynn plötzlich mitten in der Nacht vor Franzis Elternhaus aufgetaucht war. Es war jene Nacht, die alles verändert hatte. Alles. Franzi fuhr mit dem Finger über das Foto, zeichnete Lynns Kontur nach. Auf dem Bild strahlte sie, aber nach dieser Nacht hatte Franzi sie nie mehr so gesehen.

Es war lange vor Tagesanbruch gewesen, als Lynn Steine an ihr Fenster geworfen hatte, bis Franzi schließlich aufgewacht war. Leise war sie nach unten geschlichen, um die Freundin ins Haus zu lassen. Franzi hatte gleich gesehen, dass etwas Unfassbares geschehen sein musste. Lynns Augen waren rotgeweint, ihre Schultern zusammengezogen und sie hatte einfach dagestanden, ohne ein Wort. Ihr ganzer Körper zitterte. Franzi hatte sie sofort ins Haus gezogen und sie wie eine Marionette vor sich her nach oben geschoben – darauf bedacht, nicht ihre Eltern zu wecken.

Oben hatte Lynn auf der Stelle zu weinen begonnen. Sie hatte einfach dagesessen, die Hände vors Gesicht gepresst. Für Franzi war klar gewesen, dass jemand Lynn etwas angetan hatte, sie ausgeraubt oder schlimmer noch, sie begrapscht oder vergewaltigt hatte. Aber ihre Haare waren glatt gekämmt und ihre Kleidung zeigte keine Spuren von Dreck oder irgendwelche Risse. Also machte sich Franzi auf etwas Schlimmes gefasst, musste aber warten, bis Lynn sich beruhigt hatte und reden konnte. Die Zeit schien endlos.

»Wir haben dagelegen, Jonah und ich«, hatte Lynn schließlich zu erzählen begonnen. »Wir spinnen oft so rum, weißt du. Malen uns aus, wo wir nach dem Abi zusammen wohnen werden. Manchmal schauen wir uns sogar im Netz Wohnungen an. Nur so zum Spaß.«

Lynn hatte sich um ein Lächeln bemüht, aber stattdessen gab sie einen furchtbaren Ton von sich, der kaum menschlich klang. Die Gedanken hatten sich in Franzis Kopf überschlagen. Jonah... Das konnte nicht sein. Er würde Lynn nicht verletzten. Franzi hatte versucht, sich gegen das zu wappnen, was sie als nächstes hören würde.

»Jedenfalls hatte ich mich gerade auf ihn geworfen, um ihn durchzukitzeln, damit er mir wieder zuhört und bei der Sache bleibt, wir haben uns gebalgt, er begann mich zu küssen. Du weißt schon … ganz leidenschaftlich. Alles war perfekt. Da klopft es plötzlich und meine Eltern stehen in der Tür. Das haben sie noch nie gemacht, wenn er da war. Sie guckten ernst und Jonah beeilte sich zu gehen. Sie hätten etwas Wichtiges mit mir zu besprechen. Ich habe gedacht, irgendjemand wäre gestorben, ganz ernsthaft. Ich habe gedacht, meinem Bruder … Aber dann …«

Tränen waren in stetigem Fluss immer weiter über Lynns Wange gelaufen. Franzi hatte sich zurückhalten müssen, sie nicht wegzuwischen oder einen blöden Scherz zu machen, um Lynn zum Lachen zu bringen. Sie konnte es nicht ertragen, wenn ihre Freundin litt. Deswegen hatte der nächste Satz sie völlig unerwartet getroffen, als Lynn sagte: »Wir gehen weg von hier. Mein Vater muss kurzfristig bei einer Stelle einspringen. Ein Todesfall in der Einheit in Asien. Sie brauchen sofort Ersatz – für ein Jahr. Er ist der Einzige, der so schnell übernehmen kann. Der das Fachwissen hat. Sie haben schon zugesagt, mit der Schule ist auch schon alles geklärt. Ich besuche dort eine internationale Schule, bis wir wieder zurück sind.« Lynn hatte ihre Hände geknetet. »Wir ziehen um, sobald die Sommerferien beginnen. Damit ich mich einleben kann, bevor dort die Schule beginnt. Hier.«

Lynn hatte einen Flyer aus der Hosentasche gezogen, ihn Franzi einfach vor die Füße geworfen.

»Das ist meine neue Schule. Erstklassig, sagen sie. Wenn ich es möchte, dann können wir auch bleiben, bis ich den Abschluss habe. Das würde sich gut in meinem Lebenslauf machen. Die Firma meines Vaters kümmert sich um die Vermietung von unserem Haus, den Umzug, unsere Möbel werden irgendwo eingelagert. Für ein Jahr! Und ich kenne die, das werden definitiv zwei, wenn wir einmal dort sind, weil sich diese Scheißprojekte immer verschieben. Und dann wird es heißen, dass ich gleich den Abschluss dort machen kann. Die haben das mal eben so entschieden. Ohne mich überhaupt zu fragen. Und ich kann nichts dagegen tun. Nichts!«

Franzi hatte nicht mehr wirklich mitbekommen, was Lynn danach erzählt hatte. Sie war wie in Trance gewesen, die Stimme hatte sie nur noch wie aus Entfernung wahrgenommen. Franzi kannte Lynn schon seit dem Kindergarten, sie waren seither beste Freundinnen gewesen und immer in derselben Klasse. Ein Leben ohne Lynn war für Franzi schlicht unvorstellbar.

»Ich weiß einfach nicht, was ich jetzt machen soll, Franzi. Wie soll das mit Jonah und mir weitergehen? Ein Jahr getrennt. Die wissen einfach nicht, was das bedeutet. Das ist eine Ewigkeit! Wie soll ich ohne ihn klar kommen? Und überhaupt: Das wird niemals halten. Nie. Nicht auf diese Entfernung. Eigentlich kann ich auch jetzt Schluss machen.«

Lynn begann wieder zu schluchzen. »Ach, Scheiße, ich weiß nicht einmal, wie ich es zwei Tage ohne ihn aushalten soll. Oder zwei Wochen. Dagegen ein oder zwei Jahre? Hallo? Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Ich will das einfach nicht!«

Franzi hatte ganz genau gewusst, was Lynn empfand. Mittlerweile hatte sie es im Kopf ausgerechnet: Das waren 730 Tage oder 17.520 Stunden. Unvorstellbar lang.

Franzi stand auf, sah aus dem Fenster, vor dem der Baum mit der Schaukel stand, auf der sie beide schon als Kinder gespielt hatten. Wer von ihnen als erste so hoch schaukeln würde, dass sie mit den Füßen den Himmel berühren konnte, hatte gewonnen. Lynn hatte es jedes Mal geschafft. Lynn war eine Gewinnerin. Schon immer. Und sie ...

Franzi wischte eine Träne aus dem Augenwinkel und stieß einen leisen Klagelaut aus. Egal wo sie hinsah, in jeder Ecke lauerten Erinnerungen an ihre Freundin, denen sie nicht entfliehen konnte. Kraftlos ließ sie sich auf das Bett fallen, nahm wieder das Foto in die Hand.

Für Lynn fühlte sich das alles sicher ganz anders an. Lynn hatte einfach immer Glück. Egal wie sehr sie wegen der Trennung von Jonah im ersten Moment gelitten hatte. Jetzt schickte sie Fotos von einer völlig anderen Welt. Sie machte am anderen Ende der Welt neue Erfahrungen, erlebte viel, die Zeit würde für sie vergehen wie im Flug. Irgendwann würde sie zurückkommen, einen Studienplatz ergattern und mit Jonah in ihre Traumwohnung ziehen. Jede vermeintliche Katastrophe hatte sich in Lynns Leben am Ende in ein fabelhaftes Abenteuer verwandelt. Franzi spürte wieder, wie sie Lynn im Arm gehalten hatte, ihre schlanke Silhouette, die von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Wie sie selbst stille Tränen vergossen hatte.

»Ich bin mir sicher, dass er mich ganz schnell vergisst«, hatte Lynn gesagt. »Weil da nichts Warmes mehr ist. Nichts Echtes, verstehst du was ich meine? Sein Bild von mir wird langsam farblos werden. Bis es verblasst und sich schließlich ganz auflöst. Er wird mich ersetzen. Austauschen wie ein Handy, dessen Vertrag abgelaufen ist. Dann bin ich nichts anderes als irgendein Mädchen, das Jonah vor einiger Zeit mal gekannt hat. Seine Ex. Und er wird die Hand einer anderen halten und trotzdem glücklich sein.«

Franzi ließ die Hand mit dem Foto sinken. Lynn hatte Unrecht mit dieser Vision. Distanz konnte der Liebe nichts anhaben. Nicht, wenn sie echt war. Distanz machte alles noch intensiver. Sie wusste es, weil sie es täglich erlebte. Sie kannte das nagende Gefühl, das jeden anderen Gedanken vertrieb. Gerade weil die Liebe unerfüllt blieb. Sehnsucht. Sie war schlimmer als alles andere. Schlimmer als Enttäuschung. Sehnsucht ließ die Liebe immer größer werden, bis sie jeden noch so kleinen Raum in den Gedanken einnahm. Wie ein Parasit, der alles andere verschlingt.

Franzi seufzte.

Morgen würde sie erstmals wieder die Clique treffen. Sie verspürte beinahe so etwas wie Angst vor diesem Wiedersehen. Es kam ihr nicht richtig vor, ohne Lynn. Die war das Herzstück gewesen. Lynn und Jonah.

Sie hatte eine Ausrede gesucht, doch spätestens in der Schule würde sie die anderen ohnehin wiedersehen.

Sie hoffte inständig, dass niemand mitbekam, wie traurig sie wegen Lynn war. Denn dann würden alle merken, wie viel sie in Wahrheit für ihre Freundin empfand.

Franzi strich noch einmal mit dem Zeigefinger über Lynns Silhouette, hauchte sanft einen Kuss auf das Foto und legte es dann wieder auf ihren Schreibtisch. Direkt neben den Flyer von der internationalen Schule, den Lynn damals achtlos liegengelassen hatte.

Nur der war geblieben – genauso wie die Angst vor den Folgen dieser Veränderung, die sich anfühlte wie schwüle Luft, die das Atmen unerträglich machte.

Saskia

Saskia kettete ihr pinkes Fahrrad an und rannte im Laufschritt durch das Café, das an warmen Tagen ein angesagter Treffpunkt für Jugendliche war. Getränke gab es aus großen Plastikeimern in denen bunte Strohhalme steckten und während man in Liegestühlen lag, konnte man die Füße in weißen Sand stecken.

Sie war zu spät dran und ließ ihren Blick über die vollbesetzte Terrasse schweifen, wo die anderen sicher schon eine Weile zusammen saßen. Seit drei Wochen hatte sie die Clique nicht mehr gesehen und sie winkte, als sie sie entdeckte. Aber die anderen waren alle über ihre Handys gebeugt und bemerkten sie gar nicht.

Saskia schlängelte sich zur Clique durch und freute sich, als sie einen leeren Stuhl zwischen Ruben und Jonah sah. Ein Glück, dass sie ihr den freigehalten hatten, denn sie hätte sonst definitiv keine Sitzgelegenheit mehr gefunden. Eigentlich konnte man prima auf dem Boden sitzen, aber Saskia vermied das, weil sie nichts mehr hasste, als Sand in den Klamotten zu haben. Vor allem, weil sie heute ein Minikleid trug.

»Störe ich?«, fragte sie munter und stellte sich direkt vor den Tisch.

»Hey, Saskia, ich dachte schon, du kommst nicht mehr!«, rief Jonah, sprang auf und umarmte sie zur Begrüßung.

Er war erst am Tag zuvor aus dem Surfurlaub mit seinen Eltern gekommen und tiefbraun geworden, seine dunklen Haare waren von der Sonne und dem Salzwasser ausgeblichen. Er trug ein türkises Poloshirt zu seinen Jeansshorts, wodurch seine grünblauen Augen plötzlich einen Ton hatten, der an das Meer denken ließ. Jonah war ein echter Hingucker, aber auch ein netter Kerl und echter Kumpel, deshalb ließ Saskia sich mit Freuden in den Stuhl neben ihn fallen. Auch Franzi und Ruben waren aufgestanden. Ruben schlug ihr auf die Schulter und sie und Franzi begrüßten sich mit den üblichen Wangenküsschen.

Franzi war die Jüngste in ihrer Clique. Sie trug schwarze Leggings und ein weißes T-Shirt und schien in den letzten Wochen mehrere Kilo abgenommen zu haben. Es stand ihr total gut, dennoch wirkte sie unglücklich, als sie sich wieder setzte. Andererseits – wann wirkte Franzi mal nicht unglücklich?

»Sorry, das ist der Platz von Em«, erklärte ihr Ruben, der seine blond gefärbten Dreadlocks zu einem dicken Zopf gebunden hatte. Er wurde rot, spielte verlegen mit dem Piercing an seiner Oberlippe und wies mit der Hand auf einen bunten Beutel, der gleich daneben stand.

»Oh, na klar. Konnte ich ja nicht wissen.«

Saskia war über diese Zurechtweisung so verdattert, dass ihr kein passender Kommentar einfiel. Also schob sie sich aus dem Liegestuhl hoch und stand irritiert vor dem Tisch. Wer war denn Em? Hatte sie irgendwas verpasst?

Saskia war zwar schon seit letzter Woche wieder zu Hause, aber im Gegensatz zu den anderen war sie nicht in den Ferien gewesen, sondern hatte jobben müssen. Ihre Eltern legten Wert darauf, dass sie sich selbst Geld dazuverdiente, damit sie den Wert von Arbeit kennenlernte und nicht allzu leichtfertig mit dem umging, was sie besaß. Deshalb hatte sie erst zwei Wochen lang als Ferienbetreuerin am Chiemsee gearbeitet und danach noch ein paar Tage auf einer großen Messe als Hostess. Gerade der letzte Job war aufregend gewesen, sie hatte es unheimlich genossen, dass wildfremde Menschen sie unbedingt neben einem der Nobelautos fotografieren wollten. Das grüne Kostüm, das sie getragen hatte, passte gut zu ihren langen roten Locken und sie hatte sich absolut wohlgefühlt. Doch mit den Tagen war dann das Stehen anstrengender geworden und es war ihr immer schwerer gefallen, dauernd zu lächeln und in die Blitzlichter zu schauen. Obendrein musste sie nebenher Latein pauken, wo ihr nach den Ferien eine Nachprüfung bevorstand und so hatte sie kaum Zeit zum Ausspannen gefunden. Doch das lag jetzt alles hinter ihr. Mit ihrem selbst verdienten Geld wollte sie sich den Rest der Ferien etwas gönnen und heute feiern. Nur brauchte sie dafür erst einmal einen Sitzplatz.

»Du kannst dich auch hier hin setzen, wenn nichts anderes frei ist, Rotschopf!«, rief Jonah und klopfte einladend auf seine muskulösen Schenkel.

»Danke, nein!«, erwiderte Saskia. »Da würde ich bei diesen Temperaturen schon nach fünf Minuten festkleben. Voll ekelhaft die Vorstellung! Da ziehe ich doch Sand im Slip vor. Das ist wenigstens noch irgendwie … anregend«, witzelte sie, um ihre Enttäuschung zu überspielen, dass die anderen nicht an einen Platz für sie gedacht hatten und ließ sich einfach neben Franzis Liegestuhl auf den Boden plumpsen.

»Du siehst toll aus heute!«, raunte Saskia ihr zu, um sie aufzuheitern, doch Franzis Miene blieb unverändert. Bevor sie sich bei Franzi erkundigen konnte, wer diese »Em« war, verkündete Ruben lautstark: »Da ist ja mein Mädchen wieder!«

Neugierig schaute Saskia hoch. Das also war die ominöse Em. Das Mädchen trug einen bodenlangen bunten Rock, ein ausgewaschenes rotes Shirt und hatte über ihrem langen geflochtenen Zopf ein Dreieckstuch in demselben Rot gebunden. Neben der kreisrunden Sonnenbrille, die sie ganz vorne auf der Nasenspitze trug, fiel Saskia gleich das auffällige Oberarmtattoo auf – und die nackten Füße. Em war offenbar etwas älter als der Rest der Clique und wirkte sehr selbstbewusst.

»Hallo, wir kennen uns noch nicht«, sagte Saskia und rappelte sich aus dem Sand hoch. »Ich bin Saskia.«

Mit diesen Worten streckte sie ihre Hand aus, die das Mädchen allerdings ignorierte und sich erst einmal zu Ruben hinunterbeugte, um ihm einen Kuss zu geben. Saskia zog ihre Hand rasch zurück und tat so, als wäre sie nur aufgestanden, um einen kräftigen Zug aus dem gelben Eimer zu nehmen, in dem Erdbeerbowle war, wie sich herausstellte.

Gleichzeitig ärgerte sie sich über sich selbst – warum versuchte sie eigentlich, die peinliche Situation zu überspielen? Hatte sie das wirklich nötig?

»Saskia ist übrigens die letzte im Bunde. Jetzt kennst du alle«, klärte Ruben Em gerade auf. Die war jedoch mit ihrem Handy beschäftigt und schien dieser Information keine besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

»Bis auf Lynn«, krächzte Franzi dazwischen und begann zu husten. Saskia hielt ihr einen Strohhalm hin.

Genau, bis auf Lynn. Saskia nickte und wünschte sich von Herzen, dass genau die jetzt hier wäre. Ihre beste Freundin hätte sich niemals so verunsichern lassen. Sie beschloss sich ein Beispiel an ihr zu nehmen und das Mädchen einfach zu ignorieren.

»Wie geht es denn eigentlich unserer Weltreisenden? Habt ihr was gehört?«, fragte Saskia interessiert.

»Wir haben gerade die Fotos verglichen, die sie uns geschickt hat, bevor du gekommen bist«, meinte Ruben. »Hier gibt es eine klare Rangordnung, musst du wissen. Während Franzi vorwiegend Landschaftsaufnahmen bekommt, schickt sie Jonah ein Selfie nach dem anderen, bei denen sie entweder ein verführerisches Duckface macht oder ziemlich viel Dekolleté zeigt. Oder beides. Ich bekomme nur kurze Textnachrichten.«

»Die bekomme ich auch«, fiel Jonah ein. »Aber die gehen euch nichts an.«

Jonah hatte den Kopf gedreht und sah auf den See hinaus. Über sein Gesicht hatte sich ein leichter Schatten gelegt, den Saskia nicht so recht einordnen konnte.

»Von denen hast du vorhin aber nichts erzählt«, fuhr Ruben unbeirrt fort, der Jonahs Stimmungswechsel offenbar nicht bemerkt hatte.

»Schweinkram, würde ich wetten. Was meinst du, Em?« Ruben sah seine Freundin verliebt an, die jedoch keine Miene verzog, sondern weiterhin ihr Handy fixierte. Dennoch legte er seine Hand auf ihr Knie und schaute sie innig an. Vermutlich wollte er so in Kontakt mit ihr bleiben, obwohl sie gar nicht richtig dabei zu sein schien.

»Der Gentleman genießt und schweigt«, erwiderte Jonah. »Und um auf deine Frage zurückzukommen: Ich glaube, sie kommt besser klar, als sie gedacht hat. Nur eines will sie partout nicht: Skypen. Sie meint, wenn sie mich sehen und hören müsste, würde sie vor Sehnsucht durchdrehen.«

Saskia nickte. Das konnte sie verstehen. Die beiden waren in den letzten Monaten ja auch unzertrennlich gewesen.

Sie war sicher, dass Lynn litt wie ein Hund, das aber nicht zugeben wollte. Jonah wirkte nachdenklicher als sonst. Genauso wie Franzi. Im Grunde waren sie alle verändert.

Saskia betrachtete Ruben, bei dem ihr erst jetzt auffiel, dass er keine Kopfhörer dabei hatte. Sie hätte schwören können, dass sie ihn heute zum ersten Mal ohne ein elektronisches Gerät sah, aus dem Musik kam. Ruben war DJ und lebte für die Musik.

Wieder musterte sie kurz die Neue, die nicht wirkte, als hätte sie große Lust auf Rubens Freunde. Egal, sie wollte sich nicht von Em die Laune verderben lassen, denn sie hatte sich darauf gefreut endlich wieder in der vertrauten Runde zu sein. Also ignorierte sie das deutliche Störgefühl und nahm noch einen großen Schluck von der Bowle, die viel zu süß war. Gefährlich süß.

»Was schickt Lynn dir denn?«, wollte Ruben jetzt wissen.

»Alles mögliche. Eine bunte Reihe sozusagen«, beeilte sich Saskia zu sagen. Tatsächlich hatte sich Lynn zwar jeden Tag gemeldet, aber die Nachrichten waren immer kürzer geworden. Sie wusste im Grunde, dass sie sich selbst viel zu selten bei ihrer besten Freundin gemeldet hatte. Und das ließ die sie nun spüren.

»Was haltet ihr davon, wenn wir ihr ein Bild schicken? Von uns allen zusammen«, schlug Saskia vor. Begeistert stimmten die anderen zu. Schnell hatte sich am Nachbartisch jemand gefunden, der Bilder von der ganzen Clique machte. Sie nahmen sich in den Arm, dann beugten sie sich alle über den Eimer, taten so als würden sie trinken und zuletzt zogen sie furchtbare Grimassen.

Es entstand eine Reihe verrückter Bilder, sogar Em bekam jetzt ein fotogenes Lächeln zustande und Saskia war sich sicher, dass Lynn sich über die Bilder freuen würde, weil sie so quasi mit dabei wäre. Sogar Franzi war bei dem Shooting aufgetaut, hatte sich ein Schirmchen in ihre dunklen Haare gesteckt und einen niedlichen Kussmund gemacht.

Saskia beschloss, die Fotoserie zum Anlass zu nehmen, ihrer besten Freundin endlich mal richtig ausgiebig zu schreiben. Und dann jeden Tag Bilder zu schicken, damit Lynn merkte, wie sehr alle sie vermissten.

Danach wurde die Stimmung allgemein gelöster. Em und Ruben steckten die Köpfe zusammen, während Jonah sich erkundigte, wie Franzis Sprachurlaub in der Toskana gewesen war. Als die irgendwann zur Toilette musste, ließ sich Saskia erleichtert in den freien Liegestuhl fallen und streckte ihre Beine aus, die von der kauernden Haltung am Boden ganz taub waren. Sie ließ den Blick über den See gleiten, der glatt und schimmernd in der späten Nachmittagssonne dalag.

»Und wie war dein Urlaub, Surferboy? Ich will alles wissen! Jedes Detail.«

Er lächelte. »Schon cool. Das Wetter war spitze, ich war fast täglich auf dem Wasser.«

»Das sieht man«, kommentierte Saskia. »Die Mädels rundherum können kaum die Augen von dir lassen.«

»Ach, du spinnst doch. Die gucken höchstens dich an, Rotschopf. Du leuchtest in der Sonne.«

Er schubste Saskia und setzte seine Sonnenbrille auf.

»Meinst du, die wollen was von mir? Herrje … muss ich mich jetzt fürchten? Darf ich mich in deine starken Arme flüchten? Beschützt du mich?«, flötete sie übertrieben.

Er stieß daraufhin nur Luft durch die Zähne und wuschelte ihr durch ihre lange, lockige Mähne. Saskia zog Jonah gerne wegen seines Aussehens auf. Vor allem, weil er offenbar wirklich nicht ahnte, wie er wirkte.

Seine Ahnungslosigkeit machte ihn allerdings noch attraktiver als er ohnehin schon war. Lynn hatte schon ein verdammtes Glück mit ihm.

Saskia holte jetzt auch ihre Sonnenbrille aus ihrer Tasche und konnte so gut beobachten, wie Ruben mit Em turtelte. Sie hatte ihn noch nie mit einer Freundin gesehen und hatte eine Zeit lang überlegt, ob er vielleicht eher auf Kerle stand. Dem war aber definitiv nicht so. Em wirkte allerdings ein wenig unterkühlt, achtete kaum auf ihn und tippte mit flinken Fingern Nachrichten in ihr Handy.

Saskia seufzte und ließ den Blick über die vielen Menschen in dem Café gleiten. Es wurde langsam Zeit, dass auch sie wieder einen festen Freund fand. Aber sie hatte leider ein außerordentliches Talent, sich die falschen Jungs auszusuchen.

»Mal ernsthaft«, riss Jonah sie aus ihren Gedanken. »Irgendwie war der Urlaub nicht nur cool. Lynn hatte ja eigentlich mitkommen sollen nach Kalifornien. Ganz alleine mit meinen Eltern war es nicht gerade spaßig. Vor allem abends. Habe die meiste Zeit vor der Glotze gehangen und mir irgendwelche Serien reingezogen.«

»Du? Hätte ich nicht gedacht. Warst du nicht unterwegs? Am Beach? Auf Parties?«

»Alleine? Das ist nicht so mein Ding.«

»Auch wieder wahr. Was schauen die Amis denn im Moment so?«

»Ich habe die letzte Staffel ,Fallen Skies‹ geschaut. Abgedreht, sage ich dir. Und Krimi-Serien. Ziemlich düster alles. Aber das passte zu meiner Stimmung.«

Saskia zog die Augenbrauen zusammen und nahm die Sonnenbrille ab. »Was ist denn los?« fragte sie und sah ihn forschend an.

Er zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Vermutlich nichts. Vielleicht bin ich es nur nicht mehr gewöhnt, alleine zu sein. Ich wusste oft absolut nichts mit mir anzufangen.«

Sie nickte und knuffte ihn in die Seite. »Ich weiß, was du meinst. Ich warte die ganze Zeit darauf, dass sie gleich um die Ecke biegt. Ein paar Mal habe ich sogar gedacht, dass ich sie irgendwo gesehen habe. Was natürlich Quatsch ist.«

Er nickte. »Seitdem sie weg ist, nimmt sie fast mehr Raum ein, als vorher.« Jonah stockte, scharrte mit seinen Füßen im Sand, schien noch etwas auf dem Herzen zu haben. Doch nach einer Weile meinte er nur: »Naja, aber jetzt haben wenigstens wir uns wieder. Wir werden uns daran gewöhnen müssen. Weihnachten kommt sie das nächste Mal.«

Saskia wollte gerade nachfragen, wie er das mit dem Raum einnehmen gemeint hatte, als ein Schatten über sie fiel. Franzi stand vor ihr und starrte sie finster mit zusammengekniffenen Augen an.

Seufzend rappelte sich Saskia auf, um wieder ihren alten Platz einzunehmen. Sie hatte heute einfach keine Lust auf Diskussionen, immerhin ging es bloß um einen Stuhl.

Jonah hatte Recht: Lynns Abwesenheit hatte das Gefüge der Clique verändert. Erst jetzt wurde Saskia klar, dass auch zwischen ihr und Franzi Lynn das einzige Bindeglied gewesen war.

Sie hatte noch nie richtig mit Franzi geredet und als sie deren düsteren Blick sah, hatte sie dazu auch in diesem Moment nicht viel Lust. Also saß sie ruhig da, blickte aufs Wasser und hörte den Gesprächen der anderen zu.

Plötzlich beschlich Saskia ein merkwürdiges Gefühl. Es war so intensiv, dass es ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte, der definitiv nicht von den kühlen Böen kam, mit dem sich gerade ein Sommergewitter ankündigte.

Sie konnte das Bild nicht greifen, das ganz kurz vor ihrem inneren Auge aufgeblitzt war. Vielleicht war es nur der Alkohol, vielleicht die seltsame Stimmung, aber sie hatte das deutliche Gefühl, dass irgendetwas Schlimmes passieren würde.

Franzi

Franzi hatte beschlossen, Saskia auf dem Heimweg zu begleiten, weil sie ganz offensichtlich zu viel getrunken hatte. Es war ein merkwürdiger Nachmittag gewesen, und Franzi spürte, wie ihr der Kopf wehtat, obwohl sie selbst kaum an dem Getränk genippt hatte. Alkohol machte sie immer melancholisch und das wollte sie in jedem Falle vermeiden.

Sie wusste von ihrer Mutter, die Anwältin war, dass seit Kurzem in der Gegend verstärkt Alkoholkontrollen bei Fahrradfahrern durchgeführt wurden. Franzi machte sich Sorgen, dass man Saskia, die gerade ihren Führerschein gemacht hatte, erwischen könnte.

»Komm wir schieben«, sagte sie. »Du bist noch in der Probezeit. Meine Mutter sagt, es wäre Auslegungssache, ob sie das auf den Führerschein anwenden oder nicht, wenn du Ausfallerscheinungen auf dem Fahrrad zeigst.«

»Du meinst … ungefähr so?«

Saskia torkelte schielend mit ihrem Fahrrad über die Straße und ließ die Zunge seitlich raushängen.

»Hör auf, Saskia! Wenn das jemand sieht …«

Saskia lachte nur und schüttelte ihre langen roten Haare, sprang dann jedoch auf den Bürgersteig zurück und trottete neben ihr her.

»Ach, Mensch, Franzi! Du machst dir immer gleich so viele Sorgen. Sei doch mal locker. Es wird schon nichts passieren! Im Laufen werde ich wohl kaum jemanden gefährden. Oder fühlst du dich von mir bedroht? Belästigt? Dann müsstest du das natürlich zur Anzeige bringen …«

Saskia kicherte, wollte einen Stein wegkicken und stolperte dabei so heftig, dass sie fast gefallen wäre.

Franzi presste die Lippen zusammen. Locker sein. Saskia hatte gut reden. Die war immer locker, und Franzi beneidete sie darum.

Für sie war das nicht so einfach. Sie kam aus einem strengen Elternhaus, ihre Eltern waren beide Juristen und kannten nur ihre Arbeit. Sie schauten sie immer strafend an, wenn sie mal herumalberte. Franzi konnte einfach nicht aus ihrer Haut, machte sich permanent Gedanken. Sie war eben so erzogen worden, sollte über die Konsequenzen ihrer Handlungen nachdenken, genau wie über die der anderen. Deshalb war sie geblieben, bis die Runde sich aufgelöst hatte und deshalb begleitete sie jetzt Saskia, statt daheim in ihrem Bett zu liegen. Obwohl sie sterbensmüde war. Sie hatte die halbe Nacht wach gelegen – wie so oft in den letzten Wochen. Aber eine musste schließlich alles im Blick behalten.

»Ruben habe ich noch nie so verliebt gesehen wie heute. Voll niedlich ist der, finde ich. Überhaupt nicht so cool wie sonst. Nur seine Freundin, die gibt mir Rätsel auf. Wie findest du diese Em eigentlich?«, fragte Saskia, plapperte jedoch ohne eine Antwort abzuwarten weiter. »Den Namen finde ich irgendwie komisch. Emma ist doch so schön, warum macht sie dieses kryptische »Em« daraus? Das ist doch kein Name! Oder schreibt die sich wie der Buchstabe? Einfach »M«. Weil es so cooler ist? Ich verstehe echt nicht, warum man seinen Namen verhunzt, nur um irgendwas Besonderes zu sein.«

»Keine Ahnung«, murmelte Franzi, die sich bisher kaum Gedanken um den Namen von Rubens neuer Freundin gemacht hatte.

»Stehst du auch auf so was? Musst du nur sagen. Ich kann dich gerne »Fra« nennen.« Sie kicherte. »Oder einfach »F«.«

Franzi kommentierte das nicht. Sie wusste, dass es in dieser Stimmung keinen Sinn hatte gegen Saskia anzureden. Sie steigerte sich sonst nur noch mehr in ihre verrückten Ideen hinein und kam auf immer absurdere Gedanken. Auch jetzt lief sie neben ihr her, stieß schon wieder ein langgezogenes »F« durch die Lippen und lachte sich anschließend kaputt. »Klingt, als würde einem Reifen die Luft ausgehen. Voll schlapp. Hör doch!«

»Haha.« Langsam war Franzi genervt. Sie mochte ihren Namen ohnehin nicht. Franziska. Das bedeutete »Die Freie«. Lächerlich. Dabei war sie alles andere als frei. Manchmal schien es ihr, als würde selbst ihr eigener Name sie verhöhnen.

»Hast du Ems Tattoo gesehen? Ich frage mich, warum die so ein Märchenmotiv nimmt. Das wirkt doch voll kindisch. Und das, wo die so erwachsen und abgehoben tut. Was war das überhaupt? Schneewittchen?«

Franzi antwortete nicht. Das Tattoo zeigte nicht Schneewittchen, sondern Alice im Wunderland. Das erkannte man an den Spielkarten, die rund um das Mädchen angedeutet waren. Und an dem blauen Kleid mit der weißen Schürze. Doch Franzi korrigierte Saskia nicht. Wozu auch? Es tat nichts zur Sache.

Franzi gefiel die düstere Version der Figur sehr, die Emma sich hatte stechen lassen und bewunderte ihren Mut, es an so einer auffälligen Stelle machen zu lassen. Das sanfte Lächeln, das von Zeit zu Zeit über Emmas Gesicht gehuscht war, ließ Franzi sogar glauben, es könnte sich wirklich um das Land der Wunder handeln, in dem sie in Gedanken war. Nur in einem gab sie Saskia Recht: Emma war völlig unnahbar. Aber mutig. Wenn Franzi sich jemals trauen würde, sich ein Tattoo stechen zu lassen, dann würde sie vermutlich Schneewittchen nehmen. Das Mädchen, das vor der neidischen Mutter von zu Hause fliehen musste. Am liebsten die Szene, in der sie in dem Glassarg lag, beweint von den sieben Zwergen. Kurz bevor der Prinz kam, um sie zu retten.

»Wo hat Ruben sie überhaupt kennengelernt? Ich habe sie vorher noch nie irgendwo gesehen!« Saskia riss Franzi aus ihren Gedanken, ohne zu ahnen, woran diese gedacht hatte.

»Vermutlich im Club. Soviel ich mitbekommen habe, legt sie auch manchmal im ,Drink‹ auf. Sie kommt aber nicht von hier.«

»Eine DJane? Krass. Und was macht die sonst? Schule?«

»Keine Ahnung.«

»Ich wüsste gerne, was die da die ganze Zeit mit ihrem Handy gemacht hat. Manchmal hatte ich das Gefühl, als würde sie sich über uns lustig machen. Sie hat immer so seltsam gegrinst dabei.«

»Ach, komm. Ist doch völlig normal zu chatten.«

»Achja? Den ganzen Abend? Wenn man gerade neue Leute kennenlernt? Also für mich sah das komisch aus.«

»Warum hast du sie nicht einfach gefragt, wenn es dich so interessiert?«

»Sag mal, ist irgendwas?«, fragte Saskia und blieb stehen. »Du bist heute schon den ganzen Abend so seltsam.«

»Wieso? Was soll sein?«

»Weiß ich auch nicht. Deshalb frage ich ja.« Saskia klang tatsächlich ratlos. Und wieder nüchtern.

Stumm liefen die Mädchen eine Weile nebeneinander her.

Saskia brach schließlich das Schweigen: »Du bist aber nicht sauer, weil ich mich vorhin auf deinen Platz gesetzt hatte, oder?«

Franzi versuchte, einen neutralen Gesichtsausdruck aufzusetzen, schaute weiter geradeaus.

»Du hättest nur was sagen müssen, dann wäre ich aufgestanden. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich Sandflöhe im Slip …«

»Das Gefühl hatte ich allerdings auch. Aber nicht wegen der Flöhe«, rutschte es Franzi heraus, obwohl sie eigentlich ihre Klappe halten wollte.

Abrupt blieb Saskia stehen. »Sag mal, spinnst du? Ich? Was soll denn das jetzt heißen?«

»Tu doch nicht so. Du warst ja kaum von Jonah wegzubekommen. Erst hast du ihm ständig Komplimente für sein Aussehen gemacht und dann bist du förmlich in ihn reingekrochen.«

Saskia legte sich die Hand an die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ich bin was? Hast du eigentlich noch alle Tassen im Schrank? Ich habe mich mit Jonah unterhalten. Sonst nichts. Spinnst du jetzt komplett?«

Franzi hatte keine Lust sich zu verteidigen. Sie hatte gesehen, was sie gesehen hatte.

Saskia schüttelte den Kopf. »Ich fasse das grade alles nicht. Und auch wenn ich keinen Grund habe, mich zu verteidigen: Ich habe mit Jonah geredet. Weiter nichts. Mit Ruben konnte man ja kein Gespräch führen, diese Em ist ein Eisklotz und du, du warst so kommunikativ wie ein Fisch. Was hätte ich denn machen sollen? Schweigen und brav die Hände in den Schoß legen?«

»Das wäre eine Alternative gewesen.«

Saskias Kopf fuhr herum. »Bitte? Das muss ich mir echt nicht anhören! Ich hoffe, deine Wahrnehmungsstörungen hängen mit der Erdbeerbowle zusammen. Für mich ist jedenfalls unser Gespräch beendet. Ich hau lieber ab.«

Saskia schwang sich auf ihr Fahrrad und murmelte leise: »Dabei hatte ich mich echt darauf gefreut, dich heute zu sehen.« Dann trat sie, ohne sich noch einmal umzudrehen, in die Pedale.

»Du bist jedenfalls die Einzige, die heute kaum ein Wort über Lynn geredet hat!«, schrie Franzi Saskia hinterher. Doch entweder hatte die sie nicht mehr gehört oder sie wollte sich nicht umdrehen.

Chat zwischen Saskia und Lynn

Sorry, dass ich so selten geschrieben habe. Hoffe du bist nicht sauer? Komme iwie besser klar, wenn ich nicht so oft mit dir rede. Anbei ein Foto von uns allen von heute. Als Entschuldigung. Weil ich eine miese Freundin bin. S.

Irritiert, aber nicht sauer. Passt alles. Keine Sorge.

Wer ist das Mädchen? Müsste ich die kennen?