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Ralf Ehrlich und Sybilla Wegener, beide Offiziersschüler in Kamenz, kennen sich seit wenigen Wochen und freuten sich auf einen freien Tag. Doch die Unbeschwertheit währt nicht lang. Denn erneut kommt alles anders als erwartet. Es ist winterlich kalt Ende November 1987. Die Unterzeichnung des Intermediate Range Nuclear Forces Treaty steht kurz bevor. Die Vorweihnachtszeit scheint davon gänzlich unberührt und taucht Kamenz in besinnliches Weiß. Doch die festliche Stille trügt. Was nach schwer zu greifender, weit entfernter, großer Politik klingt, wirkt unter dem Brennglas der Interessen einzelner Banden plötzlich schmerzhaft real und hinterlässt blutige Spuren. Ralf, der einem Freund einen Gefallen erweist, bringt seine neuen Freunde und sich selbst dabei leichtsinnig in unmittelbare Gefahr. Schon sehr bald bleibt ihnen nichts anderes übrig, als den Spuren dieser Gefahr zu folgen, wenn sie nicht von ihr verschlungen werden wollen. Aber ihre Gegner sind keine provinziellen Raufbolde. Sie sind motiviert und militärisch organisiert. vierter Ralf-Ehrlich-Roman zweiter Teil des Doppelbandes BlutZöllner
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Seitenzahl: 723
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Walter R. Gerlach
Grenzgänger:
Blutzöllner
Band 2
Blutschwur
Ein Ralf-Ehrlich-Roman
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© 2025 Walter R. Gerlach
Einbandgrafik von iStock LP (www.istockphoto.com)
Einbandgestaltung Klara Bernhard, W. R. Gerlach
Lektorat Andrea Klotzsch, Silke Fröhlich
Korrektorat Christine Klotzsch
Bearbeitung W. R. Gerlach (www.gerlach-diewölfin.de)
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: post@gerlach-diewölfin.de
ISBN Softcover: 978-3-384-61308-0
ISBN Hardcover: 978-3-384-61309-7
ISBN E-Book: 978-3-384-61310-3
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
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Alle Ähnlichkeiten mit realen Handlungen oder
handelnder Charaktere mit lebenden oder bereits
verstorbenen Personen sind nicht rein zufällig.
Schauplätze Seite 652
Stichwortverzeichnis ab Seite 653
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Unten bist du, ganz am Grund. Aufsteigen wirst du keinesfalls,
Die Lunge brennt im kalten Nass,
die Kette fest um deinen Hals.
Was, wenn das dein Ende ist,
wenn du gehst, ohne zu leben?
Gleich, was du nie zu tun gewagt.
Am Schluss ist alle Scham vergebens.
Strampelst, würgst, die Augen weit, willst trotzig noch nicht untergehen.
Heut' brauchst du die Dunkelheit,
um über dir das Licht zu sehen.
Panoptikum gebrechlicher Menschen
Er lag mit geschlossenen Augen im feinen Sand des Strandes. Die Sonne wärmte seine Lider, überzog seinen nackten Körper mit zärtlicher Glut. Das aus dem Meer bis zu ihm spielende Wasser umfing seine Fersen, die tief eingesunken, kaum einen Unterschied zwischen dem sonnengewärmten Sand und dem wohlig warmen Wasser ausmachen konnten. Es schien ihm wie eine sanfte Berührung, die in einem Moment liebkosend und bereits im nächsten drängend war. Fast glaubte er, zu wissen, wie ihn die Wasserzungen zum Aufstehen, zum Weggehen, zum Aufbrechen ermuntern wollten. Aber er? Er wollte nicht aufbrechen. Es war schön hier. Er war allein, hörte ausser dem Kräuseln des Wassers und einigen Vögeln, deren Ruf nichts Möwenhaftes hatte, nichts, kein unnützes
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Geräusch. Er war gerne allein, war er immer schon gewesen.
Gefehlt hatte ihm nie etwas, wenn er für sich war. Die Ruhe liess ihn in sich selbst hören. Jetzt jedoch vernahm er eine seltsame Unruhe in seinem Innersten. Das leise Klatschen des Wassers gegen seine Füsse, echote aus seinem Geist. Irgendetwas klopfte leise gegen die Tür zu seinen Gedanken, drohte die Stille, die seinen Geist so erfreute, und die er dringend wollte, zu zertrampeln, wie ein wunderschönes Blütenblatt, das derbe Soldatenstiefel im Marsch achtlos zermalmen, als sei es niemals dagewesen, hätte nur in seiner Einbildung existiert.
Das Klopfen wurde lauter, drängender. Eine Hand rüttelte mit einigem Nachdruck an seiner Schulter, ein Gesicht schob sich über seines und zwischen seine geschlossenen Lider und die Sonne. Er blinzelte. Noch bevor er die Züge erkennen und die Augen ganz öffnen konnte, strichen beinahe schwarze Locken über seine Wangen. Ralf seufzte. "Hallo Ella! Ich hab dich gar nicht gehört." Sie schwieg, sah ihn forschend an. Er schürzte die Lippen und kniff die Augen zusammen. "Was ist? Was hast du?" Er räusperte sich. Seine Stimme klang rau. Sein Hals war trocken. Er schmeckte Blut auf seiner Zunge, hob eine Hand und legte einen Finger an seine Lippen. Da war nichts. Wieso schmeckte er Blut?
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Ella musterte ihn immer noch, beugte sich über ihn. Dann wiegte sie den Kopf langsam von einer Seite zur Anderen und setzte sich rittlings auf ihn. Er fühlte kein Gewicht. Sie war leicht wie eine Feder, verschränkte die Arme vor der Brust und sah über ihn hinweg. Ihr Gesicht und ihr Haar verschmolzen mit dem Bild der Sonne am Himmel. Sie war schön, wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Ihr Gesicht war nur schemenhaft zu erkennen. Ihr Haar glänzte golden und schwarz im Sonnenlicht. Ihre Silhouette wurde durch das gleissende Weissgold weichgezeichnet und eingerahmt. So sass sie auf ihm, ganz in diesen Strahlenkranz gebettet.
Ihm viel auf, dass die Sonne bereits am Sinken war. Wie lange hatte er hier gelegen? Warum sprach sie nicht? Wie war er überhaupt hierhergekommen? Er wollte sich die Fragen nicht stellen. Vielmehr hieben sie mit Wucht Breschen in die Mauern seiner Gelassenheit, drängend, lästig, nagend. Er verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse und versuchte, sich auf die Ellenbogen aufzustützen. Aber es gelang ihm nicht. Ella war plötzlich nicht mehr die fast sphärische über ihm schwebende Fee. Es hatte den Anschein, als sei sie in der Lage, ihn völlig wehrlos am Boden nur mit ihrem Willen zu fesseln. Er fühlte keine Schwere unter ihr. Trotzdem konnte er sich nicht bewegen.
Endlich öffneten sich ihre Lippen. "Da haben wir aber wieder mächtig Scheisse gebaut, Genosse Zugführer!" Er sank zurück in den Sand und starrte sie an. "Was … was meinst du?"
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"Du hast ein Pferd bestiegen, das du gar nicht reiten kannst, mein Lieber! Mehr noch", ergänzte sie mit einem trockenen Schnauben, "du hast ihm die Sporen gegeben und kannst nicht mal die Gerte richtig halten. Und jetzt hat es dich abgeworfen. Und du leckst deine Wunden. Aber nicht das Pferd ist schuld, wenn du auf den Zehenspitzen reitest, richtig?" Sie löste ihre Arme wieder und wackelte wie eine rechthaberische Gouvernante mit dem ausgestreckten rechten Zeigefinger. "Und jetzt hast du Angst und verkriechst dich hier." Ihre dunklen Augen sahen auf ihn herab.
Ralf wollte etwas erwidern. Sie lehnte sich leicht vorwärts und legte ihm den langen Zeigefinger auf die Lippen, bevor ein Laut seinen Mund verliess und erstickte jedes Aufbegehren im Keim. "Du hast keine Zeit, hier rumzuliegen! Das ist nicht die Zeit zu schlafen, Ralf!" Sie warf ihr Haar mit einer anmutigen Geste in den Nacken und blickte über die Schulter "sieh'! Die Nacht kommt immer wieder!" Er folgte ihrem Blick in den Sonnenuntergang und löste ihren Finger unendlich vorsichtig mit seiner linken Hand von seinen Lippen. "Ja, du hast Recht! Ich hab Angst … eine … eine Scheissangst und keine Ahnung, was ich tun soll, Ella!" Sie drehte den Kopf halb zurück zu ihm, so, dass ihr nun helles Gesicht in einem geradezu grotesk scharfen Kontrast zur abendlichen Dunkelheit stand und sprach, ohne ihn anzusehen. „Du wirst wohl diesmal das Richtige tun müssen. Versteck dich nicht hinter Furcht, lieber Ralf! Denn Alles was du suchst, alles was du begehrst, ist auf
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der anderen Seite deiner Angst! Also steh auf, Soldat!“ Sie verschwand in der Nacht, wie sie gekommen war, glitt in die Dunkelheit, als wäre sie ein Teil davon. Schwärze umschloss ihn.
Er fuhr zusammen und bereute im selben Moment, sich überhaupt bewegt zu haben. Sein Rücken schmerzte von dem Kolbenhieb. Er musste geschlafen haben. Wie ein weit entferntes Beben, drang der pochende Schmerz einer frischen Wunde am Kopf in sein Bewusstsein. Er war sich sicher, die Augen geöffnet zu haben. Aber um ihn herum war nichts als kaltes Schwarz, ein modriger Geruch nach Holz und altem Öl.
"Ruhig Ralf!" Das war Sybillas Stimme. Er fühlte ihre Nähe, ihren Schoss unter seinem Kopf, ihre Hände an seiner Schulter. Er wollte mit einer Hand nach ihrer Hand greifen und begriff, dass seine Handgelenke immer noch gefesselt waren. Sybilla strich ihm mit ihren ebenfalls gefesselten Händen durch das verschwitzte Haar. "Du warst ohne Bewusstsein. Erinnerst du dich, was passiert ist?" Ralfs Lippen bewegten sich, entliessen jedoch keinen Ton, Er räusperte sich und hatte ein Gefühl von altem Waschlappen im Mund. Er hustete trocken, schluckte, ignorierte den Kopfschmerz und fragte "wo sind wir?"
Sybilla stiess die Luft aus. "Keine Ahnung, Genosse Zugführer, keine Ahnung!" Ralf spürte, wie sie die Schultern hob und senkte. Er konnte noch immer absolut nichts um sie herum erkennen.
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Zweifelsohne war das ein Raum, vielleicht ein Keller. Die Akustik liess auf einen mittelgrossen geschlossen Raum schliessen. Es war still, fiel ihm auf, absolut still, so geräuschlos, wie es schwarz war. Und es war kalt, nicht zu kalt, aber feucht und vielleicht fünf oder sechs Grad über Null, nicht wärmer, schätzte er. Geheizt wurde hier offensichtlich nicht, aber unter dem Gefrierpunkt war es auch nicht. Entweder waren sie mitten in einem grossen Gebäude, lichtfrei eingeschlossen oder in einem Kellerraum unterhalb der Erde. Er tippte auf Letzteres.
"Woran erinnerst du dich?" hörte er Sybilla fragen. Ihre Stimme klang vorsichtig, ein wenig ängstlich vielleicht, aufgeregt und trotzdem tat sie ihm gut. Er überlegte. "An den LKW kann ich mich erinnern. Ich bin aufgestiegen. Du warst da." Er sah in die Dunkelheit zu seiner Seite, als suche er die Bilder der vergangenen Stunden. Na eben, kam es ihm in den Sinn, wie lange waren sie schon hier? Ihm kam es vor, als sei er gerade noch auf der Ladefläche des Ural-Lasters gewesen. Dann war er hier aufgewacht. Mehr wusste er nicht. "Ich … ich weiss nicht mehr." Er wandte den Kopf zurück und starrte in die Richtung über seinen Scheitel, wo er ihren Atem spürte. "Ich hab keine Ahnung, Sybilla! Was war los? Ich …" er brach ab, unsicher, was er sagen sollte. Ihm fehlte dieses Stück der jüngsten Vergangenheit. Wie sehr er sich auch bemühte, lag es ebenso dunkel wie der Raum, irgendwo in seinem Bewusstsein, oder auch nicht. "Oder auch nicht", hörte er sich sagen.
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"Was meinst du?" bohrte Sybilla nach. "Kannst du dich an gar nichts mehr erinnern, ich meine, was auf der Ladefläche war?" Ralf schüttelte überflüssigerweise in der Dunkelheit den Kopf und bereute es sofort. Sein Nacken schmerzte höllisch und sein Schädel dröhnte, wie eine kupferne Tempelglocke. Er stöhnte auf und bettete seinen Kopf wieder in ihrem Schoss. "Naja, ich weiss noch, dass ich irgendetwas rief. Dann wollte ich mich setzen. Und dann … dann ist Schluss." Er spürte, wie sie nickte, und erneut die Luft ausstiess. "Also, Ralf, du hast von dem Soldaten, den du vorher provoziert hast, einen Schlag auf den Schädel, oder besser irgendwo ins Genick bekommen. Du bist auf der Stelle zusammengebrochen, direkt vor meinen Füssen … direkt vor mir." Ihre Stimme brach. Sie schniefte kurz und kämpfte mit den Tränen, schluckte schwer und wischte sich mit den Händen über das Gesicht. Dann legte sie den Kopf in den Nacken und lehnte ihn an die Wand, vor der sie angelehnt sass. "Verdammt, Ralf! Ich hab gedacht, dass …" Sie atmete tief und bebend mehrmals ein und wieder aus und Ralf hörte, wie sie immer wieder schluckte und mit den Tränen rang. Er wusste, nichts zu sagen. Also schwieg er, rollte sich gegen die Schmerzen von ihrem Schoss, hockte sich unsicher neben sie und fing sie mit seinen gefesselten Armen ein. Sie lehnte sich an ihn und schwieg.
Dann wischte sie ihr Gesicht an seiner Jacke trocken und erzählte weiter, immer noch an ihn gelehnt aber in einem fast schon militärischen Berichtston.
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"Der Soldat hat mich daran hindern wollen, deinen Puls zu fühlen. Hab ihn angespuckt. Er hat mir Eine gescheuert und mich auf die Bank gestossen. Ich hab mit beiden Beinen nach ihm getreten. Er hat seine Waffe gezogen, durchgeladen und auf dich gezielt. Ecki hat die ganze Zeit 'hör auf Sybilla' geschrien. Naja, also hab ich aufgehört, bin sitzengeblieben. Der Soldat hat selbst nach dir gesehen und dich am Boden fixiert. Mir haben sie ein Tuch vors Gesicht gebunden und dann sind wir losgefahren. Du hast die ganze Zeit vor meinen Füssen gelegen. Wir müssen gefühlt etwa zwei Stunden unterwegs gewesen sein. Ich habe nicht feststellen können, wohin wir gefahren sind. Aber einmal haben wir gestoppt und irgendetwas verladen. Es dauert nicht lange. Das hier muss irgendein militärisches Objekt sein. Wir passierten einen Kontrolldurchlass, mit einem Stahltor, fuhren dann irgendwie rechts, links und wieder rechts, hielten an und wurden getrennt: du und ich hierher und Michi und Eckhardt irgendwo in der Nähe. Das hier ist ein Ziegelbau. Wir sind im Keller."
Er unterbrach sie. "Hol erstmal Luft, Sybilla! Das mit dem Keller habe ich mir schon gedacht. Leider sieht man nichts. Oder kannst du irgendwas erkennen?" Sie schüttelte an seiner Brust den Kopf. Das Ganze hatte beinahe etwas Surreales. Er sass hier mit ihr in irgendeinem Loch, hatte keine Ahnung, wie - und ob – sie hier wieder herauskommen würden, war aber dankbar, sie festhalten zu können. "Wir müssen mehr über diesen Raum erfahren, Sybilla!" Sie konterte "oh,
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den kann ich dir beschreiben. Ich habe ihn gesehen. Ich kann dir auch den Gang beschreiben. Nur, wird das im Moment nicht viel helfen."
"Moment! Du hast den Raum gesehen? Gibt’s hier Licht oder war das bei der Ankunft?"
"Beides! Bei der Ankunft habe ich nicht viel mitbekommen. Ein Soldat hat mich am Arm die Treppe heruntergeführt. Da hatte ich den Lappen noch vorm Gesicht. Aber die haben sowieso kein Licht eingeschaltet. Ich hatte das Gefühl, dass sie Michi und Eckhardt hier irgendwo im gleichen Gebäude untergebracht haben. Jedenfalls wurden sie an mir vorbeigeführt. Eckardt hat 'bleib stark' geflüstert. Dann waren sie weg. Aber ich denke, das war ein Trick. Sie haben mich kurz darauf in den Kellergang geführt. Also gehe ich davon aus, dass sie in der Nähe sind. Den Raum hier habe ich beim Betreten gesehen, als der Mann mir das Tuch abgenommen hat und später nochmal. Dich hat man keine Minute später hierhergetragen. Wahrscheinlich ist man sich recht sicher, dass wir hier nicht rauskommen oder sie brauchten jemanden, der auf dich aufpasst."
"Warte mal! Wann hast du den Raum zum zweiten Mal gesehen? Ist hier noch jemand?" Er meinte ein zartes Lächeln zu fühlen, ein verschmitztes vielleicht. Sie löste sich aus seinen Armen, lehnte sich neben ihn an die Wand und hielt aber seine Hände weiterhin in ihren. "Naja, ich bin ein Mädchen und hab den Piesel-Trick probiert. Und er
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hat geklappt." Er schnaubte überrumpelt. Diese Frau konnte man nur bewundern. Sie hatte einen klaren Kopf behalten und den 'Piesel-Trick' probiert, während ihr zugegeben hübscher Arsch auf sehr dünnem Eis Pirouetten drehte. Er lächelte in die Dunkelheit. "Was hast du?"
Sie fuhr wesentlich sicherer als eben noch fort. "Na, den Piesel-Trick. Ich musste mal und vor unserer Tür steht ein Posten. Vorhin war das ein ganz junger Kerl. Ich sah mitleiderregend und vielleicht ein wenig sexy aus. Er hat mich gehen lassen."
"Er hat dich gehen lassen", fragte Ralf ungläubig. "Einfach so?" Sie löste ihre Hände und fuchtelte irgendetwas Unsichtbares. "Naja, er hat mich begleitet. Wir sind bis zum Ende des Ganges – ich bin mir übrigens sicher, dass es das andere Ende war – eine Treppe nach oben. Und da war eine Toilette. Erst wollte er mit reinkommen. Ich konnte ihn überzeugen, Schmiere zu stehen. Ich meine, wo sollte ich auch hin. Also stellte er sich in die Toilette, direkt vor mein Toilettenabteil und ich hab brav hinter der Trennwand gepinkelt. Beim Händewaschen hab ich versucht, aus dem Fenster zu sehen. Das hat leider nicht geklappt. Aber das hier ist sicher ein militärisches Objekt. Das bedeutet, dass wir nicht nur aus dem Keller raus müssen, sondern auch aus dem Objekt. Das wird nicht leicht."
Ralf schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht einmal erwogen, sich zu ergeben. Sie hatte die erste
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Gelegenheit genutzt, einen Fluchtweg zu suchen. Er liebte sie, kein Zweifel. Gleichzeitig musste er an den letzten Keller denken, aus dem sie entkommen waren. Wie machte sie das nur? Das Alles schien nicht zu ihr durchzudringen. Sie hatte bereits wieder logisch denken können, als er sich noch fragte, wo er war. Und doch, befürchtete er, würde der Einschlag kommen. Irgendwann würden sie die Geister einholen. Trotzdem kam er sich neben ihr in solchen Situationen klein und unbedeutend vor, eine Randnote allenfalls. Er bereute, ihre Augen nicht sehen zu können. "Ja, das wird nicht leicht" sagte er. "Was kannst du mir über den Raum erzählen? Was hast du gesehen? Irgendetwas, was uns helfen könnte?"
Sie atmete tief ein und liess die Luft langsam und geräuschvoll wieder entweichen. Er merkte an dem Körperecho ihrer Hände, wie sie sanft den Kopf schüttelte. Eine an sich sinnlose Geste, angesichts der alles verschlingenden Dunkelheit, fand er. Und trotzdem lächelte er, nicht wegen des Inhalts der Botschaft, mehr der Art, wie sie überbracht wurde wegen. "Nein" gestand sie. "Zumindest habe ich nichts sehen können, was sich als brauchbare Waffe oder Lichtquelle eignen könnte. Ich hätte sowieso kein Feuerzeug." Ralf biss sich auf die Lippe. Er hatte Timofejews Feuerzeug leichtfertig geopfert. Jetzt verfluchte er diesen Fehler. Sie bemerkte seine körperliche Reaktion auf ihre Äusserung. "Was ist los, Ralf? Hast du eine Idee?"
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Er verneinte hastig. "Nein, noch nicht, ausser, dass ich wohl auch mal pinkeln müsste." Sie schnaubte fast schon belustigt und erhob sich geschickt, ohne seine Hände loszulassen. Dann ruckte sie an seinen Händen, um ihn in die Höhe zu ziehen. Ralf stand vorsichtig auf, um dem Hammerschwinger in seinem Kopf keinen Grund zu geben, schneller oder härter zu arbeiten und taumelte leicht. Sybilla stützte ihn schnell. "Alles in Ordnung?" Die Frage war eigentlich nicht nötig, denn natürlich war nicht alles in Ordnung. Er antwortete trotzdem "jaja, geht schon. Gib mir ein paar Sekunden!" Er suchte nach einer Orientierung, fand jedoch keine. Also hielt er sich an einem imaginären Punkt in einem ebenso imaginären Universum fest und ignorierte den Kopfschmerz.
Sybilla zog ihn leicht hinter sich her. "Hier liegt nichts im Weg. Du brauchst nur zu laufen. Der Raum ist nicht gross. Der Boden ist eben." Er folgte ihr wie ein Blinder dem anderen. Für den unbedarften, aber neugierigen Beobachter mit Nachtsicht musste ihre Vorstellung wie die Installation eines Paares aus einem seltsamen Panoptikum gebrechlicher Menschen auf ihrem Weg durch die Nacht wirken, wie sie so vorsichtig, einen Schritt vor den anderen setzend und jeweils einen Ellenbogen der gefesselten Arme nach vorn ausstreckend zur Tür vor sich hin schlurften. Sybilla hatte jedoch zum Glück nicht untertrieben, was die Strecke betraf. Ihre Ellenbogen berührten fast gleichzeitig das massive Holz einer vermutlich alten Kellertür. Sybilla übernahm das Klopfen.
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Tatsächlich, wurde ein Riegel zurückgezogen und die Tür öffnete sich einen Spalt nach aussen. Sybilla schob ihr Gesicht ins Licht, das sie beide sofort blendete. Ralf drehte seinen Kopf zur Seite und blinzelte schnell, um sich an die plötzliche Helligkeit zu gewöhnen. Im Gang spendeten zwar nur Glühlampen unter gläsernen Kuppeln mit Schutzgittern kein sehr helles Licht, aber es reichte nach der vollkommenen Dunkelheit ihn zu blenden. Sybilla übernahm auch das Reden, deutete vom Posten aus gesehen, hinter das Türblatt auf Ralf, der noch im Dunkel des Kellers stand, und erklärte glaubhaft besorgt, dass jener dringend zur Toilette müsse, ihm schwindelig sei und er geradeso bei Bewusstsein wäre. Sie verkaufte seine Schwäche gekonnt, fand Ralf. Sie bot, allerdings wenig erfolgreich sogar an, ihn zu begleiten und zu stützen. Natürlich lehnte der Posten ab. Aber den Versuch war es wert, auch, wenn er so dumm nicht hätte sein können.
Der Posten, ein wirklich junger Soldat, schob das Barett nach hinten, schulterte die Waffe sicherer und bot seine Hilfe an. Ralf musste wohl wirklich mitgenommen wirken. Der kräftig gebaute Soldat sah recht betreten drein, als Ralf sich hinter dem Türblatt hervor ins Licht schob. Der Mann griff ihm beherzt unter die Arme und zog ihn auf den Gang hinaus, verriegelte die Tür und machte sich mit Ralf auf den Weg. Der notierte still, dass es zwar einen Riegel, nicht jedoch eine Sperre gab und, dass sie an vier weiteren Türen vorbeikamen. Nur vor einer einzigen hielt ein Posten Wache - erwischt. Sybilla
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sollte anscheinend Recht behalten. Wenn der Posten keinen unerwartet grossen Vorrat an grusinischem Tee bewachte, musste das der Keller mit Eckhardt und Michi sein. Es sprach schliesslich nichts dagegen, sie ebenfalls gemeinsam einzusperren. Das war gut. Schlecht war, dass die Posten auf dem Gang Sichtkontakt haben mussten. Sie konnten also nichts starten, was die Aufmerksamkeit des andern Postens erregen würde. Das schränkte die Optionen ein. Genaugenommen liess es ihm eigentlich kaum eine Wahl.
Ralf schleppte sich ein wenig mehr, als es unbedingt sein musste, die Stufen nach oben und hielt sich an seinem Bewacher fest. Als der ihn vorsichtig gegen die Wand neben der Toilettentür lehnte, um die Tür zu öffnen, öffnete er gleichzeitig das einzige Zeitfenster, das Ralf erkennen konnte. Er spähte rasch nach rechts und links. Der Gang war leer. Ralf krümmte sich plötzlich, mit der linken Handfläche gegen die Wand gestützt, nach vorne und unten zusammen. Der Posten drehte sich besorgt um und griff mit beiden Armen zu, um Ralf zu stützen, ein unwillkürlicher Reflex, kaum zu unterdrücken. Scheinbar hilflose Opfer am Strassenrand lösen ihn aus, kleine Kinder, die etwas ausgefressen haben und sich übergebende Geiseln in der Hand fürsorglicher Entführer konnten das offensichtlich auch.
Ralf riss die Hand von der Wand und rammte seinen Arm mit der kleinen aber sehr harten Fläche des Ellenbogens zum Solarplexus seines Begleiters,
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der keuchend stutzte, griff mit der linken Hand nach dessen rechtem Handgelenk und drehte sich unter dem Arm hindurch, riss den fixierten Arm nach hinten und oben und trat dem Mann in die rechte Kniekehle. Der Soldat bracht nahezu lautlos zusammen, weil ihm immer noch die Atemluft zum Schreien fehlte. Ralf spürte das befriedigende Knirschen im Schultergelenk des Kerls, als es durch den unnatürlichen Sturz ausgerenkt wurde, und liess sich nach vorn auf seine Schulter fallen, um keine halben Sachen zu machen. Das hatte keine drei Sekunden gedauert. Der junge Soldat fiel direkt, nun noch durch Ralfs Gewicht beschwert auf sein geschultertes Sturmgewehr. Das Stöhnen, das seinen Mund verliess, hatte kaum etwas Menschliches. Ralf rappelte sich auf, drehte den Mann, der bleich geworden war und dessen weit aufgerissene Augen nach dem Grund des brutalen Angriffs zu suchen schienen mithilfe seines Sturmgewehrs als Hebel auf den Bauch.
Dann fädelte er ohne nennenswerte Gegenwehr das Gewehr von dessen Schulter über den ausgerenkten Arm, senkte sein Knie in seinen Rücken und hob das Gewehr. Kurz überlegte er, ob er mit dem Kolben nachschlagen sollte, senkte dann jedoch die Waffe und erhob sich. Er überlegte, wo er den Mann problemlos zwischenlagern konnte. Noch war der Flur leer. Selbst das Scheppern der Waffe beim Auftreffen auf dem Fussboden hatte noch nichts ausgelöst. Aber lange konnte es nicht mehr dauern, bis es vielleicht doch Neugierige anlockte. Ralf rechnete damit, dass Timofejews Truppen nicht
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unerschöpflich waren. Trotzdem würde es hier noch mehr Soldaten geben, deren Aufmerksamkeit er gerade nicht brauchte.
Er sah auf den am Boden liegenden Mann und stellte fest, dass er keinerlei Reue verspürte. Er wusste gar nicht, ob der arme Kerl nicht einfach nur einer Wachmannschaft angehörte, absolut keine Ahnung hatte und einfach nur mitten in der Nacht aus dem Bett gezerrt worden war. Aber es war ihm egal. Ralf wusste nur eines. Er durfte kein Risiko eingehen. Ganz sicher würde er, falls er das Alles in einem Stück überstand, mit mehr als nur Kopf und Kragen bezahlen. Aber das hatte im Moment keinen Sitzplatz in dem Sonderbus in seinem Geist gefunden, der gefährlich nahe am Abgrund kurvte und nach einem Ausweg suchte. Das war alles, was jetzt zählte – ein Ausweg.
Viel Zeit blieb ihm jedenfalls nicht. Er hatte selbst mit der Brechstange auf den Sekundenzeiger eingeprügelt, der begann, sich schneller zu drehen. Er sah schnell nach rechts und links über den langen Gang, schulterte das Sturmgewehr schräg über dem Rücken und drehte den Soldaten mit beiden Händen wieder in eine sitzende Position. "Uspokoisja, inatche eto budjet stoit drugoj ruki – ganz ruhig, sonst kostet es dich den anderen Arm!" Der Kerl nickte zitternd. Kurzerhand zog er ihn in die Toilette. Dann riss er eine Ziehkette von dem Spülkasten in der ersten Kabine und fesselte ihm den gesunden an den ausgerenkten Arm und beide an das Kaltwasserrohr. Das würde bei jedem
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Versuch, sich zu befreien höllisch schmerzen. Ralf wusste das. Er hatte selbst einmal mit ausgekugeltem Schultergelenk an einem Hang gelegen, als er noch versuchte, Skier zu benutzen. Er stellte sich vor den am Boden sitzenden und qualvoll dreinblickenden Soldaten "krytchi i ty mjert – schrei, und du bist tot!".
Dann trat er auf den immer noch leeren Flur hinaus und lief die Treppe in den Kellergang hinab. An der letzten Stufe blieb er stehen, lehnte sich an die Wand und spähte vorsichtig um die Ecke. Der Posten vor dem zweiten Keller stand nach wie vor dort. Entweder hatte er bei dem Geräusch aus dem Stockwerk über ihnen automatisch daran gedacht, dass die Prügel andersherum verteilt wären, oder es war Ralf lauter vorgekommen, als es hier unten in den um die Jahrhundertwende errichteten Ziegelbau tatsächlich war. Egal, dachte er, atmete durch und glitt aus dem Halbdunkel der Treppe in die spärliche Beleuchtung des Flures, die ihm Minuten zuvor noch so gleissend hell erschienen war.
Er hielt die Kalaschnikow im Anschlag mit dem Lauf auf den Posten gerichtet, der ihn zunächst gar nicht wahrnahm, dann müde seinen Kopf in Ralfs Richtung drehte und in Konfusion verharrte. Man konnte seinem Blick entnehmen, dass ein Bruchteil einer Sekunde ein Kampf in seinem Hirn tobte. Einerseits wollten seine geschulten Reflexe die Waffe von der Schulter in den Anschlag reissen und Ralf ins Visier nehmen. Andererseits musste ihm
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klar sein, dass er das nicht schaffen konnte, wenn Ralf wirklich schiessen würde. Er wusste nicht, dass die Waffe nicht durchgeladen und keine Patrone im Lauf war, weil Ralf es in der Eile simpel vergessen hatte und sah nicht, wie Ralf ob des dummen Fehlers der Schweiss in den Nacken rann. Also blieb er mit der rechten Hand am Kolben der noch über seiner Schulter hängenden Waffe und der linken Hand am Trageriemen, bereit, diesen nach vorn zu ziehen, stehen. Er wirkte wie eine Figur aus einem Lehrfilm, in dem Moment der korrekten Exerzierhaltung gefangen, bis der Film weiterlief. Lediglich seine Augen waren wach und auf der Suche nach irgendeinem Signal.
Ralf gab es ihm, während er ihn unverändert im Visier hielt. "Orushije vnis - Waffe runter!" Er rief das Kommando nicht laut. Er sprach es wie beiläufig aus, leicht zittrig aber klar. Das Adrenalin machte ihm zu schaffen. Der Soldat nahm die Waffe vorsichtig und langsam ab. Er behielt Ralf im Blick, wirkte ruhig und beobachtete Ralfs Bewegungen. "Vpered, prodolshat – mach schon!" trieb Ralf ihn an. Dieser Moment fühlte sich wie ein Patt an. Hätte der Soldat die Waffe hochgerissen und durchgeladen, wäre er vielleicht genauso schnell wie Ralf am Abzug, oder schneller. Zum Glück wusste er das nicht. Und er hatte ebenso Angst wie Ralf, der auf ihn zielte. Es war daran zu sehen, wie er zusammenfuhr, als Ralf ihn immer noch leise, nun aber deutlich fester in der Stimme anfuhr.
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Also ging er auf ein Knie, hob dabei die linke Hand und legte das Gewehr mit der rechten auf den Boden. Im Aufrichten hob er auch die rechte Hand und stand nun mit erhobenen Armen etwa drei Meter vor Ralf. "Teperj idi nazad – nun geh rückwärts!" Der Kerl machte zwei langsame Schritte. Ralf folgte ihm, die Waffe unverändert auf ihn gerichtet. "Dalshe – weiter!" Er trieb ihn langsam rückwärts. Als sie soweit gekommen waren, dass Ralf neben dem abgelegten Gewehr zu stehen kam, hiess er den Mann anhalten und liess sich auf ein Knie sinken. Er liess schnell mit der linken Hand sein eigenes Gewehr los, hielt es mit der rechten Hand weiter in Richtung des Soldaten und hob die Waffe auf, fädelte den Trageriemen mit einer Hand über den Kopf und griff dann wieder mit der linken nach seiner Kalaschnikow.
Schliesslich stand der Mann vor der Tür, aus der sein Kamerad kurz zuvor Ralf geholt hatte. "Otkrijt'!" Der Mann gehorchte und schob den Riegel beiseite, drückte die Tür nach innen auf und liess Licht vom Flur in die Dunkelheit dahinter quellen. Sybilla musste nur wenige Schritte vor ihm stehen, denn er hielt inne und sah in die dunkle Öffnung. Ralf bedeutete ihm, an die gegenüberliegende Wand zurückzutreten und rief "Sybilla! Schnell zu mir!" Sie huschte aus ihrem Verlies und in seine Richtung als hätte sie nur auf den Moment gewartet. Ralf fädelte seinen linken Arm aus dem Riemen und liess sich das zweite Gewehr von ihr über den Kopf abnehmen. Sie stellte sich in seinen Rücken und sicherte den Gang
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nach hinten. Und, sie war klüger als Ralf. Natürlich war sie das, ging es Ralf durch den Kopf, als sie die Waffe selbstverständlich sofort durchlud und feuerbereit war.
Er zeigte mit dem Lauf vom Soldaten in den offenen Keller. "Davaj! Idi tuda!" Der Mann fügte sich und trabte in die Zelle. Ralf machte zwei schnelle Schritte und zog die Tür zu, schob den Riegel vor und sah sich zu Sybilla um, die sich nun ebenfalls umwandte und aufgeregt mit dem Kopf nickte. "Und, was ist der Plan, Genosse Zugführer? Weihst du mich das nächste Mal bitte ein, wenn du irgendwas versuchst?! Verflucht Ralf, ich hab mir Sorgen gemacht! Geht’s dir gut?" Sie trat zu ihm, liess die Waffe sinken und legte ihm die linke Hand an die Wange. Ihre Augen musterten ihn, suchten seinen Blick. "Dich kann man echt keinen Moment alleine lassen! Was ist mit dem anderen, deinem Schatten?"
Sie lugte unnötigerweise über seine Schulter. "Wo hast du den Kerl gelassen?" Dann schien sie zu begreifen, wiegte den Kopf und flüsterte ebenfalls unnötigerweise: "Ist dir eigentlich klar, dass die uns erschiessen, wenn die uns kriegen?! Was hast du dir nur gedacht?!" Sie schloss die Augen, seufzte und hob abwehrend den linken Arm, als wolle sie keine Rechtfertigung hören. Schliesslich stellte sie mit einem Schulterzucken fest: "Na gut! Wir sind offiziell am Arsch! Also, Genosse Zugführer, wie weiter?"
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Ralf spürte plötzlich einen kalten Stein im Magen, zeigte nur auf die Kellertür, vor der vorhin noch der Posten stand und stammelte nur "lass uns nachsehen, ob …" aber, sie war bereits auf dem Sprung, öffnete vorsichtig den Riegel und stiess die Tür nach innen auf. Ralf folgte ihr einen Schritt und stand dann 'Schmiere', schluckte schwer, seufzte und lud endlich seine Waffe durch. Klar, war das eine bescheuerte Idee, dachte er. Und natürlich hatte sie Recht, wenn sie ihm den Kopf wusch. Trotzig sagte er sich, dass es richtig gewesen war. Timofejews Armee war an ihre Grenzen gekommen. Nur zwei Posten hatte er abgestellt, keine besonders guten dazu. Er hatte eine Gelegenheit gesehen und sie genutzt. Hier würde kein Regiment schwer bewaffneter Soldaten auf sie warten. Anders ergab das hier keinen Sinn. Timofejew brauchte seine Leute woanders. Nur wusste Ralf nicht, wo genau, jedenfalls nicht hier. Dann wären mehr Posten im Flur gewesen, zumindest auf den oberen Etagen, im Gebäude um sie herum. Nein, das hier war kein Hauptquartier. Das fühlte sich einfach nicht so an.
Ihm wurde schlagartig wieder bewusst, dass er nicht einmal wusste, wo 'hier' eigentlich war. Sie hatten den dunklen Kellerraum verlassen, den Gang erreicht. Im Moment hatten sie nicht die Spur einer Ahnung, was sie jenseits der Tore erwartete. Aber es wäre auf alle Fälle ein Weg hier raus.
Sein Herz schlug wie wild. Anscheinend teilte es seine Zuversicht nicht. Und, wie um seinen
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rebellierenden Magen in seiner Paranoia zu bestärken, kroch eine besorgt klingende Stimme an sein Ohr, eine Stimme, die ihn schon mehrfach gerufen haben musste, denn sie klang, wie er sich plötzlich fühlte – erschrocken, zittrig, aufgeregt, wie aus einem Gesicht mit weit aufgerissenen Augen.
"Ralf!"
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Noch küsst die Nacht den Morgen nicht wach,
verbirgt Licht sich im Schatten.
Die Dämmerung steigt empor, ganz sacht,
zeigt auf Verstecke der Ratten.
Im Zwielicht
Ihr Gesicht war voller Besorgnis und … bleich, fand er. Sie taumelte zur Kellerwand neben der soeben geöffneten Tür, stellte die Kalaschnikow an die Wand, würgte und stützte sich mit beiden Händen an den blanken Ziegeln ab. Dann leerte sie ihren Mageninhalt in einem einzigen erbärmlich wirkenden Krampf aus. Ralf ging langsam auf sie zu, roch plötzlich den modrig süss duftenden Schwall abgestandener Luft aus der Öffnung neben ihr und riskierte einen Blick. Er hatte eine Frau und einen Mann erwartet. Schliesslich war in seiner Logik hier der Ort, an dem Eckhardt und Michi sein mussten. Und er wurde nicht enttäuscht. Das waren ein Mann und eine Frau. Und auch, wenn er vom Flur aus mit einem Blick erfassen konnte, dass es nicht seine Freunde waren, wollte sich ob des Anblicks keine Erleichterung darüber einstellen.
Die beiden Menschen lagen beinahe friedlich. Und wäre der Gestank nicht gewesen, hätte man sie im Zwielicht des Kellers für Schlafende halten können. Aber sie waren tot. Daran bestand kein Zweifel. Der Mann lag, von Ralf aus gesehen, vor der Frau und verdeckte die auf bäuchlings hingestreckte Frau halb. Sein Kopf ruhte auf ihrem Rücken. Er steckte in der Uniform eines sowjetischen Fähnrichs, eines
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Praporschtschiks. Und Ralf kannte ihn. Er hatte den Mann bereits in genau dieser Uniform gesehen. Er hiess Artjom Mihailowitsch Petrow. Ralf hatte ihn zweimal getroffen. Und auch, wenn das Gesicht fahl und blutleer, und der Körper, der kaum mehr etwas von dem Schneid des jungen Fähnrichs erahnen liess, tot vor ihm lagen, war er sich doch sicher. Ja, das dort war Tjoma. Und, dass der Mann ganz offenbar einer von den "Guten" war, belegte wohl die Tatsache, dass er hier vor ihm lag, fand Ralf.
In einem Detail hatte Timofejew nicht gelogen. Tjoma war in der Tat "hingerichtet" worden. Genau dieses Wort hatte der Oberst gebraucht, als er sie alle darüber informiert hatte, damals in Hausers Wohnung. Aber seine Schilderung stimmte ebenso offensichtlich gleich in mehreren Details nicht mit dem überein, was Ralf sah. Da war zunächst das augenscheinlichste Detail. Timofejew hatte erklärt, nicht zu wissen, wer den Fähnrich getötet hatte. Das war so sicher eine Lüge, wie sie jetzt hier in diesem Keller standen.
Aber auch die anderen Details wollten nicht passen. Ralf setzte unwillkürlich einen Schritt vor den anderen auf die Leiche des bekannten Unbekannten zu. Er ignorierte den Geruch und hockte sich an das Kopfende, damit das Licht vom Flur in den Raum fallen und die Szenerie in trübes Licht tauchen konnte. Auch dieser Keller hatte kein Fenster, oder besser, sah man nur Ziegel, an der Wölbung des Ausschnitts, der einmal das Fenster war. Ralf
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drehte Artjom Mihailowitschs Kopf ein kleines Stück zur Seite – keine Leichenstarre. Er war also ganz sicher seit Tagen tot. Wenigstens das schien zu stimmen. Dafür fanden sich keinerlei Würgemale am Hals.
Sybillas Schatten fiel auf die Brust des Toten. "Komm, Ralf! Wir müssen hier weg!" Sie flüsterte fast und ihre Stimme hatte diese unbedingte Dringlichkeit. Sie war nicht in Panik, nur sehr in Eile. Und sie hatte Angst, wie er selbst. Und diese Angst war nicht kleiner geworden, angesichts der beiden Leichen im Nachbarkeller. Aber, anders als Ralf, kannte Sybilla schliesslich auch keinen der Toten. Er schluckte und hob Ralf eine Hand ins Licht, ohne Sybilla anzusehen und erkaufte sich einen weiteren Moment. Er beugte sich zur Brust Artjoms vor, konnte aber kein Einschussloch oder etwas, das wie ein Einschuss wirkte, finden. Lediglich der Riss oder Schnitt, der zu Timofejews Messergeschichte passte, klaffte leicht rechts unterhalb des Herzens.
Ralf war kein Fachmann. Aber, wer auch immer das getan hatte, es muss schnell gegangen sein. Es war ein einzelner Einstich, gut gezielt und gekonnt ausgeführt. An der Stelle war eine deutliche Vertiefung. Der Messerschaft hatte den Stoff fest an die darunterliegende Haut gepresst und das Blut die komplette Uniformbrust getränkt. Die Jacke war steif geronnen. Niemand, auch Artjom selbst nicht, hatte versucht, die Blutung zu stoppen. Er musste fast augenblicklich gestorben sein, oder seine
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Hände auf dem Rücken gefesselt. Oder er hatte sich in sein Schicksal ergeben, weil er wusste, dass er sterben würde, dachte Ralf.
Dieser Durchstich auf der Uniformjacke war das Einzige, das Ralf als Todesursache in der Kürze der Zeit feststellen konnte. Und er konnte keine weiteren kostbaren Minuten hier verbringen. Er musste an Kaiser denken, den ewigen Kriminaler, der ihm einmal gesagt hatte, er solle auf jede Kleinigkeit achten. Die Zeit wäre dabei nicht wichtig. Es gab Menschen, die konnten einen Tatort tagelang anstarren und doch nichts entdecken. Und dann gab es jene, die sich darauf konzentrierten, zu sehen, anstatt zu glotzen, zu entdecken, anstatt zu suchen und mitzunehmen, was sie kriegen konnten, egal, was um sie herum geschah.
Also gab sich Ralf Mühe, konzentrierte sich und nahm er mit den Augen auf, was er kriegen konnte. Aber nichts hier belegte Timofejews Räuberpistole eines völlig überzogenen "Dreifach"-Mordes mit Pistole, Schal und Messer. Ralf entschied sich, Sybillas Drängen nach einem schnellen Aufbruch nachzugeben, denn sie hatte Recht. Es wurde Zeit, dass sie verschwanden und er strapazierte ihre Nerven bereits zur Genüge. Also entschied er sich dazu, die Leiche nicht zu bewegen und warf der Frau nur einen flüchtigen Blick zu. Ihre Mähne war dunkelblond, vielleicht schulterlang und glatt. Sie trug ein geschäftliches Kostüm, dessen Farbe im kargen Licht schwer einzuschätzen war und keine Schuhe oder Strümpfe. Artjom und sie waren nicht
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hier getötet worden. Es gab so gut wie kein sichtbares Blut am Boden. Ralf seufzte, legte dem Fähnrich, den er kaum kannte, eine flache Hand auf die Schulter, erhob sich und rieb sich mit der rechten Hand Augenlider und Nasenrücken. "Ich komme".
Sybilla spähte nach beiden Seiten des Ganges, als er neben sie trat und zischte "ich hoffe, das war's Wert?!" Sie funkelte ihn an. "Ralf, wir müssen hier schleunigst raus und weg, sonst enden wir wie die da drin!" Sie deutete mit dem Daumen der linken Hand vage hinter sich. Ralf antwortete "später, Sybilla!" und zeigte in Richtung des Aufganges zu ihrer Linken. "Da geht's hoch, denke ich." Dann nickte er zu den vier verbliebenen Kellertüren im Gang auf ihrer Seite. "Lass uns schnell nachsehen!" Sie schluckte, zögerte einen kurzen Moment und nickte dann. "Du denkst, dass sie hier sind, richtig?" Er erwiderte "du nicht?" Sie schüttelte langsam den Kopf. "Nein, Ralf! Ich glaube, die haben uns hier abgelegt, zwei Posten abgestellt und sind weg, um uns irgendwann aus dem Loch zu holen, wenn sie uns brauchen. Wir sind nicht viel wert. Eckhardt und Michi taugen eher als Geiseln. Wir sind nur Ballast. Du hast ihn auf dem Triebenberg gehört." Sie schauderte und schüttelte sich, ob nun vor Kälte und Müdigkeit oder wegen der Endgültigkeit in ihren Worten, die sie selbst überraschte, wusste er nicht.
Er neigte den Kopf etwas, um ihren Blick einfangen zu können. "Geht's? Bist du in Ordnung?" Sie nickte
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schnell, etwas zu schnell, fand er. "Ja, Genosse Zugführer, ich bin in Ordnung! Los, lass uns schnell nachsehen. Ich hab kein gutes Gefühl hier unten – krieg keine Luft. Ich muss hier raus, egal wohin." Er verstand und lief zügig die Kellertüren ab, zeigte beifällig auf die andere Seite des Ganges, auf der die Verschläge jeweils nur mit Gittertüren verschlossen waren. Alle Gittertüren hatten Vorhängeschlösser. Sybilla widmete keiner einzigen mehr als einen flüchtigen Blick. Dafür war keine der Kellertüren auf Ralfs Seite mit einem Schloss gesichert. Sie waren allesamt nur mit einem Riegel verschlossen. Anscheinend bestand keine Notwendigkeit, ein Schloss zu verschwenden, entweder, weil nichts Wertvolles zu holen oder genügend Soldaten für den Schutz vorhanden waren. Ralf befand, dass es wohl eine Mischung aus beidem sein musste. Keiner der Keller gab ein zusätzliches Geheimnis preis.
Und Eckhardt und Michi waren wirklich nicht hier. Er lief geduckt zu Sybilla zurück, die längst fertig wieder am Ausgangspunkt stand und hielt den Arm ausgestreckt in Richtung des Treppenaufgangs. Sie verschwendete keinen Gedanken, liess die Kalaschnikow tief im Anschlag, folgte Ralf leicht zurück und seitlich versetzt, und sicherte nach hinten. Beide atmeten tief ein und aus, versuchten, die Anspannung und den Puls unter Kontrolle zu halten und schoben sich trotz oder vielleicht gerade wegen der absoluten Stille im Haus halb geduckt in Richtung der Treppe. Am Treppenabsatz des unteren Treppenlaufes
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angekommen, gab Ralf Zeichen, dass er bis zum Zwischenpodest führen würde.
Er nahm die wenigen Stufen und drehte die Waffe im Anschlag in Richtung des oberen Korridors, wartete auf dem Zwischenpodest und gab Sybilla Zeichen, ihm tief zu folgen. Den oberen Treppenlauf nahmen sie gemeinsam, er mit der Waffe in hohem, sie in tiefem Anschlag. Sybilla hastete zur rechten Wand des Flurs, Ralf blieb links. Der Gang war leer. Auf der gesamten Länge glomm nur eine einzige Lampe auf dem Tisch des Wachhabenden gegenüber der Eingangstür. Sie tauchte den Gang in warmes gelbes Licht. Es wirkte auf eine merkwürdige Art fast gemütlich. Durch die Fenster auf Ralfs Seite des Flurs fiel von Laternen Licht in schrägen Vierecken auf Teile des Bodens und die gegenüberliegende Wand und teilte die Strecke vor ihnen in eine surreale Schachbrettwelt, die mal auf ihrer Seite der Barrikade und mal auf der Seite der zufälligen Beobachter stand und einen kalt leuchtenden Gegensatz zu der Lampe beim Tisch bildete.
Sie schoben sich weiter vorwärts und versuchten die hellen Flecken schnell zu überwinden oder ganz zu umgehen. Aber sie waren keine Ninjas. Sollte jemand in ihre Richtung sehen, würde er sie als scharf abgegrenzte Schemen auftauchen und wieder verschwinden sehen. Der Gang war ebenso menschenleer wie der Keller, der hinter und unter ihnen lag. Die Lampe beim Tisch des Wachpostens
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beleuchtete einen leeren Stuhl. Hier war kein Mensch.
Sie hockten sich hinter den Tisch und Sybilla zeigte abwechselnd auf den Haupteingang, ein massiv wirkendes Holztor, und links am Tisch vorbei. Dort zweigte der Gang zu einer weiteren Tür ab. Sie wies in die Richtung. "Als wir gekommen sind, war die Tür kurz offen. Ich hab es mitbekommen, weil es einen Gegenzug frischer Luft beim Eintreten gab. Ich denke, das ist der Hinterausgang … und schlage vor, wir nehmen diese Seite." Ralf nickte, ergänzte aber "was, wenn es eine Falle ist. Überleg' mal! Das Gebäude ist fast leer. Entweder gibt es hier keine Wachposten mehr, weil Timofejew nicht genug hat, die eingeweiht sind, oder sie wissen, dass wir hier sowieso nicht rauskommen. Vorne heraus ist Licht, nach hinten ist es dunkel. Wo würdest du Wachen aufstellen, wenn du er wärst?" Sie musterte ihn. "Ich bin nicht er, Ralf! Und ich bin auch nicht Lili Marleen. ich werde nicht zur Vordertür rausstiefeln und mich unter die Laterne stellen." Sie entlockte ihm ein Lächeln und schürzte die Lippen.
"Sei's drum! Sehen wir nach, ob die Tür offen ist!" Ralf richtete sich halb auf, trat an den Türrahmen und kniete neben der Tür ab. Sybilla richtete die Waffe auf das Türblatt und kniete im Schutz des Tisches. Ralf hob eine Hand und zählte mit ausgestreckten Fingern in ihre Richtung von drei rückwärts. Bei null angekommen, zog er die Türklinke nach unten und öffnete die Tür. Sybilla nickte. Also hob er die Waffe und schwenkte sie tief
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in der Türöffnung in den dahinterliegenden Raum. Das Licht der Lampe neben dem verlassenen Tisch des Wachpostens erhellte etwa zwei Drittel des Durchgangszimmers hinter der Tür. Regale zur Rechten und Linken, eine abgestellte Leiter, an der Wand aufgehängte Reinigungsutensilien und eine abzweigende Tür nach links und eine Ralf direkt gegenüber hob sie aus der nächtlichen Ruhe.
Der Raum mass etwa vier Meter in der Tiefe und gut drei in der Breite und war anscheinend eine Abstellkammer für den Diensthabenden. Ralf erhob sich und griff sich eine der Taschenlampen, die links von ihm für Alarmfälle an der Wand hingen. Dann winkte er Sybilla zu sich. Sie blieb im Türrahmen stehen und übernahm die Rückendeckung nach aussen. Ralf trat zuerst an die in der linken Wand abzweigende Tür.
Zwei Milchglasscheiben-Einsätze füllten den gesamten oberen Teil des Türblattes aus. In dem Raum dahinter brannte kein Licht. Das erkannte man auch ohne sie zu öffnen. Ralf drückte vorsichtig die das Langschild schmückende Klinke aus Gusseisen, die mindestens dreimal so alt wie er selbst sein mochte. Sie tat ihren Dienst ohne Klagen, Quietschen oder Knarren. Der Raum dahinter war eine Toilette mit einem kleinen Waschbecken. Was die Türklinke an Ehrfurcht einflösste, zerstörten die beiden Wasserhähne am Waschbecken. Sie waren nachträglich installiert worden, genau wie das Waschbecken und bildeten einen ruinösen Kontrast aus Kunststoff mit einem roten und einem blauen
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Punkt in Drehknäufen für kaltes und warmes Wasser.
Ralf schloss die Tür behutsam und trat an den Durchgang an der Stirnseite. Die Tür war ohne Fenster und ebenso aus massivem Holz wie die Eingangstüre. Er bedeutete Sybilla in den knienden Anschlag zu gehen und kniete selbst wieder neben dem Türrahmen ab. Dann streckte er erneut die Hand aus und zählte lautlos mit den Fingern von drei abwärts und zog bei null die Klinke. Hinter der Türöffnung gab es nichts als Dunkelheit. Das Licht der Lampe am Tisch reichte nicht bis in die Tiefe des Raums. Sybilla schloss die Tür hinter sich und huschte neben Ralf. Sie zeigte mit den Fingern nach rechts unten und links oben. Ralf nickte. Sie traten gleichzeitig hinter den Türrahmen. Sie hatte Recht behalten, wieder einmal, dachte Ralf. Sie befanden sich in einem Treppenhaus. Durch ein Fenster auf dem Zwischenpodest über ihnen drängte sich fahles Mondlicht auf die Steinstufen zu ihrer Linken. Rechts führte eine Treppe ein halbes Geschoss nach unten und zu einer massiven Tür, dem mutmasslichen Hinterausgang.
Wenn sie sich vorsichtig bewegten, würden sie die Taschenlampe nicht brauchen. Ralf vergrub sie in der Beintasche und trat auf die Treppe hinaus – Totenstille. Er bewegte sich vorsichtig hinab und fand sich vor dem Ausgang wieder. Die Treppe führte weiter in den Keller hinab. Allerdings konnte er sich nicht vorstellen, wo sie dort endete. Sein 'Spaziergang' durch den Flur hatte nur zu einer
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einzigen Treppe geführt. Und das war nicht diese. Er sicherte mit dem Rücken zur Tür den Treppenabsatz in Richtung des Kellers und winkte Sybilla zu ihm zu kommen. Diesmal übernahm er die Abdeckung und Sybilla öffnete die Tür. Sie war nicht verriegelt und schwang nach innen. Ralf schlug das Herz bis zum Hals.
Sie liess die Tür nur zur Hälfte aufschwingen und lauschte in die Dunkelheit, die im sanften Winterwind und im Chor mit den rauschenden Baumwipfeln den Eindruck eines tiefdunklen Meeres machte, das an die hundert Jahre alten Mauern brandete. Sybilla warf sich nach draussen und verschmolz mit den nächtlichen Schemen. Ralf erschrak kurz und huschte ihr nach, mehr aus Reflex, denn aus taktischen Gründen. Hinter der Tür führten drei Treppenstufen nach oben auf den Rasen. Sybilla hockte am Fuss der drei Stufen und spähte angestrengt in alle Richtungen. Er schloss die Tür leise hinter sich und kniete sich neben sie. "Was siehst du?" Sie schnaubte leise. "Nichts, Genosse Zugführer, absolut nichts."
Auf dieser Seite des Gebäudes gab es keinen betonierten Weg, nur gepflegten Rasen und mit Sicherheit irgendwo weiter draussen einen Postenweg und einen Zaun, eine Mauer oder etwas Ähnliches. Ralf versuchte im Mondlicht irgendetwas zu erkennen. Obwohl der Mond bereits zu mehr als der sichtbaren Hälfte angestrahlt wurde und durch die Wolken teilweise gut zu sehen war, gelang es Ralf nur mühsam, sich
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an die Nacht zu gewöhnen. Die Temperatur mochte leicht unter dem Gefrierpunkt liegen. Hier lag nur wenig Schnee. Er ertappte sich bei dem Gedanken, dass noch mehr davon, für sie gut sein würde, allerdings erst, wenn er nach ihrer Flucht fiel. Ralf sah in den Himmel auf und meinte, den Schnee bereits riechen zu können.
Er legte eine Hand auf Sybillas Schulter und flüsterte "das ist ein seltsames Objekt hier, findest du nicht auch? Ich sehe keine Posten, keine Nachbargebäude auf dieser Seite, keinen Zaun." Er spürte ihr Nicken mehr, als dass er es bewusst sah und er spürte noch etwas Anderes. Sie zitterte. Und das war nicht nur die Aufregung. Wenn sie nicht sofort losliefen, würde das hier nicht gut ausgehen. Sie fror und sie beide hatten Hunger, waren übermüdet und nicht in der Bestform ihres Lebens. Ausserdem schmerzte Ralfs Wunde. Er befürchtete, dass sie sich geöffnet hatte oder wenigstens nässte. Aber er wollte keine Zeit damit verschwenden, nachzusehen. Er wollte gerade vor ihr keine Schwäche zeigen, wo sie doch die ganze Zeit so stark war. Ausserdem lag die kalte Stille wie ein schweres Kissen fast lähmend auf ihm.
Also stützte er die Hand vor sich in die dünne Schneedecke, schob sich aus der Deckung, raunte "bleib hinter mir!" und lief los. Er hatte keine Ahnung, wohin er genau lief. Er wusste nur, dass hier jeder dasselbe Problem wie sie selbst haben würde, wenn er kein Nachtsichtgerät benutzte. Der Wind liess nach und die ersten Schneeflocken
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taumelten zu Boden. Sie stolperten 100, vielleicht auch 150 Meter relativ gerade weiter in nördlicher Richtung. Nichts passierte. Nach 200 Metern erreichten sie einzelnstehende Linden, eine Jahrzehnte alte Randbepflanzung. Die Bäume tauchten wie gigantische Ungetüme fast aus dem Nichts auf. Als wollten sie ihre Flucht stoppen, bauten sie sich in einer gleichmässigen Front gerade so weit voneinander entfernt in einer Linie auf, dass ihre Zweige sich fast berührten. Sybilla und Ralf suchten neben einem der Stämme Deckung und atmeten keuchend Wölkchen in die kalte Luft.
Das musste der Rand der Anlage sein, kein Zweifel. Die Linden hatte jemand gepflanzt, vor langer Zeit schon. Ralf wandte sich nach vorn und Sybilla suchte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Beide fanden sie nichts, keine Verfolger, niemanden, der auf sie lauerte. Ralf brach das Schweigen. "Ich seh' sie!" Sybilla riss den Kopf zu ihm herum. "Wen siehst du?" Sie drehte ihren Körper möglichst, ohne die Silhouette zu verändern in seine Richtung. Ralf deutete mit einer Hand in ihre Laufrichtung weiter nach vorn. "Da vorn ist die Grundstücksgrenze, ein Drahtzaun. Ich kann zwar nur die Betonpfähle erkennen. Aber das ist die Einzäunung, ganz sicher, nach aussen abgewinkelte Betonpfähle, siehst du?"
Sybilla kniff die Augen zusammen. "Ich seh' nur Schneeflocken, aber, wenn du meinst…" Er schob sich aus der Deckung. "Los, komm!" Sie machte einen Satz hinter ihm her und die beiden
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Schneeläufer näherten sich vorsichtig dem Zaun. Ralf konnte keinen Postenstreifen erkennen. Es gab weder Fahrbahnen noch Fussspuren ausser ihren eigenen, nur einen einfachen Zaun. Er zog Sybilla zu sich und sank in die Knie. "Das ist alles so einfach! Niemand verfolgt uns. Der Zaun vor uns ist unbewacht. Ich meine, ich erwarte keine Hochspannungssicherungsanlage oder Flutlicht, aber wenigstens eine Patrouille!"
Sie suchte mit den Augen erneut den Streifen vor ihnen nach beiden Seiten ab. Dann zuckte sie mit den Schultern. "Ralf, ich denke, wir sind einfach viel zu unwichtig. Glaub mir! Timofejew hat uns hier abgelegt, genau wie deinen Fähnrich. Ich denke, was immer sie vorhaben, geht heute oder morgen über die Bühne. Du hattest Recht. Die Zeit läuft ihnen davon und sie haben nicht unendlich viele Leute." Sie grunzte freudlos. "Eigentlich bin ich froh, dass überhaupt jemand bei uns war. Sie hätten uns auch einfach einsperren können und den Riegel vorlegen. Ich bin mir fast sicher, dass einer der beiden Soldaten eigentlich der Wachhabende in dem leeren Gebäude war und kurzfristig in den Keller geschickt wurde. Die Lampe im Flur hat man eingeschaltet gelassen, für den Fall, dass jemand auf der Strasse vor dem Haus vorbeifährt."
Dann nickte sie in Richtung des Zauns "Los, lass uns verschwinden, bevor doch noch irgendjemand zurückkommt!" Er gehorchte. Sie liefen geduckt zum ersten der Zaunpfosten. Es war Maschendraht, der nur auf dem abgekippten Pfostenende über der
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Zwei-Meter-Linie mit Stacheldraht besichert war. Das Ganze war eine effektive und billige Abgrenzung mit Übersteighindernis, aber nicht mehr. Er griff instinktiv an die Hüfte zum Kampfmesser und bis sich auf die Lippe. Natürlich war der Reflex sinnlos, weil er keines mehr hatte. Durchtrennen des Zaunes war also keine Option. Wenn die Pioniere es richtig gemacht hatten, war der Zaun im Erdreich eingegraben. Er sank zu Boden und überprüfte den unteren Rand des Zauns. Und tatsächlich, der Zaun war eingegraben. Also blieb nur der Weg obendrüber. Er sah resignierend zu dem Stacheldraht empor. "Na Klasse!" Er lehnte die Kalaschnikow an den Pfosten, entledigte sich seiner Jacke und schleuderte sie an einem Ärmel festhaltend auf die Zaunkrone.
Es klappte zu seinem Erstaunen bereits beim ersten Versuch. Letztes Mal hatte er dreimal werfen müssen und fast die Jacke verloren. Dafür war der abgedeckte Bereich weniger breit als gehofft. Er streckte die Hand nach Sybillas Waffe aus. "Du zuerst!" Sie schaute nach oben, nickte und gab ihm ihr Gewehr. Ralf lehnte es neben seines, stützte sich gegen Zaun und Pfosten und legte beide Hände als Steighilfe zusammen. Sybilla seufzte, zog ihre eigene Jacke aus, wickelte die Ärmel um die Hände und legte sie dann etwas unbeholfen auf seine Schultern. Sie sah ihm in die Augen, küsste ihn und lehnte sich kurz mit ihrer Stirn an seine.
Dann setzte sie den Fuss in seine Handflächen und drückte sich nach oben ab. Ralf schob nach,
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ignorierte den Schmerz in seiner Seite und hob sie weit nach oben. Sie griff hinter seine Jacke und schwang sich scheinbar mühelos über den Draht, liess sich ohne grosses Federlesen fallen und landete auf beiden Beinen. Sie suchte flüchtig nach eingerissenen Stellen und wickelte ihre Hände wieder aus. Ihre Jacke rollte sie zusammen und warf sie über den Zaun, weit höher als notwendig. Aber sicher war schliesslich sicher. Ralf nahm sie auf und sah dann zu den beiden Gewehren und zu Sybilla. Sie verstand und zeigte auf den Lindenhain.
Ralf hob die beiden Waffen auf und lief los. Auf den wenigen Metern hatte der frische Schnee ihre Fussspuren von vor wenigen Minuten bereits fast vollständig mit frischem Weiss gefüllt. Ralf blickte in den dunklen Himmel. Es würde weiter schneien. Das war verdammt sicher. Und es war gut. Er lächelte, entledigte sich der beiden Kalaschnikows und schob sie so gut es ging unter Laub am Fusse des Stammes, drehte sich wieder um und lief zurück zum Zaun. Sybilla stand mit den Armen um den Leib geschlungen auf der anderen Seite, beobachtete die Umgebung und wartete sichtlich frierend.
Ralf machte keine Pause, legte sich noch im Lauf ihre Jacke auf die Schulter, damit er leicht in die Ärmel fassen konnte und sprang mit einem Fuss am Pfosten und den Händen im Drahtzaun, soweit er konnte nach oben. Dann zog er sich so weit in die Übersteigsicherung, dass er den zweiten Fuss auf dem Spanndraht abstellen konnte und legte sich
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quer über seine Jacke. Als er nach dem Ärmel seiner eigenen Jacke griff, gab der Draht stärker nach, als er gedacht hatte, also verlagerte er das Gewicht und fiel mehr, als er sprang auf die richtige Seite des Zaunes.
Der Aufprall war entsprechend hart und Ralf unterdrückte einen Schrei. Die aufgeschrammten Hände waren nicht das Problem. Aber er fühlte, wie die Seite seines Leibes feucht wurde. Er fluchte leide. Seine Jacke hatte ebenfalls teuer für die Aktion bezahlt und glich jetzt mehr einem Leibchen. Er kam mit Sybillas Hilfe auf die Füsse und atmete schwer. Als sie ihn sorgenvoll untersuchte, rang er sich ein Lächeln ab. "Das ist meine eigene Schuld, Äffchen. Lass, wir müssen erst noch ein paar Meter mehr zwischen uns und das hier bringen." Er wies mit dem Daumen hinter sich.
Sie schüttelte den Kopf. "Das hier ist wichtiger! Ich brauch nicht lang. Beug dich vor!" Er wusste, dass es wenig Sinn hatte sich aufzulehnen, also traten sie ein Stück beiseite zu einem ansehnlichen Busch und sie zog ihm den Pullover und das Unterhemd über den Kopf. Dann riss sie mit den Zähnen den unteren, verschwitzten Teil des Unterhemdes an und mit den Fingern auf. Sie machte das so geschickt über die komplette Länge der Front und des Rückens, dass Ralf den Schmerz völlig vergass und ihr gebannt auf die Hände sah. Sie riss auf diese Weise drei etwa meterlange Stücke und legte den Rest zu einer dicken Kompresse zusammen. Sie
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hängte alles auf die Zweige des Busches und sah Ralf in die Augen. "Achtung! Gleich wird’s kalt!" Dann nahm sie frischen Schnee in beide Hände und säuberte die Wunde kurz, tupfte sie mit der Innenseite ihrer Jacke ab und legte schliesslich die Kompresse auf. "Festhalten!" Ralf gehorchte. Sie fixierte alles mit den Stoffstreifen und verknotete die Enden.
Es sah zugegebenermassen etwas verwegen aus, fand Ralf. Aber sein Lächeln war echt, als er ihr dankte und anerkennend über den Stoff stricht. "Zum Glück bin ich nicht dicker. Dann hätte der Stoff wohl nicht gereicht." Sie stiess ihn vor die Brust "Es war auch so knapp genug!" Dann streckte sie ihm die Zunge entgegen. Er lächelte. "Danke, Sybilla! Ehrlich! Das ist richtig gut!" Sie hielt ihm den Pullover hin, damit er leichter hineinschlüpfen konnte. "Lob mich nicht zu früh! Du musst zu einem richtigen Arzt und dazu müssen wir schleunigst zu Jojo kommen." Ihr Zittern war wie weggeflogen. Ralf schlang sich die Überreste seiner Jacke um die Schultern und wartete, bis sie ihre Jacke angezogen und geschlossen hatte.
"Ich denke, da drüben sollte irgendwo eine Strasse sein." Er nickte mit dem Kopf in das grauweisse Dunkel. Sie beäugte ihn misstrauisch. "Und wie kommen eure Gnaden zu dem Schluss?" Er fädelte die Jacke zurecht und stellte den Kragen auf. Dann zeigte er mit der Hand erneut in die Richtung. "…,weil ich dort vorhin sich bewegende Lichter gesehen habe. Wer weiss, vielleicht gibt es dort ein
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Hinweisschild oder eine Ortschaft." Sie folgte seinem Finger, konnte nichts erkennen, weil es gerade eben nichts zu erkennen gab, nickte jedoch und vergrub die Hände in den Jackentaschen.
Jetzt war es Ralf, der fror. Also trabten sie in die Richtung los, die Ralf gezeigt hatte. Und er hoffte, dass er sich nicht getäuscht, ihm der Schnee und die Nacht und ein Licht von irgendwo nicht nur etwas vorgaukelt hatten. Es dauerte keine fünf Minuten, bis sie zum ersten Mal betonierten Boden unter den Füssen hatten. Der Weg war panzertauglich mit schweren Betonelementen längs in die Landschaft gestanzt. Sie überlegten kurz und folgten nach rechts, ein Zickzackkurs weg von dem Objekt, aus dem sie geflohen waren, hin zu irgendetwas anderem. Ralf war nicht mehr kalt. Sie hatten gerade ein ansteigendes Stück der Feldstrasse genommen und trotteten jetzt wieder bergein. Aber er merkte die Müdigkeit und stellte mit einem Blick zu Sybilla fest, dass es ihr ganz ähnlich gehen musste. Ihre Augen waren auf einen immer noch dunklen, hinter einem undurchdringlichen Gewirr an Schneeflocken verborgenen Horizont gerichtet. So liefen sie einfach, setzten einen Fuss vor den anderen, schauten ab und an zum jeweils anderen, als wollten sie sichergehen, ihn nicht beim Laufen zwischenzeitlich am Wegrand verloren zu haben.
Ralf stoppte und hielt sie am Arm fest. Sie schwang fast wie in Trance zu ihm herum und schaute ihn fragend an. "Was … was ist los, Ralf?" Er schüttelte den Kopf. "Still!" Sie lauschte. Irgendetwas kam.
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Und es kam schnell. Er zog sie weiter mit sich. "Wir müssen runter von der Strasse!" Aber das Geräusch war bereits direkt hinter ihnen und Ralf wandte sich um und blickte in ein fast taghelles Paar Scheinwerfer, dass sich schnell näherte und helle Kegel weisser Flocken in die Nacht goss. Wie konnten sie das nur überhört haben, fragte er sich, während er fieberhaft überlegte, wohin in das Weiss um sie herum sie springen sollten. Da waren nur Felder.
Sie löste sich aus seinem Griff und nahm stattdessen seine Hand, trat leicht vor ihn und hob ihre andere Hand vor die Augen. Entgehen würden sie dem Fahrzeug ohnehin nicht, und einer egal wie gearteten Besatzung erst recht nicht, nicht in ihrem Zustand. Also hob sie die Hand von den Augen und winkte in die tanzenden glitzernden Flocken. Der schwere Diesel heulte auf, als die Lichter nah genug waren und das Fahrzeug kam mit lautem Bremsen zum Stehen. Der Motor lief weiter. Die Fahrertür wurde aufgestossen und eine Silhouette floss aus der Nacht in den Lichtkegel und teilte das Gefunkel vor ihnen.
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Rückzug schreit dein Oberstübchen,
Angst baut hektisch ein Gemäuer,
verstellt die Sicht auf einen Ausweg
und füttert fett die Paranoia.
Ein sozialistischer Gott mit Wodkaschluckauf
Sybilla schob sich vor Ralf und kniff die Augen zusammen, während der Fremde näherkam. Ralf stand in ihrem Schatten und hatte zumindest den Vorteil, nicht geblendet zu sein. Der Mann, und das war zweifelsohne ein Mann, war riesig. Er trug anscheinend wattierte Kleidung. Seine Jacke war offen, ebenso seine Hände. Er hielt keine Waffe. Vielleicht war das ja ein gutes Zeichen. Vielleicht musste er es aber auch schlicht nicht, weil er nicht allein war. jedenfalls, schätzte Ralf, mass er gut 1,90 Meter. Und so sehr konnte seine eigene verzerrte Wahrnehmung des Schattens im Scheinwerferlicht ich kaum täuschen. Als der Mann sich bis auf wenige Schritte genähert hatte, wurde schnell klar, dass Ralf sich keinesfalls getäuscht hatte. Der Kerl war mindestens einen Kopf grösser und füllte die Wattejacke, die er trug, vollständig aus. Er hatte die Knopfleiste offen, weil er nicht nur sehr gross, sondern ebenso sehr beleibt war.