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Beverly Snyder ist begeistert, dass sie in der Rainbow-Hearts-Library aushelfen kann. Als Illustratorin bietet sie den Kunden an, deren niedergeschriebenen Gedanke und Gefühle für sie in Bildform festzuhalten - ein Konzept, das alle begeistert. Als Beverly das Buch einer Autorin illustriert, lernt sie deren Verleger Matt kennen. Matt ist mit seiner eigenbrötlerischen Art das genaue Gegenteil zu der lebenslustigen Beverly. Als Beverlys herrische Großmutter sie besucht, bittet sie Matt, ihren Freund zu spielen, um die Fragen nach ihrem Beziehungsstatus zu beenden. Doch bald lassen sich echte und vorgespielte Gefühle kaum noch voneinander trennen ...
Der vierte Band der Reihe um die liebenswerte Bücherei der Herzen!
eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.
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Seitenzahl: 347
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Inhalt
Grußwort des Verlags
Titel
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Epilog
Danksagung
Über die Autorin
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Impressum
Cover
Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Inhaltsbeginn
Impressum
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Jana Schikorra
Für meine Tante Sylvie, die ein Herz aus Gold hat und eine der stärksten Frauen ist, die ich kenne.
Und für Betty.
Danke, dass du mich erinnert hast.
Das werde ich dir nie vergessen.
Beverly Snyder war sieben Jahre alt gewesen, als sie das Meer zum ersten Mal rauschen gehört hatte. Nicht etwa von einem Strand aus, sondern aus einer Muschel heraus.
Ein Exemplar mit glänzend perlmuttfarbener Schale – gekauft in einem Touristik-Shop unweit der kleinen Wohnung, in der sie aufgewachsen war. Natürlich wusste sie heute, dass sie eigentlich bloß ihrem eigenen Blut und nicht dem rhythmischen Branden des Atlantiks gelauscht hatte. Doch als das Kind eines schwer kranken Vaters war diese kleine Sage ihr eine willkommene Wahrheit gewesen. Gesehen hatte sie das Meer erst Jahre später, nachdem ihr Vater längst gestorben und sie mit ihrem Bruder erstmals an die Küste gefahren war.
Zwei Iren, die noch nie zuvor Zeugen davon geworden waren, wie Blau und Blau einander berührten. Manchmal kam Beverly sich deswegen immer noch wie eine Aussätzige vor. Oder, wie ihr Bruder Liam oft scherzhaft sagte, ihrer Nationalität nicht würdig.
»Wer die See nicht ehrt, ist die Staatsbürgerschaft nicht wert«, zitierte sie ihn in Gedanken, lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück und platzierte die Unterarme auf den über und über mit Stickern versehenen Plastiklehnen. Ein buntes Chaos aus Westlife-Aufklebern, die sie in Teenie-Zeiten gesammelt hatte. Überhaupt versprühte Beverlys Arbeitszimmer mit seinen zahlreichen an den Wänden hängenden Boyband-Postern den für sie so einzigartig leichten Charme der frühen 2000er.
Erinnerungsstücke an ein Leben, das sie noch nicht bereit war zu vergessen.
Genauso wenig wie die perlmuttfarbene Muschel, die sie ihrem Vater in der Nacht vor seinem Tod auf das Kopfkissen gelegt hatte. Gedankenverloren fuhr Beverly sich mit den Zähnen über die Unterlippe. Dieser Nachmittag verlief alles andere als produktiv. So war es oft, wenn die Nostalgie sie übermannte.
Immerhin saß ihr dieses Mal keine dringende Deadline im Nacken, dachte Beverly mit einem Anflug von Dankbarkeit für ihr gesundetes Zeitmanagement.
Es hatte Phasen gegeben, da sie jede Anfrage für ihre Illustrationen angenommen hatte – ungeachtet der Tatsache, dass sie, um alle Aufträge pünktlich erledigen zu können, nicht mehr schlafen und sich nur noch von Kaffee ernähren würde.
Inzwischen, nach nunmehr vier Jahren Selbstständigkeit, schlief Beverly wieder. An ihrem Koffeinkonsum hingegen hatte sich kaum etwas verändert. Sie kam gerade zu dem Schluss, dass eine weitere Tasse nicht schaden konnte, als ihr neben dem Laptop abgelegtes Handy klingelte. Roxanne, wie ihr der auf dem Display aufploppende Name verriet. Beverly hatte sich im vergangenen Sommer mit der quirligen Besitzerin eines Schmuckgeschäfts angefreundet, nachdem sie in deren Laden ein halbes Dutzend zum reduzierten Preis dargebotener Muschelarmbänder gekauft hatte. Seither verbrachten beide gern ihre Mittagspause zusammen – wahlweise in einem der Pubs oder Restaurants am Hafen. Oder, so wie jeden Montag und Freitag, im Heartbook, dem Büchercafé einer Beverly ebenfalls zur guten Bekannten gewordenen jungen Konditorin.
Es wäre übertrieben gewesen, Sophie Clarke als ihre Freundin zu bezeichnen, doch während ihrer regelmäßig gewordenen Besuche im Café waren sie zunehmend oft und lang miteinander ins Gespräch gekommen.
»Hey, Rox«, nahm Beverly den Anruf mit einer flötend-fröhlichen Aussprache des von ihr erwählten Spitznamens entgegen. »Was gibt’s? Tote Hose heute bei dir?«
Da die Uhr erst halb elf zeigte und die Mittagspause entsprechend noch auf sich warten ließ, lag diese Annahme nahe.
Ein paar seltene Male war es immerhin schon vorgekommen, dass Roxanne längere besucherfreie Intervalle genutzt hatte, um mit Beverly zu telefonieren. Anfangs war sie darüber ein wenig pikiert gewesen – aus dem eitlen Grund heraus, dass sie in diese während ihrer eigenen Arbeitszeit getätigten Anrufe eine »Beverly hat sowieso nichts zu tun«-Haltung hineininterpretiert hatte. Doch nachdem sie Roxanne darauf angesprochen hatte, war ihr von der Freundin schnell der Wind aus den Segeln genommen worden.
Roxanne wusste, dass sie sehr wohl zu tun hatte, und zwar meistens reichlich. Aber sie wusste auch, wie willkommen Beverly kleine Pausen waren – und dass diese keinerlei Mühe hatte, nach solchen wieder in den Schaffensprozess abzutauchen, den sie zuvor unterbrochen hatte.
»Ich wünschte, es wäre nur das.« Roxanne seufzte. »Mein Ex-Mann hat sich für nachher angekündigt. Wir müssen unser Pausen-Date heute leider ausfallen lassen.« Sie seufzte noch einmal. »Elende Diskussionen anstelle von Kaffee und Kuchen. Yippie. Ein Montag, wie er im Buche steht.«
Beverly stöhnte auf. »O nein. Sag nicht, es geht schon wieder um die Katzen.« Seit der Trennung vor einigen Jahren hatte Roxannes Ex-Mann zunächst immer wieder versucht, sie zurückzugewinnen. Inzwischen lebten sie offiziell in Scheidung, und Roxanne war zwischenzeitlich sogar wieder neu verliebt gewesen. Doch die neue Beziehung hatte nicht gehalten. Und nun war es nicht mehr Roxanne, um die ihr Ex-Mann sich bemühte, sondern die gemeinsamen Katzen.
»Doch. Genau das. Ich sollte ihm einfach die Tür vor der Nase zuschlagen.« Es raschelte in der Leitung. Wahrscheinlich betrieb Roxanne gerade ihr aus dem Vernaschen von Shortbread bestehendes Anti-Stress-Programm. Beverly konnte es ihr nicht verdenken. Ihr Ex-Mann gehörte zu jener Sorte Mensch, für die das Wort »stur« erfunden worden war.
»Aber natürlich bringe ich das dann doch wieder nicht übers Herz. Ich bin einfach zu weich.« Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet Roxanne das sagte, die nach außen hin immer so taff wirkte. Andererseits, dachte Beverly, war es bei ihr selbst ähnlich. Sie war bedeutend sensibler, als es für Fremde – und teilweise sogar Freunde – den Anschein erweckte. Der klassische weiche Kern unter einer harten Schale.
»Du bist ihm nichts schuldig, Rox. Das weißt du, oder?«
»Ja. Eigentlich schon. Aber leid tut er mir trotzdem. Er ist eben einsam.«
»Hm.« Beverly fand, dass auch das nicht das Problem ihrer Freundin war. Doch letztlich war es nicht an ihr, das zu bewerten. »Berichte später mal, wie es gelaufen ist.«
»Mache ich«, versprach Roxanne. »Und entschuldige die spontane Absage.«
»Kein Problem. Wir sehen uns ja spätestens Freitag.«
Sie verabschiedeten sich voneinander und beendeten das Gespräch. Mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte trommelnd betrachtete Beverly die angefangene Digitalskizze auf ihrem Zeichenpad. Seitdem sie die Datei am Morgen geöffnet hatte, war sie kaum einen Deut weitergekommen.
Das Gesicht der Figur, der sie im Auftrag eines in Galway ansässigen Comicbuch-Verlags Leben einzuhauchen versuchte, war noch frustrierend ausdruckslos. Meist gelang es Beverly auf Anhieb, ihren Skizzen das gewisse Etwas zu verleihen, mit dem sie in ihrem Portfolio so großzügig aufwartete. Doch in letzter Zeit war diese Magie, um die sie sich nie hatte bemühen müssen, irgendwie erschöpft. Als müsste sie nun Buße dafür tun, zuvor so verschwenderisch damit umgegangen zu sein.
»Keine Sorge«, eröffnete sie dem unfertigen Feen-Prinzen, der ihr aus leeren Augen entgegenblickte, mit beschwörender Stimme. »Früher oder später werden meine Fingerspitzen ihren verlorenen Zauber wiederfinden.« Ja, dachte sie, während sie in ihrem Schreibtischstuhl zurückrollte; fort von ihrem Tisch und dem Zeichenpad. Und bis es so weit war, würde sie eben hin und wieder anderen Leuten beim Zaubern zusehen. Heute vorzugsweise mit Kakaopulver und Milchschaum.
Von allen Gewändern, die die vier Jahreszeiten abwechselnd webten, war Beverly das herbstliche am liebsten.
Sie war schon immer der Meinung gewesen, dass den goldenen Monaten, wie sie sie nannte, eine ganz besondere Schönheit innewohnte – auch, wenn dieses Gold in der Realität eher ein regnerisches Grau war. Doch das tat ihrem Empfinden keinerlei Abbruch. Vielleicht, weil sie ein Mensch war, der Veränderung begrüßte. Und jene Veränderung, der die Natur in dieser Zeit ausgesetzt war, war eine ganz besondere. Eben deshalb, weil sie so allumfassend war. Das Grün des Sommers färbte sich rot und gelb; das Meer verlor seine heuchlerische Zahmheit und kehrte zum rauen Kern seines Wesens zurück. Und die Luft ... Die Luft schmeckte endlich wieder richtig salzig. Bar der blumigen Note, die Wärme und Trägheit ihr verliehen hatten, und außerdem so belebend frisch, dass sie jeden einem auf der Zunge liegenden Zweifel ersterben ließ.
Beverly gestattete sich einen langen, intensiven Atemzug, um ihre Lungen bis zum Anschlag mit ebendieser herrlichen Luft zu füllen. Dann machte sie sich beschwingt auf in Richtung Ortskern.
Der Wind zerrte am lose über ihrer Schulter baumelnden Ende ihres Schals und blähte den Flanellstoff ihres knielangen Mantels auf wie einen Ballon. Ein weiterer Vorteil des Herbstes gegenüber dem gerade erst verklungenen Sommer, dachte sie, während sie durch die engen, zum Hafen hin abfallenden Straßen schlenderte. Sie würde Stiefel, Mantel und Stirnband jederzeit gegenüber Shorts und Sandalen bevorzugen.
Beverly grüßte ein entgegenkommendes Pärchen, wechselte die Straßenseite und bog kurz vor dem Ende der Balscadden Road ab. Sie lebte noch nicht lange in Howth – zweieinhalb Jahre, um genau zu sein –, und doch hatte sie das seltsame Gefühl, als würde ihre Seele dieses wunderbare Fleckchen Erde schon seit dem Tag ihrer Geburt kennen. Als hätte ein Teil von ihr immer gewusst, dass sie hier eines Tages ihr Zuhause finden würde. Ein Gedanke, der ihr gefiel.
Beverly beschleunigte ihre Schritte, als das Heartbook Café in Sicht kam. Sophies Café lag unweit der Promenade in der Kilrock Road. Sie hatte den Laden im vorletzten Winter angemietet und füllte ihn seither mit einem Zauber, den zu erleben Beverly richtiggehend süchtig geworden war.
Die Lippen in freudiger Erwartung zu einem Schmunzeln verzogen, steuerte sie auf die mit geschmackvollen Glas-Tattoos verzierte Fassade des Cafés zu. Cupcakes, Torten, Kekse und Tassen, über denen sich Dampf kräuselte – die ausgewählten, minimalistisch gehaltenen Motive bildeten einen perfekten Kontrast zur bunten Vielfalt, die die Besucher im Inneren des Ladens erwartete.
Bevor Beverly sich in genau diese Vielfalt stürzte, ließ sie ihren Blick noch einmal ganz bewusst die geschwungenen Lettern auf dem schmiedeeisernen Schild streifen, das über der Eingangstür hing. Das Schild war wie ein leiser Gruß an einen Ort, der Beverly ebenfalls ans Herz gewachsen war – und die Schriftart dieselbe, die auch auf der Außenfassade der Rainbow-Hearts-Library zu sehen war. Ein, wie Beverly wusste, wohlweislich gewähltes Zeichen der Verbundenheit zu Kate und ihrer allseits beliebten Bücherei – genau wie die Inneneinrichtung.
Nebst eines mit Sophies Köstlichkeiten gefüllten Verkaufsbereichs nämlich wartete das Café mit einem breiten, bis unter die Decke reichenden Regal auf. Ebenfalls darin stand ein Ohrensessel, und gegenüber hatte Sophie ein Sofa mit quietschgelben Kissen platziert. Von beiden Möbelstücken aus gut zu erreichen, fügte sich noch ein kleiner, mit Papier, Stiften und Umschlägen bestückter Tisch in die Gemütlichkeit der Bücherecke ein. Eine weitere Hommage an die Rainbow-Hearts-Library und ihr Konzept, demnach ihre Besucher Briefe schreiben und zwischen den Seiten ihrer Lieblingsromane verstecken konnten.
Beverly schmunzelte. Die liebevollen Details, die Verbundenheit zwischen den Orten – all das passte perfekt zu dem, was sie an diesem Vormittag suchte.
Endlich trat sie ein und brachte damit das Türglöckchen zum Bimmeln.
Sophie blickte vom Tresen auf und strahlte, sobald sie Beverly erkannte.
»Bev! Du bist früh dran heute.«
»Hi, Sophie.« Beverly erwiderte ihr Strahlen. »Ja, mein Zeitplan ist etwas durcheinandergeraten. Rox hat kurzfristig abgesagt. Aber ich musste trotzdem herkommen.« Wie um zu verdeutlichen, dass sie tatsächlich keine andere Wahl gehabt hatte, nahm Beverly einen tiefen Atemzug. Der vertraute Duft von frisch gebrühtem Kaffee, warmem Vanillezucker und einem Hauch Zimt war eine Wohltat für ihre Sinne.
»Ach, du Herz.« Sophie kam um den Tresen herum und zog Beverly in eine kurze, aber innige Umarmung.
»Setz dich, ich mach dir deinen Lieblingskaffee – mit dem Buch obendrauf, wie immer. Dazu ein Zitronenmuffin?«
Beverly seufzte ergeben. »Hach. Du liest mir die Wünsche von den Augen ab.« Mit einem Lächeln, das noch ein wenig breiter war als zuvor, suchte sie sich einen Platz am Fenster und nickte im Vorbeigehen zwei anderen Gästen zu.
Beverly mochte es, das bunte Treiben draußen zu beobachten, während drin die Welt ein wenig langsamer wurde – gerade genug, um ihre manchmal in Schieflage geratene innere Mitte wieder ins Lot zu bringen. Versonnen verfolgte sie den Kampf dreier aufmüpfiger Stare um ein halbes Brötchen, das ein Kind ganz zum Unmut seiner Mutter hatte fallen lassen. Als ausgerechnet der kleinste von ihnen gewonnen hatte, kam Sophie mit einem Tablett an ihren Tisch.
»Bitte sehr, meine Liebe. Lass es dir schmecken.«
»Das werde ich, vielen Dank.«
Entzückt begutachtete Beverly ihren Muffin und das aufgeschlagene Buch aus Kakaopulver, das Sophie mithilfe eines Schablonen-Streuers auf die perfekte Haube aus Milchschaum gezaubert hatte. Fast zu schade zum Trinken, wie sie fand. Aber eben nur fast. Schon setzte sie die Tasse an die Lippen und nahm einen kräftigen Schluck. Beverly hätte am liebsten vor Wonne geseufzt. Das bittere Röstaroma, das sich auf ihrer Zunge ausbreitete, liebkoste ihren Gaumen auf eine Weise, wie es nur ein guter Kaffee zu tun vermochte.
»Gott, ist der gut!« Beverly musste sich bremsen, um das noch ziemlich heiße Getränk nicht in einem Zug zu leeren. Stattdessen biss sie – nicht minder genüsslich – in den mit schimmernden Zuckerperlen garnierten Muffin. Während sie aß, beobachtete sie Sophie dabei, wie sie hinter dem Tresen hantierte und einen Eiskaffee-to-go für einen Kunden zubereitete. Als sie fertig war und Beverly sich gerade den letzten Muffinkrümel vom Kinn wischte, trat Sophie abermals an ihren Tisch und stützte sich mit einer Hand darauf.
»Und, Bev? Was gibt es Neues?«
Sie wirkte aufrichtig interessiert. Als brächte Beverly jede Woche eine andere spannende Schreibtisch-Geschichte mit ins Heartbook. Heute allerdings konnte sie weniger denn je damit dienen. »Klingt nach einer ausweichenden Standardantwort, aber eigentlich ... nichts. Nicht wirklich.« Beverly fuhr mit dem Finger über den Rand ihrer Kaffeetasse. »Und bei dir?«
»Och, weißt du, ich finde gar nicht, dass das ausweichend klingt. Es gibt eben Phasen im Leben, da – warte kurz.« Sophie zog ihr tönendes Handy – eines dieser abgefahrenen neuen Faltmodelle – gerade so weit aus ihrer vorderen Jeanstasche, dass sie den oberen Rand des kleinen quadratischen Displays sehen konnte. »Luca«, klärte sie Beverly auf, als wäre sie ihr nun, da sie ihren Gesprächsfluss für die Dauer einer einzigen Sekunde unterbrochen hatte, darüber Rechenschaft schuldig. »Sie wollte mich anklingeln, wenn Emilio sich auf den Weg zu mir macht, damit ich schon mal ein paar Scones für ihren gemeinsamen Spieleabend zusammenpacken kann.« Sie schob das Handy zurück in die Tasche und grinste. »Aber davon lassen wir uns jetzt nicht hetzen. Emilio wird es verschmerzen können, ein paar Minuten zu warten. Eine gute Übung für sein Riesenego.«
Beverly erwiderte ihr Grinsen.
»Wie geht es Luca? Ich habe sie eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen. Und mit einer halben Ewigkeit meine ich, seit Liam und ich in dieser Leseflaute stecken.«
Sie mochte die blonde Münchnerin, die den zur Rainbow-Hearts-Library gehörenden Bücherbus durch Howths Straßen und die Nachbarorte fuhr, sehr. Wie ihre beste Freundin Kate, die die Bücherei von ihrer Tante übernommen hatte, war auch sie aus der deutschen Hauptstadt hergezogen.
Seit Kate im Sommer Mutter eines Sohnes geworden war, hatte Luca zusätzlich zu ihrem Job als Literatur-Lieferantin die vorübergehende Leitung der Rainbow-Hearts-Library übernommen. Es brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass beide Jobs sie vollständig auslasteten – zumal sie an Sonntagen außerdem noch in der Pizzeria ihres Schwiegervaters in spe aushalf. Soweit Beverly informiert war, sprang sogar Doran Donnelly, Kates betagter bester Freund und Mitbegründer der Bücherei, zeitweise ein.
»Ja, na ja ... Eigentlich geht es ihr gut. Es ist nur gerade viel los.«
Sophie befühlte ihren dicken rostroten Flechtzopf, als würde sie in der Berührung Ruhe finden. Beverly beneidete sie ein wenig um die üppige Mähne, mit der sie gesegnet war. Sie selbst hätte ihre Haare auch gern lang getragen, doch dafür fehlte ihr das nötige Volumen. Also war ihr der Bobschnitt, der aus den feinen Strähnen das Beste herausholte, über die Jahre zum Markenzeichen geworden.
»Nicht, dass Luca das jemals zugeben würde«, sagte Sophie mit einem Schmunzeln, das ihrer Aussage die Schärfe nahm.
»Verstehe. Luca würde wahrscheinlich einfach arbeiten, bis sie umfällt, oder?« Kurz dachte Beverly, dass ihnen allen diese Eigenschaft gemein war. »Wann wird Kate denn wieder zurückkommen?«
»Oh, sie versucht es eigentlich schon, seit Avery zwei Wochen alt ist.« Sophie gluckste. »Luca meinte, sie wäre mit dem Kleinen in der Babytrage ständig zwischen den Regalen herumgeschlichen. Dabei gibt Cadan schon sein Bestes, um sie zu beknien, sich zu schonen.«
Die Vorstellung brachte dagegen Beverly zum Glucksen. Es passte zu dem Bild, das sie von Kate hatte – auch wenn sie sie nur flüchtig kannte. Beverly kannte Kate bisher hauptsächlich über den Bücherbus-Service. Nicht, weil sie sich in der Bücherei nicht wohlfühlte – im Gegenteil. Aber da sie bis vor Kurzem ein waschechter Workaholic gewesen war, hatte sie wenig Zeit für Freizeitaktivitäten außerhalb ihrer eigenen vier Wände gehabt. Und seit sie sich jene Zeit endlich gestattete, war Kate nicht mehr hinter dem Büchereitresen anzutreffen. Dennoch konnte Beverly sich bereits nach ihrer überschaubaren Anzahl an Begegnungen durchaus vorstellen, wie gern die gebürtige Münchnerin ihrem Job nachging – und dass sie ihn trotz gewiss großen Mutterglücks schmerzlich vermisste.
Die Leidenschaft, die sie für ihre Arbeit hegte, hatte sie wie eine Aura aus Wärme und Licht umgeben. Beverly konnte nachvollziehen, wie schwer es Kate gefallen sein musste, sich aus dem geliebten Alltag zurückzuziehen.
»Aber noch mal zu deiner Frage«, fuhr Sophie fort, ehe Beverly einhaken konnte, »das Wann ist der springende Punkt. Es ist sonnenklar, dass sie eigentlich lieber heute als morgen zurückkommen will. Eigentlich.« Sophies Erheiterung wich einem nachdenklichen Gesichtsausdruck. »Wir wollen ihr ermöglichen, das alles in Ruhe zu tun. Als Familie anzukommen und ohne Druck entscheiden zu können, wann sie tatsächlich bereit ist, in ihren Alltag zurückzukehren.«
»Verstehe«, sagte Beverly noch einmal. Hinter ihrem Brustbein meldete sich ein Kribbeln – ein Kribbeln jener Sorte, das verrückte Ideen ankündigte. Sie merkte, wie ihre Mundwinkel sich wie von selbst anhoben.
Veränderung. Eben noch, auf dem Weg ins Café, war sie wieder zu dem Schluss gekommen, wie sehr sie Veränderung mochte. Wie sehr sie sie brauchte. Für sich selbst, aber auch um ihrer Kreativität willen. Wandel statt Stillstand. Vielleicht hatte sie gerade eine Möglichkeit gefunden, aus Letzterem auszubrechen.
»Na? Woran denkst du?« Sophie sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. Eine Geste, die verriet, dass sie da bereits so eine Ahnung hatte. »Oder nein«, schob sie eilig hinterher, »sag es mir nicht. Ich möchte mich überraschen lassen. Damit, ob ich mit meiner Vermutung recht habe.«
»Abgemacht.« Beverly leerte den Rest ihrer Tasse in einem Zug und strahlte Sophie an. »Ist es denn in Ordnung, wenn ich dich mit Emilios Riesenego alleinlasse?«, scherzte sie, während sie zwei Scheine aus der Innentasche ihres Mantels fingerte und Sophie reichte. Wie so oft nahm diese nur einen von beiden entgegen und schob Beverlys Hand sanft wieder zurück in Richtung Tasche. »Das passt so«, stellte Sophie klar. »Also, beides: Bezahlung und alleiniges Klarkommen mit Riesenegos.« Sie zwinkerte.
»Du bist einfach zu gut. Danke.« Beverly stand auf, umarmte Sophie zum Abschied und richtete ihren Schal, den sie nicht abgenommen, sondern nur gelockert hatte. »Zu deinem Geburtstag bekommst du von mir ein Sparschwein mit allem Geld, das ich dir schulde.«
»Hey.« Sophie knuffte ihr freundschaftlich in die Schulter. »Erstens: Du schuldest mir gar nichts. Und zweitens: Ich mag Überraschungen, schon vergessen? Wenn du mir also etwas schenkst, dann will ich gefälligst vorher nicht wissen, was es ist.«
Beverly lachte. »Touché. Ich lasse mir was einfallen.«
Die Herbstluft fühlte sich nun, da die Wärme von Kaffee und Gebäck noch an Beverly haftete, sofort um ein paar Nuancen milder an. Von der in ihr aufkeimenden Idee beschwingt, schlug sie den Weg in Richtung Rainbow-Hearts-Library ein.
Die Vorstellung, Kate ihre Hilfe anzubieten, nahm mit jedem Atemzug klarere Konturen an. Ja, dachte Beverly, genau das würde sie tun. Nicht bloß, weil sie die Münchnerin mochte, sondern auch, weil Beverly wusste, wie sehr sie selbst von einer neuen Aufgabe profitieren konnte.
Wenn sie so darüber nachdachte, drehte sich ihre Arbeit schon seit Wochen im Kreis. Ihr Zeichenstil wirkte kraftlos, ihre Gedanken verloren immer wieder den Fokus. Vielleicht war es an der Zeit, aus ihrer Komfortzone auszubrechen. Etwas ganz anderes zu tun – und dabei der Enge ihres Arbeitszimmers zu entfliehen. Und sei es nur für eine kleine, ihren Horizont erweiternde Weile.
Mit jedem Schritt, den Beverly sich der kleinen Bücherei näherte, wuchs ihre Entschlossenheit. Als die herrlich grüne Außenfassade mit ihrem breiten Schaufenster in Sicht kam, konnte Beverly vor lauter Erwartungsfreude kaum an sich halten.
Begleitet von leisem Glöckchengebimmel trat sie durch die Eingangstür. Hatte Beverly ihre Sinne eben bereits in Sophies Café mit herrlichen Gerüchen verwöhnt, frohlockten sie hier, unter dem Duft alter und neuer Bücher und des Holzes der bis an die Decke reichenden Regale, von Neuem.
Allerdings auf eine Weise, an die Scones, Cupcakes und Kaffee niemals heranreichen würden. Die Rainbow-Hearts-Library verströmte eine Aura der Gemütlichkeit, wie Beverly sie sonst nur in frisch bezogenen Betten fand, während sie draußen dem Geräusch von Regen lauschte. Ihr Herz, eben noch von ihrem zügigen Gang in einen schnellen Rhythmus gebracht, schlug nun angenehm gemächlich. Sofort bedauerte Beverly, dass sie so lange nicht mehr hier gewesen war – an diesem wunderbaren Ort, an dem wohl auch der ruheloseste Geist Entschleunigung fand.
Zufrieden sah Beverly sich um.
Auf den ersten Blick konnte sie zwei Besucher ausmachen: einen Mann mit Vollbart und quietschgelbem Anorak, der vor dem Fantasy-Regal stand und suchend mit dem Finger über die Buchrücken strich, und eine Frau, die in einem der zwei Schreibsessel saß und gerade aller Wahrscheinlichkeit nach einen Brief formulierte. Erst danach wanderte Beverlys Blick in Richtung Verkaufs- und Ausleihbereich. Sie hatte erwartet, Cadan oder Doran hinter dem handbemalten, mit Buchstaben verzierten Tresen stehen zu sehen und dort erfragen zu müssen, wann Kate sich ein paar Minuten Zeit für sie nehmen konnte.
Stattdessen entdeckte sie Kate selbst, die den Klang der Türglocke offenbar überhört hatte. Eifrig beschrieb sie einen neben ihrem Computer abgelegten Zettel – und war dabei so vertieft, dass sie kurz zusammenzuckte, als Beverlys »Hi« durch den Raum tönte. Blinzelnd hob sie den Kopf. Als sie Beverly erkannte, hellte sich ihr eben noch vor Konzentration ernst anmutender Gesichtsausdruck augenblicklich auf. Kate war eine der schönsten Frauen, die Beverly je gesehen hatte.
Dieser Gedanke war ihr bereits bei ihrer ersten Begegnung gekommen, und seither hatte er sich auch bei jeder weiteren in Beverlys Bewusstsein verfestigt. Die Schwangerschaft – und nun das Dasein als junge Mutter – hatten diese Schönheit nur noch intensiviert. Beverly hielt nicht viel von Klischees, doch in Kates Fall traf es nun einmal zu: Während der vergangenen Monate war ein ganz besonderer Glanz in ihren Blick getreten, der das Grün darin noch heller strahlen ließ als zuvor.
»Es ist so schön, dich zu sehen«, setzte Beverly ihre Begrüßung so überschwänglich fort, wie sie sich fühlte.
»Gleichfalls«, erwiderte die Münchnerin ihre Worte nicht minder herzlich. »Wie geht es dir? Es ist eine halbe Ewigkeit her, dass du zuletzt hier warst, oder?«
»Schon, ja. Luca hat mich so fleißig mit neuem Lesestoff versorgt, dass ich ein bisschen bequem geworden bin, fürchte ich. Und dann hat sich da noch eine kleine Leseflaute eingeschlichen ...« Sie nestelte am obersten Knopf ihrer Bluse.
»Ui. Leseflauten sind gemein«, befand Kate mit Inbrunst. »Ich stecke auch gerade in einer.«
»Na ja. Das ist bei dir auch irgendwie verständlich. Ich bin sicher, du hast gerade genug andere Dinge zu tun.« Beverly lächelte.
»Ist nicht so, dass ich viel Freizeit hätte, das stimmt wohl.« Einen Moment lang sah Kate aus, als wollte sie dieser Aussage noch etwas folgen lassen. Dann tauschte sie die nachdenkliche Schrägstellung ihrer Brauen wieder gegen die für sie charakteristische freundliche Miene ein. »Und wie ist es bei dir? Hast du zurzeit viele Aufträge?«
»Ehrlich gesagt nicht, nein. Also, nicht, dass es schlecht laufen würde. Ich nehme bloß nicht mehr alle Anfragen an, die so bei mir eintrudeln.« Beverly zuckte die Achseln. »Trotzdem habe ich mich zuletzt ein bisschen in meiner Arbeit verloren. Also, ein bisschen zu sehr. Teilweise sogar auf Selbstisolations-Niveau.«
»Kann ich gut nachvollziehen.« Offenbar wieder darauf aus, ihren Händen eine Beschäftigung zu geben, angelte Kate sich ihren langen Pferdeschwanz und zwirbelte an dessen Ende herum. »Ich neige auch dazu, mich in meinem Job zu verlieren. Auch wenn dieses Verlieren bei mir natürlich weniger einsam ausfällt als bei dir. Aber na ja ... Du siehst, ich kann einfach nicht loslassen. Nicht einmal in dieser neuen Lebensphase.«
Eine der vielen Eigenschaften, die Beverly an Kate schätzte, war ihre Offenheit. Nie waren die Gespräche, die sie miteinander führten, oberflächlich – Kate war nicht an gehaltlosem Small Talk interessiert. Wenn sie fragte, wie es jemandem ging, wollte sie eine ehrliche Antwort hören. Und die würde Beverly ihr stets geben, genau wie Kate sie ihr im Gegenzug lieferte.
»Hast du denn das Gefühl, du müsstest? Loslassen, meine ich?«
»Wegen Avery?« Kate setzte eine nachdenkliche Miene auf. Ihr war anzusehen, dass sie sich diese Frage nicht zum ersten Mal stellte. »Hin und wieder mal. Aber ich weiß nicht ganz, was bloß Erwartungshaltung von außen ist und was wirklich aus mir selbst kommt.«
»Wie meinst du das?« Unwillkürlich lauschte Beverly auf das Klingeln des Türglöckchens. Sie hegte die leise Hoffnung, dass weitere Besucher noch eine Weile auf sich warten ließen – und die bereits anwesenden noch eine Zeit ihren eigenen Gedanken nachhingen. So lange zumindest, bis Kate losgeworden war, was sie sich allem Anschein nach von der Seele reden wollte.
»Na ja ... Ich meine, ich habe immer gewusst, dass die Gesellschaft absolut utopische Ansprüche an Mütter hat. Daran, wie sie ihren Alltag zu gestalten haben, was richtig und was falsch ist, wie sie sich im Idealfall verhalten sollen, und so weiter und so fort. Am besten ist man kurz nach der Entbindung wieder fit, sieht aus, als wäre man nie schwanger gewesen, schwelgt sofort in größtem Mutterglück und kriegt trotzdem auch alles andere unter einen Hut.«
Beverly nickte langsam. Auch wenn sie selbst weder Kinder noch einen Wunsch nach einer eigenen Familie hatte, glaubte sie über ausreichend Empathie zu verfügen, um sich zumindest ein bisschen in Kate hineinversetzen zu können. In ihrem und Liams Fall war es zwar ihr Vater gewesen, der sie großgezogen hatte, nachdem ihre Mutter einfach abgehauen war. Doch das dieses Modell nicht der Norm entsprach, war Beverly trotz dieser Erfahrung durchaus bewusst.
»Ich stelle mir das wirklich hart vor. Vermutlich ein klassischer Fall von ›Egal wie man’s macht, macht man’s falsch‹.«
»Oh, du sagst es.« Kate nickte so heftig, dass Beverly schon beim Zusehen schwindelig wurde. »Das fängt beim Thema Stillen oder Flasche geben an und hört damit auf, ob dein Baby von Anfang an in seinem eigenen Bettchen oder in deinem Arm schlafen sollte.« Kate unterbrach das Zwirbeln an ihrem Pferdeschwanz, um demonstrativ die Augen zu verdrehen. »Ein ewiger Wettstreit, bei dem es allerdings nie einen Gewinner geben wird.« Kurz sah sie traurig aus. Dann verschwand das verräterische Glitzern wieder aus ihrem Blick. »Wie dem auch sei. Jedenfalls habe ich eigentlich permanent ein schlechtes Gewissen, seit der Kleine auf der Welt ist. Vor allem, wenn ich nicht bei ihm bin, was wirklich selten und nie lang am Stück vorkommt. Und trotzdem ...« Sie tippte sich an die Stirn. »Hier tobt eigentlich immer ein Sturm. Es herrscht nie Ruhe, nicht einmal für den kleinsten Moment. Aber ich habe mir sagen lassen, dass es mit der Zeit besser wird. Still wird es nie wieder sein, da bin ich mir ziemlich sicher. Aber vielleicht flaut der Sturm ja eines Tages zu einem lauen Lüftchen ab. Oder zu einem Wind. Soll mir auch recht sein.«
Unsicher, wie sie auf diesen ebenso ehrlichen wie tiefen Einblick in Kates Gefühlsleben reagieren sollte, lehnte Beverly sich ein Stück vor und berührte sie an der Schulter. »Danke, dass du das mit mir teilst. Ich bin sicher, dass der Sturm vorüberzieht, Kate. Ganz sicher sogar. Und weißt du was? Selbst, wenn es nicht so wäre – ich glaube nicht, dass es auf der Welt einen Sturm gibt, der stark genug wäre, dich zu verwüsten.« Sie lächelte aufmunternd. »Ich weiß, wir kennen uns noch nicht allzu gut. Aber diese Unverwüstlichkeit ... Die strahlst du einfach aus.«
»Danke, Beverly.« Wieder glitzerte Kates Blick, und dieses Mal sammelte sich in ihrem Augenwinkel sogar eine kleine Träne, die sie jedoch sogleich mit dem Handrücken fortwischte. »Ich möchte gar nicht so viel jammern. Es ist bloß diese Zerrissenheit, die mir gerade so zu schaffen macht. Ich genieße die kleinen Pausen hier durchaus, vermisse Avery aber trotzdem, wann immer er nicht bei mir ist. Mein ewiges Paradoxon.« Kate seufzte. »Am liebsten würde ich mir Cadan und den Kleinen schnappen, zu meiner Mutter nach Deutschland fliegen und dort mal versuchen, richtig zur Ruhe zu kommen, bevor der Alltag mich wiederhat. Ich meine, klar, ab und an wird Avery auch während der Arbeit bei mir sein. Vor allem, solange er noch so klein ist. Trotzdem ... Die Jetztzeit bekomme ich nicht wieder, weißt du, was ich meine? Ich muss nicht hier sein. Doran und Luca halten den Laden gerade noch am Laufen, die Bücherei hat nur noch bis mittags geöffnet, und so weiter und so fort. Aber das hat bald ein Ende.« Kate seufzte noch einmal. »Das war jetzt echt eine lange Leidensgeschichte, was? Sorry für den Monolog.«
Beverly winkte ab – und spürte, wie sich hinter ihrem Brustbein dasselbe aufgeregtes Flattern bemerkbar machte, das sich eben bereits in Sophies Café angekündigt hatte.
Er war da, der Moment, für den sie hergekommen war. »Tja, weißt du ... Das ist der eigentliche Grund für meinen Besuch.«
Kate merkte auf. »Ach ja? Wie das?«
»Na ja ...« Beverly zwang sich, das Nesteln an ihrem bereits gefährlich losen Blusenknopf einzustellen – und machte sich gleich darauf an den Fransen ihres Schals zu schaffen.
Aus irgendeinem Grund war sie schrecklich nervös. Als befände sie sich in der entscheidenden Phase eines Vorstellungsgesprächs. Immerhin bestand durchaus die Möglichkeit, dass Kate ihr Angebot ablehnte. »Okay, ich komme mal direkt zum Punkt: Sophie sagte, du würdest eine Aushilfe suchen. Oder eher, dass sie und Luca es schön fänden, wenn du eine Aushilfe hättest ... und dann selbst entscheiden könntest, ob du deine Elternzeit noch verlängern möchtest oder nicht.« Beverly reckte das Kinn. »Ich ... wäre gern diese Aushilfe.«
Kate brauchte einen Moment, um zu reagieren. Ihre Augen weiteten sich kurz, ehe sich ihre Gesichtszüge langsam entspannten und in ein aufrichtiges, beinahe ungläubiges Lächeln übergingen.
»Das ... Meinst du das ernst?«
»Ja«, sagte Beverly. »Ich meine es ernst. Absolut ernst.«
Für einen Herzschlag war es still. Dann ließ Kate ihren Zopf los und stieß ein leises Lachen aus. Es klang nach Erleichterung. Nach Müdigkeit. Und vor allem nach echter Freude.
»Wow«, sagte sie. »Also, ich weiß gerade gar nicht, was ich sagen soll ... Und das passiert mir nicht oft.« Sie fuhr sich durchs Gesicht. »Ich hatte noch keine Zeit, wirklich darüber nachzudenken, wie wir das lösen könnten. Ich meine, natürlich habe ich insgeheim gehofft, es ergibt sich irgendwas. Und zack – kommst du hier herein und machst diese Hoffnung wahr.«
»Na ja ...« Plötzlich war Beverly verlegen. »Dank meines endlich gesundeten Deadline-Managements habe ich Zeit. Und Lust. Und ganz ehrlich? Ich könnte ein bisschen Struktur und Tapetenwechsel gut gebrauchen. Von daher ... Win-win, würde ich sagen.«
Kate trat um den Tresen herum und fiel Beverly so stürmisch um den Hals, dass es sie fast von den Füßen riss.
»Das bedeutet mir viel«, sagte sie, nachdem sie Beverly wieder aus ihrem Klammergriff freigegeben hatte. »Ich glaube wirklich, dass du perfekt hier reinpasst. Die Leute mögen dich. Und ich ... Ich würde mich viel leichter damit tun, eine Weile wegzufahren, wenn ich wüsste, dass du hier bist.«
»Das höre ich gern«, erwiderte Beverly und spürte, wie sich ein Wärmegefühl in ihr ausbreitete, das so schnell nicht mehr weichen würde. »Und ich freue mich doppelt, wenn ich Doran und Luca dadurch gleich auch ein wenig entlasten kann.«
Kate legte die Fingerspitzen aneinander und hob sie an ihr Kinn, während sie Beverly unverändert erleichtert anstrahlte.
»Ich muss natürlich noch mit Cadan sprechen, wegen des Timings«, sprudelte Kate weiter. »Und auch mit meiner Mutter. Aber wenn wir fliegen, dann vielleicht schon nächste oder übernächste Woche. Wie lange dürfte ich dich denn überhaupt beanspruchen?«
Beverly war versucht, mit einem »So lange du willst« zu antworten, schluckte die Worte aber doch noch herunter. Bei aller Euphorie über die anstehende Veränderung wäre es keinesfalls ratsam, ihre eigene Arbeit gänzlich aus den Augen zu verlieren.
»Na ja ... Also, ich denke, drei bis vier Wochen wären realistisch. Jedenfalls, wenn die Öffnungszeiten so blieben wie aktuell.«
Kate nickte so eifrig, dass sich ein paar Strähnen aus ihrem Zopf lösten. »Aber natürlich! Du kannst dir die Stunden auch selbst einteilen. Wir machen einfach einen Aushang, damit alle Bescheid wissen.« Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine nachdenkliche Falte. »Wo wir gerade von der Zeiteinteilung reden: Fünf Stunden pro Tag würden, denke ich, ausreichen, um alle Aufgaben abzuarbeiten und sicherzustellen, dass alle Besucher zufrieden und versorgt sind. Was meinst du? Wäre das machbar für dich?«
Beverly stellte erfreut fest, dass sie Kate mit ihrer Begeisterung angesteckt zu haben schien. Die Münchnerin jedenfalls klang, ihrer nachdenklichen Mimik zum Trotz, nahezu euphorisch. Als würden sie gemeinsam einen geheimen Plan schmieden – nachts, mit Taschenlampen unter einer Decke, während alle Welt außer ihnen selig schlief.
»Absolut«, beeilte sie sich zu sagen. »Und wenn diese fünf Stunden doch mal nicht ausreichen sollten, um alle zufrieden und versorgt zu wissen, mache ich auch gern sechs draus.«
Kate seufzte und legte Beverly die Hände auf die Schultern. »Das werde ich dir nie vergessen, hörst du? Und Avery auch nicht.« Sie zog die Nase kraus. »Na gut, der kleine Windelbaron wird sich vielleicht nicht aktiv erinnern können. Aber ich erinnere ihn liebend gern daran, wenn er größer ist.«
Beverly prustete. »Windelbaron. Das ist ein prima Spitzname.«
»Ja, oder?« Kate drückte Beverlys Schultern noch einmal, ehe sie ihre Hände wieder herunternahm. »Jedenfalls: Ich werde dir deinen Einsatz hier selbstverständlich angemessen vergüten. Am besten machen wir es richtig offiziell. Ich setze einen Vertrag auf und simse ihn dir später. Einverstanden?«
Beverly stellte fest, dass ihre Gedanken nicht eine Sekunde lang um ein mögliches Honorar gekreist waren. Sie wollte Kate helfen, aus tiefstem Herzen und Bedürfnis heraus – um ihrer Wohl sowie wegen der für sie selbst so nötigen Veränderung. Dennoch hatte Kate natürlich recht damit, sie bezahlen zu wollen. Ganz gleich, wie viel Freude ihr der Job gewiss bereiten würde, am Ende war er doch genau das: ein Job und keine Freizeitbeschäftigung.
»Klar. Meine Nummer hast du ja.« Beverly fühlte sich, als wäre sie auf einen Schlag um mehrere Zentimeter gewachsen. Es war beschlossene Sache: Sie würde Kate vertreten; bald in einen ganz neuen, zauberhaften Alltag eintauchen. Ein Alltag, von dem sie sich erhoffte, dass er das Feuer ihrer Kreativität neu entzünden würde.
Sie verabschiedeten sich herzlich, und während Beverly wenig später wieder durch die Straßen Richtung Zuhause lief, war ihr, als hätte sich in ihrem Inneren ein Knoten gelöst.
Einer, von dem sie nicht gedacht hätte, dass er sich so leicht – oder überhaupt jemals – entwirren lassen würde.
Das Hochgefühl, das Beverly aus ihrem Gespräch mit Kate mitgenommen hatte, blieb ihr erhalten. Zuverlässig begleitete es sie durch Tage und Nächte und machte das aufgeregte Warten auf Kates Nachricht erträglicher. Heute, an einem verregneten Montagvormittag, hatte Beverly sich an ihren Schreibtisch zurückgezogen und zeichnete.
Nicht an ihrem Auftragsprojekt, sondern einfach so; ein Versuch, ihre Schaffenskraft schon vor Antritt ihres Vertretungsjobs ganz ohne Druck und Vorgaben wiederzubeleben. Die Linien auf dem Bildschirm formten langsam ein skizzenhaftes Porträt: eine junge Frau mit vom Wind zerzaustem Haar, die ein Buch in der Hand hielt und wirkte, als sähe sie etwas, das sonst niemand sehen konnte. Vielleicht war es Kate. Vielleicht auch Beverly selbst. Vielleicht auch keine von beiden. Beverlys Gedanken schweiften ab und kehrten zurück zur Rainbow-Hearts-Library.
Je länger sie darüber nachdachte, desto richtiger fühlte es sich an, bald dort zu sein – hinter dem Tresen zu stehen, den Kate ihr bald anvertrauen würde. Überhaupt würde die Bücherei ihr guttun: der Duft nach Papier, die zweifellos bewegenden und herzerfrischenden Begegnungen mit den Besuchern und die Gegenwart all der besonderen Geschichten, die in den Regalen schlummerten. Das perfekte Kontrastprogramm zur Einsamkeit ihres Arbeitszimmers, die sie abwechselnd schätzte und verfluchte.
Ein leises Lächeln umspielte Beverlys Lippen, als sie sich wieder dem Tablet zuwandte und mit ruhiger Hand die nächste Linie zog. Dann klingelte es.
Beverly runzelte die Stirn. Niemand hatte sich angekündigt, und soweit sie wusste, erwarteten weder sie noch Liam ein Paket. Kurz überlegte Beverly, einfach weiterzuzeichnen und die Klingel zu ignorieren. Dann gab sie sich einen Ruck, schob ihren Stuhl zurück und ging zur Tür. Als sie öffnete, gefror Beverly für einen Moment der Atem in ihren Lungen. Die Frau, die vor ihr auf der Schwelle stand, war klein und schmächtig. Das Alter hatte ihr den natürlichen Schwarzton ihrer Haare längst geraubt, den sie seither mit einem kräftigen Färbemittel imitierte. Auch der Rest ihrer Aufmachung – leuchtend roter Lippenstift, teurer Mantel, mit einer Brosche zusammengehaltener Seidenschal – zeugte von vornehmer Eitelkeit. Beverly konnte nur erahnen, welch einschüchternde Wirkung die Frau ihrer geringen Körpergröße zum Trotz auf andere Menschen hatte. Vor allem die tiefen Mimikfalten um die Mundwinkel und zwischen den Augenbrauen verliehen ihr ein permanent strenges, beinahe verhärmtes Aussehen, das durch den festen Dutt vervollständigt wurde.
»Grandma.« Beverly mutmaßte, dass ihr erzwungenes Lächeln eher an ein Zähnefletschen als an einen Ausdruck der Freundlichkeit erinnerte. Doch selbst wenn sie es ernstlich versucht hätte, wäre sie nicht imstande gewesen, in ihren Zügen auch nur einen Hauch Begeisterung über Agnes Snyders Auftauchen erblühen zu lassen. Sie hatte in ihrem Leben nie einen Menschen kennengelernt, der so kaltschnäuzig, herrisch und stur war wie ihre Grandma. Charakterzüge, die ihr bereits vor dem Tod ihres einzigen Sohnes zu eigen gewesen waren und seither einen neuen, auf zwischenmenschlicher Ebene kaum erträglichen Höhepunkt erreicht hatten. Ja, dachte Beverly befangen, inzwischen ließ sich all das vermutlich unter dem traurigen Oberbegriff maximaler Verbitterung zusammenfassen. Und auch, wenn sie sich deswegen schämte, empfand Beverly aus genau diesem Grund keinerlei Freude dabei, ihre Grandma zu sehen. Im Gegenteil. Am liebsten hätte sie ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen.
»Hallo«, erwiderte ihre Grandma knapp. Als wäre damit alles gesagt. Als könnte Beverly aus dieser inhaltslosen Begrüßungsfloskel heraushören, warum Agnes nach monatelanger Funkstille plötzlich auf ihrer Schwelle stand.
»Du hast wohl über dieses selbsternannte Künstlertum deine Manieren vergessen, Kind«, fuhr sie Beverly nun an. »Ich bin zwei Stunden mit dem Zug gefahren und habe mich danach trotz protestierenden Hüftgelenks noch auf den unbequemen Rücksitz eines Taxis gequält, um herzukommen. Also bitte mich gefälligst herein.«
Beverly hätte gern darauf hingewiesen, dass ein solcher Umgangston ebenfalls nicht gerade von guten Manieren zeugte. Doch die Präsenz ihrer Grandma hatte ihr, die sonst selten einmal um Worte rang, schon immer die Zunge verknotet. Also trat sie stumm zur Seite und bedeutete ihrer Grandma mit einer Handbewegung einzutreten. Sogleich rauschte diese an ihr vorbei – mit einer Eleganz, die nicht einmal das kaputte Hüftgelenk aus ihren Bewegungen tilgen konnte. Eine Aura verströmend, als gehörte jeder Quadratzentimeter des Hauses ihr und nur ihr allein, verschwand sie ins Wohnzimmer. Widerstrebend folgte Beverly ihr.
»Du arbeitest zu viel, Kind«, befand ihre Grandma, kaum dass sie hinter ihr den Raum betreten hatte. Beverly unterdrückte ein Seufzen. »Das schließt du woraus genau?«
Ihre Grandma fuhr mit dem Finger über die Fensterbank und hob ihn anschließend mit prüfendem Blick vor ihr Gesicht. Der tadelnden Miene nach zu urteilen, die sie dabei aufgesetzt hatte, zählte sie gerade die aufgelesenen Staubkörner.
»Daraus, dass du keine Zeit zum Putzen hast.«
»Ich wohne hier nicht allein, weißt du«, presste Beverly zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Wie hatte der Tag nur so verheißungsvoll beginnen und nun eine derartige Wendung nehmen können?
»Ich weiß.« Ihre Grandma zuckte nonchalant die Achseln. »Dasselbe gilt für Liam. Ihr habt ähnliche Prioritäten.«
Der unausgesprochene Vorwurf, dass diese Prioritäten durch und durch falsch waren, hing greifbar in der Luft.
»Du hast kein Gepäck dabei«, stellte Beverly fest, nachdem sie ihre vorübergehende Sprachlosigkeit fortgeräuspert hatte. Sie hatte keine Lust, weiter über Putzen und falsche Prioritäten zu reden. »Wo bist du untergekommen?«
»Sea Shell.«
»Ah. Schön.« Beverly mochte das kleine, anheimelnde Hotel am Hafen. Zwar hatte sie dort noch nie übernachtet, aber den einen oder anderen Drink in der gemütlichen Lounge eingenommen.
Zuletzt zusammen mit Roxanne.
»Schön würde ich es nicht nennen, aber durchaus annehmbar.« Ihre Grandma reckte den Hals und schnüffelte in der Luft wie ein Wolf, der eine Fährte aufnahm. »Wo ist dein Bruder? Versteckt er sich vor mir?«
Beverly dachte, dass sie es ihm nicht würde verübeln können, wenn er genau das täte. »Er ist im Theater.«
»Theater. Malen.« Ihre Grandma verdrehte die Augen. »Es ist eine solche Verschwendung. Ihr beide hattet so viel Potenzial. So gute Schulabschlüsse. Wenn ihr wirklich gewollt hättet, hättet ihr euren Vater stolz machen können.«
