GRID alive - Reinhold Ziegler - E-Book

GRID alive E-Book

Reinhold Ziegler

0,0

Beschreibung

Der hochbegabte Johannes, genannt Joker, und seine Clique planen ein kühnes Vorhaben. Im Grid, einem Verbund von Hochleistungsrechnern der Universität, wollen sie heimlich eine künstliche Intelligenz programmieren. Der Anfang klappt wunderbar, doch dann entwickelt sich GRID, das von Joker geschaffene Wesen, in eine Richtung, die niemand vorhersehen konnte. Gut, dass Joker seine Möchtegern-Freundin Ljusja zur Seite hat. Sie schafft es ihm zu beweisen, dass man hochintelligent, aber zugleich dumm wie ein Stück Seife sein kann. Buchbesprechung in LITERRA: "Aber auch die emotionalen Angelegenheiten werden äußerst realistisch und nachvollziehbar behandelt, frei von jeglicher Seifenoper-Romantik. Zieglers Stil ist ausgefeilt und materialistisch, die Handlung rasant und packend. An diesem Buch werden nicht nur Jugendliche ihren Spaß haben, auch Erwachsene werden kurzweilig und durchaus anspruchsvoll unterhalten."

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 360

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



GRID alive

„Dieser ganze Liebesscheiß kotzt mich an!“, fluchte Anabell. „Ich komm’ mir vor wie zwölf. Ich will das nicht, verdammt!“

Und im nächsten Augenblick begann sie wieder zu weinen.

„Dann hör auf damit, Anna!“, zischte Ljusja böse, „Und benimm dich nicht wie zwölf!“

Sie lehnte sich zurück und steckte sich eine Zigarette an. „Deine Wimperntusche verschmiert. Und ich hasse es, wenn du heulst!“, ergänzte sie dann leise.

„Und ich hasse es, wenn du rauchst – vor allem bei mir im Zimmer!“, giftete Anabell zurück und schniefte.

Aber natürlich hörte weder die eine auf zu weinen, noch die andere auf zu rauchen.

Ljusja nahm ein paar tiefe Züge, lehnte sich dann auf dem Sofa weit nach hinten und blies den Rauch steil an die Decke.

„Weißt du, Anna, ganz ehrlich – wenn ich das sehe, freue ich mich manchmal, dass ich fett und hässlich bin. Deine Probleme hab’ ich schon mal nicht!“

„Du bist nicht fett und hässlich. Fang nicht wieder damit an! Du hast vielleicht zweieinhalb Pickel – die spätestens weg sind, wenn du achtzehn bist. Und vielleicht fünf Kilo zu viel – die aber nicht aus Fett, sondern hauptsächlich aus Muskeln bestehen. Und die längst besser aussähen, wenn du nicht dauernd darüber reden würdest, sondern …“

„… keine Pommes mit Mayo mehr essen würde. Ich weiß. Sagt Miss-Germany-kann-alles-essen-und-wird-nicht-fett …

Sagt Miss-World-jeder-Typ-läuft-ihr-nach-und-will-sie …

Sagt Miss-Universum-schönste-Frau-der-Welt …“

Anabell sah sie traurig an: „Sagt Miss Liebeskummer. Die nicht mehr weiter weiß!“

Nun musste sie doch fast selbst ein wenig lachen.

„Also, dann fassen wir mal zusammen“, schlug Ljusja vor. „Er hat dich angebrüllt!?“

Anabell nickte und tupfte sich vorsichtig mit dem Ringfinger eine Träne von der Backe.

„Und er hat behauptet, du wärst so dumm, wie die Nacht schwarz?“

Wieder nickte Anabell. „Aber nur in seiner Wut. Er meinte ‚dumm’ bloß in Bezug auf seine Computer, verstehst du. Er hält mich nicht wirklich für dumm … denke ich.“

Ungerührt führte Ljusja ihre Aufzählung fort: „Und er hat tatsächlich gesagt, wenn du mit einem wie ihm zusammen sein willst, müsstest du dir schon ein bisschen Mühe geben?“

„Ja – aber ich glaube, es sollte nur Spaß sein!“

„Spaß! Wenn du mich fragst, hat dein himmlischer Robert ’ne fette Meise. Der glaubt wohl, er ist der Allergrößte, was?“

„Hör auf, Ljusja! Er ist wirklich unheimlich schlau. Und glaubst du, ich schieße ihn ab, nur weil alle ständig auf ihm herumhacken?“

Ljusja nickte ungerührt. Genau das glaubte sie, oder hoffte es zumindest. Dieser Robert tat Anabell nicht gut, das spürte sie. Er war einundzwanzig, fünf Jahre älter als Anabell. Er hatte sie bei einem Konzert angesprochen, und bei Anabell waren irgendwie alle Sicherungen durchgegangen. Liebe auf den ersten Blick, hatte sie behauptet. Gut aussehender, sportlicher Student, reiche Eltern, eigenes Auto – schwarzer GTI, klar, man gönnt sich ja sonst nichts – immer coole und teure Klamotten, und immer lockeres Geld auf der Hand.

Anabell stand auf so was. War sofort voll eingestiegen, hatte sich schon ein paar Wochen später die Pille verschreiben lassen.

Aber Anabell war eben Anabell. Die sah so verdammt gut aus. Blonde lange Haare, groß und schlank, blaue, verträumte Augen. Und auch wenn sie selbst gerne verkündete, dass ihre Haare zu glatt und ihre Augen zu grau waren und sie für ein Mädchen mit ihren einsfünfundsiebzig eigentlich recht groß war – Anabell wusste im Grunde schon, was sie für einen Eindruck auf Männer machte.

Und dann war doch klar, dass sich einer wie Robert so ein Mädchen neben seinen nachtschwarzen GTI und seine teuren Klamotten und Schuhe stellen musste. So sah es Ljusja. Der brauchte Anna als Zierde. Und die kapierte das nicht. Obwohl ihre Mutter dauernd dagegen hielt, obwohl Ljusja dauernd dagegen hielt, obwohl jede ihrer Freundinnen dagegen hielt – keine konnte den leiden. Und was meinte Anabell dazu: „Ihr seid ja nur neidisch!“

Daher freute es Ljusja nun fast, dass bei Anabell die Tränen flossen. Sollte sie heulen, vielleicht kapierte sie dann endlich was.

Dann ging die Tür auf – Anabells Mutter. Anabell wischte hastig ihre Tränen ab, Ljusja versteckte sofort ihre Zigarette hinterm Rücken. Aber natürlich war das zwecklos. „Fräulein Ludmilla Heinrich! Du kennst die Regeln! Bei uns wird nicht geraucht!“

Ljusja nahm die Zigarette hinter dem Rücken hervor und drückte sie vorsichtig im Aschenbecher aus.

„Ich wollte ja nur deine Tochter trösten, eigentlich habe ich sie nämlich für Anna angezündet!“, log sie dreist.

Ljusja war nicht der Typ, der sich leicht einschüchtern ließ. Sie war robust in jeder Hinsicht. Ihr Gesicht war breit und rund, ihre kurzen Haare von diesem rötlichen, schmutzigen Blond, das Ljusja selbst “nicht Wasser und nicht Blut“ nannte. Gelegentlich half sie nach und färbte sich den ganzen Schopf rot. Aber eigentlich nur dann, wenn ihre Mutter mal wieder das hübsche Blond von Anabell zu laut bewundert hatte. Sie spielte Handball in der ersten Mannschaft, und entsprechend sahen ihre Schultern und Arme aus. Aber das störte sie nicht. Sie mochte sich, wie sie war, laut und kräftig – Ljusja eben.

Die Leitersbachers und die Heinrichs kannten sich schon seit ewig, sie hatten lange im gleichen Haus zwei Mietwohnungen bewohnt. Die beiden Mädchen waren jeden Morgen Hand in Hand mit ihren bunten Täschchen um den Hals die paar hundert Meter zum Kindergarten gelaufen – beste, allerbeste Freundinnen. Anabell, ein Jahr älter und somit immer die etwas Größere, war schon als Baby süß wie Zucker. Dagegen war  Ludmilla, die Kräftige, Kleine, und wurde von ihrer russischen Mutter und inzwischen eigentlich von jedem, der sie kannte und mochte, nur Ljusja gerufen. Nur Barbara Leitersbacher, Anabells Mutter, sagte manchmal, wenn sie versuchte streng zu wirken, Ludmilla zu ihr und sorgte damit automatisch dafür, dass Ljusja sie nicht ernst nahm.

Vor sechs Jahren, Anabell war gerade ins Gymnasium gekommen und ihr kleiner Bruder Christian in den Kindergarten, waren die Leitersbachers aus dem gemeinsamen Mietshaus ausgezogen. Sie hatten sich ein neues Reihenhäuschen gekauft, hier draußen, am anderen Ende der Stadt. Die Mädchen hatten zuerst gedacht, die Welt ginge unter. Aber dann hatten sie festgestellt, dass sie trotzdem fast jeden Nachmittag miteinander verbringen konnten. Sie wurden von den Eltern gefahren, später nahmen sie das Fahrrad oder den Bus, sie blieben beste Freundinnen, und ein Jahr später kam Ljusja ins gleiche Gymnasium und sie konnten sogar in der Pause wieder jeden Tag zusammenhängen. Und so lief die Freundschaft über all die Jahre bestens. Sie lernten zusammen – in der Schule war Anabell viel besser als Ljusja – und spielten zusammen Handball – da wiederum war Ljusja der absolute Crack – und hingen zusammen mit anderen aus der Schule rum. Also alles soweit okay, bis dieser Robert sich die schöne Anabell um den Hals hängen musste. Seitdem hörte Ljusja jedes Mal, wenn sie anrief und etwas ausmachen wollte, nur „Robert, Robert, Robert“.

„Bleibst du heute Nacht bei uns, Ljusja?“, fragte die Mutter.

„Ich glaube, Anna passt es nicht!“, antwortete sie. Die Mutter verdrehte die Augen. Sie wusste, was das hieß. Dass Anabell den Abend wieder mit ihrem Robert verbringen wollte. Aber es hatte schon so viele schwierige Gespräche in dieser Sache gegeben – Anabell mit ihrer Mutter, Anabell mit Ljusja, sogar Ljusja mit Anabells Mutter – so dass niemand mehr Lust hatte, den Namen Robert überhaupt nur auszusprechen.

Kaum war die Mutter zur Tür draußen, fegte wie ein Wirbelwind der blondschöpfige Christian, Anabells kleiner Bruder, herein.

„Hi, Ljusja!“, rief er und fiel ihr wie einer großen Schwester um den Hals. Ljusja drückte ihn ein wenig. „Lässt du mich mal an deiner Fluppe ziehen?“, flüsterte er ihr ins Ohr. Ljusja tippte ihm mit dem Finger an die Stirn.

„Mach die Fliege, Chris!“, rief Anabell, „Du nervst!“

„I can see your lips moving – but all I hear is blablabla!”, kreischte er fröhlich und hielt sich die Ohren zu. Es war bisher das Einzige, was er auf Englisch sagen konnte, Ljusja hatte es ihm beigebracht. Und er benutzte den Satz, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot.

Anabell stand drohend auf und machte einen Schritt auf ihn zu: „Raus, Chris!“, rief sie und versuchte ihn zu packen. Aber er war schneller, schoss aus der Tür und rief, während er die Treppe hinuntersprang: „Und nicht vergessen, Ljusja, wenn ich groß, bin heiraten wir!“

„Nein! Vergesse ich nicht!“, rief sie ihm hinterher. „Wenn er zehn Jahre älter wäre, würde ich ihn auffressen!“, meinte sie leise zu Anabell.

„Bis er zehn Jahre älter ist, bist du auch zehn Jahre älter, vergiss das nicht.“

Ljusja stand auf, schloss die Tür und zündete sich den Rest ihrer Zigarette wieder an. Anabell öffnete demonstrativ das Fenster.

„Vielleicht solltest du einfach ein bisschen Nachhilfe in Sachen Computer nehmen, wenn dich dein Robert immer für so dumm hält!“, nahm Ljusja spöttisch das Thema von vorhin wieder auf.

Anabell bemerkte den Spott nicht: „Ja, warum nicht. Vielleicht müsste mir jemand nur mal dieses Grid erklären, von dem Robert dauert redet. Ich könnte ja mal den Dr. Bit fragen.“

Dr. Stefan Bitterle war am Gymi ihr Mathe- und Informatiklehrer und zugleich der Betreuer des Schulnetzwerks und aller Schulrechner. Eben einer mit Ahnung. Und, nebenbei gesagt, ein durchaus ansehnlicher und netter Dreißigjähriger, und Single, soweit sie wussten, auch wenn die beiden Mädchen eigentlich aus dem Alter raus waren, in dem man für süße Lehrer schwärmt.

„Oder du fragst Joker!“, meinte Ljusja und versuchte es nur so dahinzusagen, aber anscheinend machte gerade das Anabell stutzig.

„Joker? Du meinst unsern Überflieger Joker – ich denke, du kannst ihn nicht ab?“

„Hab ich nie gesagt!“

„Hast du wohl gesagt!“

„Vor hundert Jahren vielleicht!“

Anabell nahm Ljusja an den Schultern und drehte sie zu sich. „Ludmilla Heinrich! Gibt es da etwas, was deine beste Freundin wissen sollte?“

Ljusja schüttelte sie ab.

„Du bist eben nicht auf dem neuesten Stand, Anna. Wir waren alle letzte Woche auf seiner Geburtstagsparty.“

„Weiß ich doch!“

„Du musstest ja mit deinem Robert ins Kino. Du kennst doch die Joker-Partys, oder?“

„Nein – nur vom Erzählen!“

„Also: Joker-Party“, setzte Ljusja zu einer längeren Erklärung an. „Joker wohnt allein in einem Gartenhaus im Garten von seinem Vater und das schon seit Jahren, obwohl er jetzt erst sechzehn geworden ist. Sein Häuschen steht an einem Bach, in dem man surfen kann. Und einem Teich, in dem man baden kann. Unter hohen Bäumen, auf die man klettern kann. Völlig allein mit seinen Computern. Und es gibt keine Party in der ganzen Stadt, wo so die Sau abgeht wie bei ihm. Die ‚Joker-Party’ eben. Du hast was verpasst!“

„Robert wollte nicht hin.“

„Dabei hätten die beiden sich bestimmt gut verstanden. Joker ist auch ein totaler Computerfreak.“

„Das ist doch der Kleine, Kugelige aus deiner Klasse, richtig? Der mit der Nickelbrille, oder?“

„Ex-Klasse. Wie du dich erinnerst, musste ich sie unehrenhaft verlassen!“

Ljusja war durchgefallen. Wegen Englisch und Mathe. Sie fand es ungerecht. Warum musste sie Englisch lernen? Wäre es Russisch, hätte sie eine Eins. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass sie zweisprachig aufwuchs und hatte mit ihr zu Hause nur russisch gesprochen. Also sprach sie fließend russisch und deutsch, und dann kam diese Schule und wollte ihr Englisch beibringen. Na ja, egal. Anabell war sowieso eine Klasse höher und wäre auch nie und nimmer durchgefallen, denn Anabell war eine verdammte Einserschülerin. Wie Joker. Nur war Joker eigentlich kein Einserschüler, sondern ein Genie. Sagten sogar die Lehrer. Letztes Jahr hatte er in Reli eine Zwei, sonst überall nur Einsen. Er ginge eigentlich nur in die Schule, sagte er, weil es ihm den ganzen Tag allein zu Hause zu langweilig sei.

Das Reihenhaus der Familie Leitersbacher stand im Westen der Stadt, aber Jokers berühmtes Gartenhaus genau auf der anderen Seite im Osten. Es war ein schöner Sommertag, also entschlossen Anna und Ljusja sich zu Fuß quer durch die Stadt zu laufen.

Aber schneller, als sie gedacht hatten, zogen dunkle Wolken auf, es begann zu donnern. Die letzten paar hundert Meter rannten sie und als sie den großen Garten mit dem hohen Gras, den riesigen Bäumen und den verwahrlosten Büschen durch das kleine Tor an der Rückseite betraten, fielen die ersten Tropfen.

Deswegen hielten sie sich nicht lange mit Klopfen auf - eine Klingel gab es an dem hölzernen Häuschen nicht – sondern rissen die Tür auf und stürzten direkt in Jokers Wohn-, Arbeits-, Schlaf- und Esszimmer.

Er saß an seinem Schreibtisch, vor einem riesigen Bildschirm, und drehte sich erschrocken mit seinem Bürostuhl um.

War Joker dick? Nein, das täuschte! Er war kompakt, kräftig, klein, sogar noch etwas kleiner als Ljusja. Seine halblangen, braunen Haare standen wirr um sein hübsches, verschmitztes Gesicht mit der runden Nickelbrille, hinter der wache und lebendige Augen verrieten, dass er keineswegs das harmlose, gemütliche Bärchen war, dass man vielleicht auf den ersten Blick meinte ausgemacht zu haben.

„Hey! Ein Überfall!“, rief er. Dann erkannte er Ljusja. „Irgendjemand hinter euch her?“, fragte er.

„Ein bitterböses Gewitter!“, meinte Ljusja. „Das ist übrigens Anabell!“

„Kenn ich!“, sagte er. „10 C, Anabell Leitersbacher!“

Ljusja nickte. War ja klar. Joker hatte ein Gedächtnis wie eine Festplatte. Wahrscheinlich kannte er die gesamten Schülerlisten aller Klassen vom Gymnasium auswendig, mitsamt Adressen und Geburtstagen.

„Und? Irgendetwas Dringendes?“, fragte er, hatte sich aber schon wieder zurück zu seinem Bildschirm gedreht, auf dem erstaunlich nüchterne Zahlenkolonnen zu sehen waren.

So hatten die beiden die Gelegenheit, Jokers Reich im Detail zu besichtigen. Die ganze Hütte schien nur aus einem Raum zu bestehen, der etwa so groß war wie eine Doppelgarage. Aber Ljusja wusste von der Party, dass dort hinten die niedrige Tür zu einer kleinen Küche und einem noch winzigeren Bad führte. Im großen Raum gab es diesen Schreibtisch, an dem Joker auf einem lederbezogenen Chefsessel hockte, dazu ein erstaunlich großes Bett, auf dem etliche Klamotten kreuz und quer lagen, einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen, ein abgewetztes, altmodisches rotes Sofa mit hölzernen, geschnitzten Armlehnen und – etwas überraschend – ein chromblitzendes Fitness-Workout-Center.

Erst jetzt bemerkten sie, dass dort noch ein weiterer Junge saß, der, offensichtlich erschrocken durch den plötzlichen Überfall der Mädchen, seine Übungen unterbrochen hatte.

Er hob die Hand und sagte schüchtern grinsend: „Hi!“ Die beiden nickten. Ljusja kannte den Typ. Sie hatte ihn zumindest auf der Joker-Party schon mal gesehen, da war sie sich sicher, obwohl sie nicht mit ihm gesprochen hatte.

„Das ist Nils!“, sagte Joker locker über die Schulter, als er hätte er Ljusjas Gedanken erraten.

„Ich bin die Ljusja!“, stellte sie sich vor.

Dieser Nils war so einer, den man gern mal übersieht. Nicht unattraktiv, das ganz bestimmt nicht, aber schon auf den ersten Blick sichtbar schüchtern, ein bisschen verpickelt, braune, halblange Haare und der erste, zaghafte Versuch eines Kinnbärtchens. So einer, bei dem du beim zweiten Blick erkennst, dass er vermutlich doch mehr drauf hat, als du beim ersten Blick gesehen hast.

Er starrte Anabell an. Ljusja erkannte sofort, dass es um ihn geschehen war und dass er verzweifelt nach irgendetwas Schlauem suchte, um mit ihrer schönen Freundin ins Gespräch zu kommen.

„Habt ihr ja gerade noch mal Glück gehabt!“, nahm er schließlich vorsichtig das unverbindliche Thema „Gewitter“ wieder auf und zeigte nach oben. Von der Decke des Raumes hörte man jetzt deutlich das Fallen großer Regentropfen.

Noch immer starrte er auf Anabell, als hätte ihn ein Blitz ins Herz getroffen.

Wenn du wüsstest, dachte Ljusja, dass es da einen gibt, der eineinhalb Kopf größer ist als du und mindestens fünf Jahre älter, könntest du dir dein Anstarren geradewegs sparen. Es war immer dasselbe: Sobald Anabell irgendwo auftauchte, wurden die Jungs nervös und fingen an zu starren, und sobald jemand Anabell anstarrte, erwachte in Ljusja ein kleiner gehässiger Teufel, der sich immer dann diebisch freute, wenn sie wusste, dass daraus nie und nimmer etwas werden würde.

Erstaunlicherweise antwortete Anabell dem schüchternen Jungen. Aber vielleicht war es auch als Info an Joker gedacht, als sie sagte: „Wir sind eigentlich hergekommen, weil Ljusja meinte, Joker könnte mir was über Computer erklären!“

„Aha!“, rief Joker spöttisch und drehte sich auf seinem Stuhl in erstaunlicher Geschwindigkeit wieder um. „Festplatte tot? Virus gefangen? Windows-Konfiguration vernichtet? Totalabsturz? Da muss man dann den Joker ziehen, was?“

„Nichts von alledem!“, erklärte Anabell selbstbewusst, und Ljusja stellte wieder mal fest, wie komplett Arroganz und Spott an ihr abprallten. Es war das Vorrecht schöner Frauen, davon war Ljusja überzeugt, Gegenwind einfach nicht wahrnehmen zu müssen.

„Ich suche nach jemandem, der mir erklären kann, was Grid ist!“ Als das Wort „Grid“ fiel, sahen sich die beiden Jungen erstaunt an.

„Merkwürdiger Zufall!“, meinte Joker, jetzt offensichtlich doch interessiert. „Gerade bevor ihr hier reingestürzt seid, habe ich mich mit Nils über das Grid unterhalten.“

„‚Das’ Grid?“

„‚Der’ Grid, ‚die’ Grid, ‚das’ Grid. Ich behaupte mal ‚das’ Grid, weil es auch das ‚das Gitter’ heißt, und genau das bedeutet es ja.“

„Von mir aus – und was ist das nun?“

Ljusja fand das langweilig. Sie hatte nicht mehr Interesse an Computern, als unbedingt sein musste. Viel interessanter fand sie dieses Workout-Center, an dem Nils jetzt wieder vorsichtig begonnen hatte, irgendwelche Armübungen zu machen.

„Grid ist ein loser Rechnercluster mit inhomogenen Einzelrechnern, die über gemeinsame Bibliotheken zusammenarbeiten.“ Joker sagte diesen Satz nicht, er stellte ihn in den Raum wie auf Steintafeln gemeißelt, grinste, tat so, als wäre damit die Sache ausführlich und verständlich genug erklärt und wandte sich wieder seinem Bildschirm zu.

Arschloch, dachte Anabell, auch wenn sie eigentlich nicht zu der Art Mensch gehörte, die so etwas über andere dachte. Aber Joker hatte sie wütend gemacht. Wenn es zu viel wurde, konnte auch sie Ironie und Spott erkennen. Vor allem aber machte es sie sauer, wenn irgendwelche Typen sie einfach ignorierten. Das konnte sie überhaupt nicht leiden.

Sie tat einen Schritt auf Jokers Chefsessel zu, drehte ihn mitsamt Joker wieder zu sich und sagte böse: „Und du findest, das könnte ich jetzt kapieren, was?“

Er zuckte ungerührt die Schultern. „Ich kann nicht gut erklären und ich habe zu tun! Vielleicht kann dir der liebe Nils das ein bisschen näher bringen, der weiß da auch was drüber!“!

Nils sprang sofort von der Folterbank. Er strahlte: „Wir können uns draußen unter das Vordach setzen, dem Regen zuschauen und dann erkläre ich dir, was du wissen willst.“

Die beiden Mädchen sahen sich an, Anabell zuckte etwas ratlos mit den Schultern, aber Ljusja grinste und nickte leicht. Das war eine komische, kleine Geste von Anna, ein paar Zehntelsekunden nur, denn obwohl sie die Ältere der beiden war, bat sie oft Ljusja auf diese Weise um Rat oder Bestätigung.

Ljusja nahm sofort dort Platz, wo Nils aufgesprungen war, nahm die Griffe in die Hände und drückte die Arme vor der Brust zusammen.

„Ich wollte dem armen Nils mal ’ne Chance geben“, meinte Joker, ohne aufzusehen, „sonst jammert er nachher wieder! Dem sind ja fast die Augen rausgefallen!“

„’ne Chance, ja?“, fragte Ljusja, aber Joker ging nicht weiter darauf ein.

Ljusja klatschte die Griffe vorne zusammen, dass die Gewichte an den Stahlseilen hinter ihr nur so auf und ab flogen.

Joker grinste. „Lass das nicht Nils sehen, sonst bekommt er noch mehr Komplexe!“ Er lachte sie an. Dieser Joker war normalerweise gar nicht so arrogant wie eben beim Auftritt mit Anabell. Der konnte richtig Witze machen. Sie erinnerte sich jetzt, dass er auch früher in der Klasse – es war jetzt schon zwei Jahre her, dass sie nicht mehr in die gleiche Klasse gingen – ab und an üble Witze gerissen hatte. Damals fand sie seine Sprüche meistens ätzend. Aber man konnte ja seine Meinung auch mal ändern, oder? Vor allem konnte er sich alles leisten, schon früher. Kein Lehrer wagte doch, es sich mit seinem Klassengenie zu verderben. Aber meistens war er still gewesen. Ein bisschen pummelig, schweigsam, bis auf gelegentliche Pfeile, die er abschoss, und traurig, so hatte sie ihn in Erinnerung. Sie versuchte dieses Bild mit dem Joker zusammenzubringen, der jetzt vor ihr saß, und auf Kosten seines Freundes Nils rumwitzelte. Der wahrscheinlich noch immer der genialste Schüler war, den ihr Gymi je erlebt hatte, aber jetzt dazu noch ziemlich gut aussah. Anscheinend hatte er sein Fitnesscenter nutzbringend dazu verwendet, an den richtigen Stellen aus seinem Babyspeck Muskeln zu machen. Und die Trauer in seinem Gesicht war auch verschwunden.

Er sah ihr eine Weile beim Trainieren zu.

„Die Übung gibt dicke Möpse!“, meinte er schließlich und grinste sie an.

„Du glaubst nicht ernsthaft, dass Möpse aus Muskeln bestehen, oder?“

„Meine schon!“, antwortete er ungerührt.

Etwas passierte mit ihr. Etwas kribbelte im Bauch. Vielleicht von den Übungen, machte sie sich vor, aber sie hatte schon vor einer Woche auf der Party ein paar Mal mit ihm gesprochen, und da hatte es auch ohne Krafttraining gekribbelt. Wenn sie ehrlich war, hatte sie die ganze letzte Woche eigentlich nur auf eine Gelegenheit gewartet, um ihn endlich wiederzusehen, da war Anna mit ihrem Grid gerade recht gekommen.

„Sie hat ’nen Freund!“, fing sie nun an, obwohl das doch diesen Joker eigentlich überhaupt nichts anging.

„Dumm gelaufen für Nils!“, sagte er.

„Ne, mein ich nicht. Sie hat ’nen Freund, der an der Uni mit Rechnern zu tun hat. Der hat ihr das mit dem Grid auch nicht erklären können und hält sie deswegen für dumm. Darum sind wir zu dir gekommen. Aber du hältst sie anscheinend ja auch für doof!“

„Ich halte generell alle schönen Menschen für doof!“

Generell! Wieder so ein Satz für die Steintafeln: „Joker hält alle schönen Menschen für doof!“

„Mich auch?“, fragte Ljusja. Joker sah sie erstaunt an. Er dachte nach.

„Das war ’ne Fangfrage, und ’ne verdammt gute dazu!“, sagte er schließlich. „Egal, was ich sag’, ich komm’ da nicht mehr raus, was?“

„So ist es! Du kommst da nicht mehr raus. Nie mehr, nie!“

Mit Ljusja war in der letzten Minute eine seltsame Änderung vor sich gegangen. Sie spürte, wie ihr Herz klopfte. Sie spürte, wie sie diesem Joker Widerstand bieten wollte, bei dem was er sagte, bei dem, wie er sie ansah. Dagegenhalten, Kräfte messen. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte ihn einfach gegen die Wand gedrückt, nur mal, um zu sehen, ob sie es schaffen könnte … und dann die Arme um ihn schlingen und … ihn fragen, wer bist du? Was tust du mit mir? Ihn drücken. Ihn nicht mehr weglassen. Sein Geheimnis erkunden. Ihn an sich drücken, für immer.

Was ist das, dachte sie. Was will ich von dem? Sie sah ihn an – wie sah sie ihn an? Sie wusste es nicht, verdammt, wie soll man denn selber wissen, wie man jemanden ansieht? Aber dass sie ihn merkwürdig ansah, anstarrte, vielleicht kampfeslustig, vielleicht fordernd, das spürte sie.

Er wurde rot. Joker wurde rot! Seit sie ihn kannte, war dem doch noch nie was peinlich gewesen. Sie nahm wieder ihr wildes Üben auf der Folterbank auf, sie musste sich irgendwo festhalten, um sich nicht in ihn zu verbeißen. Mehr so psychisch gesehen natürlich. Durchs Fenster konnte sie die beiden anderen sehen. Anabell mit Nils. Aus irgendeinem Grund machte sie das traurig.

„Ne!“, sagte sie noch mal fast versonnen. „Du kommst da nicht mehr raus!“ Und dachte zugleich, spinn ich?, was rede ich denn da!

Währenddessen hatte es sich Nils neben Anabell auf der kleinen Gartenbank unter dem Vordach bequem gemacht.

Nur eine Armeslänge vor ihnen platschte der Gewitterregen herunter. Vom Boden her spritzten kleine Tropfen zurück, die an den nackten Schienbeinen kitzelten wie Fliegen.

Ein Stück entfernt hatte Joker den Bach zu einem kleinen Pool ausgeschaufelt. Man sah jetzt, wie das Wasser, durch den Wolkenbruch plötzlich lehmig braun geworden, in das Becken hineinschoss.

Keiner von beiden sagte etwas. Nils, weil er einfach zu schüchtern war, Anabell, weil sie es faszinierend fand, dem Regen zuzusehen und auch, weil sie es immer ein wenig genoss, wenn Jungs ihr gegenüber gehemmt waren.

„Ich bin oft hier!“, meinte Nils schließlich leise, „Joker und ich, wir sind schon lange Freunde.“

„Ljusja und ich auch, schon seit ich denken kann!“

Pause.

Nils sah sie von der Seite an. Verflucht, war die hübsch. Wie ein Model. Er konnte gar nicht richtig denken, dabei wollte er ihr doch … was war das noch? Ach ja, das Grid.

„Also, das Grid …“, begann er.

„Du bist aber nicht bei uns auf der Schule, oder?“

„… äh, ne. Realschule. Ich hab’s nicht so mit Lernen.“

„Aber Grid und so …?“

„… alles was mit Computern zu tun hat, kann ich wirklich gut. Vielleicht mach ich ja mein Abi später noch nach.“

Er sah sie an.

Er hat hübsche Augen, dachte sie. Augen sind die Hauptsache. Und ein hübsches Lachen.

„Also, Grid …“, begann er noch mal. „Stell dir einfach vor, du hast einen Haufen Rechner, die in einem Netzwerk zusammengeschaltet sind, okay?“ Sie nickte. „Jetzt nimmst du eine Gruppe von schnellen Rechnern, die möglichst alle immer laufen, und verbindest die mit schnellen Leitungen, durch die also viele Informationen in kurzer Zeit durchpassen.“ Er sah sie fragend an, wollte wissen, ob sie verstanden hatte. Sie nickte wieder.

„Also, dann ist das unser Cluster, von dem Joker gesprochen hat, ein Cluster ist ein Haufen, ja? Und wenn du auf deinem Rechner jetzt etwas rechnen willst, etwas sehr Umfangreiches, etwas Hochkompliziertes, wofür du eigentlich einen Hochleistungsrechner bräuchtest, dann borgt sich dein Rechner einfach die Rechenleistung der anderen aus, die gerade nicht belegt ist.“

„Kapier ich nicht!“, meinte Anabell und schüttelte den Kopf.

„Na ja, wie soll ich das erklären ... Nimm zum Beispiel ein 3D-Spiel. Oder die Wetterkarte, oder einen Routenplaner. Da brauchst du einen Haufen hochkomplizierter Berechnung, tausende, Millionen davon. Und anstatt die alle auf einem Rechner stundenlang hintereinander zu bearbeiten, schickt sie dein Rechner über das Grid zu allen angeschlossenen Rechnern, fragt zum Beispiel an‚ ‚habt ihr vielleicht gerade den Kopf frei, für ein paar tausend Rechnungen?’, dann antworten die ‚ja’, oder ‚nein’, oder ‚nicht mehr als fünfhundert’, und je nachdem kriegen sie etwas geschickt, rechnen, und schicken zurück – jetzt gecheckt?“

Sie nickte zaghaft.

Der Regen hatte aufgehört. So schnell, wie er gekommen war, war er auch wieder verschwunden. Die Sonne stach schon wieder unter den grauen Wolken hindurch.

Ein Schwarm Tauben rauschte synchron durch den Himmel.

„Schau!“, sagte Nils, der sehr wohl gemerkt hatte, dass Anabell noch nicht wirklich verstanden hatte, worum es ging. „Schau die Tauben da an. Glaubst du, eine einzelne weiß immer, wohin alle fliegen wollen, und steuert den Schwarm? So ist es nämlich nicht!“

„Sondern?“

„Das muss man sich wohl so vorstellen: Die stimmen sich über Flügelbewegungen, Kopfbewegungen, über irgendetwas eben ab, so ganz erforscht ist das noch nicht. Es werden laufend in der Gruppe schnelle Informationen ausgetauscht. ‚Ich flieg jetzt links’ – ‚mach ich mit’ – ‚schau da unten, Futter’ – ‚sehe ich’ – ‚nichts wie runter’. Lauter schnelle Informationen, über die nicht jede für sich nachdenkt, sondern Einzelüberlegungen, die in ihren Ergebnissen ständig ausgetauscht werden und die in ihrer Gesamtheit ergeben, dass die Tauben alle zusammen synchron fliegen, wie ein einziges Tier mit nur einem Hirn. Na ja, war vielleicht ein komisches Beispiel …“

„Nein, fand ich süß. So was kapiere ich eher!“

„Wie eine Gruppe Menschen in einem Team – einem guten Team. Jeder ist auf der Höhe des Problems, macht sich seine Gedanken, sie sind immer in Kontakt miteinander. Zusammen sind sie stark, die alte Geschichte.“

Sie nickte.

Das war es also, womit Robert sich beschäftigte, Teamarbeit von Computerhirnen. Anabell fand es nicht übermäßig aufregend. Verbundene Computer, okay. Keine Ahnung, warum der so ein Aufheben davon machte.

Wenn ich jetzt diesem Nils sage, dachte sie, dass ich das nur wissen musste, weil ich meinen Freund Robert nicht enttäuschen wollte, findet der das bestimmt nicht lustig. Muss ja vielleicht auch nicht sein.

„Manchmal baden wir da drin!“, sagte er, und zeigte zu dem kleinen geschaufelten Becken.

„Iiih! In dem Dreck?“

„Wenn der Bach nicht so wild strömt, ist es ganz sauber – na ja, ziemlich jedenfalls. Die Füße versinken immer im Schlick, da muss man sich dran gewöhnen.“

„Wär’ nichts für mich. Sind da Viecher drin?“

„Klar, Piranhas, Haie, Seeschlangen, Krokodile! Man muss schon ein bisschen aufpassen!“

„Idiot!“, rief sie und stupste ihm mit dem Ellenbogen in die Seite. Er sprang auf und fuchtelte vor ihrem Gesicht mit seinen Tentakeln herum: „Und Riesenkraken und geflügelte Drachen und Würgeschlangen, Skorpione – und weiße Zwergpudel!“

Sie lachte. Seit diesem Streit mit Robert das erste Mal, dass sie wieder richtig lachte. „Weiße Zwergpudel?“

„Klar“, meinte er und setzte sich wieder, „weiße Zwergpudel sind doch die ekelhaftesten Kreaturen, die man sich vorstellen kann, findest du nicht?“

Anabell sah auf seine Hände, die eben noch vor ihrem Gesicht die Welt der wilden Kreaturen und weißen Zwergpudel gegeben hatten. Dann fiel ihr Blick auf seine Uhr. Scheiße, schon fast sieben. Sie war um acht mit Robert verabredet. Und sie musste sich noch umziehen. Sie sprang auf.

„Ich hab die Zeit vergessen!“, rief sie. „Ich muss heim!“ Sie wollte zur Tür und Ljusja Bescheid sagen, dass sie schleunigst gehen mussten, sie hatten ja nicht mal die Fahrräder mitgenommen, aber Nils hielt sie zurück.

„Ich kann dich fahren, wenn du willst!“, bot er an. „Wo wohnst du denn?“

Sie nannte die Straße und es stellte sich heraus, dass Nils in derselben Gegend wohnte, nur drei Straßen entfernt. Aber er sah nicht aus, als dürfte er schon fahren.

„Hast du denn ‘n Auto?“

„’ne Vespa – und ich hab einen zweiten Helm im Staufach, hab ich immer, für Joker und so.“ Anabell öffnete die Tür zum Gartenhaus. Dort saß Ljusja, heftig schwitzend, an dieser komischen Muskelmaschine und Joker zählte jede Wiederholung mit.

„Ljusja, ich muss weg. Ich hab’ die Zeit ganz vergessen. Nils fährt mich!“ Und als Ljusja innehielt und sie merkwürdig ansah – der hat doch keinen Führerschein, der ist doch nie achtzehn, hieß der Blick –, ergänzte sie: „Auf seiner Vespa!“

Ljusja ließ die beiden gehen. Armer Nils, dachte sie. Vespa! Auf nassen Straßen. Der weiß bestimmt nicht, dass Anabell sonst trockene Füße in einem GTI gewohnt ist. Jede Wette, dass sie ihm kein Wort von Robert erzählt hat.

„Und was ist jetzt?“, fragte Joker. „Du hast erst vierzehn. Du hast gewettet, du schaffst fünfundzwanzig!“ Ljusja war schon völlig außer Puste, ihr taten die Arme weh wie Hölle. Aber sie riss sich zusammen und machte die fünfundzwanzig Übungen voll. „Respekt!“, sagte er nur, dabei hatte er dagegen gewettet. Ich hätte ja wenigstens mal einen Kuss einsetzen können, dachte sie.

„Brauchst du ‘n trockenes T-Shirt?“

„Ne, lass mal. Ein Handtuch reicht.“ Er gab ihr eines von seinen Handtüchern. Es roch nach ziemlich lange nicht mehr gewaschen. Joker, Joker, ich muss dir noch einiges beibringen, dachte sie. Und dann merkte sie wieder, wie es ihr den Magen zusammenkrampfte, wenn sie ihn nur ansah.

Sie trocknete sich Arme und Gesicht ab, dann warf sie ihm das Handtuch über den Kopf. Er sog die Luft ein, als wollte er ihre Witterung aufnehmen.

„Ich geh dann auch mal, Joker!“

Er nickte, wollte sich zurück zu seinen Computern drehen.

War das seine Art „Tschüss“ zu sagen? Hatte der gar nichts gemerkt, der Idiot?

„Kann ich wiederkommen?“

„Weiß ich nicht, ob du kannst. Oft will man können und kann nicht, und dann kann man wollen was man will, und kann nicht können.“

„Idiot! Ob ich wiederkommen darf, meine ich?“

„Wenn dir danach ist!“, meinte er ungerührt.

Sie machte einen Schritt auf ihn zu, wollte die Arme um ihn legen und sich mit Küsschen von ihm verabschieden. Aber konnte es nicht. Konnte es einfach nicht, verdammt. Sie tippte ihn nur leicht an der Schulter an, dann drehte sie sich um und ging.

Oft will man können und kann nicht.

Draußen roch es nach Sommer und Hitze und Gewitter und Blüten und süßem Honig, diese unglaubliche Mischung, die man nur nach Sommergewittern riechen kann und die einen ganz wuschelig im Kopf macht.

So riecht die Liebe, dachte Ljusja. Und: Was für ein blöder Gedanke, dachte sie auch noch. Die Liebe! Mach keinen Fehler, Ludmilla Heinrich. Das ist ein Durchgeknallter, ein Freak. Einer mit drei Köpfen, jeder zweimal so schlau wie deiner. Scheiße, der Typ hat mich total durcheinander gerührt. Und merkt es nicht mal.

Dann morste ihr Handy „ . . . - - . . . “ das Zeichen für „SMS“.

Sie nahm es aus der Tasche. Natürlich von Anabell.

„Sorry für den blitz aufbruch. Mach nichts dummes – a.“

Sie tippte „Dito“ ein, ihre übliche Kurzformel für „Du auch nicht!“

Ljusja wohnte immer noch in dem Mietshaus in der Innenstadt, in dem früher einen Stock höher auch Anabell mit ihren Eltern gewohnt hatte. Es war nicht allzu weit von Jokers Hütte bis zu Heinrichs nach Hause und sie joggte die ganze Strecke, um ihren Kopf frei zu bekommen. Sie lief durch den Gang, rief ihrer Mutter vor dem Fernseher ein “Hi“ ins Wohnzimmer und ging in ihr Zimmer. Dort drehte sie ihre Musik laut auf und schmiss sich aufs Bett.

Sie wusste nichts mehr. Gar nichts. Ob sie traurig war oder fröhlich, ob sie glücklich war oder übermüdet. Ich muss irgendwann in Ruhe darüber nachdenken, dachte sie. Bloß nicht jetzt. Aber natürlich tat sie nichts anderes. Den ganzen Abend lang, fast die ganze Nacht lang, den ganzen nächsten Morgen dachte sie nach. Dachte über Joker nach. Joker und sich. Sich und Joker. Verdammt!

Anabell saß hinten auf dem kleinen Soziussitz der Vespa und klammerte sich an Nils fest. Sie war noch nie Vespa gefahren, noch nie Motorrad, noch nie Moped, noch nicht einmal Mofa. Und nun stellte sie fest, dass es verdammt schön war. Es summte unterm Hintern und die Welt zog vorbei, wie in einem wunderbaren Film. Es roch nach Sommerregen und Blumen, der Duft wehte in den Helm hinein und gab ihr das Gefühl, ein Teil von alledem zu sein, ein Teil von dieser Welt, von dieser schönen, wunderbaren Sommerwelt. Weil sie ein bisschen Angst hatte runterzufallen, hielt sie ihre Arme fest um den Jungen da vorne geschlungen. Sie spürte seinen Brustkorb und seinen festen Bauch. Wenn sie sich ein wenig nach vorne neigte, konnte sie ihren Helm auf seine Schulter legen, und auch das war irgendwie nicht schlecht.

Ihre Eltern hielten Zweiräder generell für zu gefährlich, Fahrräder vielleicht mal ausgeschlossen. Um daher jeden Stress zu vermeiden, klopfte sie Nils eine Querstraße vor ihrem Haus auf die Schulter.

„Lass mich hier bitte runter – ich lauf den Rest!“, rief sie. „Sonst zickt meine Mutter wieder rum!“ Er ließ sie absteigen, sie gab ihm den Helm zurück. Sie hätte ihm ein Küsschen gegeben, irgendwie war ihr danach, er war nett, aber er hatte diesen Helm auf. Und weil das einzige unbedeckte Stückchen Nils seine Wange war, strich sie ihm leicht mit der Fingerkuppe darüber, als sie „Tschüss und Danke“ zu ihm sagte. Und merkte plötzlich – und er merkte es auch, sie sah es an seinem erstaunten Blick – dass dieses zärtliche Streicheln viel mehr war, als diese Küsschen links-rechts, mit denen sie jeden und jede begrüßte und verabschiedete.

„Sehen wir uns mal wieder?“, fragte er. Aber sie wollte darauf nicht antworten. „Ich fand das schön, wie du dieses komische Grid mit dem Vogelschwarm erklärt hast!“, sagte sie einfach. Dann ging sie.

Zehn Minuten später, sie hatte sich gerade etwas anderes angezogen, kam Robert vorbei. Er stieg nicht aus, sondern hupte. Sie sprang zu ihm ins Auto, küsste ihn flüchtig.

Sie aß nicht viel an diesem Abend. Sie aß nie viel. Sie war sich sicher, sie würde sich nicht wohl fühlen, mit Fett irgendwo am Körper. Also nahm sie keinen Nachtisch, kein Tiramisu, kein Eis. Nur einen Espresso ohne Zucker.

„Das mit dem Grid habe ich jetzt verstanden!“, fing sie an, als er auf die Rechnung wartete. „So?“, fragte er.

„Es sind verbundene Computer. Sie arbeiten zusammen. So wie in einem Vogelschwarm alle Gehirne gemeinsam über die Richtung nachdenken – so ist es doch, oder?“

Er sah auf. „Wer hat dir denn den Blödsinn erzählt? – Vogelschwarm!“

Einen kurzen Moment lang wollte sie ihm sagen, dass es Nils war. Ein schüchterner hübscher Junge, der vielleicht nur ein paar Tage älter war als sie, sogar ein paar Zentimeter kleiner, der eine Vespa hatte, und keinen GTI und dem sie mit dem Finger über die Backe gestreichelt hatte, wie sie das noch nie bei einem Menschen getan hatte. Wollte ihm das einfach so hinknallen, ihrem großen Robert. Aber dann sagte sie: „Hab’s aus dem Internet!“

„War klar! Internet! Wenn du über irgendwas den allergrößten Blödsinn erfahren willst, schaust du am besten immer im Internet nach“, meinte er nebenhin, während er einen Fünfziger in die kleine Mappe mit der Rechnung schob. „Komm, wir fahren zu mir!“

„Ich weiß nicht …“, sagte sie.

„Aber ich!“, entschied er.

Zur selben Zeit lag Ljusja schlaflos auf ihrem Bett. Die Decke hatte sie weggestrampelt, es war heiß in ihrem Zimmer. Nach stundenlangem Nachdenken hatte sie eines vor sich selbst zugeben müssen: Sie hatte sich in diesen Joker verliebt. Wie, wusste sie nicht und warum, verstand sie nicht. Aber es war so! Zum tausendsten Mal zählte sie sich auf, dass er unfreundlich, unromantisch, nicht sehr umgänglich und eher wortkarg war, dass er nicht besonders hübsch war, eigentlich zu klein und zu rund, dass er keine Erziehung hatte, unordentlich war, dazu war seine Wäsche schlecht gewaschen und er selbst wahrscheinlich auch. Dass er fortwährend Menschen vor den Kopf stieß und – und das war das Schlimmste überhaupt, was sie die ganzen langen Stunden immer wieder zum wütenden Heulen brachte, wenn sie nur daran dachte – dass er selbst nämlich anscheinend überhaupt kein Interesse an ihr hatte.

Um sich zu beruhigen zählte sie dann das Andere auch noch auf: Dass er nämlich klug war. Verdammt klug. Geniemäßig klug. Das er mörderisch mutig war, zumindest mal Lehrern gegenüber. Und dass er sehr selbstständig war, jedenfalls hatte sie in seinem Umfeld noch nie was von einer Mutter oder einem Vater gehört, mal von der Information abgesehen, das dieser große Garten mit dem Holzhäuschen angeblich seinem Vater gehören sollte. Aber all das war doch kein Grund, sich in jemanden zu verlieben! Es gab tausende von selbstständigen, klugen und mutigen Menschen. Wenn sie die alle lieben würde, hätte sie was zu tun.

Sie drehte sich auf den Bauch, der Rücken war schon wieder durchgeschwitzt. Sie überlegte sich, ob sie einfach heimlich ein, zwei Wodka aus dem Schnapsschrank ihrer Eltern trinken sollte und dann einschlafen. Aber das hätte Ärger gegeben. Auf der Joker-Party hatten alle ziemlich getrunken, oder mehr als “ziemlich“. Nur Joker nicht. Er trinke nie, hatte jemand behauptet. Macht die berühmteste Party der Stadt und trinkt selbst keinen Tropfen.

Sie wusste genau, was Anabell ihr erzählen würde. Einen blöderen Typ kannst du dir wohl nicht aussuchen, was? Eine durchgeknallte Couch-Potatoe. Der wird dich nie mehr lieben als seinen Rechner. Da musste die gerade was sagen! Sie würde Anna einfach nichts erzählen. Oder erst, wenn es nicht mehr zu ändern wäre. Die Stimmen in ihrem Kopf waren so laut und wild. Kann man ja nicht einschlafen, dachte sie bitter, ist ja wohl kein Wunder. Sie wühlte ihren Kopf unter das Kissen, damit es aufhörte. Und dann spürte sie plötzlich, dass dieses Kissen auch seine Hände sein könnten. Die ihren Kopf umfassten und sie streichelten. Und sie rutschte noch ein bisschen näher hin, und spürte seine Brust und seinen Bauch. Das war bestimmt kein Speck, wie es auf den ersten Blick aussah. Das waren ziemlich harte Muskeln. Und sie spürte seine Arme um sich und er hatte Kraft und drückte sie. Das ging durch und durch. Das machte sie schon in ihrer Fantasie ganz fiebrig. Sie stellte sich vor, wie es sein könnte, wenn es Wirklichkeit wäre. Das und mehr.

Aber konnte man mit so einem überhaupt zusammen sein? War das nicht wie … ja wie? Sie musste zugeben, dass sie keine Ahnung hatte.

Sie stand auf, ging ins Bad und trank einen Zahnputzbecher voll kaltem Wasser. Dann öffnete sie ihr Fenster weit, sollten die Mücken doch reinkommen, auch egal, war sie wenigstens nicht mehr allein.

Sie war sich sicher, einer wie Joker brauchte jemanden, der ihn ein wenig an der Hand nahm. Er war selbstständig und genial, das schon, aber auf eine andere Art auch komplett hilflos. Sie war sicher, dass er einfach nicht wusste, wie man mit anderen anständig umging. Wie man mit einer Freundin umging. Mit einer möglichen Freundin. Menschen waren eben nicht wie Computer, und das hatte er anscheinend noch nicht gecheckt. Der brauchte einfach jemanden, der ihn verstand, ihn so nahm, wie er war, und doch durchs Leben führte. Er würde Geniales leisten in seinem Leben, dieser Joker, da war sie sich ganz sicher, aber er würde über kurz oder lang jemanden brauchen, der ihn auf dem Boden hielt und aufpasste, dass er nicht davon schwebte.

Und mit einem Mal war ihr klar, was sie zu tun hatte. Sie würde ihr Leben mit Johannes Seitz, genannt Joker, verbringen. Sie würde ihm einfach klar machen, dass sie die Richtige für ihn war. Ein für alle Mal. Jetzt, morgen und für immer.

Sie setzte sich auf. Ihr Radiowecker zeigte viertel nach zwei. „Joker, mein Geliebter“, flüsterte sie. „Ich bin auch stark, sehr stark. Vergiss nicht, Joker, dass ich Russin bin. Und Russen sind generell stark. Stark und schlau! Selbst schöne Russen sind schlau. Denk an die Klitschkos. Die sind stark und schön und schlau. So sind Russen. Und ich bin auch Russin, Joker, falls du das nicht wissen solltest! Jedenfalls eine halbe. Auch eine halbe Russin ist noch stark genug für dich. Du weißt es noch nicht, Joker, aber du wirst dein Leben mit mir verbringen. Unser Leben! Unser ganzes, schönes, langes Leben. Du kommst da nicht mehr raus!“

Sie ließ sich glücklich nach hinten umfallen, zog die Decke über sich und schlief endlich ein.

Anabell saß mit ihrer Mutter und Chris beim Frühstück. Der Vater war schon zur Arbeit, sie hatte ihn gerade noch an der Garage getroffen, als Robert sie morgens vor dem Haus abgesetzt hatte. Natürlich wussten die Eltern, wo sie gewesen war. Sie schwiegen dazu, aber sie ließen sie spüren, dass sie es nicht gut fanden.

Nur Chris musste natürlich wieder eine seiner vorlauten Bemerkungen machen: „Warst du wieder bei deinem Computerstudenten?“ Chris war der einzige, der Robert irgendwie toll fand. Zumindest imponierte ihm mächtig, dass er schon studierte. Sonst fand niemand ihn als ihren Freund gut. Weil er schon so alt war, und so ernst. So erwachsen. Was sollte das heißen? War sie vielleicht noch ein Kind? Und trotzdem begann sie langsam selber zu merken, dass die Sache nicht optimal lief. Aber was sollte sie ihrer Mutter sagen? Dass alle recht gehabt hatten und sie eigentlich mit ihm Schluss machen sollte – vielleicht wollte – vielleicht würde?

Sie ging auf ihr Zimmer. Sie simste an Ljusja:

„Bin gegen 12:30 mit robert in der mensa, hast du auch hunger?“,

aber es kam keine Antwort. Wahrscheinlich schlief Ljusja noch. Sie würde eh nicht kommen. Wegen Robert. Anabell stellte sich den Wecker auf halb zwölf und kroch, angezogen wie sie war, unter ihre Bettdecke. Bloß weg hier, dachte sie und schlief ein.

Ljusja wachte erst gegen Mittag wieder auf. Sie brauchte eine Weile, um sich in dem Tag und ihren Gedanken zurechtzufinden, dann ging sie ins Bad. Sie sah sich in die Augen. Ich! Nur ich! Heute nur ich! Ich bin toll!, dachte sie. Und holte tief Luft. Sie duschte lange und ausführlich, wie sie es sonst nie tat, und versuchte dann, ein wenig Rouge aufzulegen. Es sah so bescheuert aus, dass sie es wieder abwusch. Aber sie nahm ein Tröpfchen Parfüm hinter jedes Ohr, das schon.

Auf ihrem Handy las sie Annas SMS. Mensaessen mit dem Traumpaar! Bestimmt nicht! Also würde Anna den Tag mit ihrem Robert verbringen, auch gut. Sie könnte später immer noch antworten. Aber dann dachte sie an das, was sie sich in der Nacht vorgenommen hatte und schrieb:

„Ich geh zu joker! Aber wenn jemand fragt – ich bin heute nacht bei dir! lu“

„Ich geh zu Anna!“, rief sie ihrer Mutter zu, die sie in der Küche rumoren hörte.