GRIMOIRE - Tomo J. Seitz - E-Book

GRIMOIRE E-Book

Tomo J. Seitz

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Beschreibung

Sie sind traurig oder verzweifelt? Dann lesen Sie nicht weiter. Es wird alles noch schlimmer werden. Stellen Sie sich vor: Ein düsteres Gebäude, in dem ein kleiner Beamter haust, ein Beamter, der sich im Reiche der Finsternis eingerichtet hat, so gut es eben geht und sein Leben wäre, wie schon die langen Jahre zuvor, in grauen, aber vorhersehbaren Bahnen verlaufen, wenn nicht.... Ja, eines Tages, als er durch dunkle regennasse Straßen läuft, gerät er scheinbar zufällig in eine Buchhandlung, die er mit einem sehr geheimnisvollen Buch verlassen wird, einem Grimoire, einem Zauberbuch, einem Instrument, durch das Geistwesen Gestalt annehmen. Diese nicht ganz uneigennützigen Helfer verschaffen alles, was wir begehren - Macht, Reichtum, Liebe, Abenteuer - doch diese Dienste haben einen Preis... Im zweiten Teil schickt ein väterlicher Freund einen ehemaligen Beamten in ferne Länder, um eine Aufgabe zu lösen. Orte gibt es auf dieser Welt, die gelegentlich einen Durchgang gestatten. Selten ist jemand von dort zurückgekehrt. Einer hat es gewagt, um Wesen, die auf der anderen Seite wirken, zu befreien und zu fast ganz normalen Menschen zu machen... Sie werden eine ganz normale Behörde erleben und die ganz reale Hölle, Sie werden kleinen und großen Teufeln begegnen, Sie werden hier mit der Bahn fahren und in den Ländern Kia und Tenoch mit dem Bus und Sie werden in Träumen reisen. Vor Ihnen liegt ein Entwicklungsroman, ein Reisebericht, eine esoterische Fabel und ein Sciencefictionabenteuer.

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GRIMOIRE. Die Geschichte von dem Beamten der ein Zauberbuch fand

Titel SeiteErster TeilZweiter Teil

Tomo J. Seitz

Die Geschichte von dem Beamten,

der ein Zauberbuch

Und ich sage euch: Die Hölle existiert, ebenso wie ihr Pendant, der Himmel, nicht dort draußen, sondern gerade hier. Beide sind mitten unter uns, doch wir sehen immer nur das eine oder das andere, nämlich den inneren Ort, an dem wir uns gerade aufhalten.

Kennst Du diese alltägliche Finsternis des Menschen, so vertraut, dass sie nicht mehr wahrgenommen wird? Sie schmerzt nicht eigentlich. Du kennst nichts anderes. Du lebst wie Moos in einem Winkel.

Wenn du selbst glücklich bist, kannst du dir diesen Ort nicht einmal vorstellen.

Erster Teil

Erstes Kapitel

Straßen, wie es sie sonst nur noch im Osten der Stadt gab. Rechts und links am Straßenrand parkende Autos unter Laternen, die nicht wirklich Licht verbreiteten, sondern das durch Regenwolken gefilterte Grau des Tages unterstrichen, das kaum merklich in die beginnende Abenddämmerung überging. Das Kopfsteinpflaster glänzte im Sprühregen. Alles sah ein bisschen düster und freudlos aus und die wenigen Menschen, die ihm begegneten, hatten einen harten Zug um den Mund. Die Häuser bildeten zu beiden Seiten eine geschlossene Front aus hohen Mauern, die erst weit oben einen langen Streifen grau verhangenen Himmels ahnen ließen. Wände mit bröckelnden Fassaden, nur an einigen Stellen Stuck, an anderen unter abgebrochenem Putz nackte Flächen aus rohen Ziegeln wie offene Wunden. Und große kahle Flächen, auf denen sich, wenn man genau hinsah, noch kaum erkennbare, überdimensionale und antiquierte Schriftzeichen fanden, die für Produkte warben, die es schon lange nicht mehr gab. Weiter unten, näher an den grauen, quadratischen Platten, die den Gehweg bedeckten, in gleichförmigen Reihen hohe und ehemals weiß gestrichene Fenster. Dahinter fast weiße Gardinen vor dämmrigem Dunkel. Steinstufen führten hinauf zu abweisenden, dunklen Türen, während andere Treppen nach unten führten, zu Läden in Kellern. Dort wurden Kohlen und Holz verkauft oder Lebensmittel angeboten, vorzugsweise aus fernen Ländern. Manche dieser Lokale sahen aus wie die Läden, die unsere Eltern kannten, in Zeiten, als es noch keine Supermärkte gab.

Ein Schaufenster, in dunkelbraun gestrichenem Holz gefasst, so klein, dass es leicht übersehen werden könnte. Die Waren, Bücher,

Regale voller Bücher an den Wänden und Bücher auf den Tischen. Kaum Platz, um zu stehen. Und in einer hinteren Ecke ein Tischchen, an dem, fast hinter gestapelten Schriften verborgen, ein Männlein saß, das den Besucher schon eine geraume Zeit hinter nickelgefassten, starken Brillengläsern musterte. „Kann ich Ihnen helfen?“ kam es knarrend und durchaus nicht freundlich aus einem Mund, der eher einem Schlitz glich. Irgendetwas stimmte nicht. „Darf ich Ihnen etwas zeigen?“ Das blutleere Gesicht starrte ihn an. „Ich will Ihnen nichts aufdrängen.“ Und schon war das grau gekleidete Männchen aufgestanden und stand bedrohlich nahe neben ihm. Herr S. stammelte etwas von er sei zufällig hier vorbeigekommen und wolle sich nur mal umsehen und er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg.

Geschwind fischte das Männlein ein Buch aus dem Regal und hielt es ihm vor die Nase. „Wäre das etwas für Sie?“ Und bevor er richtig hinsehen konnte, lag dort noch ein zweites und ein drittes Buch. Zögernd schaute er auf die Titel. „Haben Sie sich schon einmal mit Magie beschäftigt?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, denn natürlich hatte er sich noch nie mit Magie beschäftigt, fuhr der Graugekleidete fort: „Die Magie gibt Ihnen Macht. Mit Magie können Sie über sich selbst hinauswachsen, dem grauen Alltag entkommen. Sie können ...“, und er senkte seine Stimme zu einem Flüstern, als fürchte er, unberufene Ohren könnten ihn hören: „Sie können zum Herrscher der Welt werden. Ein jeglicher Wunsch wird sich erfüllen. Das sind Grimoires, Zauberbücher. Eigentlich verkaufe ich solche Bücher nicht gern, denn sie sind gefährlich.“ Das graue Männlein machte eine wirkungsvolle Pause. „Sehen Sie sich die Bücher nur ganz in Ruhe an“, fügte es in normaler Lautstärke hinzu und schlurfte zu seinem Tischchen. „Soll ich Ihnen das Licht anmachen?“ Die Strahlen einer nackten Glühbirne unter einem Lampenschirm aus schwarzem Email trafen auf den Bucheinband, den er in den Händen hielt.

„PRAXIS CABALLE ALBE ET NIGRA

DOCTOR JOHANNI FAUSTII, MAGII CELEBERRIMI

DER VIERTE THEIL SEINER OPERA“,

las er auf dickem, vergilbtem Papier, nachdem er den Buchdeckel behutsam aufgeschlagen hatte. Er blätterte weiter und fraß sich durch Zeilen aus schwer entzifferbaren, altertümlichen Buchstaben:

„HEPTAMERON SEVELEMENTA MAGICA

Das sind aller Caballisten und Magorum Fundamentale Praxis

Damit diejenigen, die noch keinen Verstand oder Vorgeschmack von unseren Wissenschaften haben, gleichsam in einem Augenblick Materia finden mögen, wie sie sich in der Caballa alba et nigra üben können, habe ich es für nötig gehalten, die Magischen Elementa ... verständlich darzustellen. ... Alle Geister unterschiedlicher Funktion

Und beim Weiterblättern fand er neben dem Text ihm unbekannte Zeichen, die Schriftzeichen ähnelten, und Kreise voller Symbole sowie Abbildungen von Wesen, die ihn frösteln ließen. Jedenfalls wurde ihm deutlich, dass er dort etwas in der Hand hielt, das möglicherweise wirklich eine Änderung in seinem Leben herbeiführen könnte. Vielleicht war es wirklich möglich, den Chef verschwinden zu lassen, eine Frau mit drallen Brüsten zu finden oder Geld zu bekommen im Überfluss. Seine Gedanken trugen ihn schnell aus dem trüben, kleinen Raum. Er sah sich nicht nur als großen Herrn in dieser Welt, sondern strahlend wie ein Engel, dort oben im Himmel. Eine irgendwie lauernde Stimme holte ihn ganz schnell zurück. „Wie gefallen Ihnen die Bücher?“ Es gab überhaupt keinen Zweifel. Er musste das Buch haben.

„Dieses Buch ist teuer“, schnarrte die Stimme, „doch es kostet mehr als Geld.“ Er antwortete, doch er erfasste den vollen Sinn der Worte nicht. Eigentlich konnte er so viel Geld nicht hergeben. Und für gewöhnlich gab er Geld nur wohldosiert aus. Doch für dieses gebundene Papier war er bereit, fast jeden Preis in Geld zu geben. Ob er auch bereit war, einen anderen Preis zu zahlen, darüber gab er sich keine Rechenschaft. Seltsam genug, dass er überhaupt so viel Geld bei sich trug, er, der es doch sonst eher ängstlich besorgt vermied, mehr als das gerade Notwendige in der Tasche zu tragen.

Als er das Buch nach Hause trug, hatte ihn ein seltsames Gefühl erfasst. Er war aufgeregt. Er zitterte fast. Es war ein Zustand, den er bisher nicht kannte und der einen anderen Mann an die erste Begegnung mit einer Frau erinnern würde. Ja, ihm liefen erotische Schauer über den Rücken. Ein Knistern, etwas, das das Blut schneller fließen lässt, die Atemfrequenz steigert; der Körper sondert Schweiß ab, der betörend duftet. Ahh, Aufregung, Neugier. Auch etwas von Angst. So getrieben, lief er in einem unglaublichen Tempo, begierig darauf, endlich das Buch genauer in Augenschein zu nehmen, es in die Hand zu nehmen, über den Einband zu streichen, es zu fühlen.

Zu Hause schlug er es auf, hastig, noch in seinem dicken, vom Sprühregen feuchten Mantel, der nach verwesenden Blättern roch.

Zweites Kapitel

Als er am nächsten Morgen zur Arbeit ging, durch die immergleichen Straßen, auf die der noch vom Schlaf benommene Geist nicht achtete, trug er das Buch, eingepackt und wohl geschützt in dem Papier einer alten Zeitungsseite, in seiner abgewetzten, schweinsledernen Aktentasche, einer Tasche, viel zu voluminös, um nur ein Pausenbrot aufzunehmen und in der Tat enthielt sie viele Dinge, die eigentlich nicht benötigt wurden, die irgendwann mal hineingelegt worden waren und die er vergessen hatte, wieder herauszunehmen.

Auch wenn er es nicht mehr wahrnahm. Er betrat ein besonderes Gebäude. Überbreite Stufen. Ein gewaltiges Portal. Wie Berge türmten sich über dem Eintretenden Gesteinsmassen. Ein Gebäude aus dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Die Fassade verlangte Ehrfurcht. Der von außen sichtbare Auftakt für eine Aneinanderreihung von Bauten und Höfen, die ein Labyrinth bildeten. Alle Proportionen gerieten entschieden zu groß. Durchgänge, durch die Elefanten schreiten könnten. Fenster, zwar schmal, aber so hoch, dass sie bis zur Decke reichten. Wuchtige dorische Säulen, die nichts trugen. Breite Simse, breite Fenstereinfassungen. An der Fassade, an den Ecken des Gebäudes und als Schlusssteine über Toren und Fenstern fanden sich aus Stein gehauene Bildnisse, vornehmlich Gesichter oder besser Fratzen, Tierköpfe mit menschlichen Zügen, von Löwen, Faunen, Teufeln, aber auch ganze Figuren von Drachen oder Sphinxen.

Hinter dem Portal eine himmelhohe Eingangshalle, in der die Treppe Platz fand, die nach oben führte, zum Aufenthaltsort der Mächtigen. Beletage. Kulissen, die einmal zur Inszenierung von Macht geschaffen worden waren und die immer noch ihre Wirkung taten, auch wenn diese Macht schon lange vergangen war.

Wer hier eintrat schrumpfte

Nur gelegentlich huschten gebeugte Schatten über die Flure und waren alsbald wieder in einem anderen Gang untergetaucht. Wie Ratten schienen die Insassen dieses Gebäudes zu hausen, die bekanntlich am liebsten in ihren dunklen Winkeln verborgen bleiben. Lediglich eine Kategorie von Lebewesen hielt sich gerade auf diesen Fluren auf. Sie bewegten sich eher gemächlich und führten meist einen kleinen Wagen mit sich, mit dem sie von Tür zu Tür wanderten - die Boten.

Für den Außenstehenden sahen die Menschen in diesem Gebäude wohl alle gleich aus. Er hätte sie nicht auseinanderhalten können, so wie man ungeübt keine Fledermaus von der anderen unterscheiden kann. Sie sahen alt aus, ohne dass man ihnen ein spezifisches Alter hätte zuordnen können, und bleich wie Maden. Die Sonne fehlte ihnen und das Leben.

.

Dieses Gebäude hatte schon viele bedeutende Institutionen beherbergt, die inzwischen alle hellere und freundlichere Unterkünfte fanden. Sie machten Platz für eine Behörde, die für Beschwerden zuständig war, weshalb sie auch „Allgemeines Beschwerdeamt“ hieß. Nicht, dass dieses Amt viel hätte bewirken können, aber die Menschen sollten das Gefühl haben, jemand sei zuständig, wenn sonst niemand konkret zu greifen war.

Hier lebte er, denn hier verbrachte er die meiste Zeit seines wachen Lebens. Und er hatte sich hier entsprechend eingerichtet. Sein Zimmer und auch sein Flur bedeuteten fast so etwas wie Heimat für ihn. Heimat, das ist eine begrenzte und damit überschaubare Welt, in der alles bekannt und benannt ist. Und wirklich kannte er die kleinsten Details, eine winzige schadhafte Stelle im Fußboden, eine Lampe auf dem Flur, deren Schein noch einwenig dunkler war als der der übrigen Lampen. In seinem Raum fühlte er sich sicher. Doch anders als eine Wohnung durfte man die Tür nicht verschließen und es gab ein pechschwarzes Telefon.

Sobald er den schützenden Rahmen seines Zimmers aufgab, wurde es schwierig. Er schlich dann dicht an den Wänden, den Blick auf den Boden gerichtet, zog die Schultern ein und krümmte den Rücken zum Buckel. So mochte er trotz seiner langen Gestalt etwas kleiner wirken und seine meist kürzer geratene Mitwelt weniger provozieren. Es schien tatsächlich, als sei er trotz seiner nicht unauffälligen Gestalt unsichtbar; er wurde übersehen.

Als Herr S. an diesem Morgen an seinem Schreibtisch saß und durch die lange nicht geputzten Scheiben auf den grauen Innenhof schaute, hatte er zunächst das Buch in seiner Tasche vergessen. Er schaute aus dem Fenster und was er sah glich einem Gefängnishof. Der kleine quadratische und mit groben Steinen gepflasterte Hof weckte ein Gefühl von Ausweglosigkeit. Es gab zwar eine Tür, die

In seinem hohem, schmalen Amtszimmer brannte nahezu ständig eine Neonröhre, die ein bläuliches Licht ausstrahlte und den Raum hinlänglich ausleuchtete. An hellen Tagen versuchte er ohne künstliches Licht auszukommen, knipste dann aber seine schwarz lackierte Schreibtischlampe an, die ein gemütliches, gelbliches Licht verbreitete, das freilich nur die Schreibtischplatte in Licht tauchte, während der übrige Raum in geheimnisvollem, diffusem Dämmerlicht blieb.

Den Raum beherrschte ein durchaus großer Schreibtisch aus ehemals hellem, lackierten Holz. Durch langen Gebrauch sah er ein wenig schäbig aus, erfüllte aber durchaus seinen Zweck - wie ein schwerer Wintermantel, der eigentlich mal durch einen neuen ersetzt werden müsste, der es aber noch tut und der immer noch wärmt. Der Inhalt zahlreicher Schubladen ersetzte ein Materiallager. Eine Vielzahl von unterschiedlichsten Schreibwerkzeugen, Stapel unbeschriebenen Papiers, bisher nur einseitig beschriebenes Papier, das noch für Notizen gebraucht werden konnte und Formulare, die allerdings häufig nutzlos waren, weil sie ständig von den zuständigen Stellen irgendwie geändert und als veraltet nicht mehr akzeptiert wurden. Daneben Mappen, Klammern, Tüten, Hefter und

Auf der Fensterbank blühte blau ein Veilchen, sein ganzer Stolz. Es brauchte nicht viel Licht und gedieh prächtig. Jeden Morgen kontrollierte er mit dem Daumen die Feuchtigkeit des Bodens und goss bei Bedarf mit abgestandenem Wasser aus einer dunkelgrünen ehemaligen Selterswasserflasche. Dieses Wesen sah nicht nur schön aus, wie vielleicht auch ein Gegenstand aus Plastik oder aus Holz - es lebte. Für Herrn S. war das Veilchen fast so etwas wie ein Kamerad. Er merkte sofort, wenn ihm etwas fehlte. Solange sich immer wieder neue Blüten zeigten, war alles in Ordnung. Herr S. erkannte die kleinen, nachwachsenden Stängel, die einmal Blüten tragen würden, schon in allerkleinsten Ansätzen. Doch zeitweise wuchsen keine mehr nach. Dann kamen zwar immer noch neue Blüten, aber nur von den schon vorhandenen Stängeln und da jeder Stängel nur eine begrenzte Zahl von Blüten hervorbrachte und jede Blüte eine zwar relativ lange, doch auch absehbare Dauer besaß, fehlte der Nachschub und die Pflanze würde ohne Blüten sein. Es war klar, dass die Pflanze nicht ununterbrochen blühen konnte. Doch wenn die normalen Blättchen etwas von ihrem Glanz verloren, wenn sie irgendwie stumpf aussahen, wurde es gefährlich. Besonders ärgerte ihn, dass die Putzfrauen die Blume immer wieder hin und her schoben. Eine Blume braucht einen festen, immergleichen Platz.

Später, nachdem er alles erledigt hatte, was er morgens von sich erwartete, saß er an seinem Schreibtisch, auf dem sich Akten türmten, die einen Geruch nach feuchtem Staub verbreiteten, sozusagen den Eigengeruch des Amtes. Direkt vor ihm auf der Unterlage lagen Beschwerdebriefe auf Rechenkästchenpapier geschrieben, die mit „Wertes Amt“ anfingen und mit der Maschine geschriebene Briefe, die mit “Sehr geehrtes Amt“ begannen, als ob das Amt eine Person sei. Alle Briefe trugen einen ordentlichen Eingangsstempel und waren mit verschiedenen farbigen Geschäftsgangsvermerken versehen. Und Zettel lagen auf der dunkelgrünen Schreibunterlage, einige eng beschrieben, in einer kleinen, krakeligen Handschrift, meist mit Bleistift, damit man das geschriebene Wort wieder zurücknehmen konnte. Andere waren noch leer und erwarteten den Stift, der über das angegilbte Papier fahren sollte. Das zuoberst liegende, bereits begonnene Schriftstück wurde heute nicht weiter bearbeitet.

Er stand auf, nahm die Tasche aus abgegriffenem, ehemals schwarzen Leder, die sich, wie immer,

Er öffnete hastig die obere linke Schreibtischschublade und bestimmte diese zum gewöhnlichen Aufenthaltsort des Buches, das er sorgsam auf die Hülle aus Zeitungspapier legte. Nun stand die Schublade recht weit offen und ließ einen Blick auf ein aufgeschlagenes, altes Buch zu und zugleich war er jederzeit bereit, die Schublade abrupt zu schließen, wenn ein Besucher das Zimmer betreten sollte. Er betrachtete den vergilbten Einband, auf dem die verschnörkelten, gotischen Buchstaben kaum noch zu entziffern waren und wieder überfielen ihn diese erotischen Schauer. Die Welt, die wir für real halten, versank und Träume bestimmten sein Bewusstsein, Träume, in denen er eine neue Welt schuf, eine Welt, in der es keine bösen Chefs gab, dafür aber engelsgleiche Frauen.

In diesen Träumen erreichte ihn ein Geräusch, das er zunächst nicht zu identifizieren vermochte, so etwas wie ein zartes Kratzen an der Tür. Eine Weile starrte er auf die vor langer Zeit einmal grau lackierte Tür, doch als sich nichts tat, begannen die Flügel der Gedanken wieder zu wachsen. Er kam nicht dazu, seine Träume fortzusetzen und er hatte auch keine Zeit, in Panik auszubrechen, denn nahezu geräuschlos öffnete sich langsam die Tür und nachdem der Spalt gerade breit genug geworden war, schob sich behutsam ein Wesen hindurch und ein Männlein stand im Raum, noch ganz in der Nähe des Eingangs, zögerte etwas, schloss dann fast abrupt die Tür und kam zwei oder drei Schritte auf den Schreibtisch zu.

„Entschuldigen Sie“, sagte das Wesen und fuhr nach einer kleinen Pause fort, um den begonnenen Satz nicht besonders spektakulär zu beenden, „ ... dass ich hier so hereinkomme und Sie belästige.“ Eine an sich überflüssige Einleitung. Die gesamte Erscheinung war eine einzige Entschuldigung. Der ungebetene Besucher hätte auch sagen können: „Entschuldigen Sie, dass ich da bin“. Nun entstand eine Pause. Das Männlein erwartete offenbar eine Reaktion. Doch Herr S. tat ihm diesen Gefallen nicht. Sein Blick hatte sich von dem Buch in der immer noch geöffneten Schublade gelöst, richtete sich auf den Eindringling und erfasste ein Wesen, das ihm vermutlich nicht gefährlich werden konnte, das ihn aber maßlos störte. Möglichst unauffällig schloss er die Schreibtischschublade.

Die Gestalt steckte in einem korrekten, wenn auch nicht mehr ganz neuem, dunkelgrauen Anzug, der etwas zu groß wirkte und aus dem krawattengeschmückten, weißen Kragen schaute ein kleiner, runder Kopf mit erstaunlich großen, nahezu runden Augen. Wenn nicht die nicht zu übersehenden Falten und Runzeln gewesen wären, hätte man ihn für einen kleinen Jungen von vielleicht sieben oder acht Jahren halten können.

Herr S. konnte den Eindringling nicht mehr hinauswerfen. Er war sozusagen Bestandteil des Raums geworden. Eigentlich gab es in diesem Amt keine Besucher und schon gar nicht unangemeldete. Herr S. hatte keine Möglichkeit mehr, darüber nachzudenken, wie das Männlein überhaupt an dem Pförtner vorbei hierher gefunden hatte, denn nun musste es den Schluss gezogen haben, dass keine Reaktion zu erwarten war und es nun selbst etwas tun müsse. So begann es in einer zunehmend sicherer werdenden Sprache, obwohl es immer noch äußerst langsam und mit vielen Pausen - nicht nur am Ende, sondern auch mitten im Satz - vortrug. Dabei näherten sich seine Ellbogen und erweckten den Eindruck, es ringe um den rechten Ausdruck. Das Ergebnis waren wohlgesetzte Worte.

„Sehr geehrter Herr, der Pförtner schickt mich zu Ihnen“, begann es. „Ich möchte mich beschweren.“ Und ehe Herr S. darauf hinweisen konnte, dass dieses Amt nur schriftliche Beschwerden bearbeitete und während sich in ihm noch ein Ärger über den Pförtner breit machte, der diesen Menschen nicht weggeschickt hatte, fuhr dieser fort: „Mir ist nämlich ein Unrecht geschehen.“

Der Beschwerdeführer legte seine ursprüngliche Schüchternheit erstaunlich rasch ab, redete sich warm und überschüttete ihn mit einem Wortschwall. Herr S. verstand nicht, um was es ging und es interessierte ihn auch nicht. Sein Gegenüber interpretierte seinen erstaunten Gesichtsausdruck als Zustimmung und überreichte ihm nun einen Brief. Wenn Herr S. gedacht hatte, der lästige Besucher würde ihn verlassen und er könnte sich anschließend wieder seinen Träumen widmen, so hatte er sich getäuscht. Denn nun hielt er etwas Schriftliches in den Händen, mit dem irgendetwas zu geschehen hatte. Sein Unmut wuchs. Jetzt musste er nicht nur den Besucher loswerden, sondern sich auch noch mit diesem neuen Schriftstück beschäftigen.

Den Besucher los zu werden erwies sich leichter als gedacht, denn der hörte nun auf zu sprechen, meinte wohl nicht zu Unrecht, dass mit der Überreichung des Briefs ein Verfahren in Gang gesetzt sei, schrumpfte wieder auf das ganz unbedeutende, ursprüngliche Maß, verbeugte sich noch einige Male, wobei er sich schon rückwärts in Richtung Tür begab und verschwand ebenso lautlos, wie er gekommen war.

Nun hielt Herr S. dieses Stück Papier in Händen. Aus Erfahrung wusste er, dass es an ihm haften bleiben würde, wenn er erst einmal damit in Berührung gekommen war. Die Vorgesetzten würden es ihm zur Bearbeitung geben. Doch zunächst musste es einen Stempel bekommen, der den Eingang dokumentierte. Flüchtig erreichte ihn ein unerhörter Gedanke. Er könnte diesen Brief einfach verschwinden lassen. Er könnte ihn in ganz kleine, unidentifizierbare Stücke zerreißen und die konfettiähnlichen Überreste in den Papierkorb werfen. Er könnte es auch mit nach Hause nehmen und so dem Schicksal entziehen. Dann könnte er es im Notfall wieder beibringen. Ob nun endgültig vernichtet oder nur entzogen - dann hätte er - zumindest eine lange Weile lang - Ruhe. Und mit diesen Wenns und Hättes entfernte sich sein Geist in unglaublicher Geschwindigkeit und erreichte Orte, die so weit entfernt sind, dass sie selbst mit sehr schnellen Fahrzeugen nicht erreichbar sind.

Doch ach, so wie jede Reise so muss auch eine Traumreise einmal ihr Ende finden. Er erwachte. Stille umgab ihn und graues Zwielicht. Er schloss die Augen zwar wieder, doch ließ sich die Tatsache nicht leugnen, dass er voll und ganz an seinem Schreibtisch saß. Das Licht fiel auf einige eng und handschriftlich beschriebene Seiten mit Rechenkästchen. Die Gegenwärtigkeiten hatten ihn wieder eingeholt - und die Angst. Er verwarf nun hastig und endgültig den Gedanken, das Papier verschwinden zu lassen - hastig, damit er nicht wieder kommen und ihn in Versuchung bringen möge - und legte es in eine Umlaufmappe, damit es seine Reise antreten konnte, die es zunächst zu der Stelle bringen würde, die alle eingehende Post mit einem Stempel versah und damit für das Amt offiziell und unwiderruflich existent machte. Dort lag es nun, auf dem kleinen Tischchen, dem Aktenbock, bereit für den Boten.

Von den Boten war bekannt, weil offensichtlich, dass sie Umlaufmappen transportierten. Auf diesen wurden der oder die Empfänger notiert, zu denen die Boten sie bringen sollten. In den Mappen lagen Akten oder Schriftstücke in unterschiedlichen Graden der Bearbeitung, die allesamt schließlich Aktenbestandteile werden und als solche in einer Registratur ihren dauerhaften Platz finden mussten, damit alles jederzeit dokumentiert und bewiesen werden konnte. Daneben verrichteten die Boten Aufgaben untergeordneter Art, wie sie in einer solchen Organisation immer wieder unregelmäßig und unvorhersehbar anfallen. Sie schienen in einer völlig separaten Welt zu existieren - getrennt von der Welt der Kollegen und Vorgesetzten unseres kleinen Beamten. So hatten sie auch eine separate Hierarchie und ebenso separate Dienstbezeichnungen, nämlich Hilfsbote, Zwischenbote, Hauptbote und Oberbote. Stellvertretende leitende Boten und leitende Boten gab es natürlich nicht, denn die oberste Disziplinargewalt musste bei

Herr S. hatte den Boten, wie gewöhnlich, schon lange vorher gehört und wartete auf das polternde Öffnen der Tür. Die Spannung wuchs ins Unerträgliche, als der rollende Wagen endlich vor der Tür angekommen war. Fröhlich pfeifend, jedenfalls irgendwie geräuschvoll, stand er vor der Tür und sortierte Akten, schob sie hin und her, warf sie auf Stapel. Herr S. versuchte, ruhig zu bleiben, doch angesichts der bevorstehenden Störung gelang ihm das nur sehr unvollkommen. Wut kam hoch, die kein rechtes Ventil fand und von der der Verursacher und Adressat nichts ahnte. Endlich, endlich, kam er herein und verschwand wieder und das Geräusch des Wagens wurde leiser und verstummte. Eine kleine Erlösung.

Drittes Kapitel

Nun hatte er auch die bewusste Umlaufmappe hinausgetragen, der Wagen entfernte sich und nahm das Schriftstück mit auf eine Reise zu seinen Vorgesetzten, die ganz gewiss schlimm enden wird. Doch die Reise brauchte Zeit, die Eingangsstelle würde den Eingang dokumentieren, die Registratur ein Aktenzeichen vergeben und eine neue Akte anlegen, die Vorgesetzten, vom Herrn Leiter des Amtes bis zum unmittelbaren Vorgesetzten, den Vorgang lesen und mit Geschäftsgangsvermerken sowie gegebenenfalls mit Anmerkungen versehen. Damit war die Chance groß, für heute in Frieden leben zu können, freilich mit der Angst vermischt, dass das Unheil zwangsläufig kommen musste. Es sind oft gar nicht die ganz konkreten Qualen, die die Hölle ausmachen, sondern die Angst vor diesen Qualen. Und diese Angst kann sich zu einer ständigen Bedrohung steigern, die Grauen heißt. Herr S. kannte diese Angst sehr gut, doch im Laufe der vielen Jahre hatte er auch die Pausen zwischen den Katastrophen zu erkennen und schätzen gelernt.

Er lebte in diesen Lücken. Glück häppchenweise und in Galgenfristen. Ein Mittel zum Überleben. Es gab kleine und große Spannen: Die üblichen Zeiten der Freizeit, Urlaube, Wochenenden, Feierabende und Mittagspausen, aber auch die Zeit von der Vergabe eines Vorgangs bis zu dessen Fertigstellung bis hin zu diesen kurzen Augenblicken, in denen er gedankenverloren aus dem Fenster schaute und träumte. Glücklich. Einfach aus dem Fenster schauen und die Dinge sich setzen lassen. Häufig wiederholten seine Gedanken auch nur das, was geschehen war und meist nicht genau so, wie es tatsächlich geschehen war, sondern eher, wie er es gern gehabt hätte.

Doch heute hatte er ein Buch mitgebracht. Er öffnete behutsam, so als habe er Angst, entdeckt zu werden - oder ahnte er schon, was kommen würde? - jedenfalls öffnete er erneut die obere linke Schreibtischschublade, nahm das Buch, strich über den alten Einband, beschnupperte es und legte es nicht auf die Tischplatte, sondern zurück in die Lade, wo es auf den alten Seiten einer

Er las und er sprach halblaut die Worte, die seine Augen gerade in dem Buch entdeckten und er dachte nicht recht über das nach, was er gerade sprach, zumal er die Worte kaum verstand, Worte in Latein, einer Sprache, die er vor vielen Jahren flüchtig in der Schule kennen gelernt hatte. So sprach er, mühsam Wort für Wort entziffernd, aber deutlich vernehmbar: „Ego conjuro et confirmo super vos angeli fortes et sancti per nomen Ya, Ya, Ya, Ya, He, He, Va, Hy, Hy, Ha, Ha, Ha, Va, Va, Va, Va, An, An, An, Aie, Aie, Aie, El, Ay, Elibra, Eloim Eloim, et per nomina ipsius, alti dei qui fecit aquam, aridam apparare, et vocavit terram, et produxit arbores, et herbas, de ea, et sigillavit super eam cum praetioso, honorato, metuento et sancto nomine suo, et per nomen angelorum dominatium, in quinto exercitu qui serviunt Acimay angelo magno forti, potenti et honoranto, et per nomen stella, quae est Mars, et per nomen praedicta ego conjuro super te Samuel, angele magne qui praepositus es diei Martis: et super nomina Adonai, dei vivi et veri, quad pro me labores et ad impleas omnem meam petitionem. Juxta meum velle, et meum votum in negotio, et causa mea. Dass mir erscheine dein Diener Satael.“

Gedankenverloren starrte er in einen dusteren Winkel des Zimmers, der durch das kleine Licht der schwarz lackierten Schreibtischlampe nicht erreicht wurde und auch nicht vom Licht des Tages. Er bewegte den Augapfel nicht mehr und starrte in den Schatten. War da nicht irgendetwas in den Schatten, eine Stelle in dem Dunkel, die etwas dunkler war, die sich bewegte? Fast hätte er schrill aufgeschrien, als der Schatten auf ihn zu sprang, wie ein wildes Tier. Der Schrei erstarrte. Er bekam keinen Ton heraus, nur die Augen weiteten sich. Zwei riesige schwarze Pupillen, jeweils umgeben von einer gelbweißen Halbkugel. Da stand ein Wesen vor ihm, menschenähnlich, doch weniger dicht, fast durchsichtig.

Ein seltsames Wesen. Sicherlich niemand aus Fleisch und Blut. Es schaute ihn starr, mit unbewegter Miene an, so als erwartete es etwas. Ein silberweißer Bart umrahmte das Gesicht, ließ aber die Wangen und den Mund frei. Die Ohren schienen seltsam lang und mit feinen rehbraunen Haaren besetzt und wuchsen recht weit oben aus den Schläfen. Der Schädel wäre kahl, wenn dort nicht zwei seltsame Gewächse aus dem Schädel sprossen, die fatal an ein kleines Hirschgeweih erinnerten. An der dunkelbraunen Jacke fiel nichts Außergewöhnliches auf, wenn sie auch etwas altmodisch aussah. Statt Knöpfen hielt eine dunkelblaue Brosche die Jacke, kreisförmig mit einem Pfeil. Der untere Teil des Körpers steckte in hellen, rostroten Hosen. Oder waren es vielleicht Federn? Das, was zunächst wie Stiefel aussah, ähnelte bei näherer Betrachtung sehr stark überdimensionalen Vogelbeinen. Ja, das Wesen besaß tatsächlich den Unterleib eines Hahnes. Was er in der rechten Hand hielt, könnte ein Menschenschädel gewesen sein, doch was er in der Linken hielt, ließ sich nicht genau identifizieren. Was immer es war, es war eine Lichtquelle mit grellem, bewegtem Licht.

Er hatte ganz vergessen, dass gerade jetzt jemand hätte hereinkommen können. Wenn ihn Herr Hirsekorn erwischt hätte. Ohgottohgottohgott! Hastig schob er die Schublade mit dem Buch zu. Gedanken und Gefühle stürzten auf ihn ein wie ein Wasserfall. Für diesen kurzen Augenblick hatte er das Wesen vor sich vergessen. Als er es erneut erblickte, packte ihn eine Angst, die sich zur Panik steigerte. Er schoss von seinem Sitz hoch, sprang zur Tür, schloss sie in aller Eile sorgfältig und rannte den Gang entlang dem Ausgang zu.

Er rannte aus dem Gebäude und in seinem Entsetzen vergaß er, ein schlechtes Gewissen zu haben. Draußen regnete es, was er zunächst nicht bemerkte. Er lief auf den regennassen, großen Steinplatten des Bürgersteigs und die alten, dunklen Kastanien, die den Kanal säumten, begleiteten ihn. Doch bald nahm die Heftigkeit der Bewegung ab und seine Schritte folgten fast schon wieder dem gewohnten, etwas schlurfendem Muster. Der Atem war ihm ausgegangen. Er blieb stehen und kam wieder halbwegs zur Besinnung. Als erstes spürte er die feuchtkalte Nässe. Und dann hätte ihn fast eine neue Panik übermannt. Mitten in der Dienstzeit und ohne triftigen Grund das Amtgebäude verlassen? Undenkbar! Er blieb noch einen Augenblick stehen, wie um sich zu beraten und machte sich dann ziemlich schnell auf den Rückweg. Vorsichtig schlich er zurück. Er durfte nicht erwischt werden, doch hatte er kaum Hoffnung, ungestraft davon zu kommen.

Doch seltsam. Als er zurückkam, mit aus verschiedenen Gründen klopfendem Herzen, hatte es niemand bemerkt. Die Vorgesetzten nicht, die Kollegen nicht, nicht einmal der Pförtner, der nicht dafür bezahlt wird, billige Zeitungen zu lesen, sondern dafür, die Leute zu beobachten.

Er setzte sich wieder an seinen Schreibtisch – besser: er fiel entkräftet auf seinen Stuhl - schnaufte und nachdem sich der Atem wieder etwas beruhigt hatte, zog er zögernd die Schreibtischschublade auf, in der das Buch lag.

Dort las er: “Die Geister der Luft an diesem Dienstag sind Untergebene des Windes Subsolony und es ist ihre Natur, Schlachten, Morden und Totschlagen wie auch Feuersbrünste zuwege zu bringen, viele tausend und mehr Soldaten auf eine Zeitlang ins Feld zu stellen und Krankheiten zu erwirken und zu vertreiben. Wie sie aber erscheinen ist im nachfolgenden zu ersehen, nämlich mit langen Leibern, cholerischer Art und von schrecklichstem Aussehen. Ihre Kleidung ist tags eisenfarbig, bei Nacht aber rotbraun. Sie werden Hirschgeweihe auf ihren Köpfen tragen und ihr werdet Geißenklauen an ihren Fingern sehen. Sie werden brüllen wie rasende Ochsen. Ihre Bewegung wird ein brennendes Feuer sein und einen großen Schrecken erwecken. Sie werden es mit solchem Graus um den Kreis herum donnern und blitzen lassen, daß keiner darin sich seines Lebens einen Augenblick erfreuen wird ...“

Was er dort las, machte seine Angst nicht kleiner. Immerhin wusste er jetzt ungefähr, mit wem er es zu tun hatte. Und nach einer Weile,

Abends, wenn sein Dienst zuende gegangen war, machte er sich nicht unverzüglich auf den Heimweg. Er zog zwar seinen Mantel an und nahm seine abgewetzte und eigentlich recht überflüssige Aktentasche, ging aber nur bis zur Tür und horchte. Er wartete, bis keine Rollen an Botenwagen mehr quietschten und keine Schuhe mehr

Draußen schlug er den Kragen des dunklen Regenmantels hoch und wickelte einen Schal um seinen Hals. Die Außentemperatur hätte einen derartigen Schutz noch nicht erfordert. Doch das düstere, feuchte Wetter machte ihn frösteln und er wollte sich auf keinen Fall erkälten. Hinter einzelnen Fenstern brannten noch Glühlampen. Ein Bote saß an einem kleinen Tisch aus dunkelbraunem Holz und verzehrte sein Brot. Herr S. hastete noch eine geraume Zeit, bis er endgültig den Eindruck hatte, entronnen zu sein. Die Schuhe glitten über feucht glänzendes Kopfsteinpflaster. Der Geruch modernden Laubes. Auf seine Gesichtshaut traf feucht-kalte Luft. Nicht schneidend kalt. Eher mild. Sie hätte ihn erfrischen sollen. Rechts und links die grauen Körper kräftiger Bäume in regelmäßigen Abständen. Nur vereinzelte Blätter hatten sich bereits entschlossen, ihren gewohnten Platz aufzugeben. Oder hatte sie ein Sturm losgerissen?

Auf dem Weg ging ihm Herr Hirsekorn nicht aus dem Kopf. Hatte er etwas Ungewöhnliches gesehen? Er kam zu keinem Schluss und bald hatten ihn die Gedanken weiter getragen und er dachte an Chefs im Allgemeinen und meinte Herrn Hirsekorn im Besonderen. Chefs sind eben ein unerschöpflicher Gegenstand des Gesprächs und der Gedanken. Für Untergebene sind sie ein offenes Buch, in dem sie nach Belieben lesen können. Wenn der Chef wirklich böse ist, nutzen den Untergebenen die Informationen allerdings wenig. Sie können ein wenig manipulieren, ein wenig umleiten, hinauszögern,

Herr S. saß in der U-Bahn und blickte auf verschlossene Menschen - jeder in seiner eigenen kleinen Schachtel - düster, verbittert, gebrochen, abweisend. Während er in der Unterwelt fuhr und den immergleichen Gedanken über Chefs im Allgemeinen und über Herrn Hirsekorn im Besonderen nachhing, in einem der Wagen, die sich seit dem Krieg kaum verändert haben, in dem sich dicht gedrängt zwei Reihen wildfremder Menschen gegenüber saßen, auf harten Holzbänken, da fiel sein Blick auf einen Mann. Er sah nicht viel anders aus, als die vielen anderen auswechselbaren Männer und Frauen, die griesgrämig vor sich hinstarren, während draußen dunkle Wände vorbeihuschen. Was war anders an diesem Mann? Er sah alt aus und unmenschlich. Waren da nicht zwei Beulen auf seinem Kopf, die wie zwei kleine Hörner rechts und links aus dem Schädel wuchsen? Und irgendetwas war mit den Ohren; sie waren länger und spitzer als gewöhnlich, er hatte eine Glatze, doch die restlichen Haare waren lang und sehr hell, fast weiß. Zu einer dunkelbraunen Jacke trug er rötlichbraune Pluderhosen, die in ganz engen schmalen Stiefeln aus hellem, beigen Leder steckten.

Als seine Haltestelle nahte, stellte sich Herr S. bereit, um schnell die Tür zu öffnen, auf den Bahnsteig zu treten und sich auf die Rolltreppe zu stellen, die nach oben führte. Verstohlen drehte er sich um, um weiter unten in den vielen anderen Menschen dieses seltsame Wesen aus der U-Bahn zu erkennen. Herr S. war zwischen den Menschen eingeklemmt und zwängte sich, sobald sich oben ein wenig mehr Platz zeigte, durch die Massen und hastete weiter, seiner Wohnung zu und er meinte fast den Atem des Fremden hinter sich zu spüren. Er rannte durch die Gasse, holte noch im Gehen den Schlüssel aus der Tasche, schloss die Haustür auf und schlug sie sogleich hinter sich wieder zu, um nun ein wenig stehen zu bleiben und zu verschnaufen.

Aber noch traute er dem Frieden nicht. Er sprang die vielen, knarrenden Stufen hinauf, betrat seine Wohnung, schloss die Etagentür schnell und sorgfältig und schob den Riegel vor. Dann schaute er durch den Spion durch den er nichts Verdächtiges im dämmrigen Treppenhaus erkannte und setzte sich in der Küche schlaff auf einen Stuhl, den Rücken an der Lehne und den Hintern weit nach vorn geschoben. Er beruhigte sich, doch eine gewisse Anspannung blieb. Und als er im trüben, nur durch eine schwache, nackte Glühbirne spärlich gespeisten Licht der Küche vor sich hin schaute, meinte er in den dunklen Schatten neben dem Küchenregal einen tiefdunklen Bereich auszumachen, der lebte und hinter dem sich ein Wesen verbarg.

Mit zunehmendem Unbehagen ging er ins Nebenzimmer, wo ihn außer dem alten Kanonenofen ein stabiles Bett erwartete, das mit der dunkelbraun gebeizten Umrandung, den hohen Pfosten und dem dicken Federbett wie das Bett eines armen Poeten aussah, um vor dem Schatten und all den Anfechtungen des Lebens in den Schlaf zu flüchten. Und tatsächlich fiel er schnell in einen tiefen Schlaf.

Viertes Kapitel

Am nächsten Morgen war zunächst alles vergessen. Wie jeden Morgen hatte der Wecker geklingelt und einen starken Unwillen ausgelöst, das halbwegs warme Bett aufzugeben und den dunklen Tag zu beginnen. Er drehte sich auf die andere Seite und versuchte, den Wecker zu vergessen. Das konnte nicht gelingen, denn gleichzeitig wusste er, dass er aufstehen musste und später in um so größere Zeitnot geraten würde, je länger er wartete. Er hatte sogar den Wecker zehn Minuten eher gestellt, um etwas Luft zu haben, die er aber meist wieder vertrödelte, so dass es am Ende gar nichts mehr brachte. Dumpf lag er auf der Seite und es gelang ihm immer weniger, den Gedanken ans Aufstehen zu verdrängen. Der Kampf gegen das Aufstehen wurde schließlich gewonnen. Sein durch eine gewisse altertümliche Arbeitsethik geprägtes Selbstbild und der in vielen Jahren eingeübte, durch das Berufsleben erzwungene geregelte Lebenslauf ließen ihm keine Wahl. Was ohne Beruf geschehen würde, konnte er leicht am Wochenende studieren. Dann schlief er regelmäßig bis in die Mittagszeit. Was sollte er sonst auch tun?

Als er an diesem Morgen auf der Bettkante saß, erfüllte ihn ein komisches Gefühl. Er erinnerte sich nicht an Einzelheiten. Dunkle Erinnerungsreste an einen Mann mit einem Hirschgeweih. Und in dem Maße, in dem er wach wurde und wieder in die gewohnte Welt eintauchte, dämmerte ihm, dass er auch im Schlaf und im Traum keine Ruhe mehr finden würde. Wenn ihm nun immer wieder solche seltsamen Menschen begegneten – oder immer derselbe in unterschiedlicher Verkleidung?

Mit dem Aufstehen

Und wie er nun überhaupt keine Lust hatte, irgendetwas zu tun, als aus dem Fenster auf die trübe Wand zu starren, machten sich altbekannte Gedanken in ihm breit. Er klagte. Sein Leben sah grau aus. Nicht nur langweilig. Das wäre noch zu ertragen. Es war ungerecht. So lange saß er schon hier und niemals war auch nur ein freundliches Wort gefallen. Seine Kollegen waren inzwischen alle aufgestiegen. Nur er blieb übrig, schlecht und ungerecht beurteilt und behandelt. All die Jahre hatte er auf nackte Ziegelwände gestarrt und schweigend und leidend die Zeit abgesessen. War das das Leben?

In Zeiten großer Demütigung und Trauer oder auch an Tagen wie heute stellte er sich gern vor, was er den Vorgesetzten sagen würde. Solche Gedanken konnten ihn ganze Tage lang begleiten, in seinem Amt, aber auch zu Hause und selbst im Schlaf. Er sprach mit den Vorgesetzten, als ob sie leibhaftig vor ihm stünden. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie kein Herz über das biologische hinaus hätten, eines, das wenigstens zeitweilig ein klein wenig fühlen könnte. Herr Hinze zum Beispiel schien doch manchmal ganz freundlich. Er, Herr S., könnte doch einmal seinen ganzen Mut zusammennehmen und ihm ins Gewissen reden, ihm einen Spiegel vorhalten, ihm einmal richtig deutlich machen, was er in seinen Untergebenen anrichtete. „Also, Herr Hinze“, würde er sagen und dabei würde er ganz ernst, aber bestimmt dreinschauen, „also Herr Hinze, so geht es nicht. Jawoll. Wollen Sie wirklich die Menschen ruinieren?“ So böse konnte er doch nicht sein. Vielleicht wusste er gar nicht, was er immer wieder anrichtete. „Weshalb sind Sie so ungerecht?“ Ja, genau das würde er sagen. Er, Herr S., würde sich richtig in Eifer reden. Er würde groß vor Herrn Hinze stehen und alles würde besser. „Ja, ja“, würde Herr Hinze sagen, „ich will mal sehen, was sich machen lässt“, und er konnte sich richtig das betroffene Gesicht vorstellen, das Herr Hinze dann machen würde. Vielleicht sollte er ihm gar nicht die Meinung sagen, sondern an sein gutes Herz appellieren. Dann würde Herr Hinze sicher ganz zerknirscht dastehen und sagen: „Das war doch gar nicht böse gemeint. Ja, gut, dass sie mir das mal gesagt haben. Nein, Ihre Arbeit ist doch ganz ordentlich.“ Und Herrn S. kamen fast die Tränen der Rührung, wenn er sich dieses Zusammentreffen ausmalte.

Oft dachte er auch an die Nachfolge von Herrn Hirsekorn. Wenn dieser einmal das Pensionsalter erreichen würde, dann müsste ein Nachfolger gefunden werden und er, Herr S., wäre der einzige, der diese Arbeit beherrschte. Wenn sie ihn dann bitten würden, dieses Amt zu übernehmen, dann würde er es ihnen einmal richtig zeigen. „Nein“, würde er sagen. Die Sachen würde er ihnen vor die Füße werfen. Er stellte sich ihre ratlosen und betretenen Gesichter vor. Doch er würde hart bleiben. Sie sollten sehen, wie sie den Posten besetzt bekämen. Nicht mit ihm. Aus diesen Gedanken schöpfte er Kraft und Genugtuung.

In diese Genugtuung hinein schrillte das Telefon. Herr S. hatte zunächst den Impuls, das hässliche Geräusch zu ignorieren. Es konnte kaum Gutes verheißen. Andererseits schien es gefährlicher, dem Klingeln nicht zu gehorchen, so dass er widerstrebend den Hörer von der Gabel nahm und sich meldete. „Hirsekorn“, schnarrte die Stimme des Vorgesetzten aus der Muschel, „Kommen Sie doch bitte mal rüber.“ Herr S. machte sich schlurfend und leicht gebeugt auf den Weg. Wenn Herr Hirsekorn nun den neuen Fall noch gar nicht zur Kenntnis genommen hatte und ihm noch einen völlig anderen Fall geben würde. Herr S. sah immer zu, dass er die Aufträge, die er bekam, gleich erledigte. Er konnte es durchaus nicht leiden, wenn davon mehrere auf ihn warteten. Er wollte immer erst das bereits Begonnene beenden.

Herr Hirsekorn, ein älteres Männchen, dünn und klein und etwas schrullig, das sehr auf gutes - und das hieß auf konservatives - Äußeres achtete, war ein guter Chef. Er war auch schon einmal freundlich und kehrte in ganz seltenen, vertraulichen Stunden den an privaten Dingen interessierten Kollegen heraus, ohne deshalb wirklich interessiert zu sein. Auch konnte er gleich anschließend ein bitterböses Gesicht aufsetzen und über die Arbeit des armen Untergebenen wettern, wobei nie ganz sicher war, ob er sie wirklich missbilligte oder ob er lediglich Angst vor den übergeordneten Vorgesetzten hatte. Zumindest kritisierte Herr Hirsekorn nie in eigenem Namen, sondern schob immer Herrn Mueller oder gar Herrn Hinze vor.

Herr S. betrat einen Raum, der merklich größer war als sein eigenes Amtszimmer und der sich durch ein zweites Fenster auszeichnete. Der Zustand des Raums verriet schon auf den ersten Blick Eigenheiten seines Insassen. Herr Hirsekorn legte alle Vorgänge in sein Amtszimmer. Der Fußboden war überwiegend mit Aktenstapeln bedeckt, sie lagen in hohen Stapeln nebeneinander an der Wand und auf dem Schrank. Akten lagerten in einem voluminösen Stahlregal und natürlich lagen Akten auf dem Schreibtisch - dort in einem Umfang, dass gerade noch eine Fläche zum Schreiben blieb. In der offiziellen Registratur war von seinen Vorgängen kaum etwas verblieben, wenn sie denn je dort hingelangt waren. Herr Hirsekorn behauptete stets, er wisse, wo jeder Vorgang liege und er werde ihn sogleich finden. Eine gewisse Ordnung war auch unverkennbar und überall hingen schmale beschriftete Zettelchen heraus. Doch leider, leider war gerade der jeweils gesuchte Vorgang nicht aufzutreiben.

Das zwang Herrn S., seinerseits von jedem Vorgang eine persönliche Kopie oder eine Durchschrift anzufertigen, die er keineswegs aus den Händen geben wollte. Freilich hatte Herr Hirsekorn erkannt, dass er auf diesem Weg schnell die benötigten Informationen bekommen konnte und versuchte diese Kopien zu ergattern. Dann musste Herr S. weitere Kopien anfertigen, denn alles was er Herrn Hirsekorn gab, war rettungslos verloren. So hatten sich auch bei ihm beträchtliche Aktenberge angehäuft.

Herr S. blieb stumm neben der Tür stehen, während Herr Hirsekorn zu reden begann. Ein Männchen mit Hosenträgern. Er setzte sich

Fünftes Kapitel

Zurück in seinem Zimmer studierte er das Papier und überlegte, was nun zu tun sei. Er schaute aus dem Fenster auf die schmutzigrote Ziegelwand gegenüber - und blieb ratlos. Wenn er auch gelernt hatte, nicht auf Hilfe von außen zu hoffen, so könnte er in einem so schwierigen Fall doch einmal jemanden um Rat fragen. Am ungefährlichsten wäre es, einen untergeordneten Kollegen zu befragen. Herr S. kannte einen Amtsdiener, einen Menschen, der einfachere Arbeiten im selben Arbeitsbereich verrichtete und der damit genaugenommen fast ein Untergebener von ihm war. Mit diesem Amtsdiener, einem gewissen Herrn Steinkautz, konnte er gelegentlich sogar kleine Geheimnisse besprechen. Im Laufe der Jahre wurde er fast so etwas wie ein Vertrauter.

Als Herr S. das allererste Mal, am Tage seines Amtsantritts, mittags essen gehen wollte, hatte dieser Amtsdiener sich erboten, ihm die Kantine zu zeigen und dann auch mit ihm zusammen gegessen. Daraus wurde eine Gewohnheit, an der sie unbeirrt festhielten. Erstaunlicherweise ließ sich Herr S. auch durch die Kritik der Vorgesetzten nicht beirren, die diesen Kontakt für unangemessen hielten.

Den Gedanken, Herrn Flachmann zu konsultieren, verwarf er bald, weil dieser bei einem so komplizierten Sachverhalt kein kompetenter Gesprächspartner sein konnte. Ein übergeordneter Kollege kam von vornherein nicht in Frage. Herr S. musste also einen mehr oder weniger gleichgestellten Kollegen befragen, am besten aber einen anderen Zwischenrat. Das Problem hatte sich damit von seinem Ursprung weit entfernt und konzentrierte sich jetzt auf die gedankliche Auswahl an Kollegen, die für eine Befragung in Frage kämen.

Als Herr S. gedanklich seine Kollegen musterte, kam er zunächst auf einen Herrn Mann, der das Zimmer zur Rechten bewohnte. Der hatte

Und in einem Zimmer etwas weiter zur anderen Seite arbeitete ein Herr Untermann. Der sah immer noch aus wie ein Messdiener, obwohl

Und es gab in der weiteren Umgebung, gegen Ende des Ganges, zum Beispiel die Herren Weinlein und Schön, beides liebe Kollegen. Und diese Eigenschaft, nämlich das Liebsein, führte schließlich dazu, dass die Wahl von Herrn S. auf sie fiel, d. h., sie fiel auf Herrn Weinlein, denn Herr Schön kam als dessen Vorgesetzter und damit übergeordneter Kollege für ein vertrauliches Gespräch nicht in Frage.

Herr S. machte sich bereit für den Weg und war fast frohgemut, weil er einen Entschluss gefasst hatte und endlich Bewegung in die Angelegenheit kam, wobei es von untergeordneter Bedeutung war, ob diese Bewegung auch zum Erfolg führen würde. Er öffnete die Tür seines Amtszimmers, steckte zunächst den Kopf hinaus und war bereit, ihn sofort wieder zurückzuziehen, schaute rechts und links den Gang hinunter und verließ zögernd seinen Raum. Sorgfältig und dennoch schnell verschloss er die Tür und machte sich auf den Weg und blieb sogleich wieder stehen.

Ein Bote näherte sich. An einer Tür hielt er an, starrte mit offenem Mund in die Gegend, den Oberkörper leicht nach vom gebeugt, der Mund wiederholte gar nicht einmal leise die Gedanken, die notwendig sind, um die Akten zu sortieren. Silbern blitzte ein einzelner Knopf an seiner Jacke. Ihm waren diese Menschen unheimlich. Teuflisch kamen sie ihm vor, dunkel und undurchschaubar. Für eine Flucht war es zu spät. Er beschleunigte seine Schritte so weit es, ohne direkt aufzufallen, möglich schien. Er rannte fast, bog in den nächsten Gang und blieb stehen. Der Bote beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Was wollte er von ihm? Und dann war Herr S. nicht mehr sicher, ob dieser Bote nicht zwei Beulen am Kopf hatte, eine Glatze und zu einer dunkelbraunen Jacke rötlichbraune Pluderhosen trug. Aber das konnte eigentlich nicht sein. Langsam ging er weiter.

Vor der richtigen Tür angekommen vergewisserte er sich trotzdem noch an Hand des Namensschildes auch ja am richtigen Ort zu sein,

Im Gespräch mit dem Vorgesetzten rutschte Herrn Weinlein die im übrigen sehr starke Brille - sie ließ die Augen nur schwach und stark verkleinert hinter dicken Gläsern erkennen - von der Nase, ohne allerdings herunterzufallen. Sie haftete vielmehr und erstaunlicherweise irgendwo in Höhe der oberen Kinnpartie. Die Augen, die nun ungeschützt zum Vorschein kamen, heuchelten Interesse, während die Mundwinkel unschwer eine Abneigung - um nicht Ekel zu sagen - erkennen ließen.

Sein Gegenüber passte dazu wie ein Puzzleteil. Herr Schön gab sich souverän, doch sein ganzes Auftreten verriet das Gegenteil. Es war unverkennbar, dass er den Untergebenen missachtete. Gleichzeitig meinte er, nicht auf ihn verzichten zu können. Er war selbst nicht ohne Kenntnisse und konnte gelegentlich durchaus zusammenhängend und verständlich formulieren. Doch er war, wie alle Beamte, in höchstem Maße ängstlich. Ständig wurden Katastrophen erwartet und was man erwartet, das trifft auch ein.