Hibiskusträume in der Bretagne - Jana Schikorra - E-Book
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Hibiskusträume in der Bretagne E-Book

Jana Schikorra

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Beschreibung

Alicia König reist durchs sommerliche Frankreich, immer auf der Suche nach Menschen und Orten mit besonderen Geschichten. Nach einer Autopanne strandet sie allerdings in einem Dorf in der Bretagne. Doch das kleine Rochefort-en-Terre, mit all den verwunschenen Gassen und den mit Blumen bewachsenen Steinhäusern, übt seinen ganz eigenen Zauber auf Alicia aus. Sie lernt die Dorfbewohner kennen und ist begeistert von deren einzigartigen Geschichten.
Dabei sticht vor allem Théo heraus, der Besitzer der Gärtnerei »Amitié«, Freundschaft. Diese hat ein ganz besonderes Konzept: Blumensamen können im Laden gekauft und im Hinterhof gepflanzt werden. Wer anderen Trost schenken oder eine Freude machen will, kann sich eine gediehene Pflanze aussuchen und mitnehmen. Alicia ist fasziniert von dem attraktiven Franzosen und hilft sogar im Laden aus - der steht aber kurz vor dem finanziellen Ruin, wie sie bald feststellt. Doch sie hat eine Idee, wie sie die Gärtnerei noch retten kann. Allerdings ahnt sie nicht, dass sie mit ihrer Aktion Erinnerungen in Théo wachruft, die er lieber verdrängen wollte ...

Alle Geschichten dieser Reihe zaubern dir den Sommer ins Herz und bringen dir den Urlaub nach Hause. Die Romane sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Alicia König reist durchs sommerliche Frankreich, immer auf der Suche nach Menschen und Orten mit besonderen Geschichten. Nach einer Autopanne strandet sie allerdings in einem Dorf in der Bretagne. Doch das kleine Rochefort-en-Terre, mit all den verwunschenen Gassen und den mit Blumen bewachsenen Steinhäusern, übt seinen ganz eigenen Zauber auf Alicia aus. Sie lernt die Dorfbewohner kennen und ist begeistert von deren einzigartigen Geschichten.

Dabei sticht vor allem Théo heraus, der Besitzer der Gärtnerei »Amitié«, Freundschaft. Diese hat ein ganz besonderes Konzept: Blumensamen können im Laden gekauft und im Hinterhof gepflanzt werden. Wer anderen Trost schenken oder eine Freude machen will, kann sich eine gediehene Pflanze aussuchen und mitnehmen. Alicia ist fasziniert von dem attraktiven Franzosen und hilft sogar im Laden aus – der steht aber kurz vor dem finanziellen Ruin, wie sie bald feststellt. Doch sie hat eine Idee, wie sie die Gärtnerei noch retten kann. Allerdings ahnt sie nicht, dass sie mit ihrer Aktion Erinnerungen in Théo wachruft, die er lieber verdrängen wollte ...

Jana Schikorra

Ein Roman voller Liebe und sommerlichem Blumenduft in einer kleinen Gärtnerei

Für alle, die einen Traum im Herzen tragen.

Oder zwei. Oder drei.

Ich verrate euch etwas über diese Träume:

Sie werden wahr. Wenn nicht heute, dann morgen.

Versprochen.

Kapitel 1

Wenn Freiheit eine Farbe hätte, dachte Alicia, dann wäre sie ganz sicher von demselben Blau, in dem sich auch der Himmel über der Route Nationale heute präsentierte.

Keine einzige Wolke trübte die Schönheit seines sommerlichen Gewands, und die im Zenit stehende Sonne verlieh ihm ein hellgoldenes Glühen.

Sie griff nach der Dose in ihrem Getränkehalter, nahm einen großzügigen Schluck des inzwischen lauwarmen Eistees und leckte sich anschließend den süßen Pfirsich-Geschmack von den Lippen.

Die Klimaanlage ihres Mietwagens funktionierte mehr schlecht als recht, doch davon ließ sie sich nicht stören. Alicia genoss den Fahrtwind, der ihr die langen blonden Haare um den Kopf pustete und den einzigartigen Geruch nach heißem Asphalt, Salz und Abenteuern durch das heruntergelassene Fenster hereintrug.

Hier war sie richtig. Genau hier, genau jetzt, auf diesem abgewetzten Stoffsitz und mit der verschrammten Sonnenbrille auf der Nase.

Alicia grinste sich im Rückspiegel zu. Die durch den defekten Bügel in Schieflage geratenen getönten Gläser verliehen ihr das Aussehen einer verrückten Fliege aus einem Cartoon – oder vielleicht einer Wespe, dachte sie, wenn man ihr neongelbes Kleid berücksichtigte.

In Hamburg hatte sie Outfits wie jenes, in das sie am Morgen ohne nachzudenken geschlüpft war, stets mit einem leichten Zögern angezogen. Obwohl sie die norddeutsche Stadt, in der sie seit ihrer Geburt lebte, durchaus mochte, hatte Alicia immer das Gefühl gehabt, zu bunt für ihre Bewohner zu sein. Zu laut. Zu aufgeregt.

Auf ihren Reisen durch Europa hingegen, die sie durch pulsierende Metropolen und bezaubernde Dörfer geführt hatten, waren ihr derlei Gedanken nie gekommen.

So auch jetzt nicht, auf ihrer wunderbaren Fahrt durch die Bretagne, an deren Ziel ein sicherlich aufregendes Interview und danach ein wohlverdienter Urlaub auf sie warten würde.

Sie hatte lange auf dieses Stück Freiheit hingearbeitet. Auf diese seltene Auszeit, während derer sie das Arbeiten zwar nicht gänzlich einstellen, es aber deutlich ruhiger angehen lassen würde. Und der Preis für dieses Geschenk an sich selbst war hoch: Über ein Jahr lang hatte sie ohne Unterlass geschuftet, um ihre Ersparnisse aufzustocken. Nicht nur einmal hatte sie dabei das Gefühl gehabt, sich restlos übernommen zu haben, doch nun machten sich ihre Mühen – und die parallel dazu heruntergeschraubten Standards des alltäglichen Lebens – im wahrsten Sinne des Wortes bezahlt.

Alicia lächelte und drehte das Radio lauter. Aus den Lautsprechern des alten Renault Twingo, den sie über die vor Hitze flimmernde Straße lenkte, floss die Melodie eines französischen Popsongs.

Sie kannte den Text nicht, doch das hielt sie nicht davon ab mitzusingen – sie dachte sich einfach ihre eigenen, wild zusammengewürfelten Zeilen aus, wie sie es schon als kleines Kind so oft getan hatte, wenn englische Lieder im Radio gespielt worden waren. Gerade schmetterte sie aus voller Kehle den Refrain, als das Klingeln ihres Handys ihre Gesangseinlange jäh unterbrach.

Sofort spannten ihre Schultern sich an. Noch bevor sie auf das Display sah, glaubte sie zu wissen, wessen Name dort erschien. Der von Tina nämlich, ihrer besten Freundin, mit der sie gerade vor einer halben Stunde erst telefoniert hatte, würde es kaum sein. Und von ihr einmal abgesehen, gab es kaum jemanden, der sie auf ihrer privaten Nummer anrief.

Kaum jemanden, außer ...

Alexander.

Alicia schluckte, während das bemerkenswerte Blau des Himmels sich doch tatsächlich um ein paar Nuancen trübte. Sie wusste, sie sollte die schrillen Töne des Smartphones ganz einfach ignorieren, doch auf ihre Vernunft war in Situationen wie dieser kein Verlass.

Noch immer nicht. Nach all den Monaten.

Dankbar dafür, dass der Renault wenigstens eine nachgerüstete Freisprechanlage besaß, nahm Alicia den Anruf entgegen.

»König«, meldete sie sich spitz.

»Tucher. Na, Ally? Bist du wieder auf der Jagd nach Geschichten?«

Alexander klang gewohnt überheblich. Viel zu überheblich für einen Ex-Freund, der trotz mittlerweile eines halben Jahrs Beziehungsaus regelmäßig anrief, um, wie er stets zu sagen pflegte, sein fürchterlich schlechtes Gewissen zu beruhigen. Vor allem, wenn man bedachte, dass seine einstige Affäre und jetzige Partnerin sich vermutlich im Nebenzimmer aufhielt – so viel zum Thema Gewissen.

Alicia wünschte, sie hätte endlich den Mut, den Kontakt abzubrechen. Eingehende Anrufe nicht mehr entgegenzunehmen, nicht mehr auf seine SMS zu antworten, die hellbraunen Augen mit dem trügerisch warmen Blick unwiderruflich aus ihrem Herzen zu verbannen. Doch aus irgendeinem Grund, den nicht einmal sie selbst kannte, hielt sie trotzdem an diesem Menschen fest, dessen Seele ihrer eigenen so scheinheilig eine tiefe Nähe vorgegaukelt hatte.

»›Auf der Jagd‹ würde ich es nicht nennen. Aber ja, ich habe einen Gesprächstermin, wenn es das ist, was du wissen möchtest. Den letzten für diesen Sommer.«

Der Zufall war es, dem sie das arrangierte Treffen zu verdanken hatte, von dem sie sich so viel versprach.

Im Papillon, einem urigen Restaurant am Pier von Lanildut, hatte sie dem Gespräch zweier Fischer gelauscht, die von einer gewissen Madame Plisseau eine geradezu unheimlich präzise Vorhersage zu ihrem jüngsten Fang erhalten hatten.

Nicht imstande, ihre Neugier zu zügeln, war Alicia auf die beiden Männer zugegangen. Bereitwillig hatten sie ihr von der betagten Dame erzählt, die in ganz Ploudalmézeau als Kräuterhexe und Wahrsagerin bekannt war.

Zu Alicias Leidwesen verfügte die alte Französin weder über ein Smartphone noch über eine E-Mail-Adresse und nahm Anrufe auf ihrem Festnetztelefon obendrein nur selten entgegen. Ganze vierzehn Versuche hatte es gebraucht, bis Madame Plisseau endlich zu erreichen gewesen war.

Mit dem Porträt über die Wahrsagerin würde Alicia ihrer Reportage über besondere Menschen mit besonderen Geschichten einen würdigen Abschluss verleihen – und sich eine kleine Auszeit genehmigen, bevor es zurück nach Hamburg ging und sie ihre Bilder und Texte im Frühherbst schließlich an das Magazin lieferte, das ihr für ihre neueste Projektarbeit erstmals eine anständige Summe zahlen würde.

Seit Alicia vor zwei Jahren ihren Job in einer Hamburger Redaktion gekündigt hatte, schrieb sie als freiberufliche Autorin für unterschiedliche Blogs, Zeitschriften und Zeitungen. Viele ihrer langjährigen Kolleginnen hatten nicht verstanden, wie sie einen sicheren Arbeitsplatz gegen ein unstetes Einkommen hatte eintauschen können, doch das kümmerte sie nicht.

Früher oder später nämlich hatte Alicia schon immer getan, was ihr Herz ihr zu Tun vorgab – also war sie kurzerhand ihr eigener Chef geworden. Ihre Rücklagen waren endlich, das wusste sie. Als alleinstehende, kinderlose Frau Anfang dreißig aber bewegten sich ihre monatlichen Ausgaben, wenn man von der Miete für ihre Hamburger Wohnung einmal absah, immerhin in einem überschaubaren Rahmen. Sie kam über die Runden, und das genügte. Zumindest für den Augenblick.

»Den letzten Termin, wow. Wie viele Storys waren es für dieses Projekt noch mal insgesamt?«

Alicia verdrehte die Augen.

Alexander stellte immer wieder dieselben Fragen, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Er hörte nicht zu, interessierte sich nur oberflächlich für das, was sie tat. So war es schon immer gewesen. Sicher betrachtete er auch jetzt die Form seiner Fingernägel oder zupfte an einer seiner gemusterten Krawatten herum.

»Neununddreißig bisher«, sagte sie trotzdem. »Vierzig sollen es werden.«

Von allen Projekten, die Alicia ins Leben gerufen und in akribischer Ein-Frau-Arbeit von Anfang bis Ende betreut hatte, war ihr jenes, dem sie den Namen Schicksalswege verpasst hatte, besonders wichtig.

Sie war mit offenen Augen und offenem Herzen gereist und hatte Menschen, in deren Gesichtern sie starke Emotionen zu lesen geglaubt hatte, ganz einfach auf der Straße angesprochen.

Mal war es ein besonderer Glanz in den Augen, der sie anzog, mal ein trauriges Lächeln; mal die Art, wie jemand die Stirn in Falten legte.

Glücklicherweise war fast jeder, den Alicia für ihr Projekt ausgewählt hatte, bereit gewesen, seine Geschichte mit ihr zu teilen – ob fröhlich oder tragisch, außergewöhnlich oder in ihrer Schlichtheit schön.

Dieselbe Diversität spiegelte sich im Alter der Interviewten, waren doch Junge und Alte gleichermaßen vertreten. Neben etlichen Notizen, die Alicia seither in Textform zu bringen versuchte, war sie mit einigen der spontanen Projektteilnehmer auch zu erinnerungsträchtigen Orten gefahren und hatte fotografiert, was sie dort vorgefunden hatte: von in Baumrinde geritzte Initialen und verfallenen Spielplätzen über leer stehende Gebäude und einsame Buchten war alles dabei gewesen.

»Okay«, sagte Alexander am anderen Ende der Leitung lahm, »und jetzt bist du gerade noch mal wo?«

Alicia seufzte.

Du solltest es mal mit Gedächtnistraining probieren, werter Herr Tucher.

»In der Bretagne.«

Von Skandinavien aus war sie zuerst in die Niederlande und dann nach Großbritannien gereist, danach nach Portugal, im Anschluss nach Spanien, mit dem Schiff nach Italien und von dort aus in jenes Land, an das sie bereits in Kindertagen ihr Herz verloren hatte: Frankreich.

Eine lange Zeit über waren es die weitläufigen Strände und belebten Promenaden der Côte d’Azur gewesen, nach denen ihre Sehnsucht verlangt hatte. Die Lavendelfelder und die Leichtigkeit.

Alicia war wie berauscht gewesen von dem Lebensgefühl, das die Südfranzosen aus jeder Pore verströmten.

Erst im vorletzten Jahr, kurz vor Beginn ihrer Selbstständigkeit, hatte sie dann auch die zerklüftete Atlantikküste Frankreichs für sich entdeckt. Diese weit weniger glamouröse Seite des Landes, das ihr zur Herzensheimat geworden war, schlug sie auf eine bisher ungekannte Art und Weise in den Bann.

»Schön. Melde dich doch mal, wenn du zurück in Hamburg bist. Ich könnte ein offenes Ohr gebrauchen. In der Firma läuft gerade so einiges schief. Erinnerst du dich an diesen großen Werbedeal, den wir abschließen wollten? Tja, mein Chef hat einen Rückzieher gemacht, weil ihm in Sachen Kommunikation irgendetwas nicht gepasst hat. Wenn du mich fragst, wird es Zeit, dass er einen Nachfolger benennt. Ich meine, man kann sich doch nicht einfach aufgrund persönlicher Befindlichkeiten so einen Batzen Geld durch die Lappen gehen lassen, oder? Vielleicht liegt das am Alter.«

Alicia quittierte diesen unvermittelten Themenwechsel mit einem »Hmm«, das weniger mangelndem Interesse als vielmehr einem Gefühl der Verwirrung zuzuschreiben war – Verwirrung über einen seltsamen Geruch, der nicht zum herrlichen Duft des Spätsommertages passen wollte und ihr unangenehm in die Nasenschleimhäute stach.

Verbranntes Gummi? Benzin? Öl?

Eine Autopanne war so ziemlich das Letzte, was sie gebrauchen konnte. Vermutlich brachte es ganz einfach Unglück, an bilderbuchartigen Sommertagen mit Ex-Freunden zu telefonieren.

»Das ist ein ähnliches Phänomen wie bei Rentnern, die sich weigern, ihren Führerschein abzugeben. Ich meine, irgendwann sollte man sich doch einfach eingestehen, dass das Köpfchen nicht mehr so gut arbeitet wie noch vor ein paar Jahren. Stimmt’s? Bist du noch dran, Ally?«

Der beißende Geruch verstärkte sich. Alicia kniff die Augen zusammen. War es Dampf, der da aus dem Motorraum kroch?

Besorgt bremste sie den Wagen ab und lenkte ihn an den rechten Straßenrand. Ruckelnd kam er zum Stehen.

»Ich muss auflegen. Grüß deine Freundin von mir, wir hören uns.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, beendete Alicia das Gespräch.

Blieb zu hoffen, dachte sie und gluckste verzweifelt, dass Madame Plisseaus hellseherische Fähigkeiten ausreichten, um das Platzen eines Termins vorherzusagen.

Kapitel 2

Gestrandet.

Sie war gestrandet auf der Route Nationale – mit nichts als ihrem zentnerschweren Koffer auf dem Rücksitz und dem lauwarmen Eistee in der Konsole.

Einen Moment lang saß Alicia einfach nur reglos da, die Hände oberhalb des Lenkrads gefaltet und die irrwitzige Hoffnung im Herzen, der Twingo würde durch eine Art spontaner Selbstheilung wieder anspringen und sie mit schnurrendem Motor an ihr Ziel bringen. Doch natürlich geschah nichts dergleichen.

Also blieb Alicia nichts anderes übrig, als die Frontklappe zu entriegeln, aus dem Wagen zu steigen, in ihren Sandalen vorsichtig über den heißen Asphalt zur Motorhaube zu waten und einen Blick darunter zu werfen.

Außer dem Dampf, den sie bereits auf den letzten Metern der Fahrt bemerkt hatte und der nun zu allen Seiten aus dem Motorraum quoll, konnte sie jedoch nichts erkennen, was ihr Aufschluss über die Situation gegeben hätte.

»Bestimmt bist du überhitzt, alter Freund«, murmelte sie und ließ ihren Blick über den kleinen Wagen gleiten. »Kann man dir eigentlich nicht verübeln.«

Auch Alicias Kleid klebte nass vor Schweiß an ihrem Körper, und ihre Wangen fühlten sich an wie unter einem Fieberschub.

Sie band sich die Haare zu einem Dutt zusammen und ließ sich seufzend in das vertrocknete Gras am Straßenrand sinken.

So, Frau König. Was jetzt?

Sie musste Hilfe holen, so viel war sicher. Einen der wenigen Autofahrer heranwinken, den Pannendienst rufen – oder warten, bis der Motor sich von selbst heruntergekühlt hatte, was angesichts der herrschenden Temperaturen ewig dauern konnte.

Stimmt, und bis der Pannendienst da ist, dauert es bestimmt nur ein paar Minuten, dachte Alicia sarkastisch und zupfte zunehmend nervös an den trockenen Grashalmen, die ihre Waden kitzelten.

Der eben noch zum Greifen nahe Urlaub, in den sie unmittelbar nach ihrem Interview-Termin mit der Wahrsagerin hatte starten wollen, rückte nun wieder in die Ferne. Es war zum Haare raufen. Woher sollte sie so schnell einen neuen Mietwagen kriegen? Würde Madame Plisseau sich bereit erklären, ein neues Treffen zu vereinbaren? Wenn nicht, durch welche Geschichte sollte sie die der alten Dame dann ersetzen? Es würde zweifellos einige Zeit in Anspruch nehmen, eine würdige Nachfolge zu finden. Vor allem dann, wenn sie auf Teufel komm raus eine benötigte. Immerhin gab es Dinge und Situationen im Leben, die sich partout nicht erzwingen ließen – ganz gleich, wie sehr man es sich auch wünschte.

Alicia massierte sich die Schläfen. Alles Grübeln brachte nichts, sie musste etwas tun. Aufstehen, ihr Handy aus dem Auto holen, Hilfe rufen. Doch noch ehe sie sich dazu aufraffen konnte, erklang ein lautes Motorengeräusch und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf einen roten Käfer, der langsam näher kam und unmittelbar hinter ihrem alten Renault anhielt. Hastig rappelte sie sich nun doch auf, zog den Stoff ihres Kleides zurecht und eilte auf den Wagen zu, aus dem gerade ein hochgewachsener älterer Mann ausstieg.

»Brauchen Sie Hilfe, Mademoiselle?«, begrüßte ihr unverhoffter Retter sie ohne Umschweife und lächelte freundlich. Alicia war einmal mehr dankbar für ihre guten Französischkenntnisse, die es ihr ermöglichten, sich ohne jede Scheu oder Zuhilfenahme englischer Vokabeln zu verständigen.

»Oh, die brauche ich auf jeden Fall!« Sie erwiderte das Lächeln des Mannes, das unter ihrer Antwort breiter wurde, und registrierte mit Staunen dessen extravagante Aufmachung: Er trug einen blauen Nadelstreifenanzug und eine dazu passende altmodische Melone auf dem Kopf. Kombiniert mit den kunstvoll gezwirbelten Spitzen seines grau melierten Schnurrbarts sah er aus wie der Meisterdetektiv eines vergangenen Jahrhunderts. Als hätte man ihn aus einer alten Fotografie geschnitten und in die Gegenwart geklebt, dachte Alicia fasziniert.

Er nickte in Richtung ihres Autos, das unbeirrt vor sich hin dampfte. »Darf ich mir den Wagen mal näher ansehen?«

»Natürlich. Ich würde sagen, der Kühler hat schlappgemacht, so wie es qualmt. Was meinen Sie?«

Der alte Mann trat an die Motorhaube heran und ließ ein zustimmendes Geräusch vernehmen. Mit fachmännischem Gesichtsausdruck beäugte er die rußigen Innereien des alten Mietwagens. »Ja, aber wenn wir Pech haben, gibt es irgendwo ein Leck im Kühlsystem. Zylinderkopf oder Motorblock könnten sich verzogen haben. Das wäre schlecht. Ziemlich schlecht sogar.«

Alicia ließ die Schultern hängen. Der Mann hatte Ahnung, das war gut – was er gesagt hatte, allerdings weniger.

»Das klingt nicht gerade danach, als könnte ich bald weiterfahren«, schlussfolgerte sie verdrossen.

Der alte Franzose schüttelte den Kopf. »Nein, wirklich nicht. Ich denke, das wäre zu riskant.« Er sah aus, als überlegte er. »Wissen Sie was? Ich rufe meine Frau an, damit Sie Ihren Wagen abschleppen kann. Wir haben auf unserem Hof eine kleine Hobby-Werkstatt und sind entsprechend ausgestattet. Sie kommen mit zu uns und wir versuchen, Ihnen dieses – nun ja – charmante Gefährt wieder fahrtüchtig zu machen.«

»Was? Wirklich? Das würden Sie tun?« Dankbarkeit wallte in Alicia auf. Ihr war heiß, fürchterlich heiß, und im Augenblick wollte sie nichts sehnlicher, als von der Straße fortzukommen, die die Wärme des Tages so bereitwillig speicherte. Sicher ging es dem Fahrer des Käfers nicht anders – vor allem in seinem Aufzug –, und doch nahm er sich die Zeit, ihr zur Seite zu stehen.

Dass ein vollkommen Fremder ihr nun auch noch anbot, sich zu Hause in Ruhe um ihr Problem zu kümmern, rührte Alicia aufrichtig. Wenn es ihr später nun auch noch gelang, Madame Plisseau zu erreichen und sich für den geplatzten Termin zu entschuldigen, sähe ihre Ausgangslage gleich wieder um einiges rosiger aus.

Der alte Franzose winkte ab. »Nicht der Rede wert. Inès und ich freuen uns immer, wenn wir neue Bekanntschaften schließen können. Umso besser, wenn wir dabei noch etwas Gutes tun.« Er griff sich ans Herz, als wäre ihm schlagartig etwas Wichtiges eingefallen. »Ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Arthur Durand. Oder nur Arthur, wenn Ihnen das lieber ist.« Er zwinkerte fröhlich.

Alicia fand, dass er dabei um Jahre jünger aussah. Ein wenig wie ein Schuljunge, der sich aus dem Klassenzimmer geschlichen hatte, um ein Abenteuer zu erleben. Der Gedanke brachte sie zum Schmunzeln.

»Hallo, Arthur. Ich bin Alicia. Alicia König.«

»König.« Monsieur Durand wiederholte den Nachnamen langsam. Aus seinem Mund klang er wie Könique. »Woher kommen Sie, Mademoiselle? Deutschland?«

»Ja, genau. Aus Hamburg.«

»Oh!« Seine Augen glitzerten. Wenn Alicia sich nicht irrte, dann vor Abenteuerlust. »Ich wollte schon immer mal dorthin«, bestätigte Arthur ihre Vermutung. Sie grinste.

»Machen Sie sich nicht die Mühe. Meist regnet es dort.«

Ein schallendes Lachen. »Also dann. Ich sage meiner Frau Bescheid. Wegen Ihres Autos natürlich. Nicht wegen des Wetters.«

Erstaunlich flink förderte er ein Smartphone aus den tiefen Taschen seines Jacketts zutage, ließ die langen Finger über den Bildschirm gleiten und hielt sich das Handy dann ans Ohr.

»Inès, chérie? Kannst du mich verstehen?« Die Antwort schien »Ja« zu lauten, denn Arthur schilderte gleich darauf knapp, was geschehen war. Strahlend sah er Alicia an, reckte einen Daumen in die Höhe und legte mit den Worten »Bis gleich, mon amour« wieder auf.

»Sie ist bereits auf dem Weg«, verkündete er zufrieden.

Ungläubig schüttelte Alicia den Kopf. »Das ist so nett von Ihnen. Ich kann mich gar nicht genug bedanken.«

»Noch habe ich nichts für Sie getan, Mademoiselle König«, erinnerte der alte Franzose und setzte gleich darauf ein verschwörerisches »Aber jetzt« hinzu. Kurz verschwand er im Innenraum seines Käfers und kam dann mit zwei kleinen Wasserflaschen zurück, von denen er Alicia eine in die Hand drückte. »Damit Sie nicht dehydrieren. So eine Panne kann dem Kreislauf im Hochsommer ganz schön zusetzen, glauben Sie mir. Vor allem, wenn es ein für bretonische Verhältnisse so heißer ist.«

Alicia drehte am Deckel, der sich mit einem leisen Zischen löste. Erst jetzt merkte sie, wie durstig sie war. »Danke.« Sie hob die Flasche und prostete dem Franzosen damit zu. »Arthur?«, fragte sie, als sie die Flasche nach einem großen Schluck wieder verschloss und einem vorbeifahrenden Camper nachsah, der in der flimmernden Hitze verschwand. »Wo genau wohnen Sie beide eigentlich? Hier in der Nähe, hoffe ich, damit ich Ihnen keine zu großen Umstände mache?«

Der alte Mann gab ein glückliches Glucksen von sich. »O ja, ganz in der Nähe. Auf einem wunderbar bunten Fleckchen Erde, Mademoiselle. Dem schönsten weit und breit, um genau zu sein. In Rochefort-en-Terre.«

»Rochefort-en-Terre«, wiederholte Alicia leise und lächelte. Den Namen des Ortes auszusprechen fühlte sich gut an. Melodisch. Poetisch. Verheißungsvoll.

»Ich bin damals wegen meiner Frau hergezogen«, offenbarte Arthur. Wie von Nostalgie getrübt, umwölkte sich sein Blick. »Vor vielen, vielen Jahren. Jahrzehnten sogar. Und wissen Sie was? Seitdem habe ich kein einziges Mal mehr an mein altes Zuhause gedacht, obwohl es dort viel gab, was man vermissen konnte. Wenn so etwas wie Magie existiert, Mademoiselle König, dann hier in Rochefort.«

Kapitel 3

Sie mussten nicht lange auf Madame Durand warten.

Gute zwanzig Minuten, nachdem ihr Mann sie angerufen hatte, kam sie hupend die Straße entlanggefahren und parkte ihren quietschgelben Pritschenwagen zwischen Alicias Twingo und Arthus Käfer, den er in weiser Voraussicht bereits ein Stück nach vorn gefahren hatte. Schwungvoll stieg sie aus und lief auf sie zu, die Schritte federnd.

Die Französin war, rein äußerlich betrachtet, das genaue Gegenteil von ihrem Mann: klein, modern gekleidet und erfrischend chaotisch. Ihr mit Marienkäfern bemalter Wagen bildete einen ebensolchen Kontrast zu Arthurs glänzendem Oldtimer wie ihre widerspenstigen, locker auf dem Kopf zusammengebundenen Locken zu seinem perfekt sitzenden Hut. In Sachen Freundlichkeit allerdings schien sie Monsieur Durand in nichts nachzustehen.

»Da hast du aber eine reizende junge Dame aufgelesen, Arthur«, sagte sie mit kehliger Stimme, nachdem sie Alicia überschwänglich begrüßt und sich vorgestellt hatte. Als sie lächelte, breitete sich eine Armada Lachfalten um ihre Mund- und Augenpartie aus, die sie geradezu unverschämt herzlich aussehen ließ.

Einen Augenblick zog Alicia in Betracht, ihr Projekt ganz einfach mit einer Story über das Ehepaar Durand abzuschließen, dessen Besonderheit schlicht darin bestand, ungeheuer nett und zuvorkommend zu sein.

Sie faltete die Hände vor der Brust. »Madame und Monsieur Durand, ich danke Ihnen wirklich von Herzen für Ihre Hilfe.«

Inès schnaubte. »Dafür müssen Sie sich doch nicht bedanken. Das ist selbstverständlich. Stimmt’s, Arthur?«

»Stimmt genau.«

Die alte Französin strahlte bis über beide Ohren. »Na also. Dann wollen wir mal.« Wie zuvor ihr Mann, warf auch Inès nun einen prüfenden Blick in den Motorraum, bevor sie die Kühlerhaube mit einer schnellen Handbewegung schloss. »Den lassen wir auf dem Hof in aller Ruhe auskühlen. Hatten Sie schon mal das Vergnügen, einen Pannenwagen zu lenken, Mademoiselle König?«

Alicia schüttelte den Kopf. »Nein, bisher ist immer alles gut gegangen. Soweit ich weiß, muss ich nur darauf achten, dass die Handbremse gelöst und ausgekuppelt ist, oder?«

»Genau. Und die Servolenkung muss funktionieren, am besten stellen Sie den Zündschlüssel also auf die erste Stufe.«

»Alles klar.«

Inès lächelte aufmunternd. »Sehr gut. Dann dürfen Sie gern schon einsteigen, Arthur und ich kümmern uns um den Rest. Stimmt’s, chéri?«

Der alte Mann salutierte grinsend. »Es kann losgehen.«

Alicia lächelte dankbar und ließ sich dann in die warmen Polster sinken. Trotz der heruntergekurbelten Fenster staute sich die Hitze des Sommers im Inneren des Wagens. Vergeblich fächelte sie sich mit den Händen Luft zu und beobachtete die Durands dabei, wie sie in routinierter Zusammenarbeit ein Abschleppseil von der Pritsche des Wagens holten und es jeweils an den dafür vorgesehenen Haken befestigten.

Währenddessen grinsten sie einander so fröhlich an, als erlebten sie ein großes unerwartetes Abenteuer. Bei allen Sorgen darüber, wie sich ihre Panne auf die nächsten Tage und die Projektplanung im Allgemeinen auswirken würde, war Alicia berührt von diesem Anblick.

»So«, sagte die alte Französin laut und klatschte in die ölverschmierten Hände. »Wir sind so weit.

*

Mit einem gleichmäßigen Rattern erwachte der bemalte Pritschenwagen zum Leben. Den Blick starr auf sein buntes Heck geheftet, umklammerte Alicia das Lenkrad ihres Twingo. Es fühlte sich seltsam an, ein Auto zu steuern, dessen Motor nicht in Betrieb war.

Nach einigen Hundert Metern jedoch, die Inés sie in gemächlichem Tempo die Straße entlanggezogen hatte, entspannte sie sich ein wenig. Was soll denn jetzt noch passieren? Eine Panne mit einem Pannenwagen?

Glucksend gestattete Alicia sich, den Ausblick wieder zu genießen, den sie noch vor ihrer unfreiwilligen Rast – und vor Alexanders Anruf – vom Fahrersitz des Mietwagens aus bewundert hatte. Der Himmel war noch immer blau, die Sonne glühend wie flüssiges Gold, und doch sprachen seine Farben nun eine andere, irgendwie geheimnisvollere Sprache, die Alicia noch nicht recht zu deuten wusste.

Einige friedvolle Minuten lang folgten sie dem Verlauf der Straße, nahmen schließlich eine Abzweigung und fuhren an immer grüner werdenden Feldern, Wiesen und Baumgruppen vorbei. Dann rollten sie auf einen Hof, der von einer bröckelnden Mauer umgeben war und an dessen Ende sich ein hübsches, mit Efeu und Geranien beranktes Haus befand. Blumentöpfe, einige von ihnen umgestoßen, säumten die breite Auffahrt ebenso wie herumliegendes Werkzeug.

Gekonnt manövrierte Inès den Pritschenwagen und sein Anhängsel um die Hindernisse herum; im Rückspiegel des Twingo konnte Alicia sehen, dass Arthur es ihr gleichtat. Sie kamen vor einer offenen Garage zum Stehen, neben der sich Autoreifen stapelten.

»Herzlich willkommen im Durcheinander der Durands«, sagte Arthur, nachdem Alicia ausgestiegen war. Ebenso neugierig wie befangen sah sie sich um.

Sie hatte sich immer für spontan gehalten – für jemanden, dem Planänderungen nicht viel ausmachten und der in ihnen Gelegenheiten sah, die beim Schopfe ergriffen werden mussten. Meist mochte das auch zutreffen; nun aber, da der Adrenalinpegel in ihrem Blut allmählich wieder fiel, fühlte sich Alicia von den Ereignissen des Tages wie erschlagen. Obwohl sie den Durands mehr als dankbar für ihre Hilfe war, sehnte sie sich plötzlich schmerzlich nach Ruhe.

Nachher. Heute Abend werde ich im Hotel liegen, ein gutes Buch lesen und ein Glas Wein trinken.

»Ah, D’Artagnan!«, rief Arthur neben ihr fröhlich. Alicia folgte seinem Blick und entdeckte eine graue Katze mit gelben Augen, die erhobenen Schwanzes auf sie zu stolzierte und sich wenig später schnurrend an ihr Bein schmiegte.

»Unfassbar.« Inès schlug die Tür ihres Wagens zu und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Fahrerkabine. »D’Artagnan ist vernarrt in Arthur – und offenbar auch in Sie. Mich würdigt er keines Blickes, obwohl ich es war, die ihn damals auf der Straße aufgelesen hat.«

Alicia schmunzelte. Sie ging in die Hocke, hielt dem Kater ihre ausgestreckte Hand hin, damit er daran schnuppern konnte, und strich behutsam über sein weiches Fell. »So ging es meinen Eltern mit unserer Familienhündin auch«, wandte sie ein, damit Inès sich besser fühlte, »allerdings war es umgekehrt: Bessy war ziemlich auf meine Mutter fixiert. Da konnte mein Vater nicht mithalten.«

Der Kater maunzte vernehmlich, entzog sich Alicias Streicheleinheiten und verschwand dann flink in Richtung Hauseingang.

»Er hat Hunger«, bemerkte Arthur, »und Sie sicher auch. Ich finde, Sie sollten ein Stück Kuchen von meiner Frau probieren, während ich mich schon mal an das tüchtige Gefährt hier mache. Besser, ich schaue einmal nach, ob nicht doch etwas mehr im Argen liegt als das Heißlaufen des Motors.« Er trat an Alicias Mietwagen heran und klopfte demonstrativ gegen das in der Sonne glänzende Blech.

»Ja«, pflichtete Inès ihrem Mann bei, »aber davor solltest du dich vielleicht erst mal umziehen, chéri.«

»Oh. Ja, natürlich.« Arthur zwinkerte Alicia zu und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, ihm und seiner Frau zu folgen. Unschlüssig blieb sie stehen.

»Kommen Sie nur«, rief Inès, als sie ihr Zögern bemerkte.

Trotz der Gastfreundschaft, die die Durands ihr entgegenbrachten, fühlte Alicia sich noch immer ein wenig befangen. Immerhin hatte sie den Tagesablauf des alten Ehepaares ganz sicher vollkommen durcheinandergebracht. Wenn es etwas gab, das sie hasste, dann war es, anderen zur Last zu fallen. Außerdem musste sie dringend mit Madame Plisseau sprechen – und, wie ihr siedend heiß einfiel, in ihrem Hotel in Ploudalmézeau anrufen, um mitzuteilen, dass sie um einiges später als geplant einchecken würde.

Ansonsten kann ich die Sache mit dem Wein und dem Buch heute Abend definitiv vergessen, dachte Alicia verzagt. Nervös rang sie die Hände.

»Ich möchte Sie nicht unnötig aufhalten. Dass Sie mir mit meinem Wagen helfen, ist schon nett genug, da müssen Sie mich nicht auch noch beherbergen.«

»Beherbergen, so ein Unsinn. Wir zeigen Ihnen bloß das Haus, und Sie und ich nehmen danach eine kleine Stärkung zu uns, während Arthur sich um Ihren Wagen kümmert. In Ordnung?«

Alicia gab sich geschlagen. »Ja ... Danke! Wirklich. Ich müsste nur noch schnell ein, zwei Anrufe machen. Ist das okay?«

Die Durands nickten beide eifrig. »Selbstverständlich. Kommen Sie einfach rein, wenn Sie fertig sind.«

Arm in Arm verschwanden sie in ihrem Haus mit dem windschiefen Giebeldach.

Alicia stellte sich in den Schatten eines Baumes und scrollte durch ihre Liste zuletzt angerufener Kontakte, bis sie fand, was sie suchte.

Wie erwartet, ging Madame Plisseau jedoch nicht ans Telefon, und auch die Rezeption des kleinen Hotels, in das Alicia sich online eingemietet hatte, schien vorübergehend nicht besetzt. Sie hinterließ sowohl der Wahrsagerin als auch der Gastwirtin eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter und wollte gerade hineingehen, als das Handy in ihrer Hand vibrierte.

Alexander. Schon wieder.

Hi, Ally. Schade, dass unser Gespräch so abrupt enden musste. Hätte mich gern noch weiter mit dir unterhalten. Ich bin ab morgen für ein paar Tage allein, du kannst also jederzeit anrufen.

Wie so oft, wenn Alexander wieder einmal beschloss, eine Grenze zu überschreiten, fühlten sich Alicias Wangen auch jetzt an, als würde ihr jemand mit glühenden Nadelspitzen hineinstechen.

»Du behandelst mich wie deine Affäre«, sagte sie tonlos zu ihrem Smartphone und schluckte den Ärger, der sich bitter auf ihrer Zunge ausbreitete, hinunter. Dann löschte sie die Nachricht.

Ein leises Miauen kündigte D’Artagnan an, der seinen Kopf aus der halb geöffneten Tür steckte, wie um nach Alicia zu sehen.

Sie lächelte matt. »Ich komme ja schon.«

Kapitel 4

Alicia hatte nicht damit gerechnet, zusätzlich zu dem ihr angebotenen Stück Kuchen auch noch eine Führung durch das Haus der Durands zu erhalten. Dieses war ein Sammelsurium der Kuriositäten. Und nachdem sie ihren Blick offenbar allzu neugierig über alte Vasen, Skulpturen und ausgefallene Wanduhren hatten schweifen lassen, war sie von den Durands von Zimmer zu Zimmer gewinkt worden. Egal, wohin sie auch gingen, die farbenfrohe, etwas chaotisch anmutende Innengestaltung blieb. Die Durands lotsten Alicia zuerst ins oberste Stockwerk, das über ein Schlafzimmer, ein Bad und einen gemütlichen, mit Bücherregalen bestückten Raum verfügte. Als sie auf dem Weg zurück nach unten an einer geschlossenen Tür vorbeikamen, die Alicia beim Hinaufkommen gar nicht aufgefallen war, geriet das fröhliche Geplapper der Durands ein paar Atemzüge lang ins Stocken. Alicia erstickte das sofort entfachte, fast quälend intensive Verlangen danach, das Ehepaar danach zu fragen, was sich auf der anderen Seite dieser Tür befand. Sie war neugierig, ja – aber nicht dreist.

Eilig folgte sie den Durands die Treppen hinunter, an deren Ende sie ihre ansteckende Fröhlichkeit wiederentdeckt hatten.

»Hier unten halten wir uns am liebsten auf«, flötete Inès. Alicia erhaschte einen Blick auf ein weiteres Badezimmer mit frei stehender, antiker Badewanne, eine Wäschekammer, ein Arbeitszimmer und einen kleinen, aber gemütliches Wohnbereich. Die unverhoffte Führung endete schließlich in der Küche.

»Darf ich vorstellen? Das Herzstück des Hauses. Wenn wir mal nicht draußen sind, verbringen wir die meiste Zeit hier. Trinken Kaffee, Tee und Wein, spielen Karten, hören Radio und kochen zusammen.« Inès war anzusehen, wie wohl sie sich fühlte, und auch Arthur strahlte bis über beide Ohren.

Neugierig sah Alicia sich um. Der Raum war groß, größer noch als das Wohnzimmer. Er bestand im Wesentlichen aus einer Sitzecke, einem surrenden Kühlschrank, einem alt anmutenden Herd, einer Reihe Schränke und einem L-förmigen Arbeitsbereich mit hölzerner Oberfläche. Die Gardinen vor den Fenstern nahmen das Blumenmuster der Tapete wieder auf, die sich – an einigen Stellen abgeblättert – oberhalb der Wände in Form eines breiten Streifens durch den Raum zog.

»Wirklich schön haben Sie es hier«, sagte Alicia und meinte es auch so.

»Der Verdienst meiner Frau«, beeilte Arthur sich zu sagen. »Ebenso wie der Kuchen, den Sie gleich essen werden. Einfach herrlich. Ich schlüpfe dann mal in meinen Blaumann und mache mich an die Arbeit.«

Ehe Alicia ihn aufhalten konnte, war er auch schon ins Nebenzimmer verschwunden. Sie fühlte sich nicht wohl dabei, dass der alte Mann draußen schuftete, während sie es sich in der kühlen Küche gut gehen ließ.

»Was für ein Kuchen ist das, den Arthur da so lobt?«, fragte sie über das leise Singen ihres schlechten Gewissens hinweg.

»Kouign. Französischer Butterkuchen. Arthur will mir nur schmeicheln, er backt viel besser als ich. Oh, und sorgen Sie sich bloß nicht seinetwegen. Er hat heute Morgen schon die Hälfte gegessen. Ganz allein.« Sie lachte heiser auf, während sie Teller und Besteck aus den Hängeschränken nahm und den Tisch eindeckte.

»Setzen Sie sich, Mademoiselle König.«

Alicia tat, wie ihr geheißen und lächelte verlegen. »Ich weiß, ich wiederhole mich, aber danke. Ich schätze, wenn man eine Autopanne hat, sind Sie und Arthur das Beste, was einem passieren kann.«

Inès tat ihnen beiden ein großes Stück des süßlich duftenden Gebäcks auf. »Das haben Sie schön gesagt.« Sie wedelte mit ihrer Gabel herum, von der ein paar Krümel rieselten. »Die Durands – Retter in der Not. Wir sollten daraus ein Geschäft machen. Wohin waren Sie eigentlich unterwegs, bevor Ihr Wagen den Geist aufgegeben hat?«

Alicia beeilte sich, ihren Bissen des köstlichen Butterkuchens herunterzuschlucken, bevor sie antwortete. »Nach Ploudalmézeau, zu einem Interview-Termin. Ich arbeite als freie Redakteurin.«

»Ein kreativer Beruf. Wie schön! Das passt zu Ihnen. Sie sehen nicht wie jemand aus, der seinen Alltag gern in der Enge eines Büros verbringt.«

Alicia lachte. »Wie sieht denn jemand aus, der das gern tut?«

Inès sah sie nun ernst an. »Nicht so lebendig. Sie tragen einen Glanz in den Augen, den viele Menschen auf ihrem Weg zum Erwachsensein verloren haben. Passen Sie gut auf ihn auf. Wenn er einmal fort ist, kommt er nicht wieder zurück.«

*

Inès’ Worte im Ohr, schlenderte Alicia über den Hof der Durands. Sie hatte der alten Französin beim Abwaschen geholfen und dann den Wunsch geäußert, nach Arthur zu sehen und ihm zur Hand zu gehen. Madame Durand wollte sich unterdessen um ein paar angefallene Rechnungen kümmern.

Alicia empfand es als irgendwie beruhigend zu sehen, dass zumindest Inès sich nun wieder den anfallenden Aufgaben widmete, statt sich einer Rundum-Betreuung ihres Überraschungsgastes verpflichtet zu fühlen.

»Arthur? Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«, fragte sie vorsichtig, um den augenscheinlich vertieften Mann nicht zu erschrecken.

Monsieur Durands Kopf tauchte sogleich hinter der Motorhaube des Twingo auf. Als er sich mit dem Handrücken über die Stirn wischte, hinterließ er dort eine schwarze Spur.

Wie er so dastand, in Latzhose und ohne seinen Hut, der eine für sein Alter beachtlich üppige Haarpracht verborgen gehalten hatte, wirkte er wie ein vollkommen anderer Mensch auf Alicia. Jünger. Frischer. Lebendiger. Er hatte den Glanz, von dem seine Frau gesprochen hatte, jedenfalls nicht verloren.

»Oh, nein. Ich denke nicht, meine Liebe. Die Sache mit der Überhitzung ist Geschichte, aber es gibt hier ein paar kleine Unstimmigkeiten, die ich doch gern in Ordnung bringen würde, bevor Sie weiterfahren. Nur, um auf Nummer sicher zu gehen.«

Alicia hatte keine Ahnung, inwieweit es rechtlich in Ordnung war, dass ein Laie an einem Mietwagen herumschraubte, doch sie wollte nicht kleinlich sein. Außerdem schien der alte Mann tatsächlich zu wissen, was er tat – vermutlich kam den Verantwortlichen die für sie kostenlose Instandsetzung also zugute.

»Okay.« Alicia lehnte sich gegen die Garagenmauer. »Ich leiste Ihnen Gesellschaft.«

»Das könnten Sie natürlich tun, Mademoiselle König. Allerdings hätte ich da einen viel besseren Vorschlag.« Arthur setzte eine geheimnisvolle Miene auf.

»Ach ja? Und der lautet?«

»Sie könnten sich das Dorf ansehen, bis ich hier fertig bin. Was meinen Sie?«

Entrüstet verschränkte Alicia die Arme vor der Brust. Der leise, beschämte Singsang ihres schlechten Gewissens war zu einem lauten Brüllen geworden.

»Ich lasse also erst mein Auto von Ihnen abschleppen, esse Ihnen Ihren Kuchen weg und mache mir dann noch einen gemütlichen Nachmittag, während Sie in dieser brütenden Hitze Reparaturarbeiten vornehmen?«

Der Franzose setzte eine Unschuldsmine auf. »Aber sicher. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn Sie in Rochefort-en-Terre waren, ohne wirklich da gewesen zu sein ... Und was haben Sie schon davon, wenn Sie hier neben mir stehen und mir auf die Finger gucken? Genießen Sie die Sonne. Verlieben Sie sich in dieses wunderbare Fleckchen Erde. Ich verspreche, dass es Ihnen nicht schwerfallen wird.«

Alicia rang mit sich. Einerseits wollte sie auf keinen Fall unhöflich oder gar undankbar wirken, indem sie ihren Retter in der Not jetzt allein ließ. Andererseits schien es ihm tatsächlich nichts auszumachen, ohne Gesellschaft vor sich hin zu werkeln. Außerdem war ihm anzumerken, wie wichtig es ihm war, dass Alicia den Ort, von dem er mit so viel Liebe sprach, vor ihrer Abreise noch einmal mit eigenen Augen sah.

»Na gut.« Sie atmete geräuschvoll aus und schenkte dem alten Mann ein zaghaftes Lächeln. »Aber ich werde aufpassen, dass ich mich nicht zu sehr verliebe, damit ich bald wieder zurück bin. Vielen Dank, Arthur. Schon wieder.«

Herrgott, wenn ihr Wortschatz eine Schallplatte wäre, dann gewiss eine mit einem Sprung darin.

»Nichts zu danken, Mademoiselle König. Oh, und kämpfen Sie nicht dagegen an. Das Herz will, was das Herz will.« Seine Augen glitzerten schalkhaft, als er sich wieder dem Motorraum zuwandte.

Kapitel 5

Der Fußweg vom Haus der Durands bis zum Herzen der Gemeinde betrug zwanzig Minuten.

Für gewöhnlich war Alicia selten ohne die Navigationsapp ihres Handys unterwegs, mit der sie die Orte, die sie besuchte, bereits vorab auf dem Display erkundete. Heute aber nutzte sie die Funktion nur, um sich einen Überblick über die Gehminuten zum Zentrum zu verschaffen, ehe sie ihr Smartphone wieder in der Handtasche verschwinden ließ. Es war ein wunderbares, irgendwie abenteuerliches Gefühl, sich einzig auf die rostigen Beschilderungen zu verlassen, die ihr die Richtung wiesen.

Der Hof der Durands war einsam gelegen, sodass es eine Weile dauerte, bis die nächsten Behausungen inmitten der ländlichen Idylle in Sicht kamen. Dann jedoch veränderte das Bild des Ortes sich jäh: Die eben noch breiten Straßen wichen Gassen, die mit jedem Schritt, den Alicia in Richtung Stadtkern tat, enger und verwinkelter wurden.

Schon jetzt dachte sie, dass Monsieur Durand mit seiner Behauptung, sie werde sich rasch in Rochefort verlieben, recht behalten würde – das Dorf besaß einen Zauber, der stark genug war, um einen ganzen Schwarm Schmetterlinge in ihrem Bauch zum Leben zu erwecken. Stark genug, um ihr die Begeisterungsfähigkeit eines Kindes zurückzugeben, dessen Blick für das Schöne noch nicht von Alltag und Routinen umwölkt war.

Es war ein Zauber, den sie riechen und sogar schmecken konnte. Sie fühlte sich leicht. Frei. Unabhängig und doch als Teil einer Geschichte, die in das mittelalterliche Gewand der Kleinstadt gewoben war.

Bunte Blumenkübel zierten die Fassaden der Granitbauten und Fachwerkhäuser, bemalte Türen bildeten die Eingänge zu Restaurants, Cafés, Boutiquen und Lebensmittelgeschäften. Musik rieselte aus geöffneten Fenstern, Menschen lachten aus vollem Halse, und auf den Schieferdächern hatten sich Scharen von Singvögeln versammelt, deren Gezwitscher die Sommerluft erfüllte.

Tatsächlich schienen die Gesetze der Zeit in Rochefort-en-Terre wie ausgehebelt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft tanzten hier einen eigentümlichen Tanz miteinander, in den Alicia sich einreihte und von dem ihr wunderbar schwindelig wurde.

Tina würde es hier gefallen, dachte Alicia und schoss rasch ein paar Fotos für ihre beste Freundin aus Kindertagen, die daheim in Hamburg sicher gerade im Büro der Versicherungsfirma saß, für die sie arbeitete, und sich in die Ferne träumte.

Eines Tages würden sie gemeinsam durch die Welt reisen und Menschen, Orte und Geheimnisse ergründen, das hatte sie Tina versprochen. Und bis es so weit war, versorgte sie die Freundin eben regelmäßig mit Schnappschüssen und Videos.

Nachdem Alicia eine erste Fuhre Bild gewordenen bretonischen Sommerszaubers in die Hansestadt versandt hatte und noch einige Minuten staunend umhergewandert war, blieb Alicia unschlüssig stehen. Wohin nur sollte sie zuerst gehen? Ein über den Dächern aufragender Kirchturm versprach eine Sehenswürdigkeit, ein schmiedeeisernes Schild verkündete den Weg zu einem nahe gelegenen Schloss und einem Kunstmuseum und eine Patisserie warb im Schaufenster mit wunderbar fluffigen Croissants, die Alicia ihren gerade erst verdrückten Butterkuchen vergessen ließen.

So eine kleine Stadt und so viele Möglichkeiten.

Sie drehte sich um die eigene Achse, ließ den Blick erneut über die alten Häuser schweifen und studierte die Gesichter der mit Kameras und Handys ausstaffierten Touristen, in denen sich ihre eigene Faszination spiegelte. Gerade wollte Alicia sich einer Gruppe anschließen, die zielstrebig in Richtung eines Eiswagens marschierte, als ein lautes Lachen ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie wandte ihren Kopf in Richtung der Geräuschquelle und sah, wie eine Mutter mit einem Kleinkind auf dem Arm aus der Tür eines Ladens trat. In der freien Hand hielt sie eine Sonnenblume. Das Kind lachte quietschend und grapschte begeistert nach der kräftig gelben Blüte der Pflanze.

Neugierig trat Alicia an das Geschäft heran. Amitié – Pflanzen Sie Glück stand in bronzefarbenen Lettern über dem Eingang geschrieben. Zarte grüne Blätter rankten sich in einer vorsichtigen Umarmung um den Schriftzug, der in den grauen Stein geschlagen worden war. Rechts und links von der Tür, in die auf halber Höhe jemand eine Blüte geritzt hatte, standen mit Preisschildern behangene Blumen unterschiedlicher Art und Größe.

»Wie schön«, sagte Alicia laut zu sich selbst und zog damit den irritierten Blick eines vorbeilaufenden Jungen auf sich. Grinsend sah sie ihn an. Sie mochte es, hin und wieder auszusprechen, was sie dachte – auch dann, wenn sie mit sich allein war oder mit sich allein zu sein glaubte.

Ich werde den Durands eine dieser wunderschönen Sonnenblumen mitbringen.

Kurz entschlossen öffnete sie die Ladentür. Als sie eintrat, bimmelte über ihrem Kopf ein Glöckchen. Sofort stieg Alicia ein süßlicher Duft nach Blüten und feuchter Erde in die Nase, der sie an den Geruch der Gärtnerei erinnerte, in die ihre Mutter sie als Kind immer so gern mitgenommen hatte. Einen sprechenden Vogel hatten sie dort gehabt – wenn sie sich nicht irrte, war es ein Beo gewesen; schwarz, mit gelben Hautpartien am Kopf und einem orangenen Schnabel. Einen solchen Vogel konnte Alicia hier zwar nicht entdecken, dafür aber wohl das schönste Durcheinander, das sie je zu Gesicht bekommen hatte.

Was an Pflanzen draußen ausgestellt worden war, um das Interesse der Passanten zu wecken, setzte sich im Inneren des Ladens auf sympathisch-chaotische Art und Weise fort. Blumentische und -bänke, allesamt beladen mit den farbenprächtigsten Gewächsen, nahmen beinahe jeden freien Quadratmeter ein. Von der Decke baumelten metallene Ampeln, deren Inhalte sich stellenweise wie grüne Wasserfälle bis kurz über den Boden ergossen.

Alicia hatte das Gefühl, sich durch einen Dschungel zu bewegen. Vorsichtig bahnte sie sich einen Weg zum Tresen der Gärtnerei. Zwei Frauen, ihren grauen Haaren und der gebückten Körperhaltung nach zu urteilen gehobenen Alters, standen davor und unterhielten sich angeregt mit einem Mann, der konzentriert einen Strauß band. Er war groß, gebräunt, hatte dunkle Haare und einen ebenso dunklen Dreitagebart. Seine Gesichtszüge waren von einer ganz eigenen, markanten und irgendwie melancholischen Schönheit, und sein Kinn zeigte die Andeutung eines Grübchens. Soweit Alicia es von ihrer Position aus erkennen konnte, strahlten die Augen des Gärtners außerdem in einem bemerkenswerten Grün. Kurz streifte sein Blick den ihren, dann wandte er sich wieder seiner Kundschaft zu.

»So. Bitte sehr, die Damen«, sagte er mit einer tiefen, angenehmen Stimme und wickelte den Strauß behutsam in Einschlagpapier, ehe er ihn den Frauen überreichte. »Richten Sie Madame Vinet doch bitte aus, sie soll die Blumen nicht wieder direkt vor ihr Fenster stellen, wenn sie möchte, dass sie länger frisch bleiben.«

»Selbstverständlich, Monsieur Millet. Danke für Ihre Hilfe. Sie wird sich sehr darüber freuen.«

Monsieur Millet, offenbar der Inhaber der Amitié-Gärtnerei, lächelte verhalten und fuhr sich durch das dichte, dunkle Haar. Obwohl unbestreitbar freundlich zu seinen Kundinnen, wirkte er auf Alicia ein wenig distanziert.

»Nichts zu danken. Sie wissen ja, mein Garten der frohen Hoffnungen blüht das ganze Jahr über.«

Alicia stutzte. Sprach der Gärtner in Metaphern oder betrieb er wirklich einen solchen Garten? Und wenn ja, wo? Befand sie sich vielleicht sogar schon mitten drin?

»Vielen Dank«, wiederholten die Frauen nun im Chor. Einander untergehakt, verließen sie den Laden. Als Alicia zur Seite trat, um ihnen Platz zu machen, nickten sie ihr freundlich zu.

»Kann ich Ihnen helfen, Mademoiselle?«

Alicia zuckte zusammen. Der Besitzer des Ladens war unbemerkt an sie herangetreten, während sie den Französinnen hinterhergesehen hatte. Sein Parfum, herb wie der Geruch des Waldes, legte sich schwer auf ihre Sinne.

Forschend sah Monsieur Millet sie an. Ließ seinen Blick so ausgiebig über ihr Gesicht wandern, dass sie sich verlegen abwenden wollte ... und doch wieder nicht. Nein, gleichzeitig erwachte in ihr der Wunsch, er möge ihre Züge noch länger studieren. Sehr viel länger.