Grönland - Arved Fuchs - E-Book

Grönland E-Book

Arved Fuchs

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Beschreibung

Eine Liebeserklärung an Grönland "Grönland. Das war in den siebziger Jahren etwas für absolute Insider, für Freaks und Abenteurer, die das Außergewöhnliche suchten. Es war genau das, was mich als junger Mann ansprach."(Arved Fuchs) In diesem sehr persönlichen Buch führt Arved Fuchs kreuz und quer über seine Trauminsel. Von Nord nach Süd erzählt er von der Besiedelungsgeschichte Grönlands bis hin zum Tourismus in der Gegenwart, von Jagderlebnissen mit Inuit (inklusive dem Verspeisen frischer, noch dampfender Robbenleber) bis hin zu seinen vielfältigen Expeditionen: mit Hundeschlitten, einer Wanderung quer über das Inlandeis, die vielen Besuche mit seinem Segelschiff Dagmar Aaen und natürlich auch von den zwei Überwinterungen in der schier endlosen, monatelangen Polarnacht. Dass gerade Grönland auf Arved Fuchs so viel Faszination ausübt, ist zunächst nur schwer vorstellbar. Grönland ist ein Synonym für den Nordpol – für Schnee, Eis, endlose Weite und sonst nichts. Doch Abenteurer, Expeditionsleiter und Weltumsegler Arved Fuchs beschreibt in diesem Buch den Zauber der rauen, kalten, größten Insel der Welt. Denn trotz zahlreicher Expeditionen zum Nord- und Südpol, Durchsegelung der Nordost- und Nordwestpassage, trotz Kajaktour im Winter um Kap Hoorn – die Faszination für Grönland ließ ihn sein ganzes Leben lang nicht mehr los.

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ARVED FUCHS

GRÖNLAND

Meine Abenteuer inEis und Schnee

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DELIUS KLASING VERLAG

 

 

 

Folgende Veröffentlichungen/Bücher von Arved Fuchs sind im Delius Klasing Verlag lieferbar:South NahanniDer Weg in die weiße WeltIm Schatten des PolsGrenzen sprengenKein Weg ist zu weitPolarlicht in den Segeln

Verlag und Autor haben sich aufrichtig bemüht, sämtliche Rechteinhaber der historischen Bilderausfindig zu machen. Die Copyright-Angaben wurden nach bestem Gewissen erstellt. EventuelleAnsprüche, die bisher nicht berücksichtigt wurden, sind bitte an den Verlag zu richten.

1. Auflage 2015© Delius Klasing & Co. KG, Bielefeld

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:ISBN 978-3-667-10282-9 (Print)ISBN 978-3-667-10548-6 (PDF)ISBN 978-3-667-10549-3 (E-Pub)

Lektorat: Birgit RadeboldKarten: INCH 3, Bielefeld (S. 144) sowie Arne Steenbock (S. 24, 33, 44)Fotos: Arved Fuchs Expeditionen mit Ausnahme von: S. 16 (Reproduktion nach einem Aquarellvon John Saccheus/Archiv Arved Fuchs), S. 48 (Martin Varga), S. 68, 76 o.l. + o.r., 93 o.r. (ArchivArved Fuchs), S. 70 (Reproduktion einer Farbzeichnung von John Growland/Archiv Arved Fuchs),S. 72 (Foto von Captain William Gray, 1894/Archiv Arved Fuchs), S. 80, 121, 128 u., 129 o./u.,131, 134 l./r., 135, 144 (Torsten Heller), S. 88, 92, 93 o.l. + u. (AWI/AdP), S. 112, 113, 114, 115,143 (Harald Schmitt), S. 124, 127 o. (Tim B. Frank), S. 141 u. (Arne Steenbock)Schutzumschlaggestaltung: Buchholz. Graphiker, HamburgLayout: Gabriele Engel und Petra WittlerLithografie: scanlitho.teams, Bielefeld

Datenkonvertierung E-Book: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice, München

Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk,auch Teile daraus, nicht vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

www.delius-klasing.de

Inhalt

Kangerlussuaq 67°00′ N; 050°41′ W

Kaalaliit Nunat – Das Land der Menschen

Carey Islands 76°42′ N; 072°33′ W

Etah 78°18,50′ N; 072°36,35′ W

Siorapaluk 77°47′ N; 070°38′ W

Qaanaaq 77°29′ N; 069°20′ W

Rensselaer-Bucht 78°36′ N; 070°51′ W

Washington Land 80° N; 064°54′ W

Grönland und der Nordpol 90° N

Cook und Peary – Erbitterte Kontrahenten

Kitaa – Die Westküste 71°11′ N; 051°05′ W

Alfred Wegener

Spuren im Eis

Ilulissat 69°13′ N; 051°06′ W

Der Süden 59°46′ N; 043°55′ W

Tunu – Die abgewandte Seite 65°36′ N; 037°38′ W

Der Scoresbysund 70°29′ N; 021°58′ W

Der Nationalpark

Quo vadis, Grönland?

Die Dimensionen eines grönländischen Eisberges lassen sich erst durch einen Größenvergleich ermessen – hier fährt die »Dagmar Aaen« hinter einem Eisberg entlang, dessen Türme durch eine schmale Eisbrücke miteinander verbunden sind. »Gänsehautfeeling« – niemand kann voraussagen, wann dieser Berg aus Eis kentern und zerbrechen wird.

Grönland 1979

Kangerlussuaq

67°00′ N; 050°41′ W

Die Einfahrt zum Öfjord im inneren Teil des Scoresbysunds zählt zu den spektakulärsten Landschaften dieses weltgrößten Fjordsystems. Das Felsmassiv des Grundtvigskirken bildet mit knapp 2000 Metern Höhe eine weithin sichtbare Landmarke.

Eine Landschaft, die einen Demut lehrt. Aus dem komfortablen Sitz einer Passagiermaschine eröffnet sich beim Landeanflug auf Grönland der Blick über ein bizarres Bergpanorama.

In den Siebzigerjahren war Grönland noch weit davon entfernt, ein touristisches Ziel zu sein. Grönland, das war für die meisten Menschen ein Synonym für den Nordpol. Außer Schnee und Eis und ein paar »Eskimos«, die in Iglus wohnten und mit Hundeschlitten fuhren, gab es dort – so die weitläufige Meinung – nichts. Dieses Klischee stimmte zu keiner Zeit. Allein die Dimensionen dieser Insel: Der Norden liegt nur etwa 700 Kilometer unterhalb des Nordpols, die Südspitze etwa auf Höhe der norwegischen Stadt Oslo. Dazwischen beträgt die Nord-Süd-Ausrichtung 3000 Kilometer: Eis, Gebirge, Fjorde und Täler. Das Klima im Süden ist entsprechend der geografischen Lage völlig anders als das im hohen Norden. Während das Innere der Insel von einem gigantischen Eispanzer bedeckt ist, gibt es an den Küsten unterschiedliche Vegetationszonen. Die meisten Grönländer leben an der Westküste im unteren Drittel der Insel. Insgesamt betrug die Bevölkerung damals etwa 45 000 Einwohner, heute sind es 53 000. Der milde Golfstrom sorgt selbst im Winter für weitgehend eisfreies Wasser und damit insgesamt für ein milderes Klima. In den geschützten Tälern Südwestgrönlands wachsen kleine Bäume und im Sommer sprießen die Blumen auf grünen Wiesen. Die Siedlung Ilulissat – damals Jacobshavn genannt – war einer der ersten Orte, in denen es zaghafte Versuche gab, Touristen anzulocken. Von denen waren die meisten Backpacker, die Ausflüge zum Gletscher unternahmen, wandern und zelten wollten. Sie waren überwiegend mit der nötigen Robustheit ausgestattet, um notfalls auch eine Schlechtwetterperiode unbeschadet zu überstehen.

Außer Schnee und Eis und ein paar »Eskimos«, die in Iglus wohnten und mit Hundeschlitten fuhren, gab es dort – so die weitläufge Meinung – nichts.

Grönland, das war in den Siebzigerjahren etwas für absolute Insider, für Freaks und Abenteurer, die das Außergewöhnliche suchten.

Es war genau das, was mich als junger Mann ansprach.

Ich wollte damals zum Nordpol. Eigentlich. Schnell musste ich aber erkennen, dass sich der Nordpol nicht mal eben im Vorbeigehen erobern lässt. Erfahrungen, die ich auf früheren Expeditionen oder in Tiefkühlräumen von Großschlachtereien gesammelt hatte, halfen da nur wenig. Wenn die Kälte im Tiefkühlraum unerträglich wurde, brauchte ich nur durch die Gefrierhaustür ins Warme zu gehen und mich in der Cafeteria mit warmen Getränken zu versorgen. Diese Option würde am Nordpol kaum bestehen. Trotzdem wollte ich es wissen: Wie ist das Leben in der Kälte? Wie gehen die Menschen vor Ort damit um? Was machte eigentlich die Faszination dieser Landschaft aus, von der ich in unzähligen Büchern immer wieder gelesen hatte? Um Antworten zu finden, reiste ich im Herbst 1979 allein an die grönländische Westküste. Die einzige Verbindung von Europa bestand damals in einem Flug mit der SAS von Kopenhagen nach Söndre Strömfjord (heute Kangerlussuaq) – damals eine aktive amerikanische Militärbasis, die auch von zivilen Flugzeugen genutzt werden durfte. Außer der Militärbasis und einem Flughafengebäude mit angeschlossenem Hotel gab es nur vereinzelte Wohnblocks, in denen Flughafenangestellte arbeiteten. Eine Enklave in der grönländischen Wildnis. Ansonsten keinerlei Infrastruktur. Aber mich zog es ja raus in die Natur – deshalb war ich gekommen. Alles, was ich dazu brauchte, hatte ich in meinem Rucksack. Ich trat aus dem Ankunftsterminal – und war mitten drin in Grönland. Das Inlandeis lag etwa 20 Kilometer entfernt im Osten. Ein Feldweg führte dorthin, verirren konnte ich mich kaum. Es stellte auch keiner Fragen, wohin ich wollte oder was ich vorhatte. Ich ging einfach los, den schweren Rucksack auf den Schultern, vollgepackt mit Tütensuppen, Zelt, Schlafsack und Kocher. Den Flugplatz ließ ich hinter mir, staunte über die glasklare Luft, die Berge und Täler, die nahezu trockenliegenden Flussläufe, deren Anblick erahnen ließ, dass sich hier zur Schneeschmelze gewaltige Wassermengen ihren Weg suchen mussten. Die Sonne schien, es war fast windstill, alles wirkte friedlich. Die Stille und die Einsamkeit waren fast physisch spürbar, belasteten mich aber nicht. Ganz im Gegenteil. Es war eine der friedlichsten Gegenden, die ich je gesehen hatte. Keine Furcht vor dem Unbekannten, keine Gefahren, einfach nur unberührte Wildnis. Ich war angekommen! Endlich der erste freie Blick auf das Inlandeis, die gewaltigen Eisabbrüche, das Krachen der in sich zusammenstürzenden Eisstürme. Die Kälte, die von dem Eispanzer ausging, durch mein verschwitztes Hemd drang und mir unter die Haut kroch. Dazu die niedrig stehende Sonne und einige vereinzelte Moskitos, denen die kalten Nächte noch nicht den Garaus gemacht hatten. Es war für mich ein kolossal prägendes Naturerlebnis – verstärkt vielleicht durch den Umstand, dass ich ganz allein war und die Eindrücke mit niemandem teilen konnte.

Um Antworten zu finden, reiste ich im Herbst 1979 allein an die grönländische Westküste.

Um für die arktische Kälte fit zu werden, absolvierte ich täglich ein intensives Training, zu dem auch winterliche Bäder sowie Übernachtungen in Tiefkühlhäusern von Großschlachtereien gehörten. Die Temperatur im »Schockgefrierraum« betrug −37 °C. Ein in jeder Hinsicht ungemütlicher, aber immerhin zweckdienlicher Ort, um Erfahrung mit der Ausrüstung zu sammeln.

Meine erste Begegnung mit dem grönländischen Inlandeis im Jahre 1979. Nach einer Tageswanderung vom Flugplatz Kangerlussuaq – damals noch Söndre Strömfjord genannt – stand ich unmittelbar an der Abbruchkante.

Ich baute mein Zelt an einem kleinen See auf und dachte nach. Ich hatte für diese Reise keine genauen Zielsetzungen. Mir ging es ausschließlich darum, Erfahrungen zu sammeln, zu lernen und die Natur auf mich wirken zu lassen. Es war eine sehr entspannte und inspirierende Annäherung an eine für mich völlig neue Welt.

Meinem ersten Grönlandbesuch vorangegangen waren Expeditionen nach Kanada und Borneo. Dies war meine erste Reise in die Arktis. Sie trug durchaus meditative Züge. Tagelang wanderte ich bei klarem, herbstlichem Wetter entlang des Inlandeises, stieg an einer Stelle ein Stück auf und spürte den Reiz des Abenteuers und der Weite. Dort wollte ich hin – irgendwann – nicht auf dieser Reise. Aber der Verlockung war kaum zu widerstehen. Ich reiste mit dem Helikopter, dem damals einzigen öffentlichen Verkehrsmittel, nach Holsteinsborg – dem heutigen Sisimiut – und weiter nach Ilulissat. Hatte ich bis dahin primär die grönländische Natur erfahren, fanden hier die ersten Begegnungen mit Grönländern statt. Ich hielt mich am Hafen auf, suchte den Kontakt zu den Jägern und Fischern und fuhr mit ihnen raus, wenn sie ihre Holzkutter gekonnt um die Eisberge herumzirkelten. Die Eisberge kamen und kommen auch heute noch in einer endlosen Prozession vom Sermaq Kujalleq, einem der aktivsten Gletscher der Welt. Zuvor hatte ich nur Alpengletscher gesehen. Dieser hier war gigantisch, atemberaubend schön und zugleich Furcht einflößend. Es lag eine Urgewalt in dieser Szenerie, die mir den Atem stocken ließ. Zwischen den Eisschollen lugten immer wieder neugierige Robben hervor – eine Neugierde, die einigen der Tiere zum Verhängnis wurde. Ein gezielter Schuss eines Grönländers, und das getroffene Tier schwamm in einer sich stetig verbreiternden Blutlache. Der Kutter fuhr zu dem getroffenen Tier, dann wurde die tote Robbe vor dem Versinken mit einem langen Haken an Deck gehievt. Einer der Grönländer zückte sein Messer und brach das Tier auf. Nachdem er die Robbe ausgeweidet hatte, nahm er die noch warme Leber, schnitt ein Stück davon ab und reichte es mir auf der Messerspitze aufgespießt zu. Ich weiß bis heute nicht, ob es ein Test war, um mich, den Europäer, zu provozieren oder ein ernsthaft gemeintes Geschenk. Die Leber des Tieres ist sehr vitaminhaltig und wird daher besonders geschätzt. Sie abzuweisen hätte man leicht als eine unfreundliche Geste werten können. In meinem Fall hätte man das wohl mit einem Lachen quittiert. Ein Kablunak – ein Weißer eben. Aber ich habe mich bedankt, das Stück Leber ohne mit der Wimper zu zucken genommen, in den Mund gestopft und sorgfältig gekaut. Ich hatte vorher schon rohes Fleisch gegessen, ich ekele mich nicht davor. Aber von einem wenige Minuten zuvor erlegten Tier hatte ich so unmittelbar noch nicht gekostet. Die Grönländer schmunzelten, aßen selbst ein Stück und machten sich dann wieder an die Arbeit. Diese Situation – an sich nichts Besonderes – brachte mich den Menschen auf eine eigentümliche Art näher. Es war, als ob ich einen Hauch der alten, archaischen Jägerkultur verspürte. Die in der Kultur verankerte Gastfreundschaft und das Prinzip des Teilens, wie ich es auf späteren Reisen so oft erlebt habe, waren plötzlich gegenwärtig. Ich verbrachte noch einige Zeit mit den Jägern, bevor ich dann tagelang Eindrücke sammelnd, entlang des Eisfjordes wanderte. Spektakulär waren die Landschaft, die Eindrücke – keineswegs meine Aktivitäten.

Auf dem Markt verkaufen die Grönländer Fisch und Robbenfleisch.

Die Jagd gehört traditionell zum Leben dieser Menschen. Fast jeder Grönländer geht in seiner Freizeit jagen oder fischen. Die tödlich getroffene Robbe wird mit einem Fanghaken gesichert, um sie vom Versinken abzuhalten.

Die Kirche von Sisimiut im Frühsommer. Man erahnt, warum Grönland von den Wikingern als »grünes Land« betrachtet wurde. Sismiut ist nach der Hauptstadt Nuuk die zweitgrößte Stadt Grönlands und liegt etwa auf Höhe des Polarkreises.

Es war, als ob ich einen Hauch der alten, archaischen Jägerkultur verspürte.

Als ich in den Flieger nach Kopenhagen stieg, hatte ich mir einen heftigen Infekt zugezogen: Ich war infiziert vom Arktisbazillus. Dieser Aufenthalt in Grönland hat damals mein Leben verändert. Mit einem Mal sah ich deutlich, was ich anfangen wollte. Und Grönland würde darin ganz sicher eine gewichtige Rolle spielen.

Die Idee, zum Nordpol zu laufen, habe ich neben anderen Zielen später weiterverfolgt. Es sollte aber bis zum Jahre 1989 dauern, bis mir dieses im Rahmen der »Icewalk«-Expedition schließlich gelang. Es mag berechtigte Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer Nordpolexpedition geben. Rückblickend muss ich sagen, so sehr mich diese Aufgabe gereizt und herausgefordert hat, so sehr bedaure ich auf der anderen Seite, nicht noch mehr Zeit auf Grönland verbracht zu haben. Der Nordpol hat viel Zeit und Energie gefordert, die ich in den Achtzigerjahren weniger spektakulär auf Grönland hätte einsetzen können.

Irgendwie möchte ich beides nicht missen, aber die Sehnsucht nach Grönland ist ungebrochen und ungleich größer als sie jemals nach dem Nordpol war. Der Nordpol ist die Entdeckung des Nutzlosen. Grönland ist eine kulturelle und landschaftliche Offenbarung. Daher werde ich auch weiterhin nach Grönland fahren – sicherlich aber nicht noch einmal zum Nordpol.

Kaalaliit Nunat

Das Land der Menschen

Der Grönländer John Saccheus begleitete John Ross auf seiner Expedition nach Nordwestgrönland, in deren Verlauf es zu der ersten, denkwürdigen Begegnung mit den Polareskimos kam. Saccheus war ein begabter Zeichner und hielt die Begegnung in diesem Bild fest, das später von John Ross als Lithografie im Jahre 1819 in seinem Buch »A Voyage of Discovery« veröffentlicht wurde.

Die Geschichte Grönlands beginnt für mich im äußersten Nordwesten der Insel. Dort, wo die Besiedelungsgeschichte Grönlands ihren Ursprung hat. Avernarssuaq nennen die Grönländer diesen Teil. Übersetzt bedeutet das etwa: »Der entlegenste Teil im äußersten Norden«. Diese etwas sperrige Formulierung macht deutlich, dass es sich selbst für grönländische Verhältnisse um eine abgelegene und einsame Region handelt. Dennoch bildet diese karge Landschaft im hohen Norden die Keimzelle der Besiedelung Grönlands. Hier ist es gewesen, wo vor rund 4000 Jahren die Paläoeskimos den zugefrorenen Smith Sound überquerten, der die kanadische Ellesmere Island von Grönland trennt.

Zu dieser Zeit betrug die Weltbevölkerung geschätzte 27 Millionen Menschen. Allein die Metropolregion Jakarta in Indonesien weist heute eine Bevölkerungsdichte von 30 Millionen Menschen auf. Es war damals wahrlich eine andere Zeit: In Europa herrschte die Bronzezeit, und in Ägypten residierten die Pharaonen – und rund 1000 Kilometer südlich des Nordpols betrat eine Handvoll sturm- und eiserprobter Menschen erstmals die größte Insel der Welt.

Die Wanderung der zur Dorset-Kultur gehörenden Paläoeskimos hatte vor langer Zeit in Asien begonnen. Sie waren über die Beringstraße nach Alaska gekommen und von dort immer weiter Richtung Osten gezogen. Bis der Smith Sound ihren Vormarsch stoppte. Dort blieben sie und siedelten entlang der Küste, überwiegend im Alexandra-Fjord von Ellesmere Island.

1977 entdeckte der amerikanische Archäologe Peter Schledermann am Alexandra-Fjord rund 150 prähistorische Fundorte, die bis 4000 Jahre zurück datieren. Von dort aus war 2500 Jahre v. Chr. eine kleine Gruppe von Polareskimos über den zugefrorenen Sund gewandert und hatte damit erstmals grönländischen Boden betreten. Diese Independence-I-Kultur genannten Menschen breiteten sich vor allem an der Nordküste Grönlands aus und erreichten auf ihrer Wanderung auch die Ostküste. Die kleine Schar Einwanderer trotzte aufgrund ihrer genialen Anpassungsfähigkeit an das hocharktische Klima allen Widrigkeiten: monatelange Dunkelheit während der polaren Nacht, Temperaturen von −40 bis −60 °C, furchtbare Orkane und Hungersnöte. Kein anderes Volk auf der Erde hat so extremen klimatischen Verhältnissen trotzen müssen wie die Polareskimos. Trotzdem überlebten sie.

Dicht gedrängt liegen Walrosse auf einer Eisscholle im Smith Sound und schauen neugierig zu uns hinüber. Während sie in der Sonne liegen und ruhen, treiben sie neuen Futtergründen entgegen.

Kein anderes Volk auf der Erde hat so extremen klimatischen Verhältnissen trotzen müssen wie die Polareskimos.

Es folgten weitere Einwanderungswellen. Die Neuankömmlinge zogen entlang der Westküste, einige von ihnen rundeten das im Süden liegende Kap Farvel, wanderten weiter nach Norden an der Ostküste entlang bis zum Scoresbysund. Etwa zu Beginn des 17. Jahrhunderts wanderten die letzten der am Alexandra-Fjord verbliebenen Polareskimos nach Grönland zu ihren Urahnen. Zu dieser Zeit begann die »Kleine Eiszeit«, die die ohnehin extremen Lebensbedingungen für die Menschen nahezu unerträglich machte. Das Leben war durch die einsetzende Abkühlung kaum zu bewältigen. Jede Aktivität, jeder Handgriff und jeder Gedanke beschränkte sich auf das Überleben. Die Natur trotzte den Menschen jegliche Energie ab. Das, was an Kunst- und Jagdfertigkeiten zuvor bestanden hatte, geriet in Vergessenheit. Für Kunst oder kulturelle Wertschöpfungen blieb kein Raum. Man konzentrierte sich ausschließlich aufs Überleben.

Als im August des Jahres 1818 der britische Forschungsreisende John Ross erstmals Kontakt mit den überlebenden Polareskimos aufnahm, gab es im Nordwesten Grönlands nur noch etwa 30 Familien. Durch strikte und für Außenstehende grausam erscheinende Regeln hatten sie den Überlebenskampf gewonnen. Aber zu welchem Preis. Es war gängige Praxis, dass die Alten auf dem Eis ausgesetzt wurden, wenn sie nicht mehr selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen konnten. Mädchen bis zum zweiten Lebensjahr wurden bei Nahrungsmangel getötet. Viele der früher bekannten Jagdfertigkeiten wie der Gebrauch von Kajak sowie Pfeil und Bogen waren in Vergessenheit geraten. Die extremen Naturverhältnisse erforderten andere Jagdtechniken als jene, die die Eskimos bis zum 16. Jahrhundert entwickelt hatten. Wegen der geschlossenen Eisdecke war die Jagd auf Großwale unmöglich geworden und die dazu erforderlichen Techniken in Vergessenheit geraten. Robben und Narwale wurden dort, wo sich offenes Wasser zeigte, lediglich von der Eiskante aus gejagt. Rund zweieinhalb Jahrhunderte hatte die Eiszeit gedauert. Das brutale Klima hatte quasi die Festplatte der Menschen gelöscht und sie in eine Art Urzustand zurückversetzt. Die Errungenschaften, die sie bis zur Kleinen Eiszeit entwickelt hatten, waren verloren gegangen. Die Menschen hatten nur dadurch überleben können, dass sie sich auf das Wichtigste konzentriert hatten. So erinnerten sie sich auch nicht mehr an ihre Herkunft. Ihre Nahrung bestand überwiegend aus Kiviaq, kleinen Alkenvögeln, die in den Klippen gefangen und im Sommer roh verzehrt wurden. Für den Winter lagerte man die kleinen Kadaver in Robbenhäuten und verstaute sie unter Steinen, um sie später in einer Art verrottetem Zustand zu essen. Diejenigen, die diese Zeit überlebt hatten, mussten die Kunst des Jagens und das Herstellen von Geräten erst wieder neu erlernen.

Auf unserer Expedition 2009 queren wir mit der »Dagmar Aaen« (rote Linie) den Smith Sound, der Grönland von Kanada trennt. Unser Kurs wird dabei von den dichten Treibeisfeldern bestimmt. Handschriftlich haben wir die Routen historischer Expeditionen eingetragen. Über diese Meerenge wanderten einst die Paläoeskimos nach Grönland ein.

Die »Dagmar Aaen« im Smith Sound.

Auch heute spielt das Kajak eine wichtige Rolle. Dieser Junge hat auf seinem Kajak eine Schwimmblase aus Robbenhaut befestigt. Wird eine Robbe geschossen oder harpuniert, sinkt sie leicht ab und geht verloren. Um dem vorzubeugen, wird diese Schwimmblase mit einer Leine am Tier befestigt, sodass man es bergen kann. Ein verletztes Tier kann zudem gegen den Widerstand der Schwimmblase nicht abtauchen und ermüdet sehr schnell. Dann ist der Jäger zur Stelle.

Die erste Begegnung zwischen Weißen und den Polareskimos fand am 10. August 1818 statt. Der britische Forschungsreisende John Ross porträtierte den ersten Grönländer, dem er begegnete.

Damals wie heute notwendig: der stete Kampf mit den Eisschollen.

Die Küste des kanadischen Ellesmere Islands. Von hier zogen die Paläoeskimos Richtung Osten nach Grönland.

Sie nannten sich Inughuit und glaubten, die einzigen Menschen auf der Welt zu sein – bis zu jenem denkwürdigen Treffen mit John Ross. Als Ross mit den beiden Schiffen »Isabella« und »Alexander« in der Nähe des heutigen Savissivik unweit Kap Yorks auf einige Polareskimos traf, waren diese zunächst voller Angst. Ross hatte einen Südgrönländer namens Saccheus an Bord, der zu dolmetschen versuchte und bemüht war, die Angst abzubauen. Das gelang nur sehr langsam. Die Polareskimos glaubten wegen der Segel, die im Wind flatterten, dass die Schiffe Vögel seien und dass sie von der Sonne oder dem Mond kämen. Glas hielten sie für Eis, das ihnen angebotene Essen spuckten sie angewidert wieder aus. Erst langsam gelang es Saccheus, das Vertrauen dieser Menschen zu gewinnen und sie zu einem Besuch an Bord zu bewegen. Saccheus, der zugleich auch ein begnadeter Maler war, dokumentierte dieses denkwürdige Zusammentreffen. Ross tauschte Gegenstände der Polareskimos ein, darunter einen Qamutit, einen Hundeschlitten, der komplett aus Knochen gefertigt war und sich heute im British Museum, London, befindet. Ein weiterer befindet sich im Ethnologischen Museum in Berlin-Dahlem.

Die Polareskimos glaubten wegen der Segel, die im Wind flatterten, dass die Schiffe Vögel seien, und dass sie von der Sonne oder dem Mond kämen.

Diese erste Begegnung mit Europäern verlief in einer insgesamt freundschaftlichen Atmosphäre. Dennoch muss das Treffen für die Polareskimos eine Art Zeitenwende eingeleitet haben. Zu diesem Zeitpunkt – vor rund 200 Jahren – lebten auf der Erde bereits geschätzt eine Milliarde Menschen. Für die Polareskimos, die sich in völliger Isolation befanden, war die Zeit bis dahin stehen geblieben. Man muss die Geschichte dieser Menschen kennen, um die Zusammenhänge zu verstehen.

Sie sind meine Helden – nicht die frühen Entdecker, die ihre Erfolge ohne das Know-how der Inughuit niemals hätten realisieren können.

Carey Islands

76°42′ N; 072°33′ W

Die Überreste eines eingefallenen Hauses der Thule-Kultur auf den Carey-Inseln.

Mich faszinieren Inseln. Sie stellen eine Art autarken Lebensraum dar. Sie brauchen den Rest der Welt nicht. Und sie befinden sich oft jenseits der Wahrnehmung, da sie abseits liegen und häufig schwer zugänglich sind. Einige dieser geheimnisvollen Inseln gibt es zwischen Kanada und Grönland – die Carey Öer. 1993 waren wir mit der »Dagmar Aaen« die grönländische Westküste nach Norden hochgesegelt. Unser Plan sah vor, die große Melville-Bucht im Norden Grönlands küstennah zu umfahren, um dann in einem Bogen die kanadische Küste anzusteuern und weiter in die legendäre Nordwestpassage einzufahren. Dieser Umweg mag aus heutiger Sicht unverständlich sein, aber damals gab es einen zwingenden Grund für diesen Umweg: das sogenannte Middle Pack. Dabei handelte es sich um ein riesiges Eisfeld, das sich auch im Sommer in der Baffin Bay hielt und sich wie ein gewaltiger Mahlstrom im Uhrzeigersinn drehte. Zahlreiche Forschungs- und Walfangschiffe waren diesem Mahlwerk in früheren Zeiten zum Opfer gefallen. Aufgrund der Auswirkungen des Klimawandels gibt es dieses Middle Pack im arktischen Sommer nicht mehr. Das Meer ist wärmer geworden, und damit einhergehend ist das Eis geschmolzen. So, als hätte es niemals existiert. Ein Umstand, der nirgendwo in den mir bekannten Publikationen Erwähnung findet. Nur in den alten Seehandbüchern ist die Rede davon und natürlich in den Berichten der Walfänger, die häufig vom Eis eingeschlossen worden sind und verzweifelt versuchten, ihre Schiffe und ihr Leben zu retten.

1993 waren wir mit der »Dagmar Aaen« die grönländische Westküste nach Norden hochgesegelt.

Auch wir hatten damals einen gehörigen Respekt vor dem Eis und hangelten uns vorsichtig zwischen Packeis und der mit Untiefen gespickten Küste entlang nach Norden. Dichter Nebel machte die Orientierung schwierig. Zwischen dem Packeis befanden sich immer wieder riesige Eisberge, die von Meeresströmungen getrieben sogar gegen den Wind Fahrt machten und dabei das sie umgebende Eis wie ein gigantischer Eisbrecher brachen. Gerade so, als würden sie über einen eigenen Antrieb verfügen und sich dabei einen Spaß daraus machen, kleine Segelschiffe zu jagen. Erst im Norden lockerte sich das Eis, sodass wir schließlich vor der kleinen Siedlung Qaanaaq vor Anker gehen konnten. Außer dem jährlichen Versorgungsschiff und vielleicht einigen wenigen Behördenbooten der dänischen Regierung verirrten sich damals nur sehr selten Schiffe dorthin. Segelschiffe oder gar Yachten waren Anfang der Neunzigerjahre die absolute Ausnahme. Entsprechend groß war die Aufmerksamkeit, die unsere Ankunft hervorrief. Grönländer kamen mit Booten längsseits und kletterten an Bord. Bei Tee und Keksen versuchten wir, so gut es ging zu kommunizieren – was meist nur durch Gesten und das Zeigen unserer Reiseroute auf der Seekarte möglich war. Nachdem die ersten Besucher wieder zurück an Land waren und über das Gesehene berichtet hatten, war der Bann gebrochen. Ganze Bootsladungen von Grönländern kamen zu Besuch – alle freundlich, höflich und zurückhaltend, aber neugierig. Im Zentrum des Interesses stand das Schiff und erst danach wir als Crew. Einladungen an Land wurden ausgesprochen. Brigitte – meine Frau – wurde beim ersten Landgang spontan von zwei kleinen Mädchen an die Hand genommen. Eines der Mädchen kramte ein Stück getrockneten Fisch aus siner Hosentasche und reichte es Brigitte, die diese Gabe von Fusseln befreite und dann mit Todesverachtung in den Mund steckte. Stolz führten die Mädchen Brigitte durch ihr Dorf – so, wie wir unsere Besucher durchs Schiff geführt hatten. Die Entstehung Qaanaaqs ist ein dunkles Kapitel grönländischer Geschichte. Bis 1953 wohnten die Grönländer in den Siedlungen Pittufik und Uummannaq, knapp 100 Kilometer südlich der heutigen Ortschaft. Während des Kalten Krieges stimmte die dänische Regierung dem Ersuchen der USA zu, genau an dieser Stelle einen großen Luftwaffenstützpunkt zu bauen. Mit einem ungeheuren technischen Aufwand wurde innerhalb kürzester Zeit die Luftwaffenbasis aus dem Boden gestampft. Das Zusammentreffen der amerikanischen Coca-Cola- und Fast-Food-Kultur mit der jahrtausendealten archaischen Jägerkultur muss wie ein Erdbeben gewirkt haben. 1953 wurden die letzten verbliebenen Grönländer zwangsumgesiedelt. Von einem Ort, an dem ihre Vorfahren Tausende Jahre gelebt hatten. Die meisten von ihnen zogen in die bis dahin eher unscheinbare Siedlung Qaanaaq. Sie taten das nicht freiwillig und trauerten ihrer alten und vertrauten Umgebung nach. Man ließ ihnen keine Wahl.

Ganze Bootsladungen von Grönländern kamen zu Besuch – alle freundlich, höflich und zurückhaltend, aber neugierig.

Walrosse fürchten die Grönländer mehr als Eisbären. Die Tiere sind unberechenbar und greifen Boote und Kajaks an, sobald sie sich bedroht fühlen.