Grüber, Marthaler, Stein: Drei Regisseure inszenieren Goethes Faust - Guido Böhm - E-Book

Grüber, Marthaler, Stein: Drei Regisseure inszenieren Goethes Faust E-Book

Guido Böhm

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Beschreibung

Magisterarbeit aus dem Jahr 2003 im Fachbereich Theaterwissenschaft, Tanz, Note: 1,7, Ruhr-Universität Bochum (Institut für Theaterwissenschaft), Sprache: Deutsch, Abstract: Aus dem Erstgutachten von Prof. Dr. Guido Hiß (Ruhr-Universität Bochum) zur Magisterarbeit von Guido Böhm "Grüber - Marthaler - Stein. Drei Regisseure insznieren Goethes ´Faust´" : "In seiner knappen, dennoch fundierten methodischen Vorbemerkung reflektiert der Verfasser insbesondere den Stellenwert des (klassischen) Dramas im Kontext seiner szenischen Realisierung. Im plausiblen Gegensatz zu dogmatisierenden Positionen mancher Fachkollegen, die das Drama generell aus der Theaterwissenschaft verbannen wollen, reklamiert die Arbeit den Text als virulenten Punkt gerade auch ´postdramatischer´ Inszenierungen und behauptet, dezidiert gegen den Strich, eine besondere Kompetenz der Theaterwissenschaft für die Texte. Geschult durch ihre in vielen Inszenierungen ausgewiesene Offenheit entgehen wir demnach der philologischen Falle exegetischer Vereindeutigung. Das drückt sich vor allem auch mit Blick auf ihre rezeptionsgeschichtliche Verordnung aus. ´Wie der dramatische Text einer Aufführung als sprachliche Vorlage dient, macht eine Aufführung ebenso eine Aussage über den gegenwärtigen Stand ihres Primärtextes.´ Entsprechend verfolgt die Studie einen doppelten Fokus. Drei im Titel schon genannte prominente "Faust"-Inszenierungen vertreten drei Dekaden der szenischen Stoff-Aneignung, höchst unterschiedliche zumal. Die Arbeit untersucht sie zugleich als exemplarische Beiträge zum Regietheater der Gegenwart und als Belege für die heutige "Faust"-Rezeption. Es ist dem Verf. hoch anzurechnen, dass er hierfür nicht eine starre Analyseschablone entwickelt, sondern flexibel auf die Besonderheiten der jeweiligen Inszenierung eingeht. [...] Dies ist eine intelligente, engagierte und gut geschriebene Arbeit, die es mit klarem Blick auf das Wesentliche vermag, ihre Leser für die divergierenden Inszenierungen zu interessieren."

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Inhalt

 

Einleitung

Das Faust-Drama als wissenschaftlicher Gegenstand und auf der Bühne

Die Rolle des Regietheaters

I. Klaus Michael Grüber inszeniert Faust (I)

Zur Person

Die Aufführung

Form

Reduktion und Langsamkeit

Minettis Faust

a) Die Einsamkeit des Gelehrten

b) Minettis Beitrag

Goethes Tod

Nebenfiguren

a) Mephisto

b) Gretchen

Vorhang

2. Christoph Marthaler inszeniert „Goethes FaustÖ1+2“

Ratloses Erschrecken

Figuren ?

Die Faust-Anstalt

Traumdeutung

1. Somatische Traumquellen

2. Rezente Traumquellen

3. Infantile Traumquellen

Christoph Marthaler

Musikalischer Ausklang

3. Peter Stein inszeniert FAUST I+II

Zur Person Peter Stein

Das Konzept

Das Projekt

Öffentliche Interaktion

Die Aufführung – Steins Faust-Analyse

Schauspiel contra Texttheater

Bühnen – Raumfindung – Bildfindung

Schluß

Literatur- und Quellenverzeichnis

Einleitung

 

Das Faust-Drama als wissenschaftlicher Gegenstand und auf der Bühne

 

Johann Wolfgang (von) Goethe wird gemeinhin als Klassiker der deutschen Literaturgeschichte verstanden. Sein Werk wurde und wird noch heute bis ins Unüberschaubare rezipiert, erarbeitet und erforscht, man nennt ihn ehrerbietig den „Dichterfürst“ und betrachtet seine Schriften geradezu als „deutsches Kulturerbe“. Jedes Kind wird spätestens im Deutschunterricht mit dem Vermächtnis des Ausnahmeautors konfrontiert. Selbst den deutschen Sprachgebrauch hat Goethe nachhaltig beeinflußt. Allgemein bekannte Sentenzen, etwa der unzählige Male zitierte Satz des Thoas „Du sprichst ein großes Wort gelassen aus“[1] gehen ebenso auf Goethe zurück, wie bereits sprichwörtlich gewordene Wendungen; „des Pudels Kern“ aus dem Faust (V 1323) sei hier als prominentes Beispiel angeführt. Der Klassiker Goethe ist auch heute noch allgegenwärtige Größe des täglichen Lebens. Nach seinem lateinischen Ursprung (classis – Vorbild) beschreibt die Literaturwissenschaft durch den Terminus „Klassik“ diejenige literarische Epoche, die eine spätere Generation von Autoren und Rezipienten eben als ein Vorbild empfindet. Die Verwendung des Klassik-Begriffs in unserer Zeit impliziert also offenbar eine gewisse literarische Vorbildlichkeit Goethes, die im alltäglichen Umgang mit dem Dichter leider nur all zu oft zur bloßen Phrase verkommt. Denn erst über die Jahrhunderte der Rezeptionsgeschichte ist Goethe heutzutage zum Klassiker avanciert, über Goethes Werk weiß das Etikett „Klassiker“ wenig zu sagen. Zu Goethes Leb- und Wirkzeiten ist der Dichter keineswegs ein Klassiker, vielmehr empfindet er selbst Autoren, die vor seiner Zeit lebten und schrieben als klassisch. Homer, Vergil und deren Zeitgenossen werden als Vorbilder angesehen. Man orientiert sich am literarischen Ideal der Antike. Auch Johann Wolfgang Goethe wird von der Art Literatur beeinflußt, die er als klassisch und damit vorbildlich empfindet. Das Weimarer Projekt des Klassizismus wird geboren. Doch auch diese selbstauferlegte Formel wird von Goethe schließlich kritisch hinterfragt. Indem er, vor allem im Faust II, das Projekt Klassizismus dem Fortschrittsglauben der Moderne gegenüberstellt, gleichzeitig beides künstlerisch verbindet, gerät Goethe die Schöpfung eigenständiger Kultur, die zwar klassische Einwirkungen trägt, mit dem Begriff „klassisch“ wohl auch praktikabel bezeichnet, aber stets nur unzureichend beschrieben wird. Goethes Anliegen, seine Motivation, sein Ausdruck, seine Essenz, was auch immer sein Werk ausmachen mag, beschreibt die Schubladenplakette „Klassik“ in keiner Weise. So ist bereits zu Beginn der Rezeptionsgeschichte seines literarischen Werkes die Bewertung Goethescher Dichtung gefärbt von schwärmerischer Bewunderung des Autorengenies. Mit Goethes Ruhm verbreiten sich Klischees einer einhelligen Goetheverehrung; Schlagworte wie „Genie“,„Meisterwerk“ und später eben „Klassiker“ behindern eine genaue Rezension seiner Werke. Man etikettiert diverse Schubladen: So gilt Iphigenie als Personifizierung der menschenfreundlichen Aufklärung, ihr Gegenüber Thoas letzten Endes als Barbar. Doch sind Sie es in unabänderlicher Konsequenz? Müssen die Goetheschen Figuren nicht wesentlich vielschichtiger und komplexer bewertet werden? Das bürgerlich-traditionelle, klassische Gütesiegel der besagten Vorbildlichkeit, die man Goethes Literatur in schulmeisterlichem Dünkel zuschreibt und gleichzeitig so stillschweigend wie selbstverständlich von ihr erwartet, versperrt lange Zeit den Zugang zu dunkleren Seiten seiner Werke. Goethes Genius soll auch hier nicht im Geringsten bezweifelt werden. Bezweifelt werden muß dagegen eine Lesart, die den Autor gleichsam schönredet, ihn bequem machen will, was er nun einmal nicht ist. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts beginnen beschriebene Lesarten sich erstmals zu ändern. Das allzu saubere und doch reichlich angestaubte Bild vom Vorbild-Autor wird zu Gunsten einer ungleich vielfarbigeren und komplexeren Bilderschau auf Goethe umcollagiert.[2] Karl Jaspers bewertet den Prozeß zusammenfassend wie folgt: „Wir dürfen keinen Menschen vergöttern. Die Zeit des Goethe-Kultus ist vorbei. [...] Unsere freie Freude am Großen [...] darf uns nicht hindern, den Blick auf die Abgründe zu werfen.“[3]

 

Eben dieser Blick auf die Abgründe, insbesondere aber die Rezeptionsgeschichte eines, in jeder Hinsicht außergewöhnlichen, Goetheschen Dramas vermag zu helfen, das Klassiker-Klischee zu durchbrechen: Gemeint ist das Doppeldrama Faust, das Ausnahmewerk des Ausnahmeautors, das Goethesche Vermächtnis, das kulturstiftende Epos (um nur einige Etiketten aufzuzählen). Faust, das in alle Welt verbreitete, millionenfach gelesene, tausendfach analysierte und rezensierte Mammutwerk, vermag sich, wie der gesamte Goethe-Kosmos, erst ab 1900 vom angesprochenen Meisterwerk-Kultus zu emanzipieren. So bewertete etwa Loewe 1834 den Faust II noch in vollkommener Goethe-Begeisterung:

 

„Indem [...] Goethe [...] durch erhabene Bilder, starke Metaphern, [...] hinreißende Naturschilderungen, bald an das Buch Hiob, [...] bald an Homer erinnert, bald an den Witz und Geist eines Shakespeare, an die Gluth eines Byron heranstreift, am Schluß sich dem Dante und Klopstock nähert; so ist doch trotz dem das Werk in einem so hohem Grade originell und eigenthümlich, daß es leicht als höchste Zierde des Dichters für alle Zeiten hervorragen dürfte.“[4]

 

Goethe, der Über-Autor. Auch in der wunderschönen Besprechung des Faust I von Meyer war 1847 noch programmatisch von „erhaben entworfene[r]“[5] Dichtung und „herrlichem Gesange“[6] die Rede. Goethes Drama zeichne sich ganz allgemein durch den „Vortheil der Belehrung“[7] aus. Nicht der Inhalt dieser beispielhaft herangezogenen älteren Analysen, sondern ihr positivistischer Sprachduktus erscheint heute fragwürdig. Ab Beginn des 20. Jahrhundert trifft man auf zunehmend kritische Lesarten des Dramas. Die jüngeren Analysen vertreten weniger euphorische, dafür nüchternere Blickrichtungen[8], wohl auch, weil die Autoren nun einmal Kinder ihrer Zeit sind. Erst mit den Schrecken der (Post-) Moderne wird deutlich, daß Goethe diese im Faust, einer „hellsichtigen Warnung“[9] gleich, vorauszuahnen scheint. Das Werk erweist sich als epochenübergreifend. Die sich selbst auferlegten, klassizistischen Regeln hat der Autor mit dem Faust bekanntlich bereits durchbrochen. „Der klassische Goethe schreibt einen – auch – unklassischen Faust.“[10] Goethes Lebenswerk Faust zeigt also selbst schon die Grenzen einer Lesart auf, die sich auf Stereotype wie die intentionale Programmatik einer künstlerischen Ärenbezeichnung verlassen will. Niemand kann von sich behaupten, seine neuere, kritische Interpretationsidee sei von nun an die einzig gültige. Ein korrektes oder ideales Verstehen des Faust, wie eines jeden Kunstwerks, existiert nicht. Jede textlich fundierte Analyse hat ihre Berechtigung. Allerdings spiegelt sich in einem Großteil der Faust-Rezensionen vor 1900 eine Werkbetrachtung, die von geradezu idealistischer Verklärung des Werks geprägt wird. Die blumig-begeisterten Kommentare sind per se der Begeisterung für Romantik, dem Geiste des Genie-Gedankens näher und vergessen, daß die, die ihn dachten, ihn später kritisch relativierten. Faust, soweit sind wir heute, enthält mehr. Die modernen Blickweisen transportieren das Goethesche Werk in die Gegenwart, stellen seine Veralterungsresistenz neu unter Beweis. Auch die Postmoderne ist ein Zeitalter Faustens, wenn nicht gar seine eigentliche Heimat. Die Zeit der Ehrfurchtsanalysen ist vorbei und das nicht nur in Sachen Faust. Im Zug des 20 Jahrhunderts erfährt mit Goethe die gesamte „klassische“ Literatur eine Neu- und Umbewertung.

 

Die Rolle des Regietheaters

 

In unmittelbarem Zusammenhang mit dem eingangs beschriebenen Phänomen kann ein zweites, zeitgleich auftretendes, betrachtet werden. Die Befreiung von Klischees, das Aufbrechen festgefahrener Interpretationsmuster, letztlich die Aufhebung der alten Hierarchie von Wissenschaft und Kunst[11] überhaupt, ist in maßgeblicher Weise dem Aufstieg eines Mediums zu verdanken, dessen Aufgabe von philologischer Seite lange Zeit in der bloßen Reproduktion bereits festgelegter Interpretationsmuster angesehen wurde. Gemeint ist das Theater. Neue Wege der Kunst eröffnen und erfordern neue Wege in der sie bewertenden Wissenschaft. Auf dem Theater werden Dramen wie Faust wieder lebendig, verbinden sich mit dem Zeitgeist der Gegenwart. Auf dem Theater vermag man, eben gerade auch aus wissenschaftlicher Sicht, neue Informationen über scheinbar Bekanntes wieder zu entdecken. Der Aufbruch der Kunstproduzierenden um die vorletzte Jahrhundertwende stellt damit einen wichtigen Faktor bei der beschriebenen Erschließung neuer Deutungen seitens akademischer Kunstbewertung dar. Mit Etablierung und Verbreitung des Projekts „Modernes Regietheater“ gewinnen vorher bis zur schieren Langeweile wiederholte Klassiker ein neues Bühnen-Gesicht. Mit den Reformen Wagners, Craigs oder Reinhardts werden Theaterformen (wieder-) geboren, die neue, von Werktreue-Stereotypen unabhängige Zugänge zu ihrem Gegenstand suchen. So wird auch der Faust-Stoff neu belebt und mit ihm die gesamte klassische Literatur. Die sich im Zuge des Aufstiegs des Regietheaters von der Germanistik ableitende Theaterwissenschaft erkennt die neuen Möglichkeiten, die sich der Forschung im Angesicht des Neuen Theaters eröffnen. Die junge, sich zunächst noch ordnende, akademische Disziplin focussiert bald auf die Betrachtung künstlerischer Drameninterpretationen an den (Regie-) Theatern. Man erkennt die Aufführungsanalyse als wichtigstes hermeneutisches Werkzeug. Primäres Ziel der neuen Wissenschaft ist es, das Theater als autonome Kunstform zu untersuchen und damit auch dazu beizutragen, es als solche zu etablieren; man leistet aber gleichzeitig, quasi nebenbei, unersetzliche Dramenforschung an den Originaltexten. Indem man „die Sprache der Aufführung in Teilen (re-)konstruier[t], um das szenisch Gesagte verstehen zu können“[12], praktiziert man darüber hinaus konkret gegenwartsbezogene, historisch unmittelbare Neuerschließung (klassischer) Literatur. Diese zusätzliche und erhebliche Leistung des Fachs wird selten gewürdigt. Ohne Zweifel stößt die Theaterwissenschaft im Lauf ihres Werdegangs zunehmend auf Inszenierungen, die ihre Dramenvorlage allenfalls noch als grobe Inspiration für eine weitgehend selbstentwickelte Neubearbeitung des Stoffes verwenden. Im postdramatischen Theater wird jenseits des Dramas inszeniert.[13] Aber insbesondere durch Analysen dieser scheinbar nicht am Originaltext interessierten Bearbeitungen, lassen sich Informationen über den gegenwärtigen Stand des Primärwerkes ablesen.

 

„Das Theater hat unendlich viel mehr Möglichkeiten als die philologische Interpretation, die Dimension eines Stückes sichtbar zu machen.“[14]

 

Das Drama Faust ist ein Kunstwerk, das sich seit seiner Niederschrift stetig weiterentwickelt hat. Vollendet worden ist und wird es niemals sein. Schon der Autor, der am Projekt Faust sein gesamtes Leben laborierte, nach langen Pausen immer wieder zur Dichtung zurückkehrte, vermochte es nicht, mit dem Stoff endgültig abzuschließen. Im höchstem Alter beendete Goethe der Tragödie zweiten Teil, versiegelte das Manuskript, nur um es kurz darauf wieder hervorzuholen und nachzubessern. Das Werk ließ ihm keine Ruhe. Goethe schien instinktiv zu fühlen, daß sein Faust mehr in sich trägt, als selbst er, sein eigener Schöpfer, je ermessen könnte. Das Werk weiß mehr als sein Autor. Schon zu Goethes Lebzeiten erfährt es zahlreiche Wandlungen.

 

„Die vielfach gebrochene Entstehungsgeschichte bestimmt den Charakter und die Struktur des Werks.“[15]

 

„Der Faust aber ist weder nach Inhalt noch nach Form das Erzeugnis eines einzelnen bestimmten Lebensalters und einer in diesem Lebensalter für endgültig erkanten Kunstanschauung. Deshalb gibt es für diese Dichtung keinen verbindlichen Maßstab, sie ist ´inkommensurabel´“[16]

 

Und so wie bereits Goethe seine Schöpfung in ihrer überwältigenden Vielfalt als „inkommensurabel“ erfuhr und bezeichnete, so nimmt das Theater heute noch die Weiterverarbeitung der Dichtung auf. Der von Goethe genial verdichtete Faust-Stoff wird im Theater Inszenierung für Inszenierung weiterentwickelt, weitergespielt, weitergeträumt. Gleich einer nie versiegenden Quelle liefern die Bühnen neue Ideen zu Stücken wie Faust die ansonsten, als Klassiker etikettiert, verstaubten. Die Theaterwissenschaft vermag indes, in der Analyse dieser neuen Ideen, bisher unbekannte Blickrichtungen auf scheinbar längst Bekanntes zu werfen. Die Aufführungsanalyse behandelt also mehr als ihren eigentlichen Gegenstand, die Aufführung. Sie trägt dazu bei, neue Deutungsansätze des Theaters wissenschaftlich nutzbar zu machen, und das wohlgemerkt, auch für die klassische Dramenforschung. Es ist mir wichtig, auf diesen Sachverhalt hinzuweisen, da für gewöhnlich der umgekehrte Weg gegangen wird, d.h. vom Drama zur Aufführung: Man analysiert eine Aufführung unter Berücksichtigung ihrer dramatischen Vorlage. Auch das war nicht immer selbstverständlich. Guido Hiß plädierte 1993 für dieses Verfahren und nannte es Transformationsanalyse.

 

„Das heißt gerade nicht, das Theater auf Drama reduziert wird. Transformationsanalyse respektiert allerdings dramatisch-sprachliche Elemente als überaus wichtigen Bestandteil der Aufführung und nimmt sie als Fokus für die Korrespondenzuntersuchung.“ [17]

 

Jeder Aufführung des Faust, um im Beispiel zu bleiben, liegt ein Drama zu Grunde, das seit Jahrhunderten in einem komplexen sozial-historischen Prozeß der Kunstentwicklung und Betrachtung steht. Eine völlige Nichtbeachtung des dramatischen Elements, erscheint einer entsprechenden Aufführungsanalyse durchaus abträglich. Auch wenn im Einzelfall die schiere Masse der Faust-Bezüge unmöglich erschöpfend nachgewiesen werden kann, so bezieht sich doch jede Faust-Inszenierung in irgendeiner Form auf die Goethe-Dichtung. Zumindest die Eigenarten dieses Bezugs, die Deutung des Originalwerks durch die Aufführung, sollte Aufführungsanalyse, insbesondere im Falle der Inszenierung klassischer Texte, beleuchten. Darum will sich auch die vorliegende Arbeit bemühen. Die Beziehung Drama-Aufführung wirkt dabei durchaus in zweierlei Richtung. Wie der dramatische Text einer Aufführung als sprachliche Vorlage dient, macht eine Aufführung ebenso eine Aussage über den gegenwärtigen Stand ihres Primärtextes. Eine Analyse sollte auch das reflektieren. Theater und Drama beeinflussen sich wechselwirkend gegenseitig. Wissenschaftliche Aufführungsanalyse kann vermittelnd zwischen beiden stehen und ihrerseits zur Hinterfragung, bzw. Vermeidung klassischer Klischees und stereotyper Interpretationen beitragen.[18]

 

Theateruntauglichkeit ?

 

Interessanterweise galt gerade Goethes „Dramenungetüm“ Faust, das heute längst als (Bühnen-)Klassiker gehandelt wird, lange Zeit als theateruntauglich. So erfolgt die Erstaufführung des Faust I, geleitet von Goethes Sekretär Johann Peter Eckermann, erst im Jahre 1829 in Braunschweig, mehr als zwei Jahrzehnte nachdem Goethe das Manuskript im Jahre 1806 abgeschlossen hat. Noch schwerer tut man sich, den als schwierig geltenden zweiten Teil auf die Bühne zu bringen; beide Teile zusammen sind erst 1875/76, 44 Jahre nach Goethes Tod, in Weimar zu sehen. Doch hat der Autor wohl selbst „von Haus aus gar nicht an eine Aufführung auf der Bühne gedacht“.[19] Zum Lesen oder Vorlesen taugt ihm das Drama wohl, jedoch für die Bühne „steht es gar zu weit von theatralischer Vorstellung ab“.[20] Goethes Einwände gegen Faust auf der Bühne sind nicht etwa dramaturgischer, sondern eigentlich rein praktischer Natur. Eine wortgenaue Darstellung des Stückes erfordert auch heute noch allerlei bühnentechnische Raffinessen.[21]

 

„Drum Schonet mir an diesem Tag

 

 Prospekte nicht und nicht Maschinen.“ (V 233f.)

 

Das Wort des Direktors aus dem Vorspiel auf dem Theater kann die bühnentechnischen Erforderungen des Werkes in selbstreflexiver Vorausschau beschildern. Zahlreiche szenische Wechsel erfordern komplizierte Umbauten; das Erscheinen des Erdgeistes, die Hexenküche, die Walpurgisnacht, vor allem aber die Massenszenen im zweiten Teil, die Mummenschanz im Weitläufige[n] Saal, die Klassische Walpurgisnacht (insbesondere die Felsbuchten-Szene), schließlich die abschließende Bergschluchten-Szene verlangen einen erheblichen technischen Aufwand. „Es würde ein sehr großes Theater erfordern“[22], stellt der erfahrene Theatermann Johann Wolfgang Goethe fest. Und trotzdem – der Faust ist ein lupenreines Bühnenstück. Sind die technischen Schwierigkeiten einmal in Angriff genommen, erweist sich das Drama durchaus als theatertauglich, sogar als äußerst publikumswirksam. Nach seiner begeistert aufgenommenen Uraufführung tritt das Stück einen Siegeszug an, der seinesgleichen sucht. Sein Ruhm verbreitet sich, wie der seines Verfassers, um die ganze Welt. Wird es nach seinem Erscheinen zunächst nur sporadisch aufgeführt, gehört es 100 Jahre später bereits zum Spielplan eines jeden großen Hauses im deutschsprachigen Raum. Heute ist es eines der meistgespielten Stücke der Dramengeschichte des Sprechtheaters, ein Klassiker, wie Goethe selbst. Faust ist ein großer Theaterstoff, das Stück führt, hochgradig selbstreflexiv, eine Vielzahl von Theatermitteln vor, zeigt Theater im Theater und das in mannigfaltigster Ausprägung:

 

„Seine [Goethes] Faustdichtung erinnert an das Puppentheater wie an die Wanderbühne, zitiert mit dem Prolog im Himmel die großen christlichen Mysterienspiele und holt in die Nacht-Szene das mittelalterliche Osterspiel hinein, stellt in den Margareten-Szenen des ersten Teils ein neuzeitlich Bürgerliches Trauerspiel vor und bildet im Helena-Akt des zweiten Teils die antike Tragödie nach, nimmt das dionysische Satyrspiel in sich auf, die Zauberposse, das Rüpel- und Stegreifspiel oder die Moralität, ebenso die Textsorten der Revue, der Maskerade, des Umzugspiels oder des höfischen und des kultischen Festes.“[23]

 

Vom eindringlichen Monolog bis zur turbulenten Massenszene, „der Faust ist ein mit `vollkommener Bretterkenntnis´ verfasste[s] Bühnenspiel.“[24] Darüber hinaus bleibt das durchaus effektvolle Theaterstück Faust bleibt ein komplexes dichterisches Meisterwerk, es transportiert seine Inhalte gleichsam mit und durch die Prospekte und Maschinen:

 

„Wenn es nur so ist, daß die Menge der Zuschauer Freude an der Erscheinung hat; dem

 

Eingeweihten wird zugleich der höhere Sinn nicht entgehen[...].“[25]

 

Die „Eingeweihten“ rätseln heute noch. Im Verlauf seiner Wirkungsgeschichte bleibt der Faust stets beides zugleich: Publikumsmagnet auf dem Theater und aktueller wissenschaftlicher Gegenstand an den Universitäten.

 

Zur Aufführungsgeschichte

 

Bernd Mahl hat die Aufführungsgeschichte des Faust chronologisch archiviert.[26] Werfen wir mit ihm einen kurzen Blick auf die Historie der Darstellungen des Dramas auf dem Theater. Als erster bemüht sich Goethes Freund Eckermann um eine (Ur-) Aufführung des Werkes (S.o.). Die erste Aufführung beider Teile zusammen initiiert Otto Devrient 1876 am Weimarer Hoftheater als Bühnenfestspiel; „wesentliche[r] Makel: ein starre[r], dreigliedrige[r] Bühnenbau“[27], nachempfunden einer mittelalterlichen Mysterienbühne, auf welcher die Vielschichtigkeit der Goetheschen Vorlage nur unzureichend umgesetzt werden kann.[28] Auch Richard Wagner fordert, Faust müsse aus dem alltäglichen Theaterbetrieb gelöst, als Festspiel, gegeben werden. Er weist gleichzeitig aber darauf hin, daß das Stück „eine Dramaturgie aufweist, die dem alten Kulissentheater elementar widerspricht.“[29] Erst im 20. Jahrhundert, mit Etablierung des neuen Regietheaters, nähert man sich einer Lösung der Bühnenanforderungen des Werks. Max Reinhardt bearbeitet das Raumproblem ebenso elegant wie technisch anspruchsvoll: In seiner denkwürdigen Inszenierung von 1909 am Deutschen Theater Berlin nutzt Reinhardt die Möglichkeiten der wiederentdeckten Drehbühne[30]; 1933 läßt er gar eine ganze, simultan bespielbare Faust-Stadt in die Salzburger Felsenreiterschule hineinbauen.[31] Die Inszenierung, „ein Höhepunkt in Reinhardts Schaffen“[32], kann allerdings nur einen Sommer gegeben werden, da Reinhardt im selben Jahr ins Exil nach den USA fliehen muß. Die nationalsozialistische Gleichschaltung Deutschlands erfaßt das Theater und so muß Mahls Chronik in den folgenden Jahren der NS-Diktatur vorwiegend ideologisierte Bearbeitungen des Faust-Stoff verzeichnen. Karl Wüstenhagen zeigt beispielsweise im Kriegsjahr 1940 am Staatsschauspielhaus Hamburg, ganz im Sinne der Goebbelschen Kriegspropaganda, einen Faust als siegreichen Eroberer.[33] Nach dem Weltkrieg bearbeitet auch Bertolt Brecht den Faust politisch, allerdings läßt er 1953 in (Ost-) Berlin einen kapitalistisch-egoistischen (Ur-)Faust als episches Lehrstück vorführen.[34] Gustaf Gründgens liefert 1957/58 in Hamburg eine abstrahierte, zeitkritische Variante des Dramas, „moderne Regie“, die in Gastspielen auf der ganzen Welt umjubelt wird.[35] Man wagt sich zunehmend an neue Bühnenformen: Klaus Michael Grüber verlegt 1975 den Faust- Stoff in Faust Salpêtrière in 6 Räume einer Pariser Krankenhauskapelle, welche die Zuschauer nacheinander durchwandern.[36] Claus Peymann veranstaltet 1977 in Stuttgart ein fulminantes Faust-„Weltspiel“ auf der „variationsreichsten ´Bühne´, die je für ein Faust-Spiel konzipiert worden ist“.[37] Aber nicht nur die Raumfindung zur Goetheschen Vorlage inspiriert zu immer neuen Ideen, auch die dramaturgische Interpretation der Figurenkonstellation des Dramas erweist sich als kraftvolles, theatralisches Gestaltungselement. So kann der Zuschauer bei Engel 1990 in Dresden erleben, wie Faust und Mephisto gleich mehrmals die Rollen tauschen; eine politische Inszenierung, die gleichzeitig das Staatstheater der DDR verabschiedet und den Weg freimacht für weitere Experimentierungen mit Faust.[38] Bei Schleef wird Faust im gleichen Jahr in Frankfurt gleich von 11, Gretchen von 12 Schauspielern/innen dargestellt[39], Marthaler läßt in seiner „triumphale[n] Wurzelzieherei“ 1993 am Hamburger Schauspielhaus 13 Mephistopheli und noch immerhin 4 Gretchen auftreten.[40] Zur Bühnenrealisierung des zweiten Teils des Faust, oder gar beider Teile zusammen, bleibt das größte Problem aber ein rein praktisches: der schiere Umfang des Textes. Bereits Eckermann versuchte, dafür eine Lösung zu finden; sein Vorschlag: den Faust II als Trilogie zu behandeln und an drei aufeinanderfolgenden Tagen zu geben.[41] Gründgens ließ 1957/58 in Hamburg etwa 50 % des ersten und 70 % des zweiten Teils streichen, um sie dann an zwei Abenden auf die Bühne bringen zu können, ebenso verfuhr Peymann in Stuttgart (1975). Reinhardts Version des Faust II dauerte 1911 in Berlin nach etlichen Kürzungen immer noch volle 8 Stunden. Engel ließ 1990 in Dresden das verkürzte Gesamtwerk an drei aufeinanderfolgenden Abenden geben. Auf der EXPO 2000 in Hannover wagte Peter Stein schließlich als erster, beide Teile des Stücks vollkommen ungekürzt aufzuführen, heraus kam ein 21 Stunden langer „Faust-Marathon“.[42]

 

Nach zahlreichen Bearbeitungen ist die „extrem starke dramatische Kraft“[43] des Textes bis heute ungebrochen, sie wird im Grunde erst „seit den 70er Jahren unseres [des 20.] Jahrhunderts in ihrer ganzen Vielfalt erschlossen“.[44] Das ewig unvollendete Meisterwerk ist auch weiterhin auf Entwicklung ausgelegt und angewiesen. Bereits der Autor scheint „bezüglich der theatralen Deutung des Faust auf Generationen in der fernen Zukunft“[45] zu vertrauen. Auf den deutschen Bühnen hat diese Zukunft längst begonnen.

 

Neue Ansätze