Grenzgänger -  - E-Book

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Beschreibung

Eigentlich will Max nur mal eben ihren Kumpel Recep in Witten besuchen. Aber da trifft sie seinen Mitbewohner Michael, der nicht nur unverschämt gut aussieht, sondern auch noch Geister beschwören kann. Und der schließlich die Schuld daran trägt, dass Max sich auf die Suche nach ihrem leiblichen Vater macht. Eine abenteuerliche Reise quer durch den Ruhrpott beginnt: von Witten über Gelsenkirchen, Bochum, Castrop-Rauxel und Dortmund nach Unna. Getrieben wird Max aber nicht allein von der Frage nach ihrer Herkunft, sondern auch von ihrer Angst vor einem bedrohlichen Fremden. Verfolgt er Max oder bildet sie ihn sich bloß ein? Und ausgerechnet jetzt muss auch noch Max' Liebesleben verrückt spielen. Unterwegs im Pott sind auch die Frösche Ozzy und Steve – auf der Suche nach einem Meer mitten im Ruhrgebiet. Und dann ist da noch Hund Brutus, der durch die Städte geistert. Weil Totgeglaubte manchmal eben länger leben. Spannend, gruselig, manchmal traurig, oft romantisch und immer wieder witzig haben rund 70 Jugendliche aus der Region ein Ruhrpott-Roadmovie geschrieben. Der Nachfolgeroman von „Stromabwärts. Ein Emscher-Roadmovie" verspricht ein Wiedersehen mit alten Bekannten – nicht zuletzt mit der Emscher.

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Grenzgänger

Ein Ruhrpott-Roadmovie

Herausgegeben von

Sarah Meyer-Dietrich, Sascha Pranschke und Inge Meyer-Dietrich

Impressum

Grenzgänger. Ein Ruhrpott-Roadmovie

Der Roman ist das Ergebnis des Schreibwerkstättenprojekts »Quer durch die Städte schreiben«, das im Herbst 2013 mit 66 Jugendlichen in sechs Ruhrpott-Städten realisiert wurde. Es versteht sich als Nachfolgeprojekt von »Am Fluss entlang schreiben« (erschienen 2013 mit dem Titel »Stromabwärts. Ein Emscher Roadmovie« im Klartext Verlag).

Herausgeber & Werkstättenleiter:

Sarah Meyer-Dietrich, Sascha Pranschke, Inge Meyer-Dietrich

Projektleitung & Projektkoordination:

»Quer durch die Städte schreiben«: Sarah Meyer-Dietrich, Martina Oldengott

Lektorat: Inge Meyer-Dietrich, Sascha Pranschke, Sarah Meyer-Dietrich

Coverfoto: Frank Vinken mit Unterstützung von Stefan Nowoczyn (Lightproof Veranstaltungstechnik Zeche Carl, Essen). Vielen Dank an Verona, Victor und Taimour (v. l.), die für das Foto Modell standen.

Fotos: Frank Vinken, Baoquan Song, Sarah Meyer-Dietrich

Zeichnung Städtekarte: Sarah Meyer-Dietrich

Kooperationspartner:

»Quer durch die Städte schreiben« ist ein Projekt von jugendstil – das kinder- und jugendliteraturzentrum nrw (Projektträger) in Kooperation mit dem Friedrich-Bödecker-Kreis NRW e. V., der Emschergenossenschaft und der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung NRW.

In jeder Stadt beteiligten sich kommunale Partner finanziell und durch die Bereitstellung von Räumlichkeiten und Experten: die Stabsstelle Stadtentwicklung der Stadt Witten, das Kulturforum Witten, das Referat Stadtplanung der Stadt Gelsenkirchen, das Kulturbüro der Stadt Bochum, die Bereiche Stadtentwicklung und Wirtschaftsförderung der Stadt Castrop-Rauxel, das Kulturbüro der Stadt Dortmund und Kulturbetriebe der Kreisstadt Unna, Bereich Kultur.

Förderer:

»Quer durch die Städte schreiben« wird gefördert mit Sonderprojektmitteln des Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport sowie mit Mitteln der Emschergenossenschaft, der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung NRW und Zuschüssen der kommunalen Kooperationspartner.

1. Auflage Juni 2014

Satz und Gestaltung:

Klartext Medienwerkstatt GmbH, Essen

Umschlaggestaltung:

Volker Pecher, Essen

Titelabbildung:

Foto: Frank Vinken. Ort: Zeche Carl, Essen.Im Hintergrund: die Zeche Zollverein, Essen.

ISBN 978-3-8375-1207-6

ISBN ePUB: 978-3-8375-1600-5

Alle Rechte vorbehalten

© Klartext Verlag, Essen 2014

www.klartext-verlag.de

Grußwort

Voller Faszination lesen viele von uns Romane, die sich in den großen Metropolen dieser Welt abspielen. Sei es, weil man die eine oder andere Stadt als Tourist bereist oder sie kennt, oder weil man dort selber lebt oder eine Zeitlang dort gewohnt und gearbeitet hat. Eine Stadt aus der Perspektive eines anderen Menschen wahrzunehmen, macht neugierig, erschließt neue, bisher vielleicht nicht aus eigener Anschauung wahrgenommene Seiten und Orte, bietet Information über Veränderungen und schafft einen emotionalen Zugang zu diesen kleinen und großen Städten der Welt. Eine Stadt durch die Augen eines Schriftstellers zu sehen und seinen Erlebnissen folgend zu durchstreifen, ist immer wieder etwas ganz Besonderes. Die Leserin und der Leser können selbst entscheiden, ob sie sich in die Rolle des Beobachters begeben oder in die Haut der Akteure einer Erzählung schlüpfen und sich vielleicht mit ihnen identifizieren.

Nun besteht die Möglichkeit, einen Blick auf einige Städte aus dem Ruhrgebiet zu werfen. Es geht allerdings nicht darum, die touristischen Attraktionen in den Mittelpunkt der Handlung zu stellen, sondern die jungen Autoren führen uns an ungewöhnliche Orte.

Für die Emschergenossenschaft war bereits der erste Roman in dieser Reihe mit dem Titel »Stromabwärts. Ein Emscher-Roadmovie« ein großer Gewinn. Ungefähr 70 Jugendliche gaben uns Gelegenheit, durch ihre Augen unseren Fluss und unsere Aufgaben neu wahrzunehmen. Sie gewährten uns aber auch Einblick in ihre Welt, ihre Gedanken, Interessen, Sorgen, Sehnsüchte und ihren Alltag. Das Ergebnis war eine wunderbare und kraftvolle Erzählung. Das erste in einem gemeinsamen Schreibprozess entstandene Buch hat sich sehr gut verkauft und es hat allen beteiligten Kooperationspartnern Mut gemacht, eine weitere Textwerkstatt anzubieten. Dieses Mal wurden aber nicht Woche für Woche die bis dorthin verfasste Geschichte und der Staffelstab an der Emscher entlang an die nächste Gruppe von Jugendlichen aus unterschiedlichen Schulen weitergereicht. Vielmehr wurde kreuz und quer durch sechs Städte des Ruhrgebiets geschrieben und jeden Freitag war Schichtwechsel.

Wieder ist eine zauberhafte Erzählung entstanden. Das Gemeinschaftsprodukt der 66 beteiligten Jugendlichen umfasst 170 Manuskriptseiten. Sie greifen etliche Romanfiguren aus dem ersten Buch auf und insofern ist »Grenzgänger. Ein Ruhrpott-Roadmovie« tatsächlich eine Fortsetzung von »Stromabwärts«. Die Helden der Handlung spüren auf der Suche nach dem Vater von Max, der Schlagzeugerin aus dem Emscher-Roadmovie, geheime, verwunschene und besondere Orte in den Städten auf. Sie bewegen sich ständig an Grenzen entlang: zwischen den Städten, zwischen Ober- und Unterwelt, zwischen den Zeiten, zwischen Realität und Fantasie.

Auch die Emschergewässer und ihr Wandel von einer stinkenden Köttelbecke zu einem gesunden und lebendigen Fluss-System spielen wieder eine Rolle. Mit dem Rückgewinn eines naturnahen Lebensraumes ür Pflanzen und Tiere sind die Emscher und ihre Bäche auch für immer zahlreicher werdende Wassergeister attraktiv: Feen, Elfen, magische Steine und Meerjungfrauengestalten können durch die Zeit reisen, in die Zukunft und Vergangenheit schauen. Die Schar der Tiere wird immer größer. Vor allem aber berühren uns auch dieses Mal das Schicksal und die Erlebnisse der jungen Menschen in der Erzählung. Wir hoffen, dass es Euch, den Leserinnen und Lesern dieses Romans, genauso geht!

Liebe Leserinnen und Leser, wir hoffen, dass lhr Euch über die Fortsetzung des Emscher-Roadmovies in diesem Ruhrpott-Roadmovie freut und neugierig auf die Erlebnisse der Grenzgänger in dieser Geschichte seid. Wir wünschen Euch viel Spaß beim Lesen. Erzählt Euren Freundinnen und Freunden davon.

An die Jugendlichen, die an diesem Buch mitgeschrieben haben, geht ein herzlicher Dank. Wir wünschen uns, dass Eure Begeisterung für das Schreiben Schule macht und Euer Engagement zum Vorbild für weitere Schreibprozesse wird, die wir mit diesen Textwerkstätten anstoßen möchten!

Wir danken dem renommierten Fotografen Frank Vinken, dass er uns wie bei der ersten Textwerkstatt die ganze Zeit über unentgeltlich begleitet und wunderbare Bilder von den Handlungsorten und dem Schreibprozess gemacht hat. Wir danken den professionellen Autoren und Herausgebern des Buches für ihren unermüdlichen Einsatz. Ohne eine gute, enge und reibungslose Zusammenarbeit wäre ein solches Projekt nicht zu stemmen und deshalb geht ein herzliches Dankeschön auch an all unsere Kooperationspartner!

Dr. Martina OldengottEmschergenossenschaft

Vorwort

Täglich bewegen wir uns durch die eigene Stadt. Aber kennen wir sie wirklich? Sehen wir richtig hin? Machen wir einen Kurztrip in eine andere Stadt, haben wir selbstverständlich einen Reiseführer in der Tasche, aber über die eigene Stadt denken wir häufig wenig nach – ist sie doch immer und selbstverständlich da.

Deshalb machten wir uns im Projekt »Quer durch die Städte schreiben« gemeinsam mit 66 Jugendlichen auf Entdeckungsreise. Wir wollten die verbotenen, die vergessenen, die unsichtbaren Orte mitten in den Städten finden und erkunden. Um diese Orte zum Schauplatz eines Romans zu machen.

Bereits im Frühjahr 2013 hatten wir mit rund 70 Jugendlichen aus sieben Städten im Projekt »Am Fluss entlang schreiben« den Roman »Stromabwärts. Ein Emscher-Roadmovie« realisiert. Damals war die Emscher zu unserem Exkursions- und damit auch zum Ort der Romanhandlung geworden. Dieses Projekt hatte den teilnehmenden Jugendlichen so großen Spaß gemacht, der Roman so positive Resonanz hervorgerufen, dass wir als Kooperationsteam entschieden, ein Nachfolgeprojekt auf die Beine zu stellen.

Mit dem neuen Projekt reisten und schrieben wir im Herbst 2013 kreuz und quer durch den Ruhrpott. Sechs Städte (Witten, Gelsenkirchen, Bochum, Castrop-Rauxel, Dortmund, Unna), 66 Jugendliche, sechs Wochen Zeit, um einen ganzen Roman fertig zu stellen.

Dafür brauchten wir zunächst einen starken, spannenden Plot, der die Protagonisten des Romans quer durch die Städte führen sollte: Im Rahmen eines Auftaktworkshops im Oktober 2013, an dem je zwei Jugendliche jeder Stadt teilnahmen, erarbeitete die Gruppe die Grundidee. Max, die bereits eine Nebenrolle in »Stromabwärts« gespielt hatte, sollte die Hauptrolle im neuen Roman übernehmen. Auch der Grund, aus dem sich Max auf eine Reise durch das Ruhrgebiet machen sollte, wurde festgelegt (und soll im Vorwort natürlich noch nicht verraten werden!).

Mit der Grundidee starteten wir in die erste Schreibwoche in Witten. Von da an kamen wir kaum noch zu Atem. Jede Woche ging es in eine der weiteren Städte. Immer starteten wir mit einer Exkursion, um die jeweilige Stadt mit neuen Augen zu sehen und uns Inspirationen für das neue Kapitel zu holen. Dafür standen uns in jeder Stadt Experten zur Verfügung, die uns ganz besondere Orte zeigten, die wir ohne sie sicherlich nicht gefunden hätten: einen magischen Turm, eine Geisterzeche, einen Bach voll fantastischer Wassergeister, den schönsten Knast in NRW, das Meer im Ruhrgebiet, eine magische Platane … oder geht jetzt schon wieder die Fantasie mit uns durch? Vermutlich. Denn so inspirierend waren die Orte, dass die Jugendlichen diese gleich mit den unterschiedlichsten Figuren und Handlungssträngen bevölkerten.

Die größte Herausforderung war für uns dabei, Woche für Woche den Überblick zu bewahren, relevante Handlungsstränge im Auge zu behalten, damit von Stadt zu Stadt keine Informationen verloren gingen, aber auch die vielfältigen kreativen Ideen innerhalb jeder Gruppe während der Schreibwerkstatttage so zu koordinieren, dass bis zum Ende jeder Schreibwoche ein zusammenhängendes Kapitel entstand. Denn so vielschichtig und abwechslungsreich ist dieser Roman geworden, dass wir mitunter selbst Mühe hatten, den Überblick zu behalten.

Am Ende jeder Schreibwoche mussten die beteiligten Autoren ihr Werk aus den Händen geben. Sie reichten es während des Schichtwechsels persönlich an die Gruppe in der nächsten Stadt weiter. Es fiel den Autoren nicht immer leicht, die lieb gewonnenen Figuren anderen Autoren zu überlassen. Etwas einfacher wurde es dadurch, dass die Autoren sahen, mit wie viel Begeisterung ihre Nachfolger die Handlungsstränge jedes Mal übernahmen.

Das Projekt ist inzwischen beendet. Die Autoren, die Organisatoren und Werkstättenleiter sehen die sieben Städte nun mit anderen Augen. Wir schauen genauer hin, nehmen mehr wahr, sehen mitunter auch das, was nur der Fantasie der Autoren entsprungen ist, wenn wir uns durch diese Städte bewegen. Und jetzt laden wir Sie ein, mit uns das Ruhrgebiet zu erkunden. Es gibt viel zu entdecken – sehen Sie selbst!

Sarah Meyer-Dietrich, Sascha Pranschkeund Inge Meyer-Dietrich

1. Ein Wiedersehen im Haus Witten

»Ich hab dir das schon mal gesagt, im Haus Witten wird nicht heimlich …«

Es klopfte an der Tür.

»Herein!«, rief ich gestresst.

Die Tür ging auf, und meine Bandkameradin Max kam rein. Sie lief auf mich zu und umarmte mich liebevoll.

»Wir sehen uns nächste Woche«, wandte ich mich meinem Gesangsschüler Stefan zu. »Und heimlich auf dem Klo geraucht wird hier nicht, denk dran! Rauchen ist eh schlecht für die Stimme.«

»Schon klar, kommt nicht wieder vor«, sagte Stefan so zerknirscht, dass ich nun doch lachen musste.

»Einer meiner Gesangsschüler«, sagte ich zu Max, während Stefan die Tür hinter sich schloss.

»Stimmt, du machst ja jetzt auf Lehrer«, feixte Max.

»Genau. Schön dich zu sehen, Max! Aber warum warst du am Telefon so gestresst?«

»Ach … meine Tante ist voll dumm! Sie will, dass ich mir einen Job suche!« Mir schoss ein Gedanke durch den Kopf: »Hier werden noch Leute gesucht.

Vielleicht wäre es ja auch was für dich, einen auf Lehrer zu machen?«

»Mit Schlagzeugunterricht Geld verdienen? Das wär’ ja cool!« Ich bot ihr an, mit unserer Chefin zu reden. Frau Schmidt hatte auch mich vor kurzem eingestellt. Vielleicht könnte ich sie davon überzeugen, es mit Max als Schlagzeuglehrerin in der Wittener Musikschule zu versuchen.

Max zögerte: »Ich weiß nicht … ich war jetzt gar nicht auf ein Vorstellungsgespräch vorbereitet. Aber warum eigentlich nicht …«

Die Tür wurde aufgestoßen: »Warum wird hier keine Musik gespielt?« »

Sie kommen wie gerufen, Frau Schmidt. Wir haben gerade über Sie gesprochen!«

Ich erklärte ihr, dass Max einen Job suchte. Und dass sie die beste Schlagzeugerin war, die ich kannte.

Frau Schmidt wandte sich nun direkt an Max: »Ich würde als Erstes gerne wissen, wie alt Sie sind. Sie sehen nämlich ganz schön jung aus.«

»Ich bin 18 Jahre jung und die Drummerin in Receps Band.«

»Ah«, sagte Frau Schmidt. »Sie spielen also auch bei den Black Swaggies. Und woher kommen Sie denn Miss …?«

»Nein, nein, nicht Miss«, lachte Max, »ich bin keine Engländerin. Mein Spitzname wird nur englisch ausgesprochen. Maximiliane Schiller heiße ich eigentlich. Ich wohne in Herten bei meiner Tante.«

»Und wieso suchen Sie ausgerechnet in Witten nach Arbeit?«, wollte Frau Schmidt wissen.

»Ich wollte eigentlich nur Recep besuchen, der hatte die Idee mit dem Job als Schlagzeuglehrerin. Aber ich war gleich begeistert. Musik bedeutet mir nämlich alles.«

»Dann schauen wir doch mal, was sich da machen lässt«, sagte Frau Schmidt. »

Kommen Sie doch einfach mit in mein Büro.«

Sie gingen in Frau Schmidts Büro, um die wichtigsten Sachen zu klären.

Während Max mit Frau Schmidt sprach, dachte ich daran, wie ich selbst noch vor kurzem verzweifelt einen Job gesucht hatte. Gesangslehrer gesucht, hatte ich schließlich in der Zeitung gelesen … in Witten. Ich erinnerte mich, wie ich von Duisburg hierher gekommen war und mich geborgen gefühlt hatte – im Kreis der Kollegen, umgeben von Sachen, die ich liebe und die mir wichtig sind. Und wie ich meinen Kumpel Michael getroffen hatte. Meinen besten Freund aus Kindertagen. Lange hatte ich befürchtet, ihn nie wieder zu sehen. Und jetzt wohnten wir sogar in einer WG zusammen.

Ich war so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht mitbekam, wie Max vor mich trat, um mir von dem Gespräch mit Frau Schmidt zu berichten: »Und das Coolste ist, ich darf schon nächste Woche einen Probetag machen!«

»Das ist ja super!«

Max und ich entschlossen uns, am Abend ein bisschen feiern zu gehen. Aber vorher musste ich noch eine Gesangsstunde geben. Max wollte sich solange die Stadt ansehen und mich später vor dem Haus Witten treffen.

Um sich die Zeit zu vertreiben, lief Max durch den Stadtpark. Auch um sich ein bisschen zu entspannen. Der Streit mit ihrer Tante Tina setzte ihr mehr zu, als sie es vor Recep zugeben wollte. Schließlich hatte Tina sie aufgenommen, als Max mit sechzehn von zu Hause abgehauen war.

Am Ende einer großen Wiese stand eine Dreiergruppe. Drei Mädchen … ein Klassiker. Sie fanden sich bestimmt richtig cool mit ihren schwarzen Jogginganzügen und den dunkelblauen Schuhen. Sie hatten Flyer in der Hand, doch als ein junges Pärchen an ihnen vorbeiging, gaben sie ihnen keinen.

»Was habt ihr denn da für Flyer?«, sprach Max sie an.

Die drei Mädchen musterten sie, als sei sie etwas Besonderes.

»Eine Party«, flüsterte eins der Mädchen. »Ganz exklusiv. Und streng geheim.«

Sie drückte Max einen Flyer in die Hand. Dann verschwanden die drei. Max warf einen Blick auf den Flyer. Die Party sollte morgen Abend im Wittener Hauptbahnhof steigen. Streng geheim … exklusiv … und Max war soeben dazu eingeladen worden. Sie fühlte sich in Witten willkommen.

Da bemerkte Max, dass die Sonne schon langsam unterging. Sie schaute auf die Uhr und dachte: Holy shit, Recep wartet auf mich! Schnell machte sie sich auf den Weg zum Haus Witten.

2. Nicht normal?

Hi Gööörl, wo bleibst du? Ich warte vor dem Haus Witten, beeil dich! :) Recep Xo.

Das war jetzt schon die dritte SMS von Recep. Ich sollte mich wirklich beeilen, sonst brächte er mich eigenhändig um. Bei dem Gedanken musste ich schmunzeln. Recep konnte noch nicht mal einer Fliege was zu Leide tun. Ich sah Recep schon vor dem Eingang von Haus Witten.

»Warum hast du so lange gebraucht?«, sagte Recep leicht genervt. »Ich habe mir hier den Arsch abgefroren!« Abends war es wirklich empfindlich kalt. Kein Wunder! Immerhin hatten wir schon November.

»Bleib ruhig, Brauner, hier bin ich doch.«

Recep lachte. »Okay, Pinky«, erwiderte er mit einem Blick auf meine frisch

gefärbten Haare, »lass uns reingehen, das Konzert hat schon angefangen.«

»Warte, bevor wir reingehen, muss ich dir noch was erzählen …«, fing ich an, doch Recep unterbrach mich: »Max, wenn du mir jetzt erzählen willst, was du auf deiner Shoppingtour alles eingekauft hast, lass es einfach, es intere…«

»Lass mich doch einfach ausreden! Ein paar Mädchen haben mich zu einer Party eingeladen. Angeblich geheim! Morgen Abend im Wittener Hauptbahnhof. Also, ich dachte mir, hey warum nicht?«

»Oh, hast du grade Party gesagt?« Recep schaute mich an und wackelte dabei mit seinen Augenbrauen. »Dann müssen wir auf jeden Fall Lukas anrufen. Du weißt, wie sehr er auf Partys steht!«

Ich lächelte Recep an. Lukas, unser Gitarrist, war wie ein Bruder für mich. »

Hey, ich rufe Lukey an«, sagte ich. »Ich vermisse ihn schon jetzt!« Recep drückte mir sein Handy in die Hand.

Aber Lukas hatte sein Handy offenbar wieder irgendwo rumfliegen und kriegte das Klingeln nicht mit. Jedenfalls erreichte ich ihn nicht. Also gingen wir erst mal rein. Die Band hatte schon angefangen zu spielen. Ich wollte mich gleich nach vorn drängeln, aber Recep hielt mich zurück: »Ey, Max, warte mal hier! Ich hol kurz einen Freund, du wirst ihn lieben.«

»Meinetwegen.« Kaum hatte ich das gesagt, war er schon verschwunden. Typisch Recep, er ist eben sehr ungeduldig.

Und so schnell wie er gegangen war, kam er auch wieder zurück. Nur dass jetzt ein Typ mit waldmeistergrünen Haaren bei ihm war. Ich ging auf die beiden zu, da ich nicht wie ein Trottel herumstehen und warten wollte.

»Hi, mein Name ist Max«, sagte ich.

Woraufhin er nur stotterte: »Ha … ha … hi, ich bin … ähmm … uhmm … ähh …«

»Michael«, sagte Recep. » Michael Jackson. Gut, sein Nachname ist nicht Jackson, aber der Vorname stimmt.« Recep grinste. »Also eigentlich nicht Maikäääl …« Recep sprach den Namen betont englisch aus. »… sondern einfach Michael. Michael Friedrich Gustav von Plettenberg. Aber er lässt seinen Namen gern englisch aussprechen. Kommt dir das bekannt vor?«

Aber ich hörte Recep schon gar nicht mehr richtig zu, sondern starrte Michael an. Gott, sah er gut aus! Mit seinen grünen Haaren, den schoko-braunen Augen, der blassen Haut und der muskulösen Figur! Außerdem gab er mir das Gefühl, winzig zu sein. Er war bestimmt um die 1,85 m groß. Kurz und knapp: eine Gottheit.

»Max! Michael! Seid ihr beide noch anwesend oder plant ihr in Gedanken schon eure Hochzeit?«

Ich wurde auf Anhieb rot. Recep wusste, wie man Leute in Verlegenheit brachte. Ich fühlte mich ertappt, aber hey, es war doch nicht meine Schuld, dass der Typ verboten gut aussah.

»Äh, gefällt dir das Konzert?«, fragte Michael mich.

»Ja, ich steh total auf Rock, und du?«, fragte ich zurück.

»Rock ist der Hammer, aber diese Band … Oh, Mann, die Leute sind echt schrecklich, ihre Lyrics ergeben keinen Sinn, von Rhythmusgefühl haben die wahrscheinlich auch nie was gehört und von dem Drummer möchte ich gar nicht erst anfangen.«

Ich schaute ihn mit großen Augen an, denn bis dahin hatte mir die Band echt gut gefallen. Die Betonung liegt auf hatte, denn plötzlich merkte ich selbst, wie unsinnig ihre Lyrics waren.

»Hast du viel mit Musik zu tun?«, fragte ich. »Ich meine, normale Leute würden da nicht so genau hinhören, oder?«

Er lachte kurz auf: »Hmm, vielleicht bin ich ja nicht normal. Und um deine Frage zu beantworten: Ich spiele Gitarre. Spielst du auch ein Instrument?«

»Normal bist du definitiv nicht. Und ja, ich spiele Schlagzeug«, gab ich lachend zurück.

»Vielleicht treffen wir uns ja mal und spielen ein paar Songs zusammen?«

Ich fing an laut loszuprusten: »Wow, woher kommt dein Mut, Mister?«

Ha, dieses Mal war er derjenige, der rot wurde. Nicht, dass ich ihn nicht mochte, aber er sollte bloß nicht glauben, dass seine grünen Haare ihn unwiderstehlich machten!

»Leute! Ich bin auch noch hier!« Recep verdrehte die Augen. »

Tut mir leid, bei deiner Körpergröße müsstest du daran gewöhnt sein, dass

man dich übersieht«, sagte Michael und grinste breit.

»Alter, ich bin 1,78 m!«, antwortete Recep gespielt empört. »Wir können ja nicht alle Modelgröße haben, oder?«

Den beiden zuzuhören war besser als jede Komödie. Recep wusste eben, mit welchen Menschen man sich anfreunden sollte und mit welchen nicht.

3. Bauchgefühl

Na los, Michael, sag es Max und Recep! Du kannst ihnen vertrauen!, sagte meine innere Stimme.

Ich wusste zwar nicht, warum ich ihnen vertraute, aber auf mein Bauchgefühl konnte ich mich schon immer verlassen.

»Michael bist du noch anwesend?«, fragte Recep.

»Ich kann Geister beschwören!«, platzte es aus mir heraus. Sofort schlug ich mir die Hand vor den Mund. Toll gemacht Michael, jetzt halten sie dich für verrückt.

Du bist doch auch verrückt, du Idiot, meldete sich meine zweite innere Stimme.

Nein, ich habe nicht umsonst monatelang geübt, erwiderte ich. Und jetzt bin ich endlich bereit, eine Kostprobe meiner Zauberkunst zu zeigen.

»Was?« Max und Recep hatten nun auch das letzte Interesse an der miesen Band auf der Bühne verloren. Ungläubig starrten sie mich an.

Yep, Michael, jetzt hast du es definitiv versaut, toll gemacht! Was soll Max von dir denken?

Sei jetzt still, brüllte meine erste innere Stimme die zweite an. »

Wenn du zaubern kannst, dann bin ich Josh Devine!« Max sah mich spöttisch an.

»Wenn ihr mir nicht glauben wollt, werde ich es euch beweisen!« »

Ja, klar! Willst du tatsächlich Geister beschwören, oder was?«, fragte Recep. »

Genau das werde ich! Im Helenenturm. Und ihr zwei werdet staunen! Wisst ihr was? Wir werden jetzt dahin gehen.«

»Okay …« Recep grinste. »Aber ich komme nur mit, weil ich sehen möchte, wie du dich blamierst.«

»Ich würde schon gerne sehen, ob du das kannst, oder ob du verrückt bist«, sagte Max. »Aber ich glaube eher, du bist verrückt.«

»Danke für das Kompliment! Ich werde mich sicher nicht blamieren. Wartet hier, ich hole kurz meinen Rucksack.«

»Michael hat doch einen an der Klatsche«, flüsterte Recep Max zu. Hielten die mich für taub oder was?

»Also Herr Ich-will-meinem-Mitbewohner-und-seiner-besten-Freundinweismachen-dass-ich-ein-Zauberer-bin, wessen Geist willst du denn beschwören?«, wollte Recep wissen, als ich mit meinem Rucksack zurückgekehrt war und wir Haus Witten verließen.

»Zuerst, Recep, danke für den neuen Spitznamen, aber Michael gefällt mir trotzdem besser. Und zweitens: Ich werde Helenes Geist im Helenenturm beschwören.«

»Wer war denn diese Helene?«, fragte Max.

»Sie gehörte zu einer wichtigen Familie in Witten. Nachdem sie im Kindbett gestorben war, baute ihr Mann zum Andenken an sie den Helenenturm.«

»Also hat sie nicht im Turm gelebt?«, fragte Max weiter.

»Nein, hier im Haus Witten. Oh, und wo wir schon dabei sind, wir brauchen noch ein bisschen Erde von hier«, gab ich lächelnd zurück.

»Erde?«, fragten beide gleichzeitig.

»Oh, hab ich Erde gesagt? Ich meinte Blut.« »

BLUT?!«, fragten beide wieder ungläubig.

»Hahaha, ihr hättet eure Gesichter sehen sollen! Nein, im Ernst: Ich brauche Erde – Erde aus dem Park hier am Haus Witten.« Ich bückte mich und begann, mit der Hand zu graben.

»Und die Erde willst du bis zum Turm mitschleppen?«, fragte Max mit großen Augen. »Kannst du nicht welche von dort nehmen?«

Süß, dachte ich. »Nein, wir brauchen Erde, mit der Helene zu ihren Lebzeiten in Berührung gekommen ist. Und da sie in Haus Witten gewohnt hat, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie mit dieser Erde hier Kontakt hatte.«

»Okay«, sagte Recep, wobei das eher wie eine Frage klang.

»Gutaussehend und verrückt. Warum treffe ich nie normale Menschen?«, murmelte Max. Gutaussehend? Hatte ich richtig gehört? Ich war mir nicht sicher, weil Recep die ganze Zeit sagte, sein Mitbewohner sei ein geisteskranker Psycho.

4. Durch den Wald

»So, jetzt müssen wir nur noch durch den Wald«, sagt Michael aufmunternd.

»Bei einem von euch klingelt übrigens das Handy.«

»Oh, das ist meins«, sagt Recep. »Ja, hallo? Cool, dass du zurückrufst, Lukas. Lust auf eine Party in Witten?« Recep geht während des Gesprächs ein paar Schritte voraus, um in Ruhe mit Lukas sprechen zu können.

»Michael, wie weit ist es denn noch bis zu diesem Turm?«, fragt Max.

»Er ist gleich da oben im Wald, ähm … Maxi. Maxi ist doch okay?«

»Nein, ich heiße immer noch Max! Und du glaubst wirklich, du könntest Geister beschwören?«

»Ja, ähm, nein, ich meine, … ich weiß, dass ich es kann!«

»Natürlich!« Max verdreht wieder die Augen.

Die drei gehen immer tiefer in den Wald. Es wird spürbar kälter. Der gefrorene Waldboden knirscht unter ihren Schuhen.

»Warte mal! Hast du das gehört?« Max nähert sich ängstlich Michael.

»Nein, ich höre nichts«, antwortet er gelassen.

»Doch, es hat geknistert! Was ist, wenn wir nicht allein sind?«

»Ach, Quatsch, mach dir nicht in die Hose! Wenn es dich beruhigt, kannst du dich ja bei mir einhaken«, sagt Michael lächelnd.

Bei ihm einhaken?, denkt Max. Was glaubt der, wer er ist? Nur weil er unverschämt gut aussieht, muss er sich nicht gleich für unwiderstehlich halten. »Nein, danke«, antwortet sie.

Im gleichen Moment hört Max lautes Lachen. Sie schaut auf und sieht eine Gruppe Jugendlicher ihren Weg kreuzen. Max erkennt eines der Mädchen von heute Nachmittag wieder, eine von denen in den schwarzen Jogginganzügen. Im nächsten Moment verschwinden sie zwischen den Bäumen, und kurz darauf ist es wieder still. Max fällt erst jetzt so richtig auf, wie unheimlich der Wald ist. Sie schaut die Bäume an und hat das Gefühl, die Bäume starren zurück. Ihre Äste tanzen im Mondlicht. Der Wind pfeift durch die Zweige.

Max hört eine Eule schreien. Sie bekommt Angst und klammert sich an Michaels Arm.

»Ach? Hakst du dich doch bei mir ein?«, fragt Michael überrascht. »

Bilde dir bloß nichts darauf ein«, sagt Max und drängt ihn: »Komm, wir gehen weiter!«

Recep wartet ungeduldig am Turm. Boah, wo bleiben die?, denkt er und schreit ihnen entgegen: »Ey! Leute, kommt mal in die Pötte! Ich bin schon längst da!«

Der Mondschein fällt auf eine Seite des Turms. Seine Gemäuer sehen alt aus und ragen hoch über die Baumkronen. Der Mann muss seine Helene wirklich geliebt haben. Neben dem Turm steht ein ebenfalls uraltes Haus, klein und schlicht. Hier würde ich nicht wohnen wollen, denkt Recep schaudernd.

Michael versucht, die Tür zu öffnen. »Shit, abgeschlossen!«, sagt er.

»Na, und? Ich dachte, du kannst zaubern?!«, stichelt Max. »Dann zeig doch mal, was du drauf hast!«

»Ähm, ja das geht halt nicht so einfach! Nur weil ich Geister beschwören kann, kann ich noch lange nicht durch Wände gehen«, antwortet er.

»Hat einer von euch eine Büroklammer?«, fragt Recep.

»Geht auch eine Haarklammer?« Max wühlt in ihren Haaren und zieht eine Klammer heraus.

»Gib mal her!«, sagt Recep.

5. Ungebetene Gäste

Es war dunkle Nacht, als Helene die Stufen ihres Turmes hinunter ging. Wie jede Nacht, seitdem ihr Ehemann den Turm zu ihrem Gedenken hatte erbauen lassen. Und wie jede Nacht murmelte Helene vor sich hin: »Meine über alles geliebten Kinder, mein geliebter Vater, mein über alles geliebter Mann, wieso musste ich euch verlassen, warum so früh?«

Sie blieb an einem Fenster stehen und sah hinaus. Im Schatten des Turms erblickte sie zwei junge Männer und ein Fräulein, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Seit sie tot war, hatte Helenes Sehkraft sich vervielfacht, sodass sie selbst in dunkler Nacht gut sehen konnte. Einer der Burschen da draußen hatte leuchtend grüne Haare, deshalb fiel er ihr sofort auf. Und auch das rosafarbene Haar des Mädchens blieb von Helene nicht unbemerkt. Sie dachte: Sich so aufzuputzen! Zu meiner Zeit wären diese jungen Leute ins Irrenhaus gekommen! Die drei steuerten auf ihren Turm zu. Helene suchte nach einem Ort, an dem sie sich verstecken konnte, und lief die Treppen auf und ab. In Gedanken ging sie alle Nischen in ihrem Turm durch. Vom mittleren Balkon aus hatte sie einen guten Blick auf die Eingangstür.

Dann erst fiel ihr ein, dass sie sich gar nicht verstecken musste, da sie ja unsichtbar war! Und sie lachte über sich selbst, weil sie sich auch nach 150 Jahren immer noch nicht daran gewöhnt hatte.

Auf einmal hörte sie, dass jemand sich unten an der Tür zu schaffen machte. Sie musste sich beeilen, um zu ihrem Beobachtungsposten zu kommen. Also schwebte sie durch eine Tür, deren Schloss verrostet war, auf den Balkon und klammerte sich an die Mauer. So konnte sie noch besser sehen, wer sie störte. Der zweite junge Mann sah im Gegensatz zu den beiden Rebellen recht normal aus. Allerdings machte er sich gerade am Türschloss zu schaffen; offenbar wollte er es aufbrechen. Nach wenigen Augenblicken schwang die Tür knarrend auf und eine Mädchenstimme fragte: »Wie hast du das gemacht? Ich wette, die Tür war gar nicht verschlossen!«

Helene schwebte vom Balkon in ihren Turm zurück, gerade als die drei Rebellen hereinkamen. Der Grünhaarige trug einen Rucksack. Wahrscheinlich waren berauschende Getränke darin. Immer wieder brachen Leute in ihren Turm ein, um heimliche Feste zu feiern.

Die drei sahen sich um. Vermutlich stellten sie fest, dass es im Eingangsbereich außer Staub und Schmutz nichts zu sehen gab, denn bald stiegen sie die Treppe hoch. Ein dumpfes Geräusch, und der grünhaarige Junge schrie: »Aua mein Kopf! Was für ’ne scheißniedrige Decke! Früher waren die Menschen wohl kleinwüchsig!«

Frechheit, dachte Helene. Kleinwüchsig! Was dachten diese Jungspunde sich nur!

Sie mussten die Stufen hintereinander erklimmen, da die Wendetreppe sehr schmal war. Auf der ersten Ebene angekommen, sahen sie sich wieder um und der Junge mit den grünen Haaren holte Kreide, fünf Kerzen und eine Handvoll Erde aus seiner Tasche. Helene fühlte, wie langsam Unruhe in ihr aufstieg. Warum nur zog es sie so zu dieser Erde hin?

»Los, lass uns anfangen!«, sagte der mit den grünen Haaren.

Helene sah die drei erstaunt an. Was hatten sie vor?

6. Auf den Hund gekommen

Endlich hat Recep die Tür aufgebrochen. Sie gehen hinein. Dunkelheit umringt sie. Ein schmales Treppenhaus schlängelt sich nach oben. So schmal, dass man beim Hochsteigen bestimmt mit der Schulter an der Wand entlang schleift. Die Wände sind kahl und die Luft steht.

»Boah, hier stinkt’s! Recep? Hast du einen fahren lassen?«, fragt Max und guckt ihn mit großen Augen an.

»Komm, wir gehen hoch«, fordert Michael die beiden auf, noch ehe Recep etwas entgegnen kann.

»In dieser Dunkelheit? Du spinnst wohl! Ich habe keinen Bock darauf, mir das Genick zu brechen!«, sagt Max.

»Okay, ich habe keine Taschenlampen mit, aber unsere Handys tun’s wohl auch. Oder, Miss Prinzessin auf der Erbse?«

»Besser als nichts«, sagt sie widerwillig. »Aber du gehst vor, Mr. Geisterbeschwörer!«

Die drei schalten ihre Handys ein, die nur schwach die schmalen Stufen beleuchten. Sie laufen die Treppe hinauf, die kein Ende zu haben scheint.

Max, die hinten läuft, meckert: »Puhh. Ich kann nicht mehr! Wenn mir jemand gesagt hätte, dass wir so viel laufen müssen, hätte ich eine Bergsteigerausrüstung mitgenommen!«

Plötzlich schreit Michael auf: »Aua, mein Kopf! Was für ’ne scheißniedrige Decke! Früher waren die Menschen wohl kleinwüchsig!«

»Das kommt davon, wenn man so groß ist«, sagt Recep.

Max kichert.

Endlich oben angekommen, packt Michael seinen Rucksack aus. »So. Fünf Kerzen, Kreide und das Wichtigste: Erde.«

»Jetzt bin ich echt gespannt auf deine tollen Fähigkeiten!«, sagt Max. Aber es klingt nicht so, als würde sie ihm zutrauen, wirklich einen Geist beschwören zu können.

Michael nimmt die Kreide und zeichnet einen Stern auf den Boden, so groß, dass die drei gerade noch einen Kreis darum bilden können. In jeden der fünf Zacken stellt er ein Teelicht und zündet es an. In die Mitte schüttet er die Erde. Er steht auf und betrachtet sein Werk prüfend: »Also, wir können jetzt! Nehmt bitte meine Hände.«

Die drei bilden einen Kreis um den Stern und schließen die Augen. Michael scheint sich stark zu konzentrieren, das merken die beiden anderen am Druck seiner Hände.

»Helene, komm!«, sagt er schließlich mit fester Stimme.

Der Boden scheint zu vibrieren. Sie öffnen die Augen. In ihrer Mitte schwebt eine neblige Wolke. Langsam werden darin die Konturen eines Körpers erkennbar. Und plötzlich sitzt dort ein Hund.

»Das soll Helene sein?«, fragen Max und Recep wie aus einem Mund und fangen laut an zu lachen. Der Hund rappelt sich auf, sieht sich verwirrt um, rennt dann durch Max’ Beine und verschwindet geradewegs durch die Wand. Die drei schauen ihm nach – und übersehen dabei, wie in der Nebelwolke zwischen ihnen noch ein anderer Körper entsteht, ein menschlicher Körper. So schnell, wie er Form annimmt, so schnell verschwindet er in der nächsten Sekunde zur anderen Seite durch die Wand.

»Ja, nee, da muss was schief gelaufen sein.« Michael schaut verlegen zu Boden. »Kommt, gebt mir noch eine Chance!«

»Ja, klar! Um eine Katze zu beschwören, oder was?«, fragt Max amüsiert. »Wobei der Hund schon ziemlich echt aussah. Ich frag mich, was der Trick bei der Sache ist. Ein Projektor?«

»Mensch, hört doch auf zu lachen! Da ist kein Trick dabei! Ich hab halt irgendwie den falschen Geist beschworen. Los, gebt mir eure Hände, ich versuche es noch mal.«

Sie reichen sich wieder die Hände. Dieses Mal konzentriert Michael sich noch stärker.

»Helene, zeig dich!«, sagt er laut und deutlich.

Die drei spüren einen kalten Luftzug und öffnen vorsichtig die Augen.

7. Helene hat Angst

Helene wurde es schwindlig, als alles anfing sich zu drehen: die Wände des Turms, die Treppe, die sich weiter nach oben wand, die Bogenfenster und die drei Rebellen, die sich an den Händen hielten. Was taten sie da? Helene spürte, dass etwas mit ihr geschah und dass sie keine Macht darüber besaß. Plötzlich stand sie in der Mitte des fünfzackigen Sterns. Überrascht sah sie die Jugendlichen an. Mit weit aufgerissenen Augen starrten die drei zurück. Helene bekam Angst. Konnten sie sie etwa sehen? Was würden sie mit ihr anstellen?

»WER SEID IHR?«, schrie Helene.

»Wow, krass!«, sagte der schwarzhaarige Bursche.

Und das Fräulein ergänzte: »Alle Achtung, Michael! Aber damit kannst du jemand anderen verarschen! Hier ist bestimmt irgendwo ein Beamer versteckt! Diese Frau im weißen Kleid ist doch nur eine Projektion.«

Jetzt wusste Helene mit Gewissheit: Sie war tatsächlich sichtbar. Erschrocken zuckte sie zusammen.

»Dann sprecht doch mit ihr!«, sagte der Junge mit dem grünen Haarschopf.

»Bittet sie um etwas. Oder stellt ihr eine Frage, deren Antwort ich nicht kenne.«

Wie unverschämt, sie sprachen über Helene, als sei sie gar nicht im Raum. Andere Bewohner des Totenreichs hatten ihr von Geisterjägern erzählt. Vielleicht wollten die drei sie, Helene, in eine Flasche stecken, um einen Flaschengeist aus ihr zu machen. Sie musste so schnell wie möglich verschwinden. Zum Glück konnte sie durch Wände gehen.

Aber als sie aus dem fünfzackigen Stern heraus schweben wollte, begann das Mädchen mit den rosafarbenen Haaren zu sprechen. Plötzlich konnte Helene sich nicht mehr bewegen. Sie fühlte sich wie von unsichtbaren Händen gehalten.

8. Bloß ein Trick?

Auf einmal schwebt eine Frau vor ihnen. Sie trägt ein weißes Gewand und hat dunkelbraunes Haar. Sie sieht verwirrt aus. Und ängstlich.

»Wow, krass!«, sagt Recep beeindruckt.

Max aber ist genervt: »Alle Achtung, Michael! Aber damit kannst du jemand anderen verarschen! Hier ist bestimmt irgendwo ein Beamer versteckt! Diese Frau im weißen Kleid ist doch nur eine Projektion.«

»Bittet sie um etwas. Oder stellt ihr eine Frage, deren Antwort ich nicht kenne.« schlägt Michael vor.

»Also gut«, sagt Max und holt tief Luft, gerade als die Frau aus ihrem Kreis herausschwebt: »Helene, zeig mir meine Eltern.«

Helene dreht sich um. In der Fensterscheibe neben ihr erscheint ein Bild. Zwei Menschen, ein Paar. Ihre Mutter erkennt Max sofort. Doch wer ist der Mann an ihrer Seite?

»Michael, du willst mich wohl verarschen!«, sagt sie. »Ich weiß zwar nicht, woher du das Bild meiner Mutter hast, aber der Typ neben ihr ist nicht mein Vater. Keine schlechte Show, aber an den Details musst du arbeiten!«

»Aber Max«, flüstert Recep. »Wieso sollten Geister lügen?«

Max versteht die Welt nicht mehr. Wie hat Michael das alles inszeniert und was soll der Blödsinn überhaupt? Und warum fängt Recep jetzt auch noch an, Michael zu unterstützen? Wahrscheinlich steckt er mit ihm unter einer Decke. Die beiden haben das gemeinsam ausgeheckt, um ihr einen Schrecken einzujagen. Die sollen sich bloß nicht einbilden, dass sie sich von ihnen verarschen lässt. Was ihre Eltern betrifft, reagiert Max empfindlich, seitdem sie von zu Hause abgehauen ist. Recep sollte das eigentlich wissen. Max lässt die Hände der Jungs los und stapft wütend Richtung Treppe.

9. Spuk im Mondlicht?

Auf dem Weg nach unten war es wieder so dunkel, dass man die eigene Hand vor Augen nicht sah. Ich polterte wütend die Treppe hinunter. Die Jungs stolperten mir in einigem Abstand hinterher.

»Kannst uns ja Licht herbeizaubern«, hörte ich Recep zu Michael sagen. Idioten!

Ich leuchtete mit meinem Handy in die Dunkelheit vor mir. Das war zwar nicht hell genug, aber besser als gar nichts.

Was war da gerade passiert? Mir fiel ein, dass auch Recep meine Mutter nie gesehen hatte. Als wir uns kennenlernten, wohnte ich längst nicht mehr zu Hause in Bochum, sondern schon bei meiner Tante Tina in Herten. Michael hatte erst recht keine Ahnung von meinen Eltern. Wo hätten die beiden ein Bild meiner Mutter auftreiben können? Noch dazu so kurzfristig, denn ich hatte ja erst heute entschieden, Recep in Witten zu besuchen. Meine Mutter hatte auf dem Bild deutlich jünger ausgesehen als bei unserer letzten Begegnung vor zwei Jahren. Und wer war der fremde Mann neben ihr?

Plötzlich wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ein Schrei!

»Habt ihr das gerade gehört?«, rief ich nach oben.

»Warte, wir kommen!«, hörte ich Recep.

Sollte ich auf die Jungs warten? Nein, nicht auf diese beiden Idioten! Ich stieß die Tür auf.

Draußen sah ich nichts als Bäume. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Da vorn zwischen den Bäumen, ganz nah bei dem alten Haus, bewegte sich da nicht jemand? Ja, jetzt trat eine Gestalt aus dem Schatten hervor ins Mondlicht. Es war ein Mann. Seine Kleidung war blutverschmiert. Er sah mich an. Und machte eine Bewegung in meine Richtung.

Hinter mir hörte ich eine Stimme: »Max! Max, alles in Ordnung?«

Ich drehte mich zur Tür um. Recep!

»Ja, aber dieser Typ …«, keuchte ich.

»Wer denn?«, fragte Michael, der hinter Recep die Treppe hinunterpolterte.

Ich sah wieder zu dem alten Haus hinüber. Aber der Mann war verschwunden. »Der Mann, der eben noch vor dem Haus stand«, sagte ich.

»Ich glaube, du hast auf dem Konzert zu viel getrunken und fantasierst jetzt ein bisschen. Oder war Michaels Zaubertrick zu viel für dich?«

»Verdammt, das war kein Trick!«, protestierte Michael.

»Wie auch immer«, meinte Recep, »ich schlage vor, wir machen uns auf den Weg in die WG.«

»Aber da hat doch jemand geschrien«, sagte ich.

»Ach, das waren bestimmt nur ein paar Leute, die vom Konzert kamen und ein bisschen herumgealbert haben«, sagte Recep.

Auf dem Rückweg durch den Wald grübelte ich. War ich denn die Einzige, die den blutbespritzten Typen gesehen hatte? Und hatte ich ihn überhaupt gesehen? Jetzt war ich mir schon selbst nicht mehr sicher. Wie konnte er so schnell verschwunden sein? Und die Flecken auf seiner Kleidung … War das wirklich Blut? Oder hatte ich mir das alles nur eingebildet? War ich wirklich so verrückt? So viele Fragen, die ich nicht beantworten konnte.

Nur eines wusste ich sicher: Betrunken, wie Recep behauptete, war ich auf gar keinen Fall.

10. Geweckt