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Klänge, Geräusche, Rauschen - Stille. Berlin hat einen ganz eigenen Sound, der irgendwo zwischen Clubdröhnen, Presslufthämmern und Fassadenflüstern liegt. Einen Sound, der das Gefühl der Stadt in uns nachklingen lässt, wohin wir auch gehen. 31 Berliner Autor*innen schreiben darüber, wie sie ihre Großstadt hören, nicht nur mit den Ohren. Eine Stadt, die mit leisem Vogelzwitschern erwacht, die immerfort murmelt und flüstert, die rauscht und schreit und singt und streitet, die aber auch ganz plötzlich in Schweigen verfallen kann. Sie nehmen dich mit auf Tanzflächen, in Hinterhöfe, Beerdigungsinstitute, Seitengassen, Seziersäle, in die Vergangenheit und die neue Gegenwart.
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Seitenzahl: 304
Veröffentlichungsjahr: 2021
Für die Stille in dieser Zeit
Und die Worte, die wir in ihr gefunden haben
Dieses Buch enthält Inhaltswarnungen / Content Notes auf der letzten Seite gegenüber der Deckel-Innenseite.
Vorwort
Jana Thiel
Im Ring
Liv Modes
Unser Lied
Aylin Ünal
Die Klippen der Stadt
Daniel Klaus
Luft anhalten
Anna Heitger
Nichts und alles
Sofia Banzhoff
Menschenfresser*innen
Claudia van Gozer
Fleck und Flimmerkasten
Matthieu Jimenez
Wie die Stadt bei Stille klingt
Tobias Panthel
Entzweiung
Alicia Voigt
a puddle of sun
S. M. Gruber
Seite Zwei
Lars Widmann
Das Pausen-Duo
Maja Janina Heining
Zukunftsmusik
Christin Tewes
Sophies Held
Jane Nagler
Irgendwas ist anders
Sophie Laaß
Dekadance
Manja Siber
Genius Loci
Pêcheuse
Musik im Herzen
Ulrike Günther
Nachtstreifzüge einer Bohémienne
Emma Rüter
Zwei Filme
Tanja Ganser
Alles zu verlieren
Spunk Seipel
Im Radio spielen sie Jazz
Nadja Kasolowsky
Schwanenlied
Jennifer Pfalzgraf
Die Gabel
Frauke Gerstenberg
Hörwinkel und Schnittgut auf Orte
Jen Pauli
Stück für Stück Heimat
Nicolas Stille
Fun?
Mechthild Henneke
Asche
Jo Lenz
Halb fünf kommt die Katze nach Hause
Sylwia Westerberg
Neue Geister
Katharina Stein
Solo in Dur
Danksagung
Die Autor
*
innen
Inhaltswarnungen / Content Notes
Hörst Du das?
Komm, setz Dich zu uns und hör zu. Mit den Ohren, mit den Augen oder mit dem ganzen Körper, wenn Du magst. Es ist die Großstadt, die Dich mit ihren Klängen lockt. Es ist Berlin.
Als wir das Thema dieser Ausschreibung gewählt haben, wussten wir noch nicht, wie sehr sich unser aller Leben in diesem Jahr verändern würde – und damit auch die Geräusche, die uns täglich umgeben. Umso schöner ist es, dass wir dieses Jahr 31 ganz unterschiedliche Texte dabei haben, die uns nicht nur an ein Berlin vor der Pandemie erinnern, sondern auch die neue Gegenwart fühlen lassen.
Lass Dich mitnehmen in Clubs, fremde Wohnungen, überfüllte Restaurants, in die lauten und die leisen Straßen. Folge dem Rattern, dem Rumsen, dem Rauschen, lass Dich entführen vom Flüstern und Singen. Oder lausche mit uns der Stille, die hier sogar viel lauter sein kann als jeder Lärm.
Weißt Du noch, wie es sich anfühlt, wenn der Bass in deiner Brust dröhnt? Wie er sich ausbreitet, in rhythmischen Wellen, Dich tanzen, vergessen, lieben lässt. Und erinnerst Du Dich noch daran, als unsere größte Sorge in den Öffis war, dass wir die Ansage für unsere Station nicht verpassen? Damals, als wir alle noch morgens zur Arbeit gefahren sind, zur Uni oder in die Schule. Stattdessen lernst Du jetzt Deine Nachbarn kennen, hörst ihren Rhythmus neben Deinem fließen. Fühlst Dich verwegen, weil Du spazieren gehst, obwohl Du doch drinnen bleiben solltest. Aber zum Glück gibt es auch Dinge, deren Klang sich von Pandemien unbeeindruckt zeigt. Sonnenuntergänge im Park. Vogelzwitschern. Instrumente. Rieselnde Asche. Das Sezieren einer Leiche. Und noch so vieles mehr, das es auf den nächsten Seiten zu entdecken gibt.
Egal ob Du Sehnsucht nach Berlin hast oder endlich weg willst, ob Fernweh oder Heimweh, der Sound dieser Stadt lässt Dich nicht los.
Setz Dich zu uns und hör zu.
Deine
Sophie, Liv, Jen und Katharina
Am Westhafen wird er hellhörig. Denn dort steigt seit vier Tagen das Kaugummikauen in den Ring. Jeden Morgen um 7:23 Uhr betritt es Wagen vier und lässt sein Herz hüpfen, sobald er es erlauscht.
Knatsch. Schmatz. Patsch. Boomboom. Boomboom. Boomboom.
Das Kaugummikauen ist ein wilder Lockenkopf und heißt Frida. Das weiß er von dem kleinen Namensschild, das jeden Tag ein bisschen schräg an ihren schrägen T-Shirts baumelt. Heute ist der fünfte Tag, an dem sie sich hier begegnen. Gleichzeitig ist es Fridas letzte Fahrt in Wagen vier. Das weiß er ebenfalls von ihrem Schild. Über ihrem Namen steht dort in bunten Buchstaben »CUPCAKE FESTIVAL NEUKÖLLN« – und das endet, wie Google ihm bereits vor Tagen verraten hat, heute Abend um 18:00 Uhr. Letzter Einlass: 17:30 Uhr. Letzte Chance, sie anzusprechen: 7:48 Uhr. Dann nämlich steigt sie an der Sonnenallee aus, während er weiter in die Agentur fährt.
Schmatz. Schmatz. Knatsch. Tick. Tack. Tick. Tack.
Hey-zwinker. Nee, zu viel. Hey-lächel. Wie geht’s? Ja, ’ne Frage hinterher ist gut. Das wirkt interessiert. Ginge natürlich auch noch persönlicher: Hi Frida, wie geht’s? Wobei – könnte komisch kommen mit dem Namen. Vielleicht hat sie vergessen, dass sie das Schild anhat. Dann denkt sie ja gleich, dass er ein Scheiß-Creep ist. Sag mal, hättest du Lust auf ’nen Kaffee mit ’nem Scheiß-Creep – ich mein, mit mir? Noch mal. Wollen wir uns mal auf ’nen Kaffee treffen? Besser. Nur was, wenn sie gar keinen Kaffee mag? Dann auf ’n Bier? Oder ’ne Flasche Wein, ’ne Cola, Holunder-Schorle, Minztee, ’ne Mate? Im Zweifel ein verzweifeltes Glas Wasser, bitte. Sprudel oder still? Stille.
Knatsch. Patsch. Schmatz. Ratter. Ratter. Ratter. Ratter. Ratter.
Ist das die Ringbahn oder sein Kopf, in dem die Gedanken rastlos ihre Runden drehen? Warum kreiselt alles nur noch um das Mädchen aus Wagen vier? Um ihren zerzausten Blick. Die Entschiedenheit, mit der sie ihren Kopf in den Nacken wirft, wenn ihr die feierwütigen Locken auf der Nase herumtanzen. Um die grellen Kreolen an ihren zarten Ohren. Die Socken, die noch an keinem Tag zu ihrem Outfit, geschweige denn zueinander gepasst haben. Ob er zu ihr passt? Fakt ist: Er liebt das Kaugummikauen. Ihr Kaugummikauen. Der Rest der Welt würde ihn damit wahnsinnig machen. Bei ihr ist es anders. Ob ein Geräusch direkt ins Herz treffen kann? Die Zweifel jedenfalls sind schon eingeschlagen. Hat sie ihn an all den Tagen wenigstens ein einziges Mal bemerkt? Gerade meint er, sich eingebildet zu haben, sie hätte ihm zugelächelt. Wahrscheinlicher ist, dass sie bloß etwas zu konzentriert auf die Anzeige über seinem Kopf gestarrt hat. Wie viele Stationen sind es noch bis zur Sonnenallee? Und kaut sie auch Kaugummi, wenn der Mond scheint? Fragen über Fragen über Frida.
Knatsch. Schmatz. Knatsch. Rausch. Raschel. Rschhrajfaguab.
»Zurückbleiben, bitte!«, brüllt es aus den Lautsprechern. Scheint, als würde jemand die Türen blockieren.
»Ick hab jesacht zurückbleiben! Nur der Typ in Wagen vier – janz jenau, du da mit der Streberbrille, da kiekste, wa – du solltest mal ’nen janz großen Schritt nach vorne machen. Und sie verdammt nochmal endlich ansprechen!«
Irritiert schreckt er hoch. Der Urberliner aus den Gedankenboxen hat recht. Dit kann doch nich so schwer sein. Wenigstens ein paar Worte zu sich selbst sollte er problemlos hinbekommen. Hi Frida, ich bin Marzahn und komme aus Tim. Ach, fuck.
Schmatz. Knatsch. Patsch. Schnick. Schnack. Schnuck.
Zwei kleine wuselige Wesen im Vierer nebenan vertreiben sich spielend die Zeit. Kaugummi schlägt Angst. Wovor hat er eigentlich so eine Scheißangst? Davor, dass sie Nein sagt? Dass sie einen Freund hat? Dass sie einen Freund erfindet? Dass sie ihren Kaugummi auf seine Nase drückt? Dass sie nichts sagt? Dass sie Vielleicht sagt? Vielleicht. Kaugummi schlägt Angst. Also los. Stay fresh und Mund auf. Doch statt ihm spricht wieder der Lautsprecher: »Nächster Halt –« Dein Maul! Er will nicht hören, was er sowieso schon weiß: In wenigen Augenblicken erreichen sie die vorletzte Station auf Fridas letzter Fahrt. Um 7:45 Uhr stoppt die Bahn planmäßig am Treptower Park.
Patsch. Patsch. Schmatz. Gurrr. Gurrr. Gurrr.
Ein flatternder Fahrgast steigt zu. Aufgeregt fliegt die verirrte Taube durch die Gänge und scheucht mit ihrer reinen Anwesenheit reihenweise Menschen auf. Tageszeitungen setzen zum Taubenschlag an. Wilde Gesten versuchen, das Tier zur Tür zu bewegen. Auf den guten Rängen hat man bereits die Smartphones gezückt. Geil. Tauben-Content für Instagram. Bloß die Ringbahn zeigt sich unbeeindruckt. Sie schließt ihre Türen und rattert unbeirrt weiter. Die Taube, die den Ausgang nicht gefunden hat, fährt verwirrt mit. Nach einer Weile scheint sie die temporäre Ausweglosigkeit ihrer misslichen Lage erkannt zu haben, denn sie gibt das unkoordinierte Flügelschlagen vorerst auf und sucht sich einen Sitzplatz. Bitte, bitte, komm’ nicht zu mir, denkt er, als sich die Taube in seine Richtung bewegt. Natürlich kommt sie zu ihm. War ja klar. Die Taube und der Stumme. Wie ironisch. Resigniert rutscht er ein Stück zur Seite, um der Taube auf seinem Sitz ein wenig Platz einzuräumen. Was sie wohl von ihm will? Kommt sie in Frieden? Frida.
Stille. Stille. Stille. Boomboomboomboomboomboomboomboom.
Für einen kurzen Moment befindet sich sein Herz in freiem Fall. Er lauscht noch einmal in den Wagen hinein. Das Kaugummikauen ist verschwunden. Dabei sind sie noch gar nicht angekommen. Suchend schaut er sich um und atmet auf. Das Kaugummikauen ist verschwunden, aber der Lockenkopf ist noch da. Hat Frida ihren Kaugummi verschluckt, als sie eben der Taube ausgewichen ist? Er will aufstehen, auf sie zugehen, sie fragen. Aber er ist wie gelähmt. Seine Beine gehorchen ihm nicht. Wie versteinert sitzt er neben der nickenden Taube.
Stille. Stille. Stille. Stille. Stille. Stille.
In die tosende Stille des Kaugummis mischt sich das donnernde Verstummen der Ringbahn. Der Himmel verdunkelt sich, als Wagen vier quietschend an der Sonnenallee zum Stehen kommt. Frida bewegt sich zur Tür – sein Blick klebt an ihren Fersen. Auch die Taube ist in Aufbruchstimmung. Sie schwingt sich unbeholfen auf und flattert in die Freiheit. Schließlich sieht er wieder auf die Stelle, an der Frida noch vor wenigen Sekunden mit ihren bunten Socken gestanden hat. Einsam und verlassen liegt dort ein Päckchen mit Kaugummis. Ihren Kaugummis. Plötzlich ist er hellwach. Er weiß, was zu tun ist. Er springt auf, schiebt sich zwischen den umstehenden Leuten hindurch und sammelt die Kaugummipackung auf. Seinen Fund triumphierend in die Höhe haltend, rennt er zur Tür.
»Ey Frida, warte! Deine Kaug–«
Uuuuuuuuiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiuuuuuuuuuuu. Pffft.
Die Türen schließen.
Du hast gesagt, du schreibst mir ein Lied.
Du hast es mir mit deinen Händen gesagt und »versprochen« hast du buchstabiert. Vielleicht hattest du Angst, dass ich dich sonst nicht verstehen würde. Dabei hörte ich die Musik gar nicht, sondern fühlte sie nur in den Vibrationen im Boden unter meinen Füßen, sah sie in den flackernden Stroboskoplichtern, roch sie im Schweiß der tanzenden Menschen, in verschütteten Getränken und Erdnusssalz.
Wir standen uns mit zu viel Abstand gegenüber, weil wir uns ja eigentlich gar nicht kannten. Manchmal schob sich jemand zwischen uns hindurch, dann konnte ich kurz nicht sehen, was du sagtest.
Normalerweise gehe ich nicht in Clubs, um zu reden. Wenn du in dieser Stadt reden willst, musst du an den Bushaltestellen warten, an denen »Fick die Welt« in Kinderhandschrift steht, musst hinter den Trotz schauen und spüren, was die Fassaden flüstern, wenn sie glauben, dass alles schon schläft. Dieses Fassadenflüstern, das fühlt sich an wie der erste kühle Wind am Ende des Sommers. Vielleicht hast du das inzwischen auch herausgefunden.
Damals warst du neu in Berlin. Deine erste Party, das hat man dir angesehen. Dein Outfit war etwas zu bemüht und deine Bewegungen etwas zu beiläufig.
Überhaupt war das so eine seltsame Mischung aus Dingen, die du wusstest und nicht wusstest. Im Club zum Beispiel, da hast du verstanden, dass ich nicht einfach seltsam tanze, sondern mitsinge, und du hast gewusst, wie du mir antworten kannst. Aber später, da wusstest du nicht, wie man über den Schleichweg zur S-Bahn kommt und dass man morgens um halb fünf keine Pizzaecken isst, weil das den Geruch des Sonnenaufgangs verdirbt. Du kanntest dich nicht mit fremden Männern aus, die sich über die Lippen lecken, wenn man vorbeigeht, und du wusstest auch nicht, dass das letzte Geräusch, das ich gehört habe, das schrille Quietschen von Autobremsen war.
Zugegeben, davon habe ich dir nicht erzählt. Ich dachte, dafür wäre später noch Zeit.
Ich bin jetzt dort, auf dem Schleichweg. In der aufgeweichten Erde glaube ich, die Abdrücke deiner Turnschuhe zu erkennen. Deine Füße gingen in dieser Nacht nicht in dieselbe Richtung wie meine, weil du den Schleichweg rückwärts entlanggelaufen bist, mit geschlossenen Augen.
»Mach auch«, hast du gesagt. Zwischen den Straßenlaternen war es so dunkel, dass ich dich kaum verstanden habe, und dann hätte ich dir am liebsten eine gescheuert, weil das wieder etwas war, das du nicht wusstest: dass ich Angst habe, die Augen zu schließen, weil ich die Welt dann noch weniger begreifen kann. Hast du das mal versucht? Dinge zu verstehen, indem du sie riechst? Zweifel zu besiegen, indem du fühlst, wie lang der Abstand zwischen den Fragezeichen ist?
Nein, hast du nicht. Weil du zuhören und nachfragen kannst. Weil du deine Antworten in Dezibel findest.
Ich bin wieder im Club. Sie haben ihn letztes Jahr dicht gemacht, kurz nach dieser Nacht, in der wir für ein paar Stunden mehr waren als nur zwei Fremde.
Keine Ahnung, wo du jetzt bist. Damals hast du gesagt, du wollest dorthin gehen, wo die Musik herkommt und mir Hände voller Noten mitbringen – Noten aus Farben und Gerüchen und Gefühlen, damit auch ich sie hören kann. Rückblickend erscheint mir das ziemlich übertrieben, aber schön fand ich es trotzdem.
Warst du schon mal bei Tag in einem Club? Es ist ernüchternd. Ohne die Menschen und die Musik bleibt nicht viel übrig.
Ich kann sehen, dass die leeren Räume traurig sind. Sie fühlen, wie stickig die Luft ist. Sie wissen, dass sie aufgegeben wurden. Und dass meine Rückkehr nur mein Abschied von dir ist.
Weißt du, dass ich dachte, du hättest dein Versprechen gebrochen, nachdem du verschwunden bist? Ich war eine ganze Weile ziemlich sauer auf dich deswegen. Das tut mir leid. Ich habe dich eigentlich nur vermisst.
Die Luft ist warm, als ich wieder nach draußen trete. Anders warm als drinnen. Lebendiger, weniger verlassen.
Und auf einmal ist da dein Lied für mich.
Ich sehe es in den Schneeglöckchen im Park. In den Tauben, die sich um Pizzaeckenkrümel streiten, und in den etwas zu knappen Softshelljacken der Familienväter auf dem Radweg. Ich spüre es in den Pollen, die in meiner Nase jucken, in den Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht, im Geruch nach feuchter Erde und Turnschuhabdrücken auf Schleichwegen.
Die rauen Betonwände des Clubgebäudes wispern mir einen letzten Kuss hinterher.
Du hast dein Versprechen nicht gebrochen.
Du hast mir den Frühling geschrieben.
Bea ignoriert den besorgten Blick ihres Lieblingsbarmanns, als er ihr den Drink über den Tresen reicht. Der rauchige Duft schottischen Whiskys steigt von dem Glas auf, das nun beruhigend zwischen ihren Fingern sitzt. Wenn sie ihre Hand dreht und die Lichter der Bar auf den Whisky treffen, verändert sich die Farbe von goldgelb bis dunkelrot. Je länger die Reifung, desto intensiver die Farbe, hat der Barmann ihr erklärt. Es sei denn, die Hersteller täuschen mit Zuckerkulör.
Erst vor einer Stunde hat Bea vor dem Fernseher gesessen, nur ein Stockwerk über dem Barhocker, auf dem sie jetzt sitzt. Die Tagesschau zog an ihr vorüber wie ein Rausch; die Nachrichten blieben nicht hängen, sondern hinterließen nur das dumpfe Gefühl, dass die Welt nicht in Ordnung war. Dann erschien die Lottofee und verkündete die Zahlen der heutigen Ziehung. Mühsam war Bea aus ihrer Lethargie erwacht. Dass die ersten vier Zahlen dieselben waren wie auf ihrem Lottoschein, hatte sie reglos zur Kenntnis genommen. Bei der fünften richtigen Zahl hob sie die Augenbrauen und lehnte sich vor. Sie hatte schon seit zehn Jahren kein Lotto mehr gespielt, denn niemand, der glücklich ist, verschwendet einen Gedanken an Glücksspiele. Doch als sie vor ein paar Tagen an der Kirche vorbeigekommen war, wo vor zwei Monaten der Trauergottesdienst für Lilli stattgefunden hatte, waren die Gefühle wieder hochgekommen, als hätte sich ein Schuss aus einer Pistole gelöst.
Heute vor dem Fernseher hatte Bea in sich hineingehorcht, doch sie spürte nichts. Seit zwei Monaten hatte sie – abgesehen von Trauer und Wut – nichts mehr gefühlt. Die Lottofee lächelte, als würde sie sich mit den unbekannten Gewinnern freuen, und verkündete die letzte Zahl.
Der Gedanke wickelte sich nur langsam um ihren Geist. Das kleine Papier war nun vier Millionen Euro wert und fühlte sich leichter an als vorher, zerbrechlicher. Die Zahlen schienen darauf zu tanzen. Was hätte sich Lilli gewünscht, hätte sie sich ein Geschenk aussuchen können? Bea konnte den Zettel nicht schutzlos in der Wohnung liegen lassen und so ruht der Lottoschein jetzt in der Hosentasche ihrer Jeans, er streckt sich entlang ihres linken Oberschenkels aus, als müsste er sich von einer großen Anstrengung erholen.
Der Barhocker neben Bea wird verschoben und sie wendet den Kopf. Der Barmann begrüßt den Neuankömmling mit einem herzlichen Handschlag.
»Bernardo, was läuft? Das ist Beatrice.«
Der junge Mann dreht sich in ihre Richtung. Sein Dreitagebart bildet einen Rahmen um die ebenmäßigen Zähne. »Bernardo und Beatrice, klingt das nicht wie in einem Film?« Seine Stimme ist ein angenehmes Brummen.
Bea schaut dem Whisky in ihrem Glas beim Schaukeln zu und sagt, sie verstehe nicht viel von Worten. Was sie denn beruflich mache, will er wissen.
Was mit Zahlen, antwortet sie.
Zahlen seien wie Sprache, sie seien lebendig, meint Bernardo und kreist sein Rotweinglas so heftig, dass ein Wirbel darin entsteht.
»Wenn ich mit ihnen durch bin, sind sie tot«, sagt Bea.
Bernardo lacht so laut, dass einige Gäste den Kopf zu ihnen wenden. Tot – das Wort ist ihr in diesem Zusammenhang so leicht über die Lippen gekommen. Der Whisky hat inzwischen ihre Blutbahnen abgetastet und das Gehirn erreicht, wo er eine warme Taubheit hinterlässt. Nach Lillis Tod hat sie diese Taubheit immer wieder gesucht, bis es Daniel schließlich zu viel wurde. Das macht unsere Tochter auch nicht wieder lebendig, hat er geschrien und ist gegangen.
Bernardo spricht von seiner WG in Mitte, wo er mit zwei spanischen Freunden lebt; der eine studiert Medizin, der andere versucht, sich als Architekt zu etablieren. Sie hätten Paella gekocht und er werde sich jetzt auf den Weg machen, sagt er an Bea gewandt, das Lächeln vom Dreitagebart eingerahmt. Der Barmann zwinkert ihr zu und hält ein Bierglas unter die Zapfanlage.
In Bernardos Wohnung ist der Tisch schon gedeckt. Die Fenster stehen offen und lassen die laue Nachtluft herein. Die Paella ist köstlich. Bald werden der Rotwein und die leeren Teller von Gin Tonic und Chips abgelöst.
Bea lässt den lauten spanischen Redeschwall an sich abperlen wie Wasserstrahlen unter der Dusche. Die Sprache erinnert sie an La Gomera und an die Zeit, die sie dort mit Daniel und ihrer Tochter verbracht hat. Ihre Spanischkenntnisse waren brüchig wie die Felsküste, an deren Abhang sie wohnten. Doch auf dieser Insel bedurfte es keiner Worte, um die in Knoblauch gegarten Garnelen zu genießen oder um vom moosbehangenen Lorbeerwald im Nebel verzaubert zu werden. Der Duft nach Natur hing die ganze Nacht in Beas Haar und Daniel hatte sein Gesicht darin vergraben.
Die anderen ignorieren das Klingeln an der Wohnungstür oder hören es nicht. Bea öffnet. Durch ihren Schleier aus Whisky und Gin sieht sie mehrere junge Männer im Flur, breit gebaut, kurze Haare, einer trägt ein Deutschlandtrikot. Die Männer sagen, sie könnten das spanische Geplapper nicht mehr hören, man sei hier in Berlin und nicht in Madrid, und drängen an ihr vorbei in die Wohnung. Der Hausflur riecht muffig und ist kahl. Vor der Wohnung gegenüber stehen mehrere Schuhpaare, eins davon ist klein mit rosa Vögelchen darauf. Auch Lilli hat ihre Gummistiefel immer ordentlich auf der Fußmatte abgestellt, nachdem sie auf dem Spielplatz waren.
Die Paella und die Chips liegen Bea schwer im Magen und sie verspürt das Bedürfnis, sich zu bewegen. Sie lässt die Wohnungstür hinter sich zufallen, ihre Hand streicht über das hölzerne Treppengeländer und folgt ihm bis ins Erdgeschoss.
Touristengruppen strömen an ihr vorbei die Oranienburger Straße entlang. Dazwischen stehen die Prostituierten wie Leuchttürme, von den Menschenscharen umbraust und doch einsam. Ein Mann mit Basecap und kariertem Hemd spricht gerade mit einer der Frauen. Grazil hält sie ihn mit ihrer Zigarette auf Abstand, bestimmt genug, damit er sie nicht berührt, doch mit einem aufmunternden Lächeln, um ihn nicht zu vertreiben. Die Prostituierte klackert mit den Absätzen ihrer glänzenden weißen Stiefel, während sie gestikuliert. Zwei weitere Männer um die 50 umkreisen sie wie Wespen rohes Fleisch, zielsicher und wild vom Geruch der Beute, aber noch nicht bereit zu landen. Als Bea an ihnen vorbeigeht, erhebt der Mann mit dem Basecap die Stimme und richtet sich vor den Konkurrenten auf.
Bea biegt in eine Seitenstraße ab. Der Geräuschpegel sinkt schlagartig, als hätte jemand den Stöpsel gezogen und alle Schallwellen würden davongerissen. Der Anblick der Frauen hängt in ihrem Gedächtnis. Sie wirken wie Kriegerinnen in einer Schlacht, die sie nicht gewinnen können, die sogar darauf warten, von Schwertern durchbohrt zu werden.
Schwere Schritte hallen hinter ihr, dann ist ein Mann an ihrer Seite. Seine Figur wirkt zu klein für die dicke Lederjacke, die er trägt, und eine knollige Nase beherrscht sein Gesicht. Sein Atem riecht nach Bier und Zwiebeln, sein Bart kratzt über ihr Gesicht, als er sich an sie drängt. Bea stößt ihn von sich, doch seine Hände finden wieder ihr Ziel und erkunden ihren Körper wie ein ungebetener Gast eine fremde Wohnung, in der er Schränke öffnet und in Schubladen wühlt. Sie will ihn anschreien, aber die Angst hält die Luft in ihren Lungen und die Kraft in ihren Muskeln gefangen.
Im Rücken fühlt Bea eine Haustür und sieht Klingelschilder neben sich. Die Namen verschwimmen. Sie denkt an ihren Mädchennamen, den sie mit der Hochzeit abgegeben hat. Daniels Nachname, der wie ein Fremdkörper in ihr Leben getreten ist.
Die Haustür wird mit einem Ruck nach innen geöffnet und Bea stürzt nach hinten, die Hände des Mannes an ihren Schultern festgekrallt. Sie fängt sich, drückt sein Gesicht zur Seite und tritt nach ihm. Aus dem Hausflur treten fünf Frauen hervor, in glitzernden Oberteilen und seidigen Strumpfhosen. Die beiden vorderen ziehen den Mann sofort aus Beas Reichweite. Eine Welle aus Beschimpfungen braust auf. Der Mann windet sich und brüllt ebenfalls, doch inzwischen haben ihn auch die anderen drei Frauen umringt. Bea schiebt sich zwischen sie, sieht in ihre entschlossenen Gesichter und spürt, wie sich eine unbekannte Wärme entfaltet. Die Frauen halten den Mann fest und warten auf Beas Urteil. Bea schlägt dem Mann ins Gesicht, erst zögerlich, dann fester, überrascht von dem Brennen auf ihrer Hand und der schnaufenden Reaktion des Bärtigen. Die Frauen johlen, doch Bea fühlt die Leere wieder in sich hochsteigen. Sie schüttelt den Kopf und die Frauen lassen den Mann widerwillig los. Eine von ihnen, eine junge Frau mit kurzen blonden Haaren, tritt ihm noch gegen das Schienbein, bevor er sich aufrappelt und die Straße entlangrennt.
Bea tastet nach dem Lottoschein, er knistert noch immer in ihrer Hosentasche. Die Ältere mit dem roten Lockenkopf hakt sich bei Bea unter, drückt ihr eine offene Sektflasche in die Hand und zieht sie mit sich, als wären sie schon seit Wochen verabredet. Der Sekt vertreibt den Spuk und Bea lässt die Flasche auf Wanderschaft gehen. Die Rothaarige stimmt ein Lied an, die anderen fallen mit ein. Beas Stimme überschlägt sich. Die zierliche Blonde nimmt sie an den Händen und wirbelt sie herum. Sie drehen sich um eine unsichtbare Mitte, wie Bea es früher mit Lilli gemacht hat. Ich bin ein Vogel, hat ihre Tochter dann gerufen. Wieder und wieder haben sie im Kinderzimmer getanzt, weil sie nicht schlafen wollte. Nur noch fünf Minuten, hat die Kleine gesagt, obwohl sie noch keine Uhr lesen konnte. Sie musste diese kluge Abwehrformel im Kindergarten aufgeschnappt haben.
Laute Rockmusik aus den 2000er Jahren schallt durch den länglichen Raum der Bar. Das schwarze, krause Haar der DJane quillt unter ihren Kopfhörern hervor und die Lichter huschen wie Geister über ihre dunkle Haut.
Die Rothaarige zieht Bea zur Theke. Eine Bardame mit tätowierten Armen stellt zwei Wodka-Shots vor ihnen ab. Über die Klänge der Gitarrenriffs hinweg ruft die Rothaarige in Beas Ohr, dass nun alles gut sei und warum sie immer noch so traurig aussehe. Bea schaut auf die bunten, kreiselnden Lichtkegel, sie spürt ihren Atem, der ihren Körper füllt. Sie muss sich anstrengen, um mit ihrer Stimme die nötige Lautstärke zu erreichen und Kraft für die Worte zu sammeln. Ihre kleine Tochter, ihr einziges Kind, sei gestorben, ein Autofahrer habe sie übersehen, als sie nach der Schule nach Hause ging.
Aus dem Strudel der Tanzenden taucht die junge Blonde neben ihnen auf und stürzt einen Wodka hinunter. Die bunten Lichter zucken über ihre Haare.
»Was ist los?«, ruft sie und die Ältere antwortet: »So ’n Scheißwichser hat ihre Tochter totgefahren!«
Der Bass dröhnt und Bea spürt ihn wie Wellen in ihrem Körper. Alle in ihrem Umfeld hatten mit ihren Formulierungen immer die Klippen umschifft: Lilli ist von uns gegangen. Der Tag, an dem Lilli verschwand. Ihre Tochter ist nun nicht mehr da.
»Was hast du gesagt?« Die Blonde kneift die geschminkten Augenlider zusammen und rückt näher heran.
»Ein Scheißwichser hat meine Tochter totgefahren!«, schreit Bea.
Die beiden Frauen ziehen sie auf die Tanzfläche. Bea bewegt sich zwischen den wogenden Körpern zur Musik. Die Töne umhüllen ihre Haut, der scharfe Geschmack des Wodkas liegt auf ihrer Zunge. Der Bass vibriert in ihrer Brust, der Rhythmus füllt sie aus, rinnt durch ihre Adern und macht ihre Muskeln geschmeidig. Körper streifen sie wie ein flüchtiger Kuss, weiche Haare fliegen ihr ins Gesicht. Immer schneller dreht sich Bea, sie hebt die Arme, ihr Atem beschleunigt sich.
Die Nacht und der anbrechende Morgen haben die meisten Tanzenden schon verschluckt. Draußen empfängt Bea die Morgenluft, und der erste Sonnenschein klärt ihren Kopf. Sie sieht in die grimmigen Gesichter von Körpern, die in ihre Büros eilen. In einem Kiosk wird die Tür aufgeschlossen und die Zeitungen in der Auslage kündigen den Beginn eines neuen Tages an. Am Treppenaufgang zur S-Bahn sitzt ein Mann ohne Schuhe. Er hat lockige Haare, trägt ein helles Leinenhemd und spielt Gitarre. Sein Hallelujah segelt sanft durch die Straße.
There’s a blaze of light in every word
It doesn’t matter which you heard
The holy or the broken Hallelujah.
Tränen hinterlassen nasse Fährten auf Beas Wangen und bahnen sich einen Weg zu ihren Mundwinkeln. Sie sieht den Musiker an, wie er mit geschlossenen Augen singt, verloren in der Musik, Herrscher über die Töne. Sie tastet nach dem Lottoschein. Er fühlt sich anders an. Sie wirft ihn in den offenen Gitarrenkoffer zu den Münzen und steigt die Treppen hinauf.
Ich beobachte den Mann schon seit drei Stationen und werde nicht schlau aus ihm. Was macht er da? Eigentlich wirkt er ganz normal. Er ist frischrasiert, ordentlich gekämmt und trägt gepflegte Kleidung: schwarze Lederhalbschuhe, eine dunkelblaue Jeans und einen schwarzen Mantel. Er könnte Architekt oder Dozent an der Uni sein. Schließlich gebe ich mir einen Ruck. Wenn ich ihn nicht anspreche, werde ich nie erfahren, was er da macht. Ich gehe zu ihm.
»Was tun Sie da?«, frage ich.
Er gibt mir mit der Hand ein Zeichen, dass ich kurz warten soll. Ich warte. Nach fünf Sekunden atmet er geräuschvoll aus.
»Ich wollte nicht unhöflich sein«, sagt er. »Aber ich konnte nicht mittendrin abbrechen.« Er holt tief Luft. »Die U2 ist die ideale Trainingsstrecke. Sie ist wunderbar komponiert. Der Streckenplaner muss ein großer Musikliebhaber gewesen sein.«
Der Streckenplaner muss ein großer Musikliebhaber gewesen sein? Wovon redet er? Ich verstehe nur Bahnhof.
»Es ist ganz einfach«, sagt er und sieht mich verschmitzt an. »Beim Türenschließen tief einatmen. Und ausatmen erst dann, wenn sich an der nächsten U-Bahn-Station die Türen wieder öffnen.«
Aha. Aber was ergibt das für einen Sinn?
»Ich bin Hornist«, sagt er, als könnte er meine Gedanken lesen. »Ich habe auch andere Linien ausprobiert, aber an die U2 kommt keine Strecke heran. In ihr steckt so viel. Sie hat Tiefe, sie hat eine Geschichte zu erzählen und sie lässt sich dafür die notwendige Zeit. Das macht sie zu einer echten Herausforderung, weil sie Konzentration und Ausdauer verlangt. Es gibt ein paar richtig schwierige Passagen, aber genau das zeigt ihre Größe. Wenn man sie einmal problemlos hin- und zurückatmet, ist man wirklich gut und kann sich ohne Lampenfieber auf die Bühne begeben.«
»Sie trainieren also Ihre Atmung«, sage ich. »Aber der Abstand zwischen den einzelnen U-Bahn-Stationen ist doch unterschiedlich lang.«
»Das ist ja gerade das Gute«, sagt er. »Musikstücke sind auch unterschiedlich lang, genau wie die Parts für die Hornisten. Die U2 hat elf Stationen lang einen ähnlichen Verlauf wie der Part, den ich gerade einstudiere. Das ist kein Zufall. Es ist ein klassisches Motiv.«
Ich sehe ihn mit großen Augen an. »Sagen Sie, wie kommt man auf so etwas?«, frage ich.
»Ein bereits pensionierter Kollege hat mir erzählt, dass er das immer in der Straßenbahn gemacht hat, um seine Atmung zu trainieren. Ich habe es dann auch einmal ausprobiert. Irgendwann bin ich auf die U2 gestoßen. Es hat ein bisschen gedauert, weil ich eigentlich in einer ganz anderen Ecke der Stadt wohne.«
»Für Sie ist diese Strecke also eine Art Trainingsgelände. Sie benutzen die U2 gar nicht als Fortbewegungsmittel?«
»So ist es«, sagt er. »Atmen Sie mal vom Spittelmarkt bis zum Zoo mit. Ich liebe diesen Abschnitt. Sie werden sofort spüren, dass Sie das schon einmal gehört haben.«
Wir sind gerade in den U-Bahnhof Märkisches Museum eingefahren. Eigentlich müsste ich die nächste Station aussteigen. Ich bin auf dem Weg zu Sonja, meiner Schwester, um ihren Wellensittich abzuholen. Sonja fährt morgen in den Urlaub und ich habe ihr versprochen, mich um ihn zu kümmern. Aber wann habe ich schon mal die Gelegenheit, mit professioneller Begleitung in der U-Bahn die Luft anzuhalten?
»Wenn die Türen sich schließen?«, frage ich.
Er nickt.
Ich werde meiner Schwester eine SMS schicken, dass ich später komme.
Und dann füllen wir unsere Lungen mit Sauerstoff und halten die Luft an.
Und atmen erst an der nächsten Station wieder aus.
Und wieder. Und wieder. Ich staune.
Elf Stationen lang.
Ich bin völlig außer Atem, als wir am Zoo ankommen, aber der Hornist hat Recht. Ich bin alles andere als ein großer Kenner klassischer Musik, doch diese Melodie im Brustkorb, im Mund und in der Nase zu spüren, ist einfach wunderbar.
»Und?«, fragt er.
»Ja«, sage ich und nicke.
Wir strahlen jetzt beide.
»Dieser Streckenabschnitt ist ein Traum«, sagt er. »Ich habe etwas Vergleichbares bisher in keiner anderen Stadt gefunden. Weder in der Pariser Métro noch in der Londoner Tube und auch nicht in New York oder Ottawa. Die U2 scheint in dieser Hinsicht einzigartig zu sein.«
»Danke«, sage ich überwältigt. »Ich bin froh, dass ich Sie getroffen habe.«
Ich gebe ihm die Hand und steige aus, bevor sich die Türen wieder schließen. Ich sehe, wie er tief Luft holt. Dann setzt sich die Bahn in Bewegung und verschwindet im Tunnel. Ich mache mich auf den Weg zum gegenüberliegenden Bahnsteig und freue mich bereits auf die Rückfahrt.
Friedrichstraße
»Nichts?«, fragte er. »Ist das etwa nichts?«
Emmys Herz raste. Sie konnte sich von seinem durchdringenden Blick nicht lösen, denn da war so viel zwischen ihnen, so viel mehr als nichts, natürlich, aber sie fühlte sich, als schwebte sie in der Luft und fände den Boden nicht mehr. Sie brachte kein Wort heraus.
Die S-Bahn fuhr ein und kam mit einem langgezogenen Quietschen zum Stehen, unterbrach den Augenblick, das Gespräch, das sie die letzten drei Tage hinausgezögert hatten und das alles entscheiden würde. Der Wind des einfahrenden Zugs schlug ihr kalt ins Gesicht. Sie spürte ihre Beine wieder am Boden, steuerte, ohne sich umzudrehen, die nächstgelegene Tür an und schlängelte sich zwischen dem Chaos aus aussteigenden und einsteigenden Personen durch. Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass er dicht hinter ihr war. Obwohl ein Teil von ihr vielleicht sogar wollte, er würde sie aus den Augen verlieren.
In der S-Bahn waren einige Plätze frei geworden – es war schließlich auch schon spät am Abend und nicht viele Personen fuhren um diese Uhrzeit noch in Richtung der Außenbezirke. Emmy zögerte einen Moment und wartete ab, bis er Platz genommen hatte, um sich nicht neben ihn, sondern ihm provokativ gegenüber zu setzen. Diesmal gelang es ihr, seinen suchenden Blick zu erwidern. Er wusste, dass sie es als ein Zeichen von Vertrautheit empfand, im Zug nebeneinander zu sitzen, und immer darauf bestand, wenn sie gemeinsam unterwegs waren. Und Emmy wusste, dass sie ihn mit ihrer Platzwahl irritiert hatte. In diesem Moment konnte sie die Fremdheit, die sie der räumliche Abstand fühlen ließ, nur zu gut brauchen.
Sie wandte sich zum Fenster, als die Töne, die die Abfahrt des Zugs ankündigten, erklangen – noch ungewohnt und fremd in ihren Ohren – und sie daran erinnerten, dass sie hier nicht hingehörte. In etwas weniger als vierundzwanzig Stunden würde sie wieder weit weg von hier sein und es würde sich anfühlen, als hätte es die letzten Tage nicht gegeben. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Stur starrte sie weiter aus dem Fenster, obwohl sie seinen Blick auf ihrem Gesicht brennen spürte, und stur schwieg sie, anstatt auf seine Frage von vorhin zu antworten.
»Weißt du«, sagte er plötzlich, »wir sollten gemeinsam verreisen, im Sommer.«
Emmy löste den Blick von der Fensterscheibe, blickte ihn an und sagte nichts. Vielleicht hob sie die linke Augenbraue leicht, vielleicht auch nicht; sie wusste nicht wirklich, ob sie es konnte oder sich nur einbildete, die Augenbraue zu heben.
»Nach Italien zum Beispiel«, fuhr er fort. Er lehnte sich nach vorne und nahm ihre Hände, fuhr die Linien zwischen ihren Fingern nach. »Du weißt ja, ich war noch nie dort, also …« Er verstummte und blickte fragend zu ihr auf.
Emmys Gedanken ratterten lauter als der Zug. Sie kannte ihn, sie wusste, er sagte niemals etwas, das er nicht so meinte – es waren nicht einfach leere Worte. Aber was für ein Spiel spielte er dann hier, warum dachte er an die Zukunft – wie konnte er sich selbst und sie zusammen in einer Zukunft überhaupt denken, ausgerechnet jetzt, nachdem das Gespräch vorhin diesen Lauf genommen hatte?
»Ja, klar«, schnaubte Emmy achselzuckend und hielt seinem Blick herausfordernd stand, ohne die kleinste Regung zu zeigen. Zumindest versuchte sie das. Sie wusste ja inzwischen, dass er ihre Gefühle und Stimmungen viel genauer lesen konnte, als ihr lieb war. Diese Blöße ihm gegenüber machte sie nur noch wütender, ihre Hände in den seinen fühlten sich an, als würden sie brennen, und doch ließ sie es zu. Wenn er wusste, wie verletzt sie sich fühlte, wie verloren, warum ignorierte er das jetzt, warum nahm er sie nicht in den Arm und ließ sie nie wieder los? Warum ließ er sie alleine mit dem Durcheinander ihrer Gefühle, warum verstand er nicht, dass es genau dieser Moment war, an dem er ihr endlich begreifbar machen musste, wie viel sie in seinem Leben wert war, dass sie ihm nicht weniger wichtig war als er ihr. Oder wollte er nicht verstehen?
Er ließ ihre Hände los, wandte sich mit einem kaum hörbaren Seufzer ab, blickte hinaus ins Schwarz der Nacht und schwieg. Ist wohl besser so, dachte Emmy noch. Sie waren müde – von einem langen Tag und müde von dem Gespräch, das er in dem Restaurant begonnen hatte, und noch müder davon, wie es sich endlos im Kreis drehte. Dieses Thema, das sie die letzten beiden Tage versucht hatten, fortzuschweigen. Und trotz der Verbundenheit, die sich in der Zeit eingeschlichen hatte, durch welche Gefühle auch immer, saßen sie einander nun gegenüber statt nebeneinander und ließen die wenige Zeit, die sie zusammen hatten, einfach verstreichen.
Dabei war es fast romantisch gewesen, vorhin. Obwohl sie doch solche Situationen in stillschweigender Übereinkunft stets vermieden. Natürlich konnten sie sich nicht vormachen, dass da gar keine Gefühle zwischen ihnen waren, aber solche? Doch vorhin, als er tief Luft holte, merkbar angespannt, über den Tisch nach ihrer Hand gegriffen hatte, da hatte es sich tatsächlich fast angefühlt wie der Beginn von etwas Neuem, aufregend, Kribbeln in ihren Füßen. Das ist bestimmt dieser Ort, hatte sie versucht, sich einzureden. Das Restaurant am Spreeufer, die Lichter der fremden Stadt, die warme Luft des Frühsommerabends voller Erwartung.
Und dann das.
Später würde sich Emmy nicht erinnern können, was sie damals zueinander gesagt hatten und wie es dazu gekommen war, dass sie meinten, dass das mit ihnen nicht würde weitergehen können. Doch im Moment war es nur zu real, als das Schwarz der Nacht am Zugfenster vorbeiraste, im Hier und Jetzt. In ihren Gedanken wiederholte sich alles, was er gesagt hatte, alles durcheinander.
Studierendenwohnheim, Zone C
Sie waren bei ihm zu Hause angekommen, eine lange Fahrt bis an den Stadtrand, mit dem Bus, der in der Nacht nur selten fuhr, dann ein gutes Stück zu Fuß – es war kalt geworden –, nun endlich drinnen, durch die dunklen Gänge des Studierendenwohnheims und durch diese seltsame Mischung verschiedener Gerüche, die unter den Türen der winzigen Zimmer hindurchdrangen. Irgendwann beim Warten an der Bushaltestelle hatten sie wieder angefangen zu sprechen, wie lange noch, bis der Bus kommt,