Perfekt Geklont - Reinhold Ziegler - E-Book

Perfekt Geklont E-Book

Reinhold Ziegler

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Beschreibung

Eine Welt ohne Menschen, die einzigen Überlebenden sind kleinwüchsige Klone. Sie vegetieren in den Resten dahin, die ihnen die Menschheit hinterlassen hat. Doch wie ist es dazu gekommen? Was ist das geheimnisvolle Bottom und was ist 200 Jahre zuvor im Jahre 2010 der menschlichen Zeitrechnung passiert? Eine Untergrundorganisation, die die Gleichgültigkeit der Herrschenden nicht teilt, wählt Aurun und Mexan, zwei junge Klone, aus, eine große Reise zu wagen. Eine Reise, die sie nach Norden führt und in eine Vergangenheit, wie sie überraschender und spannender nicht sein könnte ... AJuM (Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien der GEW): Eine philosophisch orientierte Erzählung, die viele Denkanstöße gibt, diese aber in ein spannendes Abenteuer einbindet, so dass die Botschaft wohl ankommt und mehr Leser erreicht, als es ein Sachbuch zu diesem Thema könnte. – sehr empfehlenswert –

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In der Welt der Menschen geschah, was geschehen musste, weil die Menschen so waren, wie sie immer schon waren.

Die Gemeinschaft der Kleinen Leute ist anders. Denn diese kleinen Menschen, die Kleinen Klone, sind anders. Anders als die großen Menschen waren.

Sie sind kleinwüchsige, großköpfige Geschöpfe ohne Geschlecht. Mit acht Jahren sind sie ausgewachsen und dann werden sie alt – sehr alt.

Hass und Angst, Aufregung und Verzweiflung sind ihnen fremd.

Sie scheinen intelligent, rational und vernünftig.

Zeitgemäß gesagt: cool – so cool, wie die großen Menschen es immer sein wollten.

1

Aurun, das junge Klon, kannte die Unterschiede zwischen Klonen und Menschen nicht. Wie sollte es auch? Menschen hatte es nie getroffen, denn in dieser Welt des Jahres 244 neuer Zeit gab es den Megahomo sapiens nicht mehr. Aurun kannte nur, was um es und was in ihm war und das war bisher einfach zu verstehen und leicht überschaubar gewesen.

Aber an diesem schier endlosen Tag im Frühjahr lernte Aurun – ohne es zu wissen oder zu begreifen – etwas von den Gefühlen kennen, welche die Menschen einst umtrieben. Es war die Verwunderung, die Menschen immer dann ergriff, wenn sie unerwartet Neues erlebten. Und das Entsetzen, das sie manchmal dann befiel, wenn sie erkannten, was es war.

Der uralte Bus schlingerte in Schlangenlinien um die gröbsten Schlaglöcher. In andere krachte er mit lautem Getöse, sodass Aurun die Kiefer fest aufeinander beißen musste, um keinen Zahn zu verlieren.

Der kleine Fahrer thronte auf einer Sitzerhöhung, damit er über das Lenkrad schauen konnte. Die Pedale hatte man mit primitiven Stangen und Hebeln bis zur Höhe seiner Füße verlängert. Bei jedem Schlagloch krallte er sich am Steuer fest, um nicht von seinem wackeligen Thron geschleudert zu werden.

Das blonde, siebenjährige, schon fast erwachsene E-Klon Aurun saß mit angezogenen Knien quer auf einem Sitz. Es klammerte sich mit seinen winzigen, wurstigen Fingern an die verrosteten Rohre der Sitzgestelle. Die kurzen Beine hatte es auf das Polster gelegt und stemmte sich mit den Füßen gegen eine der Stangen. Derart verkeilt konnte es sich einigermaßen sicher an seinem Platz halten. Und außerdem befand sich so die hohe Lehne der Sitzbank vor ihm wie ein Schild zwischen Aurun und seinem Preklon Elbon, welches ununterbrochen auf es einredete.

„Du wirst sehen, man kümmert sich dort um dich … Es wird schon seinen Sinn haben … So etwas wird nicht verfügt, wenn es keinen Sinn hat …“

Aurun starrte auf seine Fußspitzen, dann auf die gegenüberliegende Scheibe. Durch das Fenster konnte man zwischen Kratzern, Dreck und Schmierereien die Ruinen der großen Stadt erkennen. Zeit seines Lebens hatte das junge Klon noch nichts anderes gesehen als diese braunen Ziegelfassaden mit verrotteten Rahmen und zerborstenen Fensterscheiben, diese verrosteten Stahlskelette, von denen zum großen Teil die Betonverkleidungen abgefallen waren, und dazwischen die riesigen Schutthaufen, die entstanden waren, wenn einzelne Hochhäuser nach langen Jahren des Verfalls schließlich in sich zusammengestürzt waren.

Trotzdem kam es ihm auf dieser Fahrt so vor, als erblicke es all dies zum ersten Mal. Verwundert meinte es plötzlich zu fühlen, wie trostlos dieser Ort war. Meinte zu spüren, wie gefühllos die riesigen Ruinen mit ihren glaslosen Fenstern auf ihn hinunter starrten. Meinte zu erkennen, wie selbst die Straßen, die doch eigentlich dem Vorwärtskommen dienen sollten, jeden Passanten mit ihren Löchern, Gräben und Schutthaufen dort für immer festzuhalten suchten, wo er gerade war.

Aurun sah, fühlte, spürte, erkannte.

Bemerkte Verwunderung.

Warum war ihm das alles noch nie wirklich aufgefallen? Warum hatte es bisher immer alles nur so gesehen, wie es war: Ein Stein war ein Stein. Viele Steine waren ein Steinhaufen.

An diesem Tag aber sah es mehr: Ein Steinhaufen war ein zusammengefallenes Haus. Und jemand hatte dieses Haus einmal erbaut, bewohnt, geliebt, verloren. Mit einem Mal erfühlte das junge Klon die Geschichten hinter den Steinhaufen und es wunderte sich, denn Fühlen war kleinen Klone fremd – eigentlich.

Aurun war auf dem Weg in das so genannte Separationshaus. Dieses Haus sei ein Hochhaus, hatte es gehört. Aber eines von der besseren Sorte, sagte man. Genaueres war nicht zu erfahren, Gemunkel nur. Kein Gefängnis, aber geschlossen, ja. Nicht offen auf jeden Fall. Mehr wusste keiner, wollte keiner wissen.

Und es lag mitten in der großen Stadt, weit entfernt von dem Viertel, in dem Aurun sein bisheriges Leben verbracht hatte. Bisher hatte es nur dreimal mit seinem Preklon Elbon umziehen und sich ein paar Blocks weiter eine andere Unterkunft suchen müssen.

Man bewohnte eine Wohnung so lange, bis sie nicht mehr zu bewohnen war. Bis sich keine Glasscheiben mehr finden ließen, die groß genug waren, um sie über die Löcher in den Fenstern zu pappen, oder bis es keine Tür mehr gab, die man noch absperren konnte, weil alle Scharniere aus den morschen Rahmen gefallen waren. Mancherorts brachen Betten oder Schränke zusammen, in anderen Häusern zerbarsten die alten Wasserleitungen, bei wieder anderen stürzten von Regenfällen aufgeweichte Decken ein. Gelegentlich begruben sie einige der Bewohner unter sich, zumindest aber trieben sie alle diejenigen auf die Straße, die bisher dort untergekommen waren.

Aber wenn es dann so weit war, gestaltete sich die Suche nach einer neuen Bleibe nicht schwierig, meist endete sie irgendwo in der Nähe. In dieser riesigen Stadt lebten so wenige Klone, dass sich für jeden immer schnell wieder ein Plätzchen fand. Keine große Sache eigentlich, es gäbe Schlimmeres, hatte das Preklon jedes Mal bemerkt. Und ohne große Umstände hatten sie sich in einer anderen, besseren Wohnung eingerichtet.

Diesmal aber geschah etwas anderes. Diese ungewisse Geschichte mit der Separation verwirrte das junge Klon. Und obwohl es sich immer wieder mit ganz ähnlichen Sätzen zu beruhigen versuchte, wie sie das Preklon da eine Sitzbank weiter vorn unaufhörlich brabbelte, spürte Aurun plötzlich etwas in seinem Nacken. Ein Gefühl, das es bisher noch nicht gekannt hatte. Es war, als wenn eine eisige Kralle es dort packte und – so, wie der Bus es gerade äußerlich mit Auruns kleinem Körper tat – wieder und wieder schüttelte.

„Was ist nur los mit dir?“, murmelte eine Stimme in Auruns Kopf. Und ihm fiel auf, dass dieser Satz es die ganzen letzten Wochen hindurch begleitet hatte.

„Was ist los mit dir?“

Irgendetwas hatte sich in ihm verändert, das konnte es spüren. Warum war nichts mehr wie früher?

Elbon half ihm nicht weiter. Gab allenfalls Sätze von sich wie: „Es ist eben, wie es ist, Aurun!“

Aber vielleicht wusste das Preklon selber nicht Bescheid. Oder es wollte nichts wissen.

Veränderungen, Beunruhigungen, Stimmen im Kopf. Jetzt diese Separation. Eine Trennung vom Preklon. Und von allen anderen Wesen, die Aurun kannte. Wenn es darüber nachdachte, dass es am Ende dieser Busfahrt allein auf dieser Welt sein würde, merkte es, wie die seltsame Kralle in seinem Nacken fester zupackte und noch heftiger schüttelte. Es stemmte sich ein wenig im Sitz nach oben, um sein Preklon zu sehen.

Das Preklon bemerkte es und nickte ihm zu, ohne in seinem Redefluss zu stocken: „… wenn es verfügt wird, hat es seinen Sinn. Sonst würde man es nicht verfügen. Es verursacht der Gemeinschaft der Kleinen Leute hohe Kosten, dich dort unterzubringen. Man würde das nicht tun, wenn es keinen Sinn hätte. Wir sind der Gemeinschaft dankbar, dass dies geschieht. Wir müssen dankbar sein. Es soll ein schönes Haus sein. Du wirst sehen …“

Aurun ließ sich wieder auf den Sitz zurücksinken. Das Preklon redete manchmal viel, wie alle E-Klone, aber so ohne Unterlass wie auf dieser Fahrt? Das war nicht seine Art. Aurun wunderte sich darüber.

Es wunderte sich und spürte zugleich, dass dieses Sichwundern, das Fragenstellen und Grübeln in Zukunft fest zu seinem Leben gehören würden.

Plötzlich blieb der alte Bus mit einem Ruck stehen.

„Aussteigen!“, rief der Fahrer.

Aurun sah nach vorne. Dort war die Straße von großen Schutthaufen versperrt. Aurun und sein Preklon Elbon rutschen von ihren Sitzen auf den Boden und liefen zum Fahrer vor.

„Wir müssen hier hin!“, sagte Elbon und hielt dem Klon, das den Bus gesteuert hatte, den Bescheid mit der Adresse des Separationshauses vor die Augen.

Das Klon zeigt auf den Schutt vor ihnen. „Da drüber und dann weiter geradeaus!“, sagte es.

Die beiden mühten sich aus dem Bus – für einen Klon war das ein mächtiger Sprung, von der letzen Stufe bis zum Boden. Der Fahrer warf ihnen die Tasche hinterher, in der alles verstaut war, was Aurun gehörte. Viel war es nicht. Sie nahmen sie, jeder an einem Henkel, und hievten sie den Haufen aus Steinen und Abfall hinauf.

Als sie oben waren, sahen sie, dass auf der anderen Seite ein Weißer stand.

Weiße – so nannte man die X-Klone, die seit einigen Jahren für Ruhe und Ordnung in der Gemeinschaft der Kleinen Leute sorgten. Sie hatten eine sehr helle, fast durchsichtige Haut, keine Haare und trugen immer, wie eine Uniform, riesige weiße T-Shirts. Sie reichten bis zum Boden und wurden am Bauch von einem Gürtel gehalten, der genauso rot war wie ihre Augen.

„Gegrüßt!“, sagte das weiße Klon und hob die Hand zum Zeichen, dass sie stehen bleiben sollten.

Die beiden antworteten mit der unter den Kleinen Leuten üblichen Gruß- und Vorstellungsformel:

„Gegrüßt, Elbon Ebanan!“

„Gegrüßt, Aurun Ebanan!“

Das Weiße ließ die Hand sinken: „Es gibt hier keinen Durchgang, Sperrzone!“

„Aber wir müssen dort hin!“, rief Elbon und hielt dem Weißen den Separationsbescheid unter die Augen. Es las kurz, dann musterte es die beiden.

Sie sahen für Klone ganz normal aus. Man suchte sich zum Anziehen zusammen, was man fand, Hemden, Jacken, Hosen, Mäntel, Kleider, und schnitt ab, was zu lang war. Durch die lange Fahrt wirkten sie vielleicht ein wenig abgerissener und verdreckter als sonst, aber das störte in dieser Welt aus Schutt und Zerfall niemanden.

Das weiße Klon hatte lediglich die Aufgabe, alles zu melden, was an diesem Kontrollpunkt hinter dem Schutthaufen außer der Reihe war, und so kontrollierte es brav alles, was es sah, nur um dann festzustellen, dass nichts Anormales daran zu finden war. Es nahm ein kleines Gerät hoch und drückte es erst Elbon und dann Aurun gegen das linke Schlüsselbein. Es las die Nummer auf dem Gerät, verglich sie mit der Nummer auf dem Separationsbescheid und hielt dann Elbon mit einer Geste zurück.

„Es kann gehen, Sie nicht!“, sagte es und bedeutete Aurun mit dem Kopf weiterzugehen.

„Aber warum?“, fragte Aurun erschrocken.

Das Weiße sah es an: „Sicherheits-Sperrzone um das Separationshaus! Sicherheits-Sperrzonen dürfen nur von dem Personenkreis betreten werden, der sich durch eine schriftliche Anordnung zum Betreten der Sperrzone legitimieren und durch Auslesen seiner Chipnummer identifizieren kann!“

Aurun sah Hilfe suchend zu Elbon, das nun eifrig nickte: „Da siehst du, es ist für alles gesorgt. Man kümmert sich um deine Sicherheit. Du kannst jetzt gehen, du findest es. Es ist gleich da vorne. Gegrüßt!“

„Gegrüßt!“, murmelte Aurun und sah, noch immer entsetzt, seinem Preklon Elbon nach, das sich rasch umgedreht hatte und nun hinter dem Schutthaufen wieder verschwand.

„Es ist dort hinten! Das weiße Haus!“, sagte das weiße Klon und schob Aurun weiter.

Aurun stockte der Atem. Das Haus dort hinten war riesig und so hoch, dass es mit seiner Spitze an den Wolken zu kratzen schien.

2

Ein anderes glatzköpfiges X-Klon mit bleicher Haut und roten Augen begleitete Aurun auf sein Zimmer. Es half mit der Tasche, ließ sich den Neubezug des Raumes quittieren und überreichte die Einweisungspapiere und die Hausordnung. Aurun ließ alles ein wenig eingeschüchtert über sich ergehen. Xe waren größer und kräftiger als die übrigen Klone und der Blick ihrer starren roten Augen ließ Widerspruch nicht zu. Mit lauter Stimme verabschiedete sich das Weiße förmlich: „Wie gesagt, mein Name ist Xylon Xojor. Ich bin hier der oberste Ordnungshüter. Wenn Sie noch Fragen haben, ich bin in meinem Büro neben dem Eingang – gegrüßt, Aurun Ebanan!“

„Gegrüßt, Xylon Xojor!“, antwortete Aurun höflich.

Das X-Klon ging und schloss leise die Tür hinter sich.

Nun war Aurun allein. Es sah für eine Weile wie gebannt aus dem Fenster in der 43. Ebene auf die anderen Häuser herab. Etwas war passiert und Aurun bemühte sich vergeblich, es zu verstehen.

Irgendwo dort, in diesem Häusermeer, hatte es seine ersten Lebensjahre verbracht. Wie riesig und endlos das alles war. Und dann machte es eine Entdeckung: Dort hinten, erkennbar nur als dünne Linie am Horizont, war das Meer. Das Meer!

Einmal, vor unendlich langer Zeit, wie es ihm vorkam, war es einfach allein aufgebrochen und bis zum Meer gelaufen. Hatte Wellen an eine alte Hafenmauer krachen sehen, hatte Tang gerochen, Salz geschmeckt und die Gischt auf den Wangen gespürt. Und da war es nun wieder, das Meer, ein dünner Faden, der Verbindung hielt zwischen früher und heute.

Fast versöhnt mit seinem neuen Zuhause drehte sich Aurun vom Fenster weg.

Das neue Zimmer war groß und niedrig, viel niedriger als die Räume, die das E-Klon Aurun bisher mit seinem Preklon bewohnt hatte. Alle Wände waren kalkweiß gestrichen. Die Fensterrahmen aus mattsilbernem Metall reichten bis hinunter auf den Boden, ein sicheres Zeichen dafür, dass man dieses Haus aus der Megaho-Zeit umgebaut hatte. Aus einem Stockwerk hatten sie jeweils zwei gemacht. Das reichte für die Klone, die je nach ihrer Familien-Zugehörigkeit nur zwischen einem halben und einem Meter groß waren.

Die alte, riesige Aufzugkabine jedoch hielt weiterhin nur in den alten Stockwerken, denen mit geraden Nummern, auf der Ebene 43 hielt er nicht. Man fuhr zum Stockwerk 22, Ebene 44 und stieg die Treppen zur nächsten Ebene hinab. Umgekehrt stieg man am besten auf Ebene 42 hinunter und nahm von dort den Aufzug, wenn man das Haus verlassen wollte.

… das Haus verlassen wollte – Unsinn, dachte Aurun. Darüber nachzudenken war Gedankenverschwendung. Hatte dieses X-Klon Xylon Xojor nicht gerade erklärt, dass man das Haus nicht mehr verlassen dürfe? Alles Wichtige, hatte es gesagt, stände in der Hausordnung, die zu Lesen eine Pflicht sei. Nur so viel vorweg: Niemand von den Separierten dürfe das Haus verlassen.

Aurun sah sich um. Alles sah sauber aus, frisch renoviert. Von der Decke hing an einem Kabel eine funktionierende Lampe. Eingeschaltet vergiftete sie den weißen Raum mit grellem, grünbläulichen Licht.

Unübersehbar lagen die Hausordnung und die Einweisungspapiere mitten im Raum auf seiner Tasche. Aurun nahm die Broschüre zur Hand und begann zu lesen:

Hausordnung

Erste Schritte: Kontrollieren Sie, ob die Separation zu Recht erfolgt ist, insbesondere ob die in der Separations-Einweisungsverfügung genannte Person mit Ihnen identisch ist. Vergleichen Sie alle Personendaten genau!

Aurun nahm die Einweisungspapiere.

Vorname:........................................Aurun

Zugehörigkeit:...............................Ebanan

Klon-Familie:.................................E

Klondatum:....................................17. Februar 237

Separationsdatum:.........................12. Mai 244

Grund:...........................................Mutation durch hormonelle Auffälligkeit (E-Familie!)

Separationszeitraum:.....................bis auf weiteres

Sicherheitsstufe:............................gering

Der Ausdruck bis auf weiteres bewirkte in Aurun aufs Neue dieses merkwürdig kühle Gefühl im Rücken.

Verwundert wollte Aurun sich wieder der Hausordnung zuwenden, konnte aber diesen merkwürdigen Schauder nicht gleich abschütteln. Immer wieder in den letzten Monaten hatte es dieses merkwürdige Gefühl gehabt und Aurun fragte sich, ob dies vielleicht sogar die Ursache für seine Separation war.

Es war alles sehr schnell gegangen. Ein Medizin-Klon hatte bei einer Routineuntersuchung anscheinend etwas festgestellt. Eine gewisse Hektik und Aufregung war zu spüren gewesen. Wir müssen da noch etwas zusätzlich klären, hatte man ihm mitgeteilt. Eine Visitation, eine Blutabnahme und dann zwei Tage später die Zustellung der Separationsverfügung mit dem Hinweis, sich hier in diesem Haus einzufinden.

Das Preklon hatte zusammen mit Aurun das Dokument durchgelesen. Merkwürdig, hatte es gemeint. Solche Probleme hatte ich nie. Aber es wollte Aurun auch nicht erklären, was mit hormoneller Auffälligkeit gemeint sein könnte. Vielleicht wusste es das selber nicht, dachte Aurun.

Gemeinsam hatten sie gepackt. So ist es eben, hatte das Preklon ein paar Mal gemurmelt. Wenn es so ist, wie es ist, dann ist es eben so, in vielen Variationen. Tagelang und dann die ganze Fahrt über.

Und als es sich dann vor ein paar Minuten am Schutthaufen mit diesem letzten „Gegrüßt!“ verabschiedet hatte, war bei Aurun dieses kühle Gefühl im Rücken wieder aufgetaucht.

Was ist los mit mir? Aurun schüttelte seinen Körper, aber die dumpfe Erinnerung wollte nicht verschwinden.

Hausordnung: Erste Schritte …

Aurun zwang sich weiterzulesen.

Sie werden hier nichts entbehren. Alles, was Sie brauchen, Nahrungsmittel, Kommunikation und Arbeit, wird Ihnen von der Separationsverwaltung zugeteilt werden.

Wenn Sie Hunger haben, fahren Sie bitte mit dem Aufzug in das oberste Stockwerk. Dort finden Sie unser 24-Stunden-Büfett mit lebenserhaltenden und nahrhaften Speisen und Getränken. Die Verbringung von Lebensmitteln in die Einzelräume ist untersagt.

Es wurde Abend, Aurun hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen. Es atmete tief durch.

Was ist los mit dir?, murmelte die Stimme.

Nichts!, antwortete Aurun trotzig.

Wäre doch eine gute Idee, das neue Leben mit Essen zu beginnen. Aber zuvor wollte es den Raum ein wenig einrichten.

Unter dem Stichwort Möblierung fand es in der Hausordnung eine Reihe Möbel zur Auswahl. Aurun blätterte eine Weile, dann schickte es die Bestellung durch den Hauskommunikator an die Verwaltung. Man kümmere sich darum, war die prompte Antwort. Das kleine Klon beschloss, sich zum Essen umzuziehen.

Als es ein saubereres Hemd aus dem Koffer hob, fiel die kleine Sanduhr heraus, die ihm sein Preklon vor Jahren einmal zum Zeitmessen beim Zähneputzen geschenkt hatte. Aurun hob sie auf und hielt sie gegen das grelle Licht, drehte sie hin und her. Es suchte etwas. Da! Da war es! Inmitten der Tausenden von weißen Sandkörner war ein einzelnes schwarzes Körnchen. Nur zu entdecken, wenn man mit dem Auge ganz nah heranging, wenn man wusste, es war da, irgendwo in der Menge der weißen, und wenn man geduldig danach suchte.

Oder wenn man Glück hatte. Glück, wie damals, als Aurun es entdeckt hatte. Schau mal, Elbon, hatte es sein Preklon hergerufen. Schau mal, da ist ein schwarzes Körnchen dazwischen.

Aber für Elbon hatte das nichts bedeutet. Elbon nahm die Welt so, wie Klone die Welt nehmen – so, wie sie war. Wenn in einer Sanduhr inmitten weißer Körnchen ein schwarzes war, warum nicht.

Wenn sie funktioniert, hatte Elbon gesagt, können wir sie verwenden.

Ja schon, sie funktioniert, hatte Aurun geantwortet, hatte die Sanduhr um- und umgewendet, den Sand immer wieder hinunterlaufen lassen und zugesehen. Dieses schwarze Korn, es rinnt genauso wie die weißen Körnchen, rutscht und fällt genauso, wird verschüttet und taucht wieder auf – aber es ist anders, Elbon, oder? Oder nicht? Verstehst du?

Nein, hatte Elbon gesagt, ich verstehe dich nicht. Wenn es doch funktioniert!

Als Kindklon kennt man sein Preklon noch nicht sehr gut. Man sieht nur das Wesen, das einen ernährt, das einen am Leben hält. Erst als Aurun fünf geworden war –schon fast erwachsen und genauso groß wie Elbon, fast dasselbe Gesicht, nur ein wenig jünger, denn Elbon war damals schon über dreißig – ertappte es sich manchmal dabei, Elbon zu beobachten.

Wir haben identische Gene, dachte es, so werde auch ich einmal sein. In dreißig Jahren vielleicht. Fragte sich: Hat sich Elbon nie für schwarze Sandkörnchen interessiert?

Nein nie!, hörte es die Antwort.

Nie für das Geräusch, das die riesigen Wellen des Meeres machen, wenn sie bei Sturm an die Hafenmauer aus alter Zeit donnern?

Nein, nie!

Nie für die Farben, die ein Regentag zum Leuchten bringt? Nein, nie! Nie für das Geräusch, das ein Klon beim Schlafen macht? Nie für …

Vielleicht haben sie die Zellen vertauscht, hatte Aurun dann gedacht. Vielleicht bin ich nicht aus Elbons Zelle. Vielleicht bin ich gar kein Ebanan, vielleicht nicht mal ein E-Klon.

Vielleicht gibt es irgendwo ein Klon wie mich, das immer wieder nach einem schwarzen Körnchen sucht. Vielleicht war es eine Zelle von jemand anderem, aus der ich geklont wurde. Vielleicht würde es sich lohnen, statt nach einem Körnchen, nach diesem anderen zu suchen.

Aurun ließ die Sanduhr sinken und sah aus dem riesigen Fenster. Plötzlich wurde das kalte Gefühl im Rücken ganz stark, die eisige Hand packte das kleine Klon am Nacken und schüttelte es wild, immer wieder, je mehr es über all das nachdachte. Unter den Augen und in der Nase spürte Aurun ein Brennen.

Es drehte den Kopf weg, als könnte es entkommen, wollte die Gedanken loswerden. Atmete tief, bis die Aufregung verschwand. Ruhe zog wieder in den kleinen Körper ein. Seltsame Dinge passieren heute, wunderte es sich, steckte die Sanduhr in seine Hosentasche und entschloss sich mit dem Aufzug nach oben zum lebenserhaltenden und nahrhaften Büffet zu fahren.

3

An der Tür zur Kantine stand ein glatzköpfiges X-Klon und legte Aurun den Scanner ans linke Schlüsselbein.

„Ihre Raumnummer?“, fragte es.

Aurun überlegte einen Moment. „Raumnummer? Ich glaube, ich weiß sie nicht. Ist das wichtig?“

„Ohne Raumnummer können Sie hier nicht essen!“

„Aber Sie haben doch gerade meinen Chip gescannt?“, fragte Aurun verwundert.

„Sie können ohne Raumnummer hier nicht essen, so sind die Regeln!“

Aurun versuchte sich zu erinnern. „Es ist auf der dreiundvierzigsten Ebene. Dreiundvierzig-Einhundertzwölf vielleicht? Ich weiß nicht genau, ich bin ganz neu hier!“

„Dann fahren Sie wieder runter und sehen nach, welche Nummer auf der Tür steht, die ihr Chip öffnet. Bedaure, ohne Raumnummer kein Essen!“

Hinter Aurun hatte sich eine kleine Schlange gebildet. Plötzlich kam von dort eine Stimme: „Du hast bestimmt Dreiundvierzig-Einhunderteinundzwanzig!“

Aurun drehte sich um. Ein älteres, übergewichtiges Klon stand dort, von den Gesichtszügen her wahrscheinlich ein E. Es ermunterte Aurun mit freundlichem Kopfnicken, es mit dieser Nummer zu versuchen.

„Dreiundvierzig-Einhunderteinundzwanzig“, sagte Aurun also.

Das X-Klon gab die Nummer ein. „In Ordnung!“ Es drückte die Schranke zur Seite und ließ Aurun passieren.

Unsicher zwischen all diesen fremden Klonen, die schwatzend und schmatzend an den Tischen saßen, suchte Aurun sich etwas zu Essen am Büfett aus. Dann setzte es sich an einen freien Tisch und hielt vorsichtig nach dem älteren Klon Ausschau. Aber Aurun war schon entdeckt worden. Quer durch den Raum kam das dicke Klon fröhlich dahergewatschelt, balancierte umständlich das übervolle Tablett und setzte es etwas unsanft auf dem Tisch ab. Es streckte Aurun die Hand entgegen.

„Gegrüßt! Gertran Ewinewi“, stellte es sich vor.

„Gegrüßt! Aurun Ebanan – woher wussten Sie meine Raumnummer?“

„Geraten! Ich bin auch auf Ebene Dreiundvierzig. Und die Hunderteinundzwanzig ist seit letzter Woche frei – also ganz naheliegend.“ Wieder, wie schon vorhin an der Schranke am Eingang, lächelte es. Es gab wenig Klone, die lächelten. Ungeschickt versuchte Aurun zurückzulächeln.

„Ich habe mir gleich gedacht, dass Sie ein E sind“, sagte Aurun, nachdem sie eine Weile still gegessen hatte.

Gertran lachte. „Und ich habe gewusst, dass du ein E bist!“, sagte es selbstsicher.

„Gewusst?“

Gertran nickte. „Schau, Mädchen! Ich bin einhundertzweiundsiebzig Jahre alt. Da gibt es manche Sachen, die sieht man auf den ersten Blick. Da braucht man keinen zweiten.“

Aurun starrte das alte Klon an. Es wagte nicht, zu antworten.

„Na, was ist? Erstaunt dich mein Alter? Du hast doch sicher schon gehört, dass es manche sehr Alte in einigen Klonfamilien gibt. Hast aber noch nie eines getroffen, was? Hast gedacht, Alte sehen auch richtig alt aus, was? Hat es dir die Sprache verschlagen?“

Aber es war gar nicht das hohe Alter. Etwas ganz anderes hatte Aurun erschreckt. Dieses Wort, das Gertran Ewinewi so selbstverständlich ausgesprochen hatte.

Erst nach einer Weile traute Aurun sich schließlich leise zu fragen: „Was sagten Sie zu mir? Mädchen?“

„Oh! Hab ich das? Entschuldigung! Du bist ja wirklich ganz neu hier!“ Wieder lächelte Gertran, erklärte aber nichts, sondern schlang fröhlich und gierig sein Essen hinunter. Ab und zu guckte es mit seinen kleinen, lebendigen Schweinsäuglein zu Aurun hinüber.

Etwas in Aurun riet ihm, vorsichtig zu sein. Still aß es, dann stand es wortlos auf und wollte seinen Teller wegräumen. Da hielt Gertran es zurück.

„Warte, Aurun. Ich wollte dich nicht erschrecken. Du hast nichts von mir zu befürchten. Wollen wir uns treffen, später?“

Aurun zuckte die Schultern. „Von mir aus“, sagte es matt.

„Ich rufe dich an! Morgen Früh. Sehr früh! Ist das Recht? Ich möchte dir etwas zeigen!“

„Von mir aus“, sagte Aurun wieder. „Gegrüßt!“ Dann ging es.

In dieser Nacht schlief Aurun wenig. Seltsame Dinge passierten in seinem Kopf. Schlaf doch ein, dachte es immer wieder. Was soll denn schon sein? Du schläfst ein und wachst auf und nichts ist anders. Du schläfst ein als Aurun Ebanan und erwachst als Aurun Ebanan. Du schläfst ein und die Nacht geht ihren Gang, wachst auf und …

Aber nichts ging seinen Gang. Alles war hier so anders, so fremd. Sie hatten die Möbel ins Zimmer gebracht, fremde Möbel, ein fremdes Bett, eine fremde Wanduhr mit fremden Ticken. Vor einem fremden Fenster eine fremde Welt. Fremdes Licht, fremde Gerüche, fremde Geräusche. Alles war plötzlich anders, alles! Und ich bin anders, dachte Aurun. Anders als die anderen. Warum? Warum separiert man mich? Nichts geht seinen Gang! Wenn alles anders ist und ich bin anders, dann geht doch nichts seinen Gang, oder?

Als es zum letzten Mal auf seine neue Wanduhr sah, war es kurz nach vier. Am Himmel im Osten, über dem Meer, ahnte man schon die Dämmerung.

Dann weckte es das penetrante Piepen des Hauskommunikators.

Die Stimme am anderen Ende war ohne Zweifel das alte Klon mit Namen Gertran. Ohne darauf zu warten, was Aurun müde dahinnuschelte, sagte es: „Wir machen einen Ausflug ins Grüne – ich hole dich in zehn Minuten ab!“ Dann unterbrach es die Verbindung.

Aurun sprang erschrocken aus dem Bett und zog sich etwas über. Warum gehe ich eigentlich mit, dachte es, und wohin eigentlich, wenn wir doch das Haus ohnehin nicht verlassen dürfen?

Kurz danach ertönte der Türsummer. Gertran Ewinewi stand da – lächelte. Es sah genauso aus wie am Abend beim Essen, feist und fröhlich, wirkte nicht verschlafen oder müde.

„Es tut mir so Leid!“, sagte es. „Ihr Jungklone braucht immer viel Schlaf, ich vergesse das manchmal. Aber das, was ich dir zeigen will, sieht man nur so früh – also komm mit!“

Aurun tappte müde hinter Gertran zum Aufzug in der 44. Ebene, dort drückte das Alte auf die oberste Taste, 31. Stock, Ebene 62.

„Warum fahren wir hoch?“, fragte Aurun verschlafen. „Ich dachte, Sie wollten mit mir ins Grüne?“

„Abwarten!“, meinte Gertran nur.

Als sich die Aufzugtüren wieder öffneten, standen die beiden Klone in einem muffigen, schmutzigen, dunklen Gang, von dem seitlich einige Türen abgingen. Ein paar Oberlichter ließen die Morgendämmerung durch verdrecktes, vergittertes Glas hineinsickern. Hier schien lange Zeit niemand mehr gewesen zu sein, und wenn doch, dann bestimmt nicht zum Saubermachen. Es war nicht unbedingt der Ort, den Aurun freiwillig aufgesucht hätte. Aber Gertran führte das junge Klon bis zur letzten Tür des Ganges, dann zog es einen kleinen Schlüssel aus der Tasche.

„Hab ich einem X geklaut“, sagte es. „Xe verstehen das hier oben nicht, also brauchen sie auch keinen Schlüssel, finde ich.“

Es schloss im Dunklen zielsicher die Tür auf und an der frischen Luft, die hereinströmte, erkannte Aurun, dass sie ins Freie gelangten. Ein paar Stufen führten nach oben, schnaufend stapfte das dicke Gertran voran, Aurun folgte leichtfüßig. Dann standen sie im Halbdunkel auf dem Flachdach des Hauses unter freiem Himmel.

Aurun war schon öfters auf flachen, alten Dächern gewesen. Aber hier sah es ganz anders aus, als es erwartet hatte. Keine alte, stinkende Dachpappe, kein Abfall, kein Dreck. Die ganze Fläche war von einer grünen, mit Blüten übersäten Wiese bedeckt.

„Über die Jahre und Jahrhunderte“, erklärte Gertran, „hat sich hier der Staub der Großstadt abgesetzt. Gras und Moos sind gewachsen. Und als ich das entdeckt hatte, habe ich mir erlaubt, mit ein wenig Blumenerde und Samen nachzuhelfen. Gefällt es dir?“

Aurun nickte zögernd. Es wollte sich seine Verwunderung nicht anmerken lassen.

„Es ist originell“, sagte es ohne Begeisterung. „Man meint auf einer Wiese zu stehen und steht doch hoch über den Häusern der Stadt.“

Für einen Moment sah Gertran es ein wenig enttäuscht an. Aber schon einen Augenblick später schien es zu seiner normalen Fröhlichkeit zurückzufinden.

„Auf jeden Fall musst du aufpassen“, sagte es, „denn rundherum geht es viele Stockwerke tief hinunter. Und das könnten selbst kleine zähe Klone wie wir nur schlecht überleben.“

„War es das, was Sie mir zeigen wollten?“

„Auch“, sagte Gertran. „Aber noch etwas anderes. Wir müssen noch ein wenig warten. Komm!“

Es führte Aurun über die Wiese zu einer kleinen verwitterten Holzbank, die mitten in dem Blütenmeer stand. Die beiden setzten sich. Gertran blickte hinaus in den dunklen Himmel und schwieg.

Aurun fiel es schwer, Vertrauen zu dem alten Klon zu entwickeln. Es kämpfte lange mit sich, schließlich sagte es doch, was ihm seit gestern Abend durch den Kopf ging. „Es war kein Zufall, dass Sie mich gestern ein Mädchen nannten, nicht wahr?“

Gertran lachte. „Weißt du denn, was ‚Mädchen‘ bedeutet?“, fragte es anstelle einer Antwort.

„Ich denke schon: Mädchen ist die Bezeichnung für ein weibliches Megamenschenkind, oder?“

„Richtig – Mädchen! Und: Nein – es war kein Zufall!“

„Warum taten Sie es dann?“

„Du bist neugierig – Mädchen. Aber das ist gut so. Also – lass mich dir etwas erzählen.“ Gertran rutschte mit seinem dicken Hintern ein wenig hin und her, bis es eine bequeme Position gefunden hatte. Die alte Bank knackte und knarrte bedenklich. Dann begann es: „Als sie den ersten von uns gemacht haben, vor 244 Jahren, da richteten sie es so ein, dass wir Neutra wurden. Nicht wie Tiere und Megamenschen männlich oder weiblich, sondern geschlechtslose Neutra. Warum das so war, dass ist heute nicht mehr klar. Wie wohl alles, ob aus Versehen oder mit Absicht, ins Dunkel gefallen ist, was vor dem Jahre Null lag.“

Wie merkwürdig es spricht, dachte Aurun und beobachtete das alte, dicke Klon vorsichtig aus den Augenwinkeln.

Gertran merkte es wohl, erzählte aber unbeirrt weiter: „Ein Grund ist sicher, dass man verhindern wollte, dass wir uns unkontrolliert reproduzieren können. Du weißt vielleicht, wie das bei uns vor sich geht: Nur wenn ein Klon nach all diesen Untersuchungen, die Medizinklone im Laufe seines Lebens an ihm vornehmen, als körperlich und geistig gesund bewertet wird, ist es geeignet, seine Gene und sein Wissen an ein junges Klon weiterzugeben. Und wenn es einverstanden ist und die Gesamtbevölkerungskommission der Gemeinschaft der Kleinen Leute eine Vermehrung innerhalb dieser Familie ohne Einkreuzung fremder Gene für richtig und notwendig hält, wird ein kleines Klon erzeugt und von dem Genspender selbst, dem Preklon, aufgezogen.“

„Danke!“, sagte Aurun schnippisch, „aber mein Preklon hat mich bestens aufgeklärt!“

Gertran lachte. „Schon gut, man weiß ja nie. Aber du weißt vielleicht auch, dass das bei Tieren im Allgemeinen anders funktioniert!“

Aurun schwieg. Also fuhr Gertran fort: „Egal! In den letzten Jahrzehnten jedenfalls tauchten vor allem in unserer E-Familie, aber seit neuestem anscheinend auch in anderen Familien, Individuen auf, deren hormonelle Werte darauf hindeuteten, dass sie keine Neutra mehr waren. Keiner weiß, woran das liegt. Angeblich forscht man, aber wie immer ohne Ergebnis. Ich war eine der ersten, bei denen man diese Missbildung, wie sie es nennen, festgestellt hat. Mich hat man als eine der ersten separiert. Gerade an mir haben sie seit den letzten fünfzig Jahren mehr geforscht, als mir gut tat.“

„Fünfzig Jahre!“, fragte Aurun entsetzt. „Sie sind schon fünfzig Jahre hier?“

Gertran nickte. „Allerdings. Und ich habe keine große Hoffnung, dass ich hier jemals wieder herauskomme.“

Aurun sah das Alte entsetzt an: „Aber warum? Warum nur?“

„Sie sind sich, kurz gesagt, nicht sicher, ob ich mich nicht vielleicht auf natürlichem Wege reproduzieren könnte.“

„Und das heißt?“

„Das heißt, ich bin eine Frau, Aurun, kein Neutrum. Eine Sie, kein Es.“

Aurun sah Gertran entsetzt an. „Aber man hat uns immer beigebracht, dass die natürlich Reproduktion der Megahomo sapiens, der großen Vorzeitmenschen, der Grund für das Ende dieser Art gewesen sei.“

„Siehst du, Kleine, du bist genauso entsetzt wie sie. Und weil sie so entsetzt sind, sperren sie uns Frauen hier ein. Bis auf Weiteres, sagen sie. Was so viel bedeutet wie – für immer!“

„Uns Frauen?“

„Was glaubst du denn? Alle die hier sind, und glaube mir, es werden jedes Jahr mehr, alle haben sie dieses ‚Problem‘. Früher haben sie nur die weggesperrt, bei denen man es schon gesehen hat. Inzwischen holen sie auch so junge Dinger wie dich. Du weißt doch, dass wir Klone in rund sieben Jahren ausreifen. Du bist sieben. Und die Untersuchung, die deiner Einweisung voranging, hat ergeben, dass diese Ausreifung bei dir auch eine Geschlechtsreifung war. Das hat sie erschreckt. Auch du bist kein Es. Du bist eben ein Mädchen, eine Jugendliche, oder eigentlich bist du bereits fast eine junge Frau.“

Aurun saß ganz still, starrte hinaus in den Himmel, der mit jeder Minute heller und silbriger wurde.

„Ich will das nicht!“, sagte sie schließlich. Das kalte Gefühl im Rücken war in den letzten Minuten wieder über sie gekrochen, diesmal wie ein kaltblütiges, todbringendes Raubtier. „Ich will das nicht!“

Als Gertran ihre Hand nahm, um sie zu trösten, zuckte Aurun erschrocken und trotzig zurück.

Sie zitterte. Alles in ihr war in Aufruhr. Stimmen kämpften:

Du bist anders!

Was ist los mit dir?

Du bist eine Frau!

Ich will das nicht!

Allmählich begriff sie nun, was das eisige Gefühl war.

„Angst! Ich glaube, man nennt es Angst“, sagte sie leise, wie zu sich selbst.

Gertran nickte. Die alte Klonin griff zum zweiten Mal nach ihrer Hand und jetzt ließ Aurun es zu.

So lernte Aurun, das Klonmädchen, die Angst kennen, die in Menschen manchmal wie ein Raubtier wütet. Aber indem sie nun die Angst verstand, verstand sie auch die Freundschaft, die hilft, das Raubtier zu zähmen.

4

„Gut“, sagte Gertran leise. „Angst ist gut!“

Als Aurun sie fragend ansah – was sollte gut sein an dieser schrecklichen Angst –, da erklärte sie: „Angst und Fröhlichkeit, Lachen und Weinen, Wut und Freude, Ehrgeiz und Enttäuschung, alle diese Gefühle scheinen ihren ganz besonderen Sinn zu haben. Bei uns Klonen waren sie verkümmert und verloren gegangen. Vielleicht hat es zu tun mit dem Mann- und Frausein, ich weiß es nicht sicher.“

Aurun drückte vorsichtig die warme Hand ihrer fremden, neuen Freundin. „Was meinst du damit, Gertran, es hat zu tun mit dem Mann- und Frausein?“

Die Alte zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich? Ich habe so viel über all das nachgedacht, aber ich verstehe letztendlich die Zusammenhänge nicht. Ich komme zu keinen Lösungen. Ich weiß nur: Alle hier in diesem Haus sind anders, anders als alle diese Neutra dort draußen. Wenn einmal keine Xe in der Nähe sind und sie trauen sich, dann lachen sie und schreien, dann streiten und weinen und grinsen sie. Und sie alle kennen die Angst, wie du, wie ich – die Angst vor der Zukunft.“

Aurun nickte. „Ich – eine Frau“, sagte sie leise. Sagte es sich vor, wie um sich langsam an diesen Gedanken zu gewöhnen, wie um abzuwägen, ob es richtig sein könnte, was Gertran behauptet hatte.

Doch, ja, vieles passte plötzlich zusammen. Bemerkungen, die das Arztklon gemacht hatte, ergaben plötzlich einen Sinn. Ob Elbon wusste, was vor sich ging? Das Preklon hatte manchmal begonnen zu sprechen, dann wieder gestockt …

„Wach auf!“ Gertran riss Aurun aus ihren dunklen Gedanken. „Jetzt kommt das, worauf wir hier warten!“

Aurun sah auf. Weit im Osten, wo man das Meer erahnen konnte, begann die aufkeimende Morgendämmerung sich an einer Stelle zu konzentrieren. Schließlich flammte ein einzelner gleißender bläulicher Lichtpunkt auf, der sich rasch vergrößerte. Die beiden mussten die Augen zusammenkneifen, später den Blick abwenden.

„Sie behaupten, Aurun, kein Wesen könne dort hineinschauen. Jeden Tag ist dieses Licht über uns, so nah, aber wir erblinden, wenn wir versuchen es zu sehen!“, sagte Gertran.

„Ach was, das ist doch nur die Sonne!“, sagte Aurun verwirrt. „Natürlich können wir nicht hineinsehen. Sie ist zu hell. Sie zerstört unsere Augen.“

Gertran lächelte. Langsam erhob sich der Sonnenball aus dem Meer, wurde größer und runder, aber auch freundlicher und gelber, verlor sein gleißendes Blau, verwandelte sein zerstörerisches Licht in Leben schaffende Wärme.

„Nein, es ist nicht nur die Sonne, Aurun. Die Dinge sind nicht nur das, was man sieht. Sie sind auch das, was man fühlt. Du wirst mehr und mehr lernen, zu fühlen, denn du bist anders als die anderen. Diese Sonne ist ein neuer Tag, Aurun, verstehst du? Sie birgt das Geheimnis des Lichts, des Lebens. Jeder Tag schenkt ein neues Geheimnis. Er ist nicht wie gestern oder vorgestern, er ist etwas Neues, eine neue Chance – ein Anfang. Es liegt an uns, ob dieser heutige Tag so wird wie all die Gestern und Vorgestern, verstehst du?“

Aurun schüttelte den Kopf. „Es ist doch nur die Sonne!“, sagte sie noch einmal, fast trotzig. „Sie steht still und die Erde, wir, drehen uns. Die Erdkugel dreht sich nach Osten, das gibt uns den Eindruck, die Sonne ginge auf und wandere über den Himmel. Und je nachdem, in welchem Winkel die Erdachse zur Sonne steht, steiler oder flacher …“

Da legte Gertran ihr den Finger auf den Mund. „Pschsch!“, machte sie leise, fast zärtlich. „Man kann Wunder auch zerreden, meine Kleine“, sagte sie. Sie rutschte schwerfällig auf der Bank ganz nah an Aurun und legte den Arm fest um sie. Aurun spürte die Wärme der Sonne im Gesicht, auf ihrer Brust. Sie spürte den warmen Körper von Gertran so dicht neben sich, wie sie noch nie ein anderes Wesen gespürt hatte. Für ein paar Sekunden saß sie erschrocken, steif und verspannt, dann ließ sie plötzlich los, ließ sich fallen gegen diese alte Frau, fallen in ihren Arm, spürte wieder dieses Kribbeln auf den Wangen und dann plötzlich drückten Tropfen aus ihren Augen, rannen ihre Backen hinunter, flossen und tropften auf ihre Kleidung.

Gertran streichelte ihr über den Kopf mit dem kurz geschnittenen blonden Haar. „Auch das ist gut, Aurun. Man nennt es Weinen.“

Aurun schniefte ein paar Mal, dann war es vorbei. Sie setzte sich wieder gerade. Da wirkten Kräfte der Vernunft in ihr, die waren stärker, als ein paar Tränchen es sein konnten.

„Und?“, fragte sie gröber, als sie es gewollt hatte. „Neuer Tag, neue Chance. Sagst du dir das seit fünfzig Jahren jeden Morgen, oder was?“

Gertran nickte. „Ja, seit fünfzig Jahren. Es hält mich am Leben. Aber nun bist du da, nun wird sich alles ändern!“

Aurun sah sie verwundert an. „Ich?“

Gertran nickte.

Aurun wollte eine Erklärung, wollte fragen, aber Gertran hatte schon begonnen, sich mühsam von der Bank zu erheben. „Lass uns gehen, Mädchen“, sagte sie. „Am Ende entdecken uns noch die dumpfen Xe hier oben und es ist für immer aus mit Sonnenaufgang.“

Sie liefen langsam über die Blütenwiese zurück zur Tür, durch den schaurigen Gang zum Aufzug.

„Meine Zimmernummer ist einhundertundsieben“, sagte Gertran, als sie unten auf ihrem Stockwerk angelangt waren. „Komm mich einfach besuchen, wenn du über alles nachgedacht hast, Mädchen.“

Aurun blieb stehen. „Moment, Gertran! Was soll das heißen: ‚nun bist du da‘? Was soll das heißen: ‚über alles nachgedacht‘? Was willst du von mir?“

Aber die alte Klonin hatte sich schon umgewandt, schlurfte hinüber zu ihrer Zimmertür.

Und so, wortlos zurückgewiesen, packte Aurun ganz unerwartet die Wut, die Menschen erleben, wenn etwas nicht nach ihrem Kopf geht. Und zum ersten Mal in ihrem Leben schrie sie. Stampfte mit dem Fuß auf und brüllte dieser alten, verrückten Klonfrau hinterher: „Über was soll ich denn nachdenken, verdammt noch mal! Was willst du denn von mir? Was geht hier vor? Gertran! Krieg ich vielleicht mal eine vernünftige Antwort!“

„Gegrüßt! Gegrüßt!“, rief Gertran fröhlich und fuchtelte wild winkend mit ihrer Hand über dem Kopf. Ohne sich noch einmal umzudrehen verschwand sie in ihrem Zimmer.

„Gegrüßt!“, sagte Aurun schließlich wütend, obwohl sie schon ganz alleine auf dem Gang stand. Und dann noch einmal leise: „Gegrüßt!“

Wieder kribbelte es, als müssten gleich solche merkwürdigen Tränen aus ihren Augen fallen, aber sie schüttelte nur den Kopf. Mit ihrem linken Schlüsselbein näherte sie sich dem Türöffner. Ein kurzes Summen, dann stand ihre Tür offen.