Grollen am Horizont - Maud Schwarz - E-Book

Grollen am Horizont E-Book

Maud Schwarz

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Beschreibung

Kugeln sausen an Hermanns Kopf vorbei. Granaten schlagen ein, während er mit der Ruhr zu kämpfen hat. So beginnt der Hamburger Thorsten Buttke sein Buch über seinen Großvater. In jahrelanger, kräftezehrender Arbeit trotzt der Kriegsenkel der Vergangenheit einen Roman über seine Familie ab. Dabei gerät er in einen Strudel negativer Emotionen, der in einer Depression endet. Sein alter Schulfreund Stefan, der sein Buchprojekt begleitet, hilft ihm durch die Krise. Doch erst eine unverhoffte Wendung in der Familien- geschichte gibt Thorsten wieder Auftrieb. Die Hamburgerin Maud Schwarz war lange Zeit als freie Journalistin tätig. Inzwischen arbeitet sie als Dozentin für Wirtschaftslehre. Nach einem Roman für junge Erwachsene, der im Südwestbuch-Verlag 2012 erschienen ist, hat sie nun eine Familienchronik ge-schrieben.

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Seitenzahl: 516

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Maud Schwarz

Grollen am Horizont

Maud Schwarz

Grollen am Horizont

- Eine Familienchronik -

Die Handlung und die handelnden

Personen sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits

verstorbenen Personen ist zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 2022

ISBN 978-3-96438-067-8

Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzungen,

Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare

Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen.

© 2022 Südwestbuch Verlag

SWB Media Entertainment, Sommenhardter Weg 7, 75365 Calw

Printed in EU

Umschlaggestaltung: Gerd Schweikert

Lektorat: Johanna Ziwich

Satz: Julia Karl / www.juka-satzschmie.de

Druck und Bindung: Custom Printing PL

Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.

www.suedwestbuch.de

Was ist,

wenn alles war;

und was wird,

wenn alles ist?

2014

»Was schreibst du da, Thorsten?«

»Leere Worte auf leere Seiten.«

»Hört sich vielversprechend an.«

»Nicht wahr?!«

»Los, sag schon.«

»Ich will die Geschichte meiner Großeltern und Eltern aufschreiben. Zumindest versuche ich das.«

»Ist sie interessant?«

»Interessanter als meine.«

»Verstehe.«

»Wirklich?«

»Nein.«

»Kennst du nicht das Gefühl, dass jeder Baum wichtiger ist als du?«

»Eigentlich nicht.«

»Was ich sagen will: Bäume produzieren Sauerstoff. Ich dagegen verbrauche ihn nur und stoße anschließend Kohlendioxyd aus.«

»Wenn es dich beruhigt, versichere ich dir gern schriftlich, dass du nicht allein an der Klimaerwärmung schuld bist.«

»Du musst auch die Menge Methangas bedenken, die aus mir entweicht.«

»Blähungen? Das erzählst du öfter.«

»Ja, was soll ich machen?! Das Leben schlägt mir zunehmend aufs Gedärm.«

»Du hast zu viel Luft im Gehirn, mein Freund.«

»Und so was will Arzt sein!«

»Okay, meine ehrliche und kostenlose Diagnose lautet: Du bist immerzu am Grübeln und sorgst dich zu viel. Dein sensibles Texterherz macht sich beständig in die Hose.«

»Diese Diagnose erscheint mir unter anatomischen Gesichtspunkten fragwürdig. Um nicht zu sagen: äußerst fragwürdig.«

»Du weißt, wie ich es meine.«

»Wieso soll ich immer wissen, wie du etwas meinst, wenn du nie weißt, wie ich was meine?«

»Können wir bitte das Thema wechseln? Ich wollte nur ganz entspannt mit dir ein Bier trinken.«

»Mach das. Ich fühle mich gern verspannt. – Hast du übrigens vorgestern den Artikel in der Sonntagszeitung gelesen? In dem stand, dass Eltern sich heutzutage nicht mehr unbedingt wünschen, dass ihre Kinder es später einmal besser haben sollen.«

»Überrascht mich nicht. Für mich und Birgit gilt das richtig genommen auch. Heute hofft man als Vater oder Mutter eher, dass die Kinder sich später den Lebensstandard erhalten können, den sie von klein auf gewohnt sind.«

»Was haben die Gören es gut!«

»Naja, ich weiß nicht.«

»Ich fand es jedenfalls nicht witzig, mir früher von morgens bis abends anhören zu müssen, dass ich es einmal besser haben sollte. Wohlgemerkt: SOLLTE. Nichts von wegen Wahlfreiheit. Ich SOLLTE. Das war bereits beschlossene Sache, bevor ich meinen ersten Atemzug machte. Ganz schöner Druck für’n Kind. Da kann man nur scheitern.«

»Wieso scheitern? Du hast doch jede Menge erreicht.«

»Ja?«

»Ja! Wie würdest du ein Studium, eine abgezahlte Eigentumswohnung, ne fette Karre und den Aufstieg vom Texter zum Kommunikationsdirektor sonst nennen!?«

»Als wenn es darum ginge!«

»Worum geht es sonst? Dir geht es gut, du willst es nur nicht sehen.«

»Es geht DARUM, dass es meinen Eltern gelungen ist, nach dem Krieg etwas aufzubauen. Buchstäblich aus dem Nichts. Sie kamen in Hamburg an mit leeren Händen. Dreißig Jahre danach hatten sie ein Häuschen, eine Wohnung und einen studierenden Sohn, der keinBafög beantragen musste. Und das, obwohl mein Vater Alleinverdiener war. Was habe ich dagegen geschafft? Meine Wohnung konnte ich mir nur kaufen, weil ich von meinen Eltern nach deren Hausverkauf Geld bekommen habe. Aufgebaut habe ich nichts, bestenfalls das Bestehende erhalten. Ich bin Verwalter. Nichts weiter. Und damit soll ich zufrieden sein?«

»Das kannst du nicht vergleichen. Deine Eltern hatten ein bescheidenes Häuschen, während du heute in einer Kapitalistenwohnung an der Elbe hockst und lamentierst. Was soll ich sagen? Meine Frau und ich sitzen auf einem Schuldenberg in Pinneberg.«

»Ich verstehe immer noch nicht, wie ihr dort hinziehen konntet. Nach Pinneberg! Hoffentlich parkst du mit deinem PI-Kennzeichen nicht direkt vor meiner Tür. Was wohl die Nachbarn denken?!«

»Sehr komisch! Ich hoffe, es ist dir recht, wenn ich später lache. Es kann halt nicht jeder in Blankenese leben. Und, um wieder ernst zu werden, exakt das ist der Punkt: Du hast es bis hierher geschafft – anders als die meisten anderen. Also heul nicht rum wie eine alte Frau.«

»Chauvi!«

»Jammerlappen!«

»Also gut, ich habe es – wie du es auszudrücken pflegst – bis nach Blankenese geschafft und bin deshalb ein toller Hecht. Vor allem, wenn man bedenkt, dass ich eine Frau und unzählige Kinder habe, die mir ständig die wenigen verbliebenen Haare vom Kopf fressen.«

»Ich wünschte, es wäre so. Dann wärst du wahrscheinlich zufriedener.«

»Ohne Haare? Wohl kaum!«

»Du brauchst endlich eine Frau. Das Junggesellendasein tut dir nicht gut.«

»So eine Schatz-Liebling-Beziehung würde also aus mir einen ganz neuen Menschen machen?«

»Womöglich sogar eine Hasi-Mausi-Beziehung, wer weiß?«

»Mhhm. Manchmal denke ich tatsächlich darüber nach, dass ich der Letzte unserer Sippe sein könnte.«

»Das lässt sich ändern.«

»Wenn ich den Löffel abgebe, war’s das mit meiner Familie. Kein Ast im Stammbaum, der sich weiter verästelt, stattdessen Schluss, aus und vorbei. Jahrtausendelang haben meine Vorfahren erfolgreich ums Überleben gekämpft, sich angepasst und ihre darwinistischen Gene weitergegeben. Ausgerechnet ich bin es nun, der für keine Nachkommen sorgt.«

»Sag mal, Thorsten, besuchst du heimlich einen Volkshochschulkursus für Theatralik? Das ist ja nicht zum Aushalten. Dich sollte man in der Wüste aussetzen und erst abholen, wenn du weißt, wie gut du es zu Hause hast. Wer sagt denn, dass du keine Kinder mehr bekommst?!«

»Mit fünfzig?«

»Du bist neunundvierzig.«

»Und du bist kleinlich.«

»Willst du deshalb eure Familiengeschichte aufschreiben?«

»Weil DU kleinlich bist??????«

»Damit du etwas hinterlässt, Mensch!«

»Schon möglich.«

»Lass mal die ersten Seiten hören.«

»Wirklich?«

»Ja, schieß los!«

1.

Er war nicht sonderlich überrascht, als es in seinem Gedärm zu rumoren begann. Ehe er sich versah, setzten heftige Krämpfe ein. Hermann wurde blass, kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. So etwas hatte er noch nie erlebt. Es fühlte sich an, als würde sein Inneres zerfetzt. Er krümmte sich und ächzte unter den in Wellen auftretenden Schmerzen. Niemand neben ihm nahm von seinem Kampf Notiz, nicht einmal von der braunen Dreckbrühe, die seine Hose zuerst am Hinterteil und danach an den Beinen verfärbte, denn der Angriff hatte begonnen.

»Sauerei«, stöhnte Hermann und packte sein Gewehr. Die Rumänen nahmen urplötzlich ihre Flanke unter Beschuss. Niemand hatte sie gewarnt, genauso wenig wie vor der nicht enden wollenden Grausamkeit und Zerstörung. Gestern noch fürsorgliche Väter, Brüder und Ehemänner hatten sich in wilde Horden verwandelt, die zuerst Tugenden und Werte töteten, später die, die man zu Feinden erklärt hatte und schließlich die eigenen Seelen. Vielleicht verlief dieser alles dem Untergang entgegenschleudernde Prozess auch in einer anderen Reihenfolge ab. Aber wer interessierte sich schon für Reihenfolgen, wenn alles im Chaos versank?

Nicht weit von Hermann schlug eine Granate ein. Holzteile und Dreck flogen ihm um die Ohren. Als er wieder sehen konnte, klaffte bei seinem Kameraden Richard in der Mitte der Stirn ein Loch. Hermann war drauf und dran sich zu übergeben, doch sein Bauch krampfte sich erneut so heftig zusammen, dass er seine Übelkeit vergaß, wie auch das Wummern der Maschinengewehre und den Kugelhagel. Abermals lief die Brühe an seinen Beinen hinunter. Aus dem Augenwinkel sah er Hauptmann Bahlmann, der ihnen etwas zurief, was in dem ohrenbetäubenden Geschützdonner unterging.

»Wat sagt er?«

Der junge Soldat, der erst vor kurzem zu ihrer Truppe gestoßen war, hatte den Befehl verstanden und gab ihn weiter: »Erst schießen, wenn der Hauptmann es befiehlt.« Der Kerl zitterte wie Espenlaub. Hermann gab durch ein Nicken zu erkennen, dass er ihn gehört hatte.

»Ob sie Flammenwerfer haben? Ich glaube, die haben Flammenwerfer.« Die Stimme des etwa Achtzehnjährigen klang schriller als der jaulende und pfeifende Sturm, in dessen Auge sie sich befanden.

»Nee, hamse nich«, sagte Hermann, obwohl er keine Ahnung hatte. »Nimm jefällijst deinen Kopp runter«, herrschte er den jungen Burschen an. »Sonst stirbste auch an ner Kugel.« Der junge Kamerad gehorchte und duckte sich tiefer hinter die Böschung. Hermann achtete nicht weiter auf ihn. Die Männer neben ihm hatten begonnen, das Feuer zu erwidern. Schnell legte er das Gewehr an, dessen Lauf durch die ständige Nässe angerostet war, und schoss blindlings in die Richtung, in der er feindliche Bewegungen vermutete. Als sein 98er leer war, nahm er das von seinem toten Kameraden. Hart stieß der Gewehrkolben gegen seine rechte Schulter, wieder und wieder, bis sich keine Kugel mehr im Magazin befand. Hermanns Blick fiel auf die Repetierbüchse des angeschossenen Soldaten links von ihm. Sie sah neu aus und weniger Rückstoß hatte sie obendrein. Nach ein paar Schüssen pflanzte er sein Bajonett auf. Danach verpasste er dem Neuzugang, der wimmernd zu seinen Füßen kauerte, zwei kräftige Ohrfeigen. Der Junge bekam einen halbwegs klaren Blick. Auf Hermanns Kommando pflanzte er ebenfalls sein Bajonett auf. Gemeinsam verließen sie ihre Stellung. Hermann lief und lief. Vor ihm lag zerstörtes Niemandsland, über dem dichter Rauch waberte. Plötzlich tauchte jemand vor ihm auf. Noch einer und noch einer. Hermann rannte sie buchstäblich um. Weiter, weiter. Auf einer gefrorenen Pfütze wäre er beinahe ausgerutscht. Laufen, laufen. Eine Detonationswelle riss ihn zu Boden. Wieder nichts als Qualm, aus dem ein zersplitterter Baumstumpf herausragte. Wie ein Mahnmal. Direkt vor seiner Nase zerfetzte Körper, aus denen Därme quollen. Zum Donnerwetter, wo war der Junge abgeblieben? Hermann konnte nur wenige Meter weit sehen. Warum war der Junge nicht mehr an seiner Seite? Laufen, laufen. Eine Kugel pfiff an seinem Ohr vorbei. Nicht hinfallen, weiterlaufen! Wo war der Junge? Es krachte. Hermann machte einen verzweifelten Hechtsprung und landete in einem Krater. Plötzlich Stille. Kein Geschützdonner mehr. Verständnislos starrte er auf sein blutiges Bajonett und den deutschen Soldaten, der sich gerade mit heruntergelassener Hose erleichterte.

»Scheiß Ruhr«, ächzte der Soldat. »Kolle. Gefreiter Willi Kolle«, ergänzte er und zog sich seine Hosen hoch. Bevor Hermann etwas sagen konnte, sprang der Gefreite aus dem Trichter und rannte in die Richtung, in der er seine Kampfgruppe vermutete.

2014

»Du hast ›schon möglich‹ gesagt. Welchen Grund gibt es noch?«

»Ich kann dir leider nicht folgen. Von ›schon möglich‹ steht hier nichts, und üblicherweise halten sich Romanfiguren an ihren Text.«

»Bevor du angefangen hast vorzulesen, habe ich dich gefragt, ob du die Geschichte deiner Familie aufschreiben willst, weil sie womöglich ausstirbt. Und du meintest ›schon möglich‹.«

»So, wie du das sagst, hört sich das an wie eine Meldung vom Naturschutzbund. Buttke: Ein besonders seltenes Exemplar der deutschen Moorente, die zur Familie der gemeinen Ente gehört und auf der Liste der vom Aussterben bedrohten Tierarten steht.«

»Wie kommst du jetzt auf Moorente?«

»Wahrscheinlich, weil ich Hunger kriege.«

»Du machst mich echt fertig, Thorsten.«

»Mal was ganz anderes: Kann ich dir einen geheimen Wunsch anvertrauen?«

»Nur wenn ich nicht Gefahr laufe, rot zu werden.«

»Ich hoffe mit meiner Geschichte – nicht lachen jetzt! – auf einen Bestsellererfolg, damit ich nicht mehr täglich anschaffen muss.«

»Auf einen Bestseller hofft bestimmt jeder Autor. Ob dein Roman das Zeug dazu hat, kann ich nicht beurteilen. Dazu habe ich bislang zu wenig gehört, und letztlich verstehe ich auch nicht viel von Büchern. Das erste Kapitel fand ich in jedem Fall ganz spannend.«

»Gaaaanz spannend??? Das ist ein gaaanz schön vernichtendes Urteil, Stefan.«

»Was erwartest du?! In Sachen Literatur bin ich der falsche Ansprechpartner. Ich lese kaum und wenn, nur Fachlektüre. Wie gesagt: Die Kriegsszene fand ich gut beschrieben. Ist Hermann dein Urgroßvater? Hier geht’s doch um den ersten Weltkrieg, oder?«

»Nein, Hermann ist mein Opa.«

»Und er hat schon damals gekämpft? Dann beginnst du direkt mit seinem Erwachsenenalter?!«

»Nicht wirklich. Ich mache noch einen Rücksprung zu seiner Geburt und arbeite mich anschließend chronologisch vor.«

»Seltsame Reihenfolge.«

»Als Autor kann ich machen, was ich will. Ich bin der Schöpfer. Ein bisschen hier umstellen, ein bisschen dort, die Buchstaben durcheinanderwirbeln und abermals ordnen, bis alles die Gestalt annimmt, die mir vorschwebt.«

»Jetzt hast du auch noch Allmachtsphantasien. – Kennst du deinen Opa eigentlich persönlich? Er muss ja sehr alt gewesen sein, als du geboren wurdest.«

»Natürlich kenne ich ihn. Du auch!«

»Tut mir leid, ich kann mich nicht an ihn erinnern.«

»Er starb, als ich zehn war. – Das war meine erste Beerdigung …«

»Oh nein, wir werden uns nicht über Beerdigungen unterhalten.«

»Schade, und über was sonst?«

»Hast du echt keine Lust mehr zu arbeiten – oder wie du es nennst: anschaffen zu gehen?«

»Welche Prostituierte hat dazu Lust?«

»Weiß nicht, kenne keine. Bin Birgit seit mehr als zwanzig Jahren treu ergeben.«

»Hört sich langweilig an, verheiratet zu sein.«

»Hört sich verbittert an, nicht verheiratet zu sein.«

»Mir reicht es, mit meiner Arbeit verheiratet zu sein.«

»Bislang hatte ich immer den Eindruck, dass du gern für den Laden arbeitest.«

»Früher, ja. Mittlerweile ist es kaum zum Aushalten. Diese Heuchelei, die ganzen Intrigen und diese maßlose Mittelmäßigkeit – es macht mich krank. Manchmal könnte man wirklich meinen, es gibt die Pflicht zur Durchschnittlichkeit, und sobald du dagegen verstößt, hast du ein Problem.«

»Hast du einen neuen Chef?«

»Nein, der Referent des Vorstandsvorsitzenden ist neu. Ein überheblicher Mittdreißiger. Von nichts ne Ahnung und schwingt trotzdem große Reden. Hat wahrscheinlich in Besserwisserei promoviert. Jeder sieht auf den ersten Blick, dass er ein Blender ist, nur Big Boss nicht.«

»Warte, ich glaube, du hast dich mal über ihn ausgelassen. Ist das der, der immer in irgendwelchen Türrahmen steht und herumschwadroniert?«

»Exakt der. Ich verstehe es nicht: Langsam müsste wirklich jeder bemerkt haben, dass die richtig Guten eher leise sind und nicht salbadernd durch die Flure laufen und sich wichtigmachen. Dafür haben sie nämlich keine Zeit, weil sie arbeiten. Und warum arbeiten sie? Weil sie an Inhalten interessiert sind und nicht an ihrer Außenwirkung. Aber nein, die Blender werden den Guten regelmäßig vorgezogen.«

»Das hört sich nach Kränkung an.«

»Hier geht es nicht um meine Befindlichkeit. Es geht um die erschütternde Tatsache, dass die Menschen nichts dazulernen und nach wie vor mit Hurra-Gebrüll Scharlatanen auf den Leim gehen. Guck dir doch nur die Politiker an.«

»Also, ich weiß nicht. Einige von ihnen machen bestimmt einen guten Job. Bei uns Ärzten zählt in jedem Fall Qualität. Wer pfuscht, hat schnell ein Problem. – Dieser Jungspund aus eurem Unternehmen, kann er dir denn was? Immerhin ist er nur Referent, und du bist Kommunikationsdirektor.«

»Es heißt ›Communications Director‹. So wie du es aussprichst, hört es sich immer nach Zirkusdirektor an. Zu deiner Frage: Offiziell kann er mir nichts. Das hält ihn jedoch nicht davon ab, mir ständig in die Arbeit reinzureden. Faselt was von ›im Auftritt jünger werden‹. Jüngere Bildsprache, jüngerer Text. Was er tatsächlich meint, ist jüngeres Personal. Mein Bauchgefühl sagt mir, der Kerl will in Absprache mit dem Vorstand mein Nachfolger werden.«

»Daher also die Blähungen.«

»So sieht’s aus!«

»Musst du das wirklich?«

»Was? Blähen?«

»Nein, dir das gefallen lassen. Warum zeigst du nicht Rückgrat und kämpfst?«

»Kämpfen? Du meinst wohl intrigieren. Das ist leider nicht mein Metier. Wer heutzutage Rückgrat zeigt, dem wird es bei nächster Gelegenheit gebrochen. Nein, nein, wenn du Karriere machen willst, musst du ohne Haltung und mittelmäßig sein. Leistung ist nicht notwendig. Die macht eher verdächtig. Alle Werte, die ich mit der Muttermilch aufgesogen habe, wie Leistung, Disziplin, Anstand oder Ehrlichkeit, sind mittlerweile hinderlich. Eigentlich sollte ich meinen Eltern, wenn ich sie nächsten Sonntag besuche, zwischen Rinderbraten und Apfelkompott vorwerfen, mich zu einem altmodischen Trottel und damit Versager erzogen zu haben. Zu jemandem, den die Gesellschaft nicht mehr braucht und nicht mehr will.«

»Du übertreibst.«

»Ich fürchte, nicht.«

»Das kann doch niemals gutgehen, wenn überall nur noch die Mittelmäßigen und Blender regieren.«

»Geht es ja auch nicht. Guckst du keine Nachrichten? Es kracht an allen Ecken der Welt.«

»Das hat nicht nur mit Mittelmäßigkeit zu tun. Schuld ist für meine Begriffe vor allem die Gier.«

»Für mich ist Gier auch Ausdruck von Mittelmäßigkeit.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Und nun?«

»Jetzt würde ich gern weiter vorlesen, wenn du nichts dagegen hast.«

2.

Durch das Schneegestöber erblickte die Frau ein kleines Licht, das auf und nieder tanzte. Mit der einen Hand hielt sie das mehrmals gestopfte und um den Kopf gewickelte Wolltuch fest, mit der anderen Hand versuchte sie, ihre Augen abzuschirmen, um besser sehen zu können. Das Licht kam näher. Eine Peitsche sauste durch die Luft. Einmal, zweimal. Die Frau lauschte eine Weile in die Dunkelheit. Vielleicht war es doch keine Peitsche gewesen, die sie gehört hatte, überlegte sie, sondern nur das Jaulen des Sturms, dessen eisiger Atem von den russischen Ebenen bis nach Pommern reichte. Gerade wollte sie ihren Weg fortsetzen, da tauchte plötzlich vor ihr ein Schlitten auf. Voller Schrecken bekreuzigte sie sich und sprang zur Seite, um sich vor dem Gefährt in Sicherheit zu bringen. Die alte Kaschubin war überzeugt, dass es der Leibhaftige höchstpersönlich war, der mitten in der Nacht an ihr vorbeijagte. Bei besseren Sichtverhältnissen hätte sie vermutlich in ihm niemand anderen als den Bauern Wilhelm Buttke erkannt, der mit Schafpelzmantel und tief über die Ohren gezogener Fellmütze auf dem Schlittenbock saß und seinen Trakehnerhengst anfeuerte.

»Willst du wohl schneller laufen, du oller Gaul«, fluchte er und ließ erneut die Peitsche knallen. Der Hengst gehorchte und steigerte sein Tempo. In wildem Galopp schoss er dahin.

»Wenn dat nur gut geht, wenn dat nur gut geht«, jammerte die Hebamme, die in mehrere Decken gehüllt hinten im Schlitten saß und sich krampfhaft an die Seitenlehne klammerte. Rechts vor ihr, gleich neben dem Kutschbock, schwang eine Petroleumlaterne gefährlich hin und her. Voller Angst verfolgte die Hebamme jede Bewegung der Laterne. Ihr eigenes Schicksal, so schien ihr, war eng mit dem des Lichts verbunden. Wenn dieses erlosch, würde es mit ihr gleichfalls vorbei sein. Während sie sich in den lebhaftesten Farben ausmalte, wie sie mit einem Genickbruch im Graben landete, nahm der Hengst eine letzte Kurve, bei der die Fünfzigjährige tatsächlich fast aus dem Schlitten geschleudert worden wäre. Statt in einer harschen Schneewehe fand sie sich vor dem Haus des alten Buttke wieder. Die Flanken des Trakehners waren trotz der Kälte mit Schweiß bedeckt, und vor seinem Maul stand gelblich-weißer Schaum.

»Hedwig, wir sind da – die Frau wartet!«, dröhnte Wilhelm. Leicht schwankend stieg die Hebamme aus dem Schlitten und folgte dem Bauern ins Haus, wo sie etwas benommen in der Nacht vom vierzehnten auf den fünfzehnten Januar im Jahr 1880 den kleinen Hermann auf die Welt holte. Nach dem üblichen Klaps aufs Hinterteil fing der Säugling sofort zu brüllen an und hörte erst damit auf, als ihn seine Mutter an die schlaffe Brust legte, die schon neun weitere Kinder genährt hatte. Sobald Hedwig Anstalten unternahm, den Säugling von der Brust wegzunehmen, um ihn zu versorgen, fing Hermann erneut zu schreien an. Sein Köpfchen wurde dunkelrot und seine kleinen Füße traten nach der Hebamme, zumindest wirkte es so.

»Hat ein Dickkopp wie der Vater. Dat kann wat werden«, murmelte die Hebamme und strich sich eine von grauen Fäden durchzogene Strähne aus ihrem bereits vor Jahren gealterten Gesicht.

Hedwig sollte recht behalten. Die ersten Lebensmonate lag der kleine Hermann überwiegend schreiend und weinend in seiner Wiege. Obwohl er mehr wütend als leidend klang, nahm ihn seine Mutter ständig auf den Arm, wo er bald Ruhe gab.

»Lass ihn schreien. Du verwöhnst ihn«, kritisierte Wilhelm seine Frau. Du hast gut reden, dachte Alma. Wenn du auf dem Feld bist, musst du sein Gebrüll nicht ertragen.

Kaum war Hermann dem Säuglingsalter entwachsen und zur großen Erleichterung seiner Mutter stiller geworden, ging es kurz nach seinem zweiten Geburtstag wieder los. Seine gesamte Lungenkraft schien er darauf zu verwenden, seinen Willen gegenüber seinen Eltern und vor allem gegenüber seinen Geschwistern durchzusetzen. Wenn sein Krakeelen nicht half, schmiss Hermann sich vor Wut zu Boden und strampelte wild und fuchtelte mit den Armen. Seine Brüder und Schwestern kamen früher oder später vom Lärm angelockt herbei und machten sich über ihn lustig, woraufhin er sich aufrappelte und zornig auf sie zu wankte. Auch an Hermanns Namenstag lief es so ab.

»Wat blökt er denn wieder?« In Karls Frage schwang Missbilligung mit.

»Lass ihn!« Alma reagierte auf die Frage ihres ältesten und schon fast erwachsenen Sohnes mit einem Schulterzucken.

Die Zwillinge Albrecht und Otto, überzeugt, dass die Anweisung für sie nicht galt, drängelten sich in die Küche und riefen in Hermanns Richtung: »Heulsuse, Heulsuse!«

»Euluse«, stimmte Oskar begeistert mit ein und zog den ein Jahr jüngeren Hermann an den Haaren. Statt etwas zu erwidern, trommelte der Jüngste umgehend mit seinen Fäustchen auf die Brüder ein. Mutter Alma, die das Handgemenge beenden wollte, kassierte von Hermann einen Tritt vors Schienbein, den sie mit einer leichten Ohrfeige quittierte. Die anderen Söhne, ausgenommen Karl, bekamen für alle Fälle ebenfalls eine verabreicht, was wie meistens nur kurz für Ruhe sorgte.

Von klein auf glich Hermann seine körperliche Unterlegenheit durch Kampfgeist aus, der ihn davor bewahrte, in der johlenden und rivalisierenden Kinderschar unterzugehen. Blaue Flecken an den Armen oder Beinen machten ihm nichts aus, solange die anderen ebenfalls welche davontrugen. Vater Wilhelm und Karl beobachteten Hermanns Verhalten mit Argwohn. Besonders seine herausfordernd glitzernden Augen gefielen ihnen nicht. Als Hermann älter wurde, erwischte der Vater ihn dabei, wie er nach einem Tadel Karl heimlich die Zunge herausstreckte.

»Dem Jungen werde ich seinen Starrsinn austreiben.« Wilhelm krempelte sich die Ärmel seines Arbeitshemdes hoch.

»Dat kann ich übernehmen«, bot sich Karl an, obwohl er keine Ahnung hatte, was Hermann angestellt hatte.

»Nee, dat mach ich selbst«. Vater Buttke packte Hermann am Schlafittchen, legte ihn übers Knie und versohlte ihm nach allen Regeln der Kunst den Hintern. Fast täglich wiederholte er diese Prozedur. Vergaß er es einmal, übernahm Karl die Züchtigung. Beide Männer waren überzeugt, dass nur regelmäßige Schläge den Jüngsten gefügiger machen würden. Der dachte jedoch gar nicht daran, sich zu ändern. Früh fand er sich damit ab, als ungehorsam und dickköpfig zu gelten. Letztendlich blieb ihm auch nichts anderes übrig, weil fast jede Rolle in der Familie schon lange vor seiner Geburt besetzt worden war. Karl als Erstgeborener war der Hoferbe und führte sich, insbesondere wenn er getrunken hatte, herrisch auf. Die nur zehn Monate jüngere Marie musste von klein auf mütterliche Aufgaben übernehmen. Alwine, die Drittgeborene, galt wiederum als Maries rechte Hand. Auf sie folgte Hugo, der sich den Ruf erworben hatte, keiner Gefahr aus dem Weg zu gehen, was die einen mutig, andere schlicht dumm fanden. Im Gegensatz zu ihm stand Albrecht, der aufgrund seiner Kurzsichtigkeit das Leben mit zusammengekniffenen Augen betrachtete und ständig zu Bedenken neigte. Sein Zwillingsbruder Otto schien es hingegen als seine Aufgabe zu betrachten, durch Faxen für gute Stimmung zu sorgen, was ihm selten genug gelang. Nach den Zwillingen war in Mutter Buttkes ausgelaugtem Leib ein Kind herangewachsen, das sofort nach der Entbindung namenlos verstarb und über das nie gesprochen wurde. Der Schatten des Todes hing auch über der anschließend zur Welt gekommenen Frieda. Vom ersten Tag an kränkelte sie derart stark, dass sie auf dem väterlichen Hof kaum mithalf. Ihre sehr guten Leistungen in der Schule konnten diesen Makel nicht aufwiegen. Der nach ihr kommende Bruder Robert war sehr zur Erleichterung der Eltern gesund und kräftig. Überhaupt bereitete er seiner Mutter und seinem Vater nur wenig Sorgen, weil er immer allen nach dem Mund redete. Oskar, der altersmäßig zwischen Robert und Hermann lag, wirkte durch seine zahlreichen Sommersprossen fröhlich und lausbubenhaft. Niemand außer Hermann ahnte, zu welcher Heimtücke er in Wahrheit fähig war. Unter dem Dach der Buttkes waren somit fast alle denkbaren Charaktere vertreten. In gewisser Weise entsprach die Familie einem komplett eingerichteten Zimmer, in dem sich kaum noch Platz für ein weiteres Möbelstück fand. Als jüngstem Familienzugang blieb Hermann nichts anderes übrig, als den letzten und hintersten Winkel des Zimmers zu besetzen, und zwar dort, wo noch Raum für Dickköpfigkeit war.

2015

»Darf ich kurz unterbrechen?«

»Nur zu, das Kapitel ist sowieso zu Ende.«

»Ich kann mich doch an Opa Hermann erinnern. Tatsächlich saß er bei euch im Sommer immer im Garten mit einem Strohhut auf dem Kopf, die Hände vorm Bauch verschränkt, und machte ein Nickerchen.«

»Fängst du auch damit an?! Wenn ich noch einmal ›tatsächlich‹ höre, fange ich an zu schreien und höre nie mehr auf.«

»Was hast du gegen ›tatsächlich‹?«

»Ich kann diese Modewörter, die wie Trommelfeuer auf einen einprasseln, nicht mehr ertragen. Fast keiner kann mehr einen normalen deutschen Satz ohne ›tatsächlich‹ bilden.«

»Du und deine Wortzensur!«

»Ich zensiere nicht, sondern zeige, wie eben von dir gefordert, Rückgrat und wehre mich gegen das Trommelfeuer.«

»Im Moment trommelst hier nur du. Außerdem ist ›tatsächlich‹ ein ehrliches, deutsches Wort und stellt keine Verrohung der Sprache dar.«

»Das ist das einzig Positive daran.«

»Du bist echt schwierig.«

»Ach, das sagen nur Leute, die keine Lust haben oder unfähig sind, in Kontakt mit einem zu treten. Sie können oder wollen sich nicht mit einem beschäftigen. Und weil sie das nicht können oder wollen, gelten solche Leute wie ich als schwierig. Ich bin es echt leid, für Faulheit oder Unvermögen herzuhalten.«

»Meinetwegen. Aber deine Tiraden sind manchmal wirklich anstrengend.«

»Ich bin nicht dazu da, um es dir bequem zu machen.«

»Siehst du, genau das meine ich.«

»Soll ich weiterlesen?«

»Ja. Dann müssen wir uns wenigstens nicht unterhalten.«

3.

An einem heißen Tag Mitte August, Hermann war inzwischen dreizehn, herrschte auf dem Hof eifriges Treiben. Es war Erntezeit und die ganze Familie hatte alle Hände voll zu tun. Hermann musste mit einem Reisigbesen den Platz zwischen Wohnhaus, Stall und Scheune von zahlreichen Strohhalmen und Erde befreien. Eingehüllt in eine Staubwolke schwang er den Besen von rechts nach links und wieder zurück. Ab und an, ohne dass eine gewisse Regelmäßigkeit zu erkennen gewesen wäre, wirbelte er den Besen durch die Luft, so als kämpfte er mit einem Schwert gegen unsichtbare Gegner. Just in dem Moment, als er sich erneut gegen angriffslustige Mücken und Pferdebremsen zur Wehr setzte, erschien Karl und blaffte ihn an: »Los, schnapp dir den Hund und geh die Kühe hüten. Und nimm dir een Schulbuch zum Lernen mit. Der neue Lehrer muss ja nich gleich spitzkriegen, wat für een Dummerjahn du bist. Du weißt ja, wat Vater sagt, wat passiert, wenn deine Noten nich besser werden. Los, wird’s bald!«

Beim Anblick von Karls hochrotem Kopf, der ihn wie einen Puter aussehen ließ, senkte Hermann scheinbar demütig den Kopf, damit der Ältere, dem die Hitze erkennbar zu schaffen machte, sein Grinsen nicht sehen konnte. Umgehend stellte er den Besen ab und holte seine Fibel aus dem Haus. Mithilfe von Argus, dem Hütehund, trieb er die Kühe aus dem Stall zur nahegelegenen Wiese.

»Dieser alte Wichtigtuer. Spielt sich auf, als würde ihm der Hof schon gehören«, schimpfte der Dreizehnjährige leise über Karl und setzte sich unter eine alte, Schatten spendende Eiche, die mitten auf der Weide stand. Ärgerlich riss er einen Grashalm ab, steckte sich ihn in den rechten Mundwinkel und kaute darauf herum. Wenigstens hatte er gute Aussichten, den jährlichen Wettbewerb, wer im Herbst die schwärzesten Fußsohlen besaß, zu gewinnen, tröstete er sich. Zufrieden blickte Hermann auf seine nackten, schmutzigen Füße und wackelte mit den Zehen. Obwohl seine Mutter ihn jeden Abend zwang, sich zu waschen, wurden seine Fußsohlen täglich dunkler. Leise seufzend rückte er näher an den Stamm der Eiche heran, um sich besser gegen ihn lehnen zu können. Eigentlich war das Leben doch schön. Der Anblick von Amanda, Ellie, Jette, Carla, Lise, Lotte und Minna, die sich über die nicht mehr ganz grünen Halme hermachten, stimmte ihn friedlich. Zum Lernen hatte er trotzdem keine Lust. Unwillig schlug er das Schulbuch auf Seite dreiundzwanzig auf und las die dort abgedruckten Rechtschreibregeln. »Hauptwörter werden großgeschrieben, Eigenschafts- und Tätigkeitswörter klein.« Wer interessierte sich bloß für Haupt-, Eigenschafts- und Tätigkeitswörter? Er für seinen Teil war froh, wenn er Worte buchstabieren und ganze Sätze fehlerfrei lesen konnte. Es nützte alles nichts, er musste das jetzt lernen, sonst drohte ihm vom Vater eine Tracht Prügel. Also, noch mal von vorn: Hauptwörter, wie Haus, Bauer, Acker oder Pferd, werden großgeschrieben. Eigenschaftswörter, wie grün, warm oder nass, klein. Hermann schaute von seiner Fibel auf, um sich das Gelesene einzuprägen. Diese Regeln waren wirklich langweilig! Wie war das doch gleich? Zu den Hauptwörtern gehörten grün, nass und warm – ach, nein, das waren ja die Eigenschaftswörter. Und was waren Tätigkeitswörter? Richtig, da stand es: zum Beispiel laufen, waschen oder schlafen. Schlafen, das wäre jetzt was! Lernen war wirklich anstrengend. Sein Blick fiel auf die in gleichbleibendem Rhythmus kauenden Kühe. Von ihnen ging eine Ruhe aus, die er im väterlichen Haus beinahe nie erlebte. Hermann spuckte den inzwischen völlig durchweichten Grashalm aus, riss einen neuen ab und schob ihn sich zwischen die Lippen. Aufs Neue seufzte er und wanderte mit seinen Augen über die schier endlose, sich in sanften Wellen vor ihm erstreckende Wiese. Nirgends befanden sich Häuser oder Zäune, die seinen Blick aufhielten. Nur halblinks hinter ihm, in etwa zweihundert Meter Entfernung und außerhalb seines Gesichtskreises, befand sich der Hof von Nachbar Schultze. In dem wohligen Gefühl, die Welt fast für sich allein zu haben, rief Hermann dem Hütehund träge ein paar Befehle zu, damit dieser die Kühe zusammenhielt. Argus, ein kurzbeiniger Mischling mit grauem, borstigem Fell, gehorchte sofort. Er lief erst nach hinten und knurrte warnend Amanda an, dann zur Seite, um Jette, die sich zu weit von den übrigen Tieren entfernt hatte, anzukläffen, woraufhin diese gemächlich zu ihren Artgenossen zurücktrottete. Die Kühe standen nun, wie es sich gehörte, dicht beieinander, und damit dies so blieb, drehte Argus mehrere Runden um sie. Hermann musste sich eingestehen, dass er nicht annähernd so munter war wie sein Hund. Das Lesen hatte ihn müde gemacht. Dazu kam noch die Hitze. Wiese, Kühe, Eiche und Argus verschmolzen mehr und mehr zu einer Einheit, in der er aufging. Alles gehörte zusammen, kein Streit, nur angenehme Schwere. Mehrmals zuckte der Junge zusammen und schüttelte den Kopf, um den Schlaf abzuwehren, der ihn zu überkommen drohte. Schließlich gab er nach. Was sprach schon dagegen? Die Regeln konnte er später lernen, und auf die friedlich grasenden Kühe würde Argus aufpassen. Hermanns Lider flatterten kurz wie Schmetterlingsflügel, bevor sie sich zur Ruhe legten.

Zur selben Zeit kehrte sein Bruder Oskar vom Konfirmandenunterricht heim. Fauchend sauste die Weidenrute in seiner Hand nieder. Die Stängel von Schafgarben und Spitzwegerich knickten unter der Wut der Rute ein, Blütenblätter stoben durch die Luft, Disteln wurden geköpft. Ohne Unterlass drosch Oskar auf die Pflanzen am Wegesrand ein. Er hasste den Konfirmandenunterricht und Pastor Pfefferkorn noch viel mehr. Der Alte hatte ihm mit einem Holzlineal zehnmal auf die Handflächen geschlagen, für jedes der Gebote einmal, damit er sie sich endlich merkte. Dabei hatte Oskar den Geistlichen angebettelt, es nicht zu tun. Er hatte ihm erklärt, dass er nach dem Unterricht zu Hause die Ställe ausmisten müsse, was mit wunden Händen eine Qual sei. Womöglich würden der Vater oder Karl die roten Stellen sehen und Fragen stellen. Wenn einer der beiden herausbekäme, dass er, Oskar, dem Pastor Anlass für Hiebe gegeben hätte, drohten ihm erneut Schläge. Es war einfach nicht gerecht! Immer wurde er doppelt und dreifach bestraft, ärgerte er sich. Fast noch mehr wurmte ihn, dass dieser Pfefferkorn ihn hatte betteln lassen, um ihn schließlich doch zu züchtigen. Wie stand er jetzt da? Bestimmt hielten ihn die anderen Kinder für eine Memme. Mitten in seinen Überlegungen blieb Oskar stehen und zog die Augen zu Schlitzen zusammen. Täuschte er sich oder hielt Hermann unter der Eiche ein Nickerchen? Vorsichtig näherte er sich dem Bruder. Tatsächlich, Hermann schien zu schlafen! Sein Kopf hing schlaff zur Seite, sein Mund stand weit offen und auf seinen Knien lag ein aufgeschlagenes Schulbuch. Das konnte ja wohl nicht wahr sein! Während er sich vom alten Pfefferkorn hatte verprügeln lassen, machte Hermann es sich hier gemütlich. Gerade wollte Oskar zum Vater laufen, um ihn zu verpetzen, da kam ihm eine bessere Idee. Mit einem Grashalm kitzelte er den Jüngeren im Nacken. Als der nicht darauf reagierte, deutete er einen Faustschlag in Richtung Hermanns Nase an. Abermals keine Reaktion. Oskar war sich nun sicher, dass Hermann tief und fest schlief. Voller Schadenfreude winkte er den Hütehund Argus herbei und flüsterte ihm etwas zu. Dabei zeigte er auf das Haus von Bauer Schultze, zu dem ein größerer Gemüsegarten gehörte. Oskars Befehl schien Argus zu irritieren. Ohne sich zu rühren, blickt er mit seitlich geneigtem Kopf fragend zwischen ihm und dem schlafendem Hermann hin und her. Mehrmals musste der Junge energisch auf das benachbarte Haus zeigen, ehe Argus loslief, um die Kühe dorthin zu treiben. Zufrieden rieb sich Oskar die Hände.

4.

Die Arbeit war geschafft und die Rechtschreibregeln hatte er sich eingebläut. Schnell lief Hermann hinunter zum See, der von würzig duftenden Kiefernwäldern umgeben war. Mit einem Satz sprang er in das am Steg festgemachte Holzboot, löste den Knoten des Seils und griff nach den Rudern. Mit kräftigen Schlägen pflügte er durch das klare Blau. Als er weit genug vom Ufer entfernt war, schnappte er sich seine selbst gebaute Angel, die noch vom Vortag im Boot lag, spießte eine frisch erledigte Mücke auf den Haken und warf den Köder aus. Eine Weile lang geschah nichts. Nur ein paar Mücken umrundeten in immer engeren Kreisen seinen Kopf. Ein besonders vorwitziger Brummer setzte sich auf seinen Oberschenkel. Sofort erschlug ihn Hermann mit der flachen Hand. Das kommt dabei heraus, wenn man andere triezt, dachte Hermann grimmig und stellte sich vor, das Insekt wäre Oskar. Beinahe im selben Augenblick fing seine Angelrute an, sich zu biegen. Der an ihr befestigte dünne Bindfaden spannte sich zunehmend. Ein großer Fisch schien angebissen zu haben. Aufgeregt zog und zerrte Hermann an der Angel, um den Fang ins Boot zu hieven. Unterdessen versuchte das Tier, in die entgegengesetzte Richtung zu entkommen. Minutenlang rangen Junge und Fisch miteinander. Es war ein harter Kampf. Mal war der eine, mal der andere im Vorteil. Umso mehr freute sich Hermann, als er am Ende siegte. Mit letzter Kraft beförderte er einen Riesenwels in den Kahn. Nie zuvor hatte er ein solches Ungetüm gesehen, geschweige denn gefangen, und das sollte etwas heißen. Immerhin wurde er im Januar vierzehn Jahre alt. Was würden erst die anderen staunen! Vater und Mutter wären bestimmt stolz auf ihn. Hastig ruderte Hermann an Land und balancierte mit dem Fisch auf dem Arm von Bord. Er konnte es kaum erwarten, seinen Eltern die fette Beute zu präsentieren, die rechts und links von seinen Armen bis auf den Boden hinunterhing. Auf dem Weg zum Elternhaus kamen ihm Hugo und Oskar entgegen. Ehrfurchtsvoll blieben sie vor ihm und seiner Jagdtrophäe stehen. Auf einmal, ganz ohne Vorwarnung, zuckte der Fisch wild auf seinen Armen hin und her. Sein riesiges von langen Bartfäden umrandetes Maul öffnete sich. Sofort begannen die Geschwister laut zu kreischen. Erschreckt fuhr Hermann hoch. Schlaftrunken sah er, wie der Nachbar mit einem Knüppel die Kühe aus seinem Gemüsegarten vertrieb. Argus sprang wild kläffend um Bauer Schultze und die Kühe herum. In Sekundenschnelle hatte Hermann die Lage erfasst und rannte zum Nachbargrundstück. Nie zuvor war ihm die Entfernung so weit erschienen wie in diesem Moment. Auf halber Strecke kamen ihm bereits die ersten Rinder entgegen – in ihrem Schlepptau Argus und Bauer Schultze mit dem Knüppel in der Hand. Bevor Hermann sich versah, traf ihn ein Schlag ins Kreuz und kurz darauf einer in die Kniekehlen. Mit einem Schrei fiel er der Länge nach hin. Es fehlte nicht viel und er wäre mit seinem Gesicht in einem frischen Kuhfladen gelandet. Der Nachbar packte ihn grob am Oberarm, riss ihn in die Höhe und schüttelte ihn.

»Du nichtsnutziger Bengel! Dir werd ich helfen! Hast du geschlafen, oder wat? Der ganze Garten is hin, bloß weil du nich aufgepasst hast! Dir werd ich helfen.« Bauer Schultze holte zu einem erneuten Schlag aus, doch Hermann befreite sich aus seinem Griff, wich dem Knüppel aus und rannte an der Spitze der Kuhherde Richtung Stall. Argus hielt ihm derweil den Rücken frei. Knurrend und zähnefletschend stellte er sich vor den Bauern, der mehrmals wütend nach Argus trat, ohne ihn zu treffen. Schultze, dem nicht der Sinn nach Bisswunden stand, beendete seine Verfolgungsjagd und kehrte laut fluchend zu seinem Grundstück zurück, wo er den Schaden genauer in Augenschein nahm. Der Gemüsegarten glich einem Schlachtfeld. Die Kühe hatten alles niedergetrampelt und zahlreiche Löcher im Erdreich hinterlassen. Nicht eine Pflanze war unversehrt geblieben. Tot lagen sie am Boden, viele entwurzelt. Ein einziges Bild der Zerstörung.

Der Trubel blieb, wie zu erwarten war, nicht unbemerkt. Karl kam von der Feldarbeit herbeigeeilt und befahl Oskar, der feixend auf dem Hof stand, die Kühe in den Stall zu treiben. Den noch immer nach Atem ringenden Hermann packte er am Ohr und zog ihn hinter sich her in die Scheune.

»Lass los! Ich hab schon vom Schultze Kloppe gekriegt«, fauchte der Jüngere und versuchte sich loszureißen. Karl ließ tatsächlich von ihm ab. Allerdings nur, um aus seiner Hosentasche eine kleine Flasche mit selbst gebranntem Schnaps zu ziehen. Er setzte die Flasche an den Mund, nahm einen Schluck und fingerte nach dem Gürtel in seiner Hose.

»Geh zum Feld, Karl, ich übernehme dat!« Im Scheunentor zeichneten sich die Umrisse des Vaters ab. Die dunkle Gestalt ging auf die beiden Brüder zu. Ohne ein weiteres Wort schnappte sie sich einen an der Wand hängenden Lederriemen. Hermann spürte, wie ihm die Hose heruntergezogen wurde. Anschließend fühlte er nur noch Schmerz. Ohne Unterlass klatschte das Leder auf seinen Hintern und unteren Rücken. Brennende Blitze schossen durch seinen Körper, bestimmten sein Fühlen und Denken. Das süße Gefühl des Triumphs aus seinem Traum, das ihn bis eben noch begleitet hatte, ließ ihn die Erniedrigung um ein Vielfaches stärker erleben. Nackt stand er vor seinem Vater und den Geschwistern. Nur die Füße waren von der Hose, die hinuntergerutscht war, bedeckt. Hätte er bloß nicht diesen Traum gehabt, dann wäre jetzt alles halb so schlimm. Ach, hätte er am besten gar nicht erst geschlafen! Hermann sah, wie ein dunkelroter Tropfen auf die Erde fiel. Er stammt von seiner Lippe, auf die er biss, um nicht laut loszuheulen. Den Gefallen wollte er seinem Vater und seinen Geschwistern nicht tun. Albrecht, Otto, Oskar, Hugo und Frieda hatten sich in eine dunkle Ecke des Stalls gedrückt und beobachten verstohlen das Geschehen. In Albrechts und Ottos Augen meinte Hermann Furcht zu erblicken. Über Friedas Wangen kullerten ein paar Tränen, während Oskar ein Grinsen zu unterdrücken schien. Hugo machte Anstalten, aus der dunklen Ecke hervorzutreten und einzugreifen, aber Alwine, die gerade mit einem Eimer Kartoffeln dazukam, hielt ihn zurück. Lange könnte er, das merkte Hermann, den Schmerz nicht mehr aushalten. Hoffentlich hörte der Vater bald auf! Gleich würde sich das erste Wimmern über seine Lippen stehlen. Zum Glück kam plötzlich seine Mutter in die Scheune gerannt. Die sonst so schwache Frau fiel ihrem kräftigen Mann in den Arm und rief:

»Wilhelm, hör auf! Komm zur Besinnung. Du haust ihn ja tot!« Ohne eine Antwort abzuwarten, griff sie sich Hermann und schleppte ihn aus der Scheune zum Wohnhaus. Mehrmals drehte sie sich ängstlich nach ihrem Mann um. Der stand regungslos mit hängenden Armen und schwer atmend im Scheunentor. Sein eben noch bläulich-rotes Gesicht wurde leichenblass.

Alma Buttke brachte ihren Jüngsten in die Kammer unterm Dach, wo die Söhne, mit Ausnahme von Karl, schliefen. Vorsichtig versorgte sie Hermanns striemigen Hintern und unteren Rücken mit einer kühlenden Salbe. Hermann konnte sich nicht erinnern, wann sich seine Mutter zuletzt derart um ihn gekümmert hatte. Eine Ewigkeit mochte das her sein. Vermutlich als er noch klein war und krank im Bett gelegen hatte. Endlich hatte er seine Mutter einmal für sich allein. Normalerweise wäre er darüber glücklich gewesen. Unter diesen Umständen jedoch kamen ihm die Tränen. Eigentlich wollte er nicht weinen. Zu spät. Heftig schluchzte er auf. Erst als die raue Hand seiner Mutter über sein Haar strich und er sie leise sprechen hörte, schluckte er die Tränen herunter.

»Is ja gut, is ja gut. Gleich wird es besser!«

»Tut gar nich weh!«, krächzte Hermann.

»Ich weiß, mien Jungchen.«

Mit einem Ruck, der nicht nur ihn schmerzte, wandte sich Hermann von seiner Mutter ab. Er war kein Jungchen und er wollte kein Mitleid. Alma Buttkes Hand, die erneut über sein blondes Haar zu streicheln versuchte, ging ins Leere. Traurig blickte die Mutter auf den Hinterkopf ihres Sohnes, der keine Anstalten machte, sich ihr wieder zuzuwenden. Zögerlich stand sie auf, strich ihre Schürze glatt und verließ die Kammer. Sie musste langsam die Kartoffeln, die Alwine hoffentlich inzwischen fertig geschält hatte, aufs Feuer stellen, sonst würde das Essen nicht rechtzeitig fertig und der nächste Ärger mit Wilhelm drohte.

Kaum war die Mutter fort, wälzte sich Hermann auf seinem Strohsack umher. Von der rechten Seite auf die linke, von dort aus auf den Bauch und danach wieder zurück auf die rechte Seite. Unzählige Male ging das so. Hermann wusste nicht, wie er liegen sollte. Ein leises Rascheln lenkte ihn ab. Vor ihm tauchte Frieda auf. In ihren Händen hielt sie einen Becher frische Kuhmilch und einen alten Kanten Brot. Sie reichte Hermann beides mit einem furchtsamen Blick und flüsterte: »Von mir hast du dat nich!« Kaum hatte sie die Worte hervorgebracht, huschte sie davon. Dankbar stopfte Hermann das Brot in sich hinein und trank die noch dampfende Milch. Der Schmerz zehrte an ihm, vor allem der seelische. Fast die gesamte Familie hatte zugesehen, wie der Vater auf seinen nackten Körper eingedroschen hatte. Damit nicht genug, er wurde auch noch von seiner Mutter und Frieda bemitleidet. Sie meinten es gut, aber er wollte nicht wie ein Opfer behandelt werden. Er war keines. Wenn überhaupt, war er ein Täter. Jawohl! Am liebsten hätte er seinem Vater die Mistgabel in den Hintern gerammt. Doch das ging nicht. Was konnte er stattdessen machen? Als Täter musste man schließlich etwas tun. Eines stand in jedem Fall fest: Er würde niemals mehr ein Buch anfassen! Hätte er nicht darin gelesen, wäre er nicht müde geworden und eingeschlafen. Und wenn er nicht eingeschlafen wäre, dann wäre das mit den Kühen und dem Schultze nicht passiert. Schritte auf der Stiege rissen ihn aus seinen Gedanken. Erleichtert stellte Hermann fest, dass seine Mutter ihm einen Teller mit dünner Kartoffelsuppe brachte.

»Du hast sicher Hunger«, meinte sie.

Hermann nickte nur und setzte sich mit einem Stöhnen auf. Ein weher Zug trat in das Gesicht seiner Mutter. Sie nahm einen Löffel Suppe, pustete und wollte sie Hermann einflößen, doch der wehrte ab: »Kann ich allein.«

»Ja, ich weiß.« Alma hob den leeren Becher neben Hermanns Matratze hoch. »Frieda?«, fragte sie.

Hermann tat so, als hätte er nichts gehört und schlang die Suppe in sich hinein. In Gedanken war er wieder beim Schultze, sodass er kaum merkte, wie seine Mutter die Kammer verließ. Wie kam der überhaupt dazu, ihn zu schlagen?! An ihm müsste er sich rächen. Aber wie? Hermann stellte den leeren Teller zur Seite und begann, sein Hirn zu zermartern. Erst gegen Abend kam ihm eine Idee. Dem Schultze würde er es heimzahlen. Er, Hermann, war nicht jemand, mit dem man machen konnte, was man wollte. Mit ihm nicht! Die anderen würden schon sehen. Er musste nur noch warten, bis alle zu Bett gingen und schliefen.

2015

»Ich bin gespannt auf Hermanns Rache.«

»Das ist gut.«

»Du kannst ruhig weiterlesen. Ich habe Zeit.«

»Das Kapitel ist leider noch nicht fertig.«

»Entdeckst du die Langsamkeit neu?«

»Ich gebe mir nur Mühe. Aber das versteht jemand, der seine Patienten so abfertigt wie du, nicht.«

»Das mache ich überhaupt nicht. Allerdings muss ich auf Wirtschaftlichkeit achten.«

»Und ich muss auf Sprache und Inhalt achten. Dazu braucht man Muße.«

»Achte lieber mal auf Freundlichkeit!«

»Bei dir?«

»Wahrscheinlich auch bei anderen.«

»Freundlichkeit muss man sich verdienen.«

»Langsam verstehe ich, warum du im Job Ärger hast.«

»Das war jetzt unfair!«

»Stimmt. Entschuldige bitte. Sehen wir uns nächste Woche wie immer um die gleiche Zeit?«

»Klar. Warum fragst du?«

»Nur so. Gute Nacht, Thorsten.«

2015

»Was machst du hier? Ist schon nächste Woche um die gleiche Zeit?«

»Erst in vierundzwanzig Stunden. Darf ich trotzdem reinkommen?«

»’türlich. Willst du ein Bier oder nen Wein?«

»Gern ein alkoholfreies Bier. Hab Notdienst und war gerade in der Gegend.«

»Kann dir nur eins mit Lemongeschmack anbieten. Setz dich. Seit wann übernimmst du wieder Notdienste?«

»Bei Birgit läuft es seit einiger Zeit schlecht. Die TV-Sender bestellen kaum noch Filme bei ihr. Von einer Redaktion weiß sie inzwischen sogar, dass sie im Zuge von Sparmaßnahmen überhaupt nicht mehr mit freien Mitarbeitern zusammenarbeiten will.«

»Das ist übel.«

»Das kannst du laut sagen. Noch übler ist, dass Birgit immer öfter umsonst und vergebens arbeitet. Einige Redaktionen lassen sie detaillierte Exposés schreiben, wofür sie intensiv recherchieren muss, um ihr dann mitzuteilen, dass sie doch kein Interesse an dem Thema haben.«

»Mit welcher Begründung?«

»Die Geschichte sei nicht so spannend wie anfänglich gedacht. Sie sei zu abstrakt, zu schlecht zu bebildern oder, oder, oder.«

»Und für die bis dahin geleistete Arbeit bekommt sie nichts?«

»Das kommt öfter vor, ja. Gleichzeitig dürfen wir uns abends im Fernsehen von moralisierenden Moderatoren anhören, wie verbrecherisch die freie Wirtschaft ist. Da bekomme ich einen richtig dicken Hals. Wie auch immer: Für Birgits Selbstwertgefühl ist es schlimm, und in der Haushaltskasse macht es sich ebenfalls bemerkbar.«

»Naja, verhungern müsst ihr ja wohl nicht.«

»Nein, aber unsere Kleine wird immer größer und damit auch ihre Ansprüche. Auf einmal müssen es Markenklamotten und das neueste iPhone sein. Das geht ins Geld, sag ich dir.«

»Deine Praxis ist doch immer rappel-dicke-voll. Zumindest, wenn ich da bin.«

»Was nützen die vielen Patienten, wenn ich einen großen Teil von ihnen nicht abrechnen darf. Manchmal ist das Budget schon Mitte des Quartals ausgeschöpft. Aber was soll’s. Im Grunde brauche ich sowieso bald die meiste Zeit für den ganzen Papierkram, der uns Ärzten aufgehalst wird.«

»Muss die Kleine mit zwölf Jahren unbedingt ein iPhone und Markenklamotten haben?«

»Heutzutage ist das so.«

»Das liegt nicht am ›heute‹, sondern an den Eltern. Man kann dem ja entgegenwirken.«

»Das sagt sich leicht. Wenn wir Elisabeth kein Smartphone kaufen, wird sie zur Außenseiterin.«

»Na, und? Das macht charakterstark und unabhängig.«

»Oder einsam und kaputt.«

»Wir haben damals nicht alles bekommen, was wir wollten. Als ich statt einer C&A-Jeans eine von Wrangler wollte, hieß es nur ›geh arbeiten!‹. Also habe ich Zeitungen ausgetragen und später in einem Fahrradladen gejobbt.«

»Das kannst du nicht vergleichen. Das ist tausend Jahre her.«

»Vor einer Woche hast du noch darauf bestanden, dass ich erst neunundvierzig bin.«

»Ich glaube, Thorsten, du kannst da nicht mitreden, weil du keine Kinder hast. Die Schüler sind inzwischen echt brutal. Wenn du kein iPhone hast, wirst du gemobbt.«

»Ich habe zwar keine Kinder, dafür ausreichend eigene Erfahrung in Sachen Mobbing. Deshalb darf ich dir mitteilen: Die lieben Mitschüler waren schon früher brutal.«

»Oh, nein, reden wir einmal mehr über deine Schulhoftraumata?«

»Nur, weil du dich nicht mehr daran erinnern kannst oder willst, hat mir dieser Typ trotzdem vor der Turnhalle einen Zahn ausgeschlagen.«

»Kannst du mir die Leier bitte ersparen!«

»Welche explizit? Die mit dem Zahn oder die vom Park vor der Schule? Das war ein Spaß, an einen Baum gebunden und mit Brennnesseln traktiert zu werden, während mein bester Freund das Weite suchte.«

»Was hätte ich allein gegen die Typen aus der neunten Klasse ausrichten können?! Wie oft muss ich dir sagen, dass ich nur fortgelaufen bin, um Hilfe zu holen.«

»Es hätte mir mehr geholfen, wenn du dageblieben wärst und ich nicht an den Baum gebunden worden wäre.«

»Dann wären wir beide an diesem unseligen Baum in diesem unseligen Park gelandet. Das habe ich dir schon zig Mal gesagt. – Ich glaube, ich geh lieber.«

»Bitte, wie du möchtest.«

»Weiß du, Thorsten, du bist nicht nur nachtragend, du kannst auch zickig sein wie ein Mädchen.«

»Und du bist ein Schisser, Stefan. Kaum wird es ungemütlich, willst du wegrennen.«

»Ja, weil du ewig mit diesen ollen Kamellen um die Ecke kommst. Kannst du mir nicht vergeben?«

»Habe ich. Hätte ich es nicht, würdest du hier nicht sitzen und mein letztes Bier trinken. Vergessen kann ich es aber nicht. Ich weiß schlichtweg nicht, wie ich das hinbekommen soll. Dafür müsste ich mir wohl ein Stück meines Hirns entfernen lassen. Nach dem Eingriff würde ich wahrscheinlich um ein paar Erinnerungen leichter, dafür sabbernd in der Gegend herumsitzen, womit auch niemandem gedient wäre.«

»Manchmal denke ich, dass du dir selbst nicht verzeihen kannst, weil du glaubst, dich nicht genug gewehrt zu haben.«

»Nicht genug? Ich habe mich gar nicht gewehrt. Die waren zu dritt und hatten ein Messer. In einem hast du recht. Meine Eltern haben mir immer eingebläut, mich nicht zu prügeln. Nach dem Motto: DerKlügere gibt nach. An diesen Scheiß-Spruch halte ich mich bis heute, obwohl ich innerlich platzen könnte. Immer schön nachgeben! Den Arschlöchern das Feld überlassen! Deshalb sieht die Welt letztlich so aus, wie sie aussieht.«

»Man könnte das Motto deiner Eltern auch als Deeskalationsstrategie bezeichnen.«

»Könnte man.«

»Und was gibt es Neues von Hermann?«

»Einiges. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob du es als Verfechter der Deeskalationsstrategie erfahren möchtest.«

»Ich bin Kummer gewöhnt.«

»Hast du denn Zeit? Ich meine, von wegen Notdienst.«

»Erst wenn das Telefon klingelt muss ich los.«

5.

Bei Einbruch der Nacht schob Hermann vorsichtig Oskars Füße beiseite, die wie üblich auf Höhe seines Gesichts lagen. Unter Schmerzen krabbelte er aus dem Bett, das er sich mit seinen Brüdern teilte. Im Winter war es schön, dicht gedrängt zusammenzuliegen. Es hielt warm. In heißen Sommernächten wie diesen war es dagegen unerträglich. Hermann lauschte einen Augenblick angespannt in die Stille. Niemand schien bemerkt zu haben, dass er aufgestanden war. Auf der anderen Seite des Dachbodens, dort, wo Karl schlief, rührte sich gleichfalls nichts. Gut so! Auf Zehenspitzen stahl er sich die Stiege hinunter. Trotzdem knarrten die Bretter unter seinen Füßen zweimal laut. Mit pochendem Herzen blieb Hermann minutenlang am unteren Treppenabsatz stehen, in der Erwartung, jeden Moment entdeckt zu werden. In seiner Panik vergaß er sogar seinen brennenden Hintern und Rücken. Nachdem es im Haus ruhig geblieben war, öffnete er mit zitternden Händen die Tür und schlüpfte hinaus ins Freie, wo ihn eine silbrige Helligkeit empfing. Im Süden berührte der Mond mit der Unterkante die Baumwipfel und brachte sie zum Strahlen. Das harte Spiel von Licht und Schatten machte den heimischen Hof zu einem verwunschenen Ort, der auf einmal viel weniger armselig wirkte als bei Tag. Der Junge überzeugte sich davon, dass die Luft rein war, und huschte zu den wenige Meter entfernten Kaninchenställen, in deren Schutz er für einen Augenblick verharrte. Kein Geräusch, nichts! Wie es aussah, folgte ihm niemand. Sollte doch jemand auftauchen, würde er einfach behaupten, dringend auf den Lokus zu müssen, nahm sich Hermann vor. Als nächstes lief er zu Argus und Terrie hinüber, die angekettet vor ihren Hütten lagen, und strich ihnen beruhigend über die Köpfe, damit sie nicht anschlugen. Die Tiere blinzelten nur kurz und vergruben ihre Schnauzen sogleich wieder zwischen ihren Pfoten.

»Wusst ich’s doch, dat ihr mir keinen Ärger macht«, murmelte Hermann zufrieden. Im selben Moment stutzte er. Erst jetzt kam ihm die Frage in den Sinn, warum sich die Kühe über Schultzes Gemüsegarten hergemacht hatten. Sicher, er hatte geschlafen und nicht aufgepasst. Aber Argus? Auf den war Verlass. Der hatte bestimmt nicht gedöst. Das sah ihm nicht ähnlich. Seltsam. Jemand musste seine Finger im Spiel gehabt haben. Womöglich einer seiner Brüder? Oskar hatte besonders schadenfroh gegrinst, als der Lederriemen des Vaters auf ihn niedergesaust war, erinnerte sich Hermann. Das Bild des feixenden Bruders nahm vor seinem inneren Auge immer schärfere Konturen an. Wut stieg in ihm hoch. Oskar, der dumme Hornochse, brauchte unbedingt eine ordentliche Abreibung. Unschlüssig kniete Hermann vor den Hunden und grübelte, ob er nicht lieber seinen ursprünglichen Plan aufgeben und sich einen neuen ausdenken sollte, zumal sich sein geschundener Körper aufs Neue bemerkbar machte, was für sein nächtliches Vorhaben nicht die beste Voraussetzung war. Mitten in seinen Überlegungen klapperte es in unmittelbarer Nähe des Hauses. Hermann fuhr wie von der Tarantel gestochen hoch und rannte mit gebücktem Oberkörper los. Ohne sich ein einziges Mal umzudrehen flitzte er zur Straße hinunter, die ins Dorf führte. Nach etwa zweihundert Metern bog er rechts auf einen Feldweg ab und drosselte sein Tempo. Ächzend trabte er an einem umgepflügten Acker vorbei bis zu einer Baumgruppe. Dort blieb er außer Atem stehen. Direkt gegenüber von ihm erstreckte sich das Buchweizenfeld von Nachbar Schultze, auf dem frisch geschnittene, etwa fünfzig Zentimeter hohe Buchweizenbündel standen. Der olle Schultze hatte sie noch nicht abgeholt, so wie Hermann gehofft hatte. Seltsamerweise erfreute der Anblick der Bündel Hermann weniger als er gedacht hatte. Obwohl er sich sicher war, dass um diese Zeit niemand mehr unterwegs war, zumindest niemand, der Anständiges im Sinne hatte, schaute er sich mehrmals nervös um. Weit und breit war keine Menschenseele in Sicht. Langsam holte Hermann eine kleine Schachtel aus seiner löchrigen Hosentasche und entnahm ihr ein Streichholz. Bei dem Versuch, es zu entzünden, brach der rote Kopf ab. Das zweite Hölzchen erlitt das gleiche Schicksal. Erst das dritte wollte brennen. Die Flamme flackerte unentschlossen um den Zündkopf herum, bis ein Windzug sie kurzerhand löschte. Hermann schnappte sich ein weiteres Hölzchen und legte den Kopf in den Nacken. Seine Augen suchten den Sternenhimmel ab. War das ein Wink von oben? Sollte er von seinem Plan ablassen? Ach, seit wann kümmerte sich Gott um ihn? Vorhin in der Scheune hatte er ihm auch nicht geholfen. Und die vielen Male davor ebenso wenig. Nach Hermanns Erfahrung mochte Gott die Gewalt. Bestimmt würde es ihn nicht weiter kümmern, wenn er die Ernte vom Schultze in Brand steckte als Strafe dafür, dass der Bauer ihn geschlagen und einen solchen Lärm wegen der Kühe gemacht hatte, sodass Karl und der Vater gar nicht anders konnten, als ihn zu bestrafen. Mit einer energischen Bewegung ratschte Hermann den Kopf des Streichholzes an der Reibefläche entlang. Dieses Mal brannte das Hölzchen sogleich lichterloh. Hermann hielt es an das erstbeste Buchweizenbündel, wo sich die Flamme, die eben noch gierig nach Nahrung geschnappt hatte, unerwartet träge durch die rötlich-braunen Stängel in Richtung der vertrockneten Blütenblätter fraß. Der nächtliche Tau machte ihr zu schaffen. Hermann sah sein Vorhaben bereits scheitern, als sich die Flamme plötzlich aufbäumte. Es knisterte und knackte, bis das Bündel qualmend in sich zusammenfiel. Regelrecht andächtig hatte Hermann den Kampf zwischen Pflanze und Feuer verfolgt. Sein Rachedurst verlangte nach mehr. So, wie sein Hintern brannte, sollte es sämtlichen Buchweizenbündeln ergehen! Nach und nach, damit der Feuerschein nicht zu groß wurde und Aufsehen erregte, zündete er die einzelnen Garben an. Etwa die Hälfte der Ernte war zerstört, da gingen ihm die Zündhölzer aus. Nur noch eines lag in der Schachtel. »Verflixt«, rief er halblaut. Unverzüglich schlug er sich mit der flachen Hand auf den Mund. Keine Sekunde zu früh.

»Riechst dat? Irgendwo brennt dat hier«, hörte er jemanden sagen.

»Dammich noch mal, du hast recht, Johann!« Entsetzt erkannte Hermann Karls Stimme, die durch die Nacht wehte. Sie schien von der entgegengesetzten Seite der Baumgruppe zu kommen. Karl war anscheinend mit seinem Saufbruder Johann in der Dorfschenke gewesen und unterwegs nach Hause. Hermann musste umgehend von dem frisch gemähten Feld herunter, wo er leicht zu entdecken war. Den Trampelpfad konnte er auf keinen Fall benutzen, überlegte er. Das Risiko war zu groß, Karl und Johann direkt in die Arme zu laufen. Kurzentschlossen hastete er zu einem nahegelegenen Getreideacker und versteckte sich zwischen dem Korn, obwohl seine Eltern und Großeltern ihm von klein auf eingebläut hatten, dies nicht zu tun, weil dort ein Gespenst hauste, das Kinder fing und nie mehr freiließ. Hermann war inzwischen in einem Alter, in dem er nicht mehr an Getreidegespenster glaubte. Das war nur eine Erfindung der Dorfalten, damit die Kinder sich nicht zwischen den hohen Halmen verliefen. Für ihn bestand diese Gefahr nicht mehr, sein Kopf ragte seit längerem deutlich über die Ähren. Trotzdem war ihm das Meer aus raschelndem Roggen nicht ganz geheuer und so beschloss er, das Feld zu verlassen und sich direkt an dessen Rand fortzubewegen. Leise machte er sich auf. Zu seiner großen Erleichterung hatten ihn Karl und Johann offenbar nicht gesehen. Dafür machte ihm etwas anderes Sorgen. Mehrere Wolken waren aufgezogen und segelten geradewegs auf den Mond zu. Es dauerte nicht lange und Hermann konnte seine Hand nicht mehr vor Augen sehen. Blind schleppte er sich durch die Nacht. Bestürzt bemerkte er, dass ihm die Kräfte ausgingen. Seine Beine wurden mit jedem Schritt schwerer, jede Bodenunebenheit stellte für ihn eine Tortur dar. Als er stolperte, durchfuhr ihn ein so heftiger Schmerz, dass ihm speiübel wurde. Abrupt blieb er stehen, sank auf die Knie und übergab sich. Sein Hemd klebte feucht an seinem gekrümmten Rücken, Feuerwellen liefen über sein Gesäß. Immerfort musste er würgen, seine Lunge schien zu platzen und aus seinem Mund tropfte Galle. Hermann hatte das Gefühl, seine Augen würden gleich aus ihren Höhlen treten und sein Schädel zerspringen. Er wollte um Hilfe rufen, mehr als ein leises Stöhnen brachte er jedoch nicht hervor. Eine Ohnmacht befreite ihn von seinen Schmerzen. Als er die Augen wieder aufschlug, blickte er in helles Mondlicht. Hermann brauchte eine Weile, um sich zu orientieren. Noch immer leicht benommen und auf allen Vieren kriechend, bewegte er sich von dem Feld weg. Meter für Meter arbeitete er sich vorwärts, bis er schließlich Gras unter seinen Händen und Knien spürte. Vor einer Mauer kam er zum Halten. Erleichtert stieß er die Luft durch seinen halbgeöffneten Mund. Der vertraute Anblick der ordentlich zusammengefügten Feldsteine verlieh ihm neuen Mut. Er war beim Kirchfriedhof gelandet, wo seine Großmutter begraben war! Von hier aus konnte er sich nach einer kurzen Verschnaufpause nach Hause schleppen, ohne Gefahr zu laufen, Karl zu begegnen. Einen solchen Umweg würde der Bruder bestimmt nicht machen, überlegte er, während er sich an die Mauer kauerte. Obwohl er erschöpft war und sein Körper schmerzte, fand er keine Ruhe. Sobald er die Augen schloss, musste er an die Gräber und Kreuze jenseits der Umfriedung denken. Unwillkürlich rückte der Junge von der Mauer ab. Durch die hastige Bewegung wurde ihm erneut schwarz vor Augen. Verzweifelt wehrte sich Hermann gegen den Strudel, der ihn nach unten zu ziehen begann und in dem unvermittelt das Gesicht seiner Großmutter auftauchte. Ihr Anlitz kam näher und näher. Plötzlich verzerrten sich ihre Gesichtszüge, lösten sich auf und stattdessen starrte ihn ein Totenschädel an, der aus lauter Getreidekörnern bestand. Zur selben Zeit verspürte er einen kräftigen Luftzug. Gerade noch konnte Hermann sehen, wie etwas Weißes hinter einem mannshohen Busch verschwand. Ein krächzendes Geräusch drang durch die Nacht. Eines, das er kannte. Tag und Nacht hatte sich seine Großmutter die Seele aus dem Leib gehustet, bevor sie gestorben war. Vor zwei Monaten hatten die Buttkes sie zu Grabe getragen. Nun ruhte sie direkt gegenüber vom Glockenturm der Kirche.

Da! Ein weiteres Mal war das Geräusch zu hören. Laut und krächzend. Hermann schauderte es. Kein Zweifel, das war seine hustende Großmutter, die auf dem Friedhof umging. Die Kirchturmuhr schlug zwölf. Beim letzten Glockenschlag erschien ein schemenhaftes Wesen am dunklen Nachthimmel. Es schwebte direkt auf ihn zu. Voller Entsetzen sprang Hermann auf und hetzte davon. Eine weiß-graue Eule ließ sich auf der Friedhofsmauer nieder und stieß, ihm hinterherschauend, einen kehligen Schrei aus.

2015

»Das war’s?«

»Ja.«

»Mehr hast du nicht?«

»Ja.«

»Ach!«

»Was erwartest du, wenn du einen Tag zu früh kommst!«

»Stimmt, alles meine Schuld.«

»Spaß beiseite: Ich komme leider nicht so oft zum Schreiben, wie ich möchte. Nach der Arbeit bin ich k.o. und hänge meistens vor der Glotze. Und am Wochenende muss ich auch andere Sachen erledigen.«

»Ich mache dir keinen Vorwurf.«

»Ich mir aber. Wenn das so weitergeht, bin ich in zehn Jahren nicht fertig.«

»Na und?«

»Eine Auszeit könnte ich gebrauchen. Damit ich ordentlich am Stück schreiben kann. So ist das unbefriedigend. – Nächste Woche habe ich übrigens keine Zeit für dich.«

»Und ich die Woche darauf nicht.«

»Dann sind wir schon in der Kalenderwoche …«

»Du musst nicht nachgucken. Lass uns telefonieren.«

6.

Das ganze Dorf sprach von nichts anderem als von der zerstörten Buchweizenernte. Mehrmals mussten Karl und Johann schildern, wie sie auf Schultzes Feld ein noch glimmendes Bündel vorgefunden und die Glut ausgetreten hatten.