Grünblatt & Silberbart - Tom Flambard - E-Book

Grünblatt & Silberbart E-Book

Tom Flambard

0,0

Beschreibung

An einem windschiefen Häuschen in der uralten Metropole Brae Flammar hängt ein noch schieferes Schild: Grünblatt & Silberbart. Ermittlungen aller Art. Keine Ehestreitigkeiten. Keine Verlies-Erkundungen. Keine Drachen. Wer in der Stadt der Türme ein heikles Problem lösen muss, der engagiert das vielleicht skurrilste Ermittlerduo weit und breit: den stark übergewichtigen, humorresistenten Zwerg Colin Silberbart und seinen deutlich leichtfüßigeren und ziemlich nichtsnutzigen elbischen Kompagnon Flynn Grünblatt. Gemeinsam spüren die beiden vermisste Personen auf, befreien unglückliche Abenteurer von magischen Flüchen oder beschaffen verschwundene Gegenstände wieder. Sie übernehmen jeden Auftrag – vorausgesetzt, es geht nicht um Drachen oder unterirdische Verliese. Das vorliegende Buch umfasst alle drei bisher erschienenen Teile der in der Hafenstadt Brae Flammar angesiedelten Fantasy-Serie.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 252

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



TOM FLAMBARD

GRÜNBLATT &SILBERBART

Inhalt

1 GRÜNBLATT & SILBERBART WIE HUND UND KATZE

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

2 GRÜNBLATT & SILBERBART DIE RACHE DER SEE

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

3 GRÜNBLATT & SILBERBART DER TOD HAT ZEIT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1

GRÜNBLATT &SILBERBART

WIE HUND UND KATZE

1

Am Rande des Wazaars blieb Colin Silberbart stehen und strich sich mit der rechten Hand über das gut gefüllte Gardistenwams. Es versprach ein weiterer ausgezeichneter Tag in der besten Stadt der Welt zu werden. Mit der Linken beschirmte Colin seine Augen, um die Sonne abzuhalten, die bereits über den Dächern und Türmen hervorlugte. Gerade erst hatte der Trompeter vom Prinzenturm die zweite Stunde verkündet, aber das Markttreiben war schon in vollem Gange. Colin Silberbart schlenderte scheinbar ziellos zwischen den Ständen hindurch. Dabei war sein mäandernder Weg über den Wazaar keineswegs zufällig gewählt.

Die ganze Woche war er für die Wazaarschicht eingeteilt und somit dafür verantwortlich, dass auf Brae Flammars größtem Marktplatz alles mit rechten Dingen zuging. Er musste sicherstellen, dass keine Fuhrwerke einen der sieben Zugänge zum Waz, wie die Einheimischen den Markt nannten, blockierten. Es galt Sorge zu tragen, dass Bettelei und Gaukelei nicht überhandnahmen. Ferner oblag es ihm, Diebstähle an den Ständen zu unterbinden und den Taschendieben zu signalisieren, dass sie es nicht zu toll treiben sollten. Gegen letztere wäre Colin gerne beherzter vorgegangen, aber das war ihm untersagt worden, mehrfach bereits. Die Prächtigen Garden und das Kartell der Fünf Familien hatten sich für diese und andere Delikte auf gewisse Quoten geeinigt. Diese erlaubten es beiden Seiten, ihr Gesicht zu wahren. Weder konnte der Hohe Rat Sheriff Eamon Eiswasser vorwerfen, seine Truppe tue zu wenig für die öffentliche Sicherheit, noch mussten die Fünf Familien Revolten in ihren eigenen Reihen befürchten, weil das Einkommen ihrer Beutelschneider zu kärglich ausfiel.

Colins Rundgang war zwar dienstlicher Natur, jedoch durchaus auch darauf ausgelegt zu klären, was der Offizier der Stadtwache zu Mittag essen würde. Sein zwergischer Magen knurrte bereits, wenn er nur daran dachte. An einem der Stände waren mehrere Männer dabei, über einem großen Feuer einen Ochsen in Position zu bringen und mit einer rötlichen Paste aus zu Brei zerstoßenen Feuerpflaumen zu bestreichen. Heute Mittag würde das Fleisch fantastisch schmecken, zart und aromatisch. Als nächstes begutachte Colin einen Chu-Stand, an dem mandeläugige Männer mit dünnen Zöpfen und noch dünneren Spitzbärten in großen Pfannen Nudeln und Gemüse wendeten. Der Gardist überlegte, ob er bereits eine kleine Portion zu sich nehmen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. Eiernudeln waren eindeutig ein Mittagsgericht. Die Frühstückszeit verlangte nach etwas Süßem.

Bei Alvars Spezereien ließ Colin sich Süße Dublonen geben. Das waren Pfannkuchen nach liwarischer Art, handtellergroß, fingerdick und mit Honigkaramell gefüllt. Nachdem er die klebrigen Taler in Empfang genommen hatte, griff er betont langsam nach seinem Geldbeutel, um zu signalisieren, dass er für die Küchlein selbstverständlich bezahlen wolle. Der Standbesitzer setzte eine Miene des Entsetzens auf und schüttelte energisch den Kopf. Es war ein Schauspiel, das sich an diesem Tag noch mehrfach wiederholen würde – und zwar jedes Mal, wenn Colin sich an einem der Stände bediente. Gardisten aßen umsonst, aber wie fast alles in Brae Flammar war auch dieser allseits bekannte und akzeptierte Umstand kein Grund, den Vorgang als Selbstverständlichkeit zu behandeln. Es galt, die Formen zu wahren, und so setzte Colin einen Ausdruck erfreuten Erstaunens auf, so als ob ihm das erste Mal in seinem Leben ein Marketender etwas schenke. Er verneigte sich leicht und trottete davon.

Im Laufen biss er in den ersten Pfannkuchen. Honigkaramell tropfte in seinen buschigen Bart. Mit einem Seufzer des Behagens ließ er sich auf einer von Kastanien beschatteten Steinbank in der Mitte des Platzes nieder und aß. Als er gerade die letzte Dublone in Angriff nehmen wollte, fiel ihm eine junge Frau auf, die mit seltsam angewinkelten Armen an einem pyronischen Seidenhändler vorbeiging. Ihre Linke hielt sie flach ausgestreckt in Hüfthöhe, mit der Handfläche nach oben. Darüber schwebte ihre Rechte, deren Daumen abgespreizt war. »Flug der Elster« nannten die Gildendiebe diese Technik. Colin sah, wie die winzige, unter dem Daumen der Frau befestigte Klinge den Lederriemen des Geldbeutels durchtrennte. Das Säckchen des Seidenhändlers fiel und landete lautlos in der unteren Hand der Taschendiebin. Der Pyronier hatte nichts bemerkt. Dann verschwand die Frau in der Menge.

Colin Silberbart machte sich eine geistige Notiz. Spätestens beim achten Taschendiebstahl würde er einschreiten. Er biss in seine letzte Dublone und seufzte. Gab es etwas Besseres als liwarischen Honigkaramell? Es versprach, ein wirklich ausgezeichneter Tag zu werden.

2

Als Flynn Grünblatt den Kerl durch die Tür der Schenke treten sah, hatte er noch ein wenig Hoffnung. Zwar wies seine indigofarbene Schärpe den Neuankömmling als Blauen Kurier aus. Aber obwohl der Schwarze Wal zu dieser frühen Stunde noch ziemlich leer war, erschien es keineswegs als ausgemacht, dass der Läufer zu ihm wollte. In der Kaminecke beispielsweise saßen zwei Menschen, deren pelzbesetzte grüne Umhänge sie als orthische Kaufleute auswiesen, vermutlich auf der Durchreise. Vielleicht war der Bote ihretwegen hier. Möglicherweise wollte er auch zu jenem fülligen Chu in der Robe eines Seidenhändler, der mit verschiedenen, in der seltsamen Chu-Schrift abgefassten Dokumenten an einem Tisch vor der Theke saß.

Blaue Kuriere überbrachten ausschließlich geschäftliche Dokumente – Kaufverträge, Wechsel oder Rechnungen. Damit alles seine Richtigkeit hatte, lieferten sie nach erfolgter Zustellung außerdem eine Kopie in die Halle der Schriften. Aus dem Augenwinkel beobachtete Flynn Grünblatt den Boten. Der Blaue, ein hagerer Mensch um die Dreißig, würdigte den Seidenhändlers und die Orther keines Blickes. Stattdessen kam er direkt auf ihn zu. Der Elb erhob sich, den Blick in die Ferne gerichtet, als habe er die Ankunft des Kuriers noch gar nicht bemerkt. Aber es war bereits zu spät. Bevor er durch den Hinterausgang entwischen konnte, vernahm er die durchdringende Stimme des Mannes.

»Flynn Grünblatt! Zustellung der Kuriergilde.«

Über die Schulter schaute er dem Mann ins Gesicht und sagte mit einem Ausdruck gespielten Bedauerns: »Leider bin ich gerade etwas in Eile.«

Dann machte er einen Satz. Schon war er durch die Hintertür. Flynn rannte durch den schmutzübersäten Hinterhof in Richtung Krabbengasse. Noch hatte er eine Chance. Auch wenn der Blaue Kurier die Zustellung bereits annonciert hatte, war sie rein formell betrachtet noch nicht erfolgt. Er kannte die komplexen Regeln, auf denen das flammarische Handelssystem fußte, mindestens so gut wie das Straßengewirr der Stadt. Schließlich war es Teil seines Jobs, eben diese Regeln zu unterlaufen und zu umgehen.

Flynn erreichte die schmale Krabbengasse und schlug einen Haken nach links. Er vermied es, sich umzusehen. Die Regeln des Codex besagten, dass eine Forderung, und um nichts anderes handelte es sich bei dem Schrieb, den der Blaue Kurier ihm übergeben wollte, nur auf drei Arten zugestellt werden konnte: erstens in einen Briefkasten. Flynn besaß natürlich keinen, er wechselte seine Bleibe alle paar Wochen. Der Schwarze Wal, in dem er den Großteil seiner Zeit verbrachte, war de facto sein Büro. Kurierzustellungen an der Theke einer Taverne zu hinterlegen war jedoch nach Meinung fast aller flammarischen Rechtsgelehrten unzulässig. Trotzdem versuchten seine zahlreichen Gläubiger dies immer wieder. Aber das Schiedsgericht in der Kaufmannsfeste hatte all diese angeblichen Zustellungen für ungültig erklärt, und Flynn hatte nicht zahlen müssen.

Die zweite Möglichkeit bestand darin, dem Schuldner den Inhalt des Schreibens vorzulesen. Das hätte der Blaue Kurier getan, wäre Flynn auf seinem Platz neben dem Hinterausgang sitzen geblieben. Die dritte Möglichkeit: Man konnte dem Adressaten das Schreiben übergeben. Auch daraus würde, wenn es nach Flynn ging, nichts werden. Der Elb rannte im Zickzack durch die Gasse, um den ihm entgegenkommenden Passanten auszuweichen. Natürlich nahm kein Schuldner das Schreiben eines Gläubigers freiwillig entgegen. Wenn man sich lange genug versteckte, das wusste jeder Flammari, dann konnte einem niemand etwas.

Falls ein Blauer Kurier sein Opfer dennoch aufstöberte, und darin waren diese Halunken wahre Meister, stellte sich natürlich die Frage, was »übergeben« eigentlich bedeutete. im Vorjahr, als sechs verschiedene Gläubiger über Wochen gleichzeitig versucht hatten, ihre Außenstände bei ihm einzutreiben, hatte Flynn sich sehr eingehend mit dieser Frage beschäftigt. Gegen eine exorbitante Gebühr war ein Priester des Baar bereit gewesen, ihm eine diesbezügliche Auslegung des Codex anzufertigen. Demnach konnte man die Hände in die Hosentaschen stecken und auf seine Schuhspitzen schauen, damit einem der Kurier das Schriftstück nicht übergeben konnte. Auch konnte man Kleidung tragen, die keinerlei Taschen besaß, in die der Bote die fingerlange Schriftrolle mit dem indigofarbenen Wachssiegel stecken konnte. Wie ihm der Baar-Priester auseinandergesetzt hatte, waren jedoch bereits andere Schuldner vor Flynn auf diese Ideen gekommen. Das Hohe Schiedsgericht hatte deshalb vor Jahren folgenden Schiedsspruch erlassen: Für eine Zustellung genüge es, dass der Kurier den Adressaten mit dem Schriftstück berühre. Was bedeutete, dass Flynn mit diesem Blauen »Fang den Kobold« würde spielen müssen.

Die Krabbengasse öffnete sich auf den Schollenplatz, einen rechteckigen, gepflasterten Bereich. Er wurde von einem Geschlechterturm dominiert, einem jener hohen schmalen Bauwerke also, die für Brae Flammar so typisch waren. Kurz überlegte Flynn, in Richtung Tempelviertel zu laufen, entschloss sich dann jedoch, lieber nach rechts in die Glutgasse einzubiegen, um möglichst rasch die Drehende Dirne zu erreichen, Brae Flammars Vergnügungsviertel. In dessen verwinkelten Gassen hatte er bislang noch jeden Verfolger abschütteln können.

Im Laufen wandte er sich um. Der Blaue war nun etwa zwanzig Schritte hinter ihm. Flynn rannte weiter, vorbei an mehreren jener Schmieden, denen die Glutgasse ihren Namen verdankte. Am Olmplatz bog er nach links ab, in eine breite Straße namens Pappeldamm. Er war noch nicht einmal zehn Schritte weit gekommen, als er vor sich jemanden rufen hörte.

»Flynn Grünblatt! Zustellung der Kuriergilde.«

Der zweite Blaue Kurier war ein Mann mit der spitzen Nase und den hohen Wangenknochen eines Elben. Allerdings besaß er das Kreuz und die Arme einer Hafenhand, was Flynn auf Halbelb tippen ließ. Er stand etwa dreißig Schritte von ihm entfernt auf der breiten, von Pappeln gesäumten Straße, die Hände in die Hüften gestemmt.

Irgendjemand wollte ihm diesen Schrieb sehr dringend zustellen, soviel war sicher. Flynn überlegte fieberhaft, wer das sein mochte. Gleichzeitig hielt er nach Fluchtwegen Ausschau. Vor und hinter ihm war die Straße durch die beiden Kuriere versperrt. Anders als der schnell aufholende Mann in seinem Rücken verstand der Junge vor ihm offenbar wenig vom Geschäft. Wäre er cleverer gewesen, hätte er ihn nicht aus dieser Entfernung ausgerufen, sondern sich am Rande der Straße hinter einem Baum auf die Lauer gelegt und Flynn die Schriftrolle, sobald er an ihm vorbeilief, über den Schädel gezogen.

Dafür war er jedoch zu weit von ihm entfernt. Außerdem lag der Eingang zu einer schmalen Gasse zwischen ihnen. Im rechten Winkel ging sie von der Straße ab. Die Gasse war kaum breiter als die Schultern eines Mannes und verlief zwischen Pappeldamm und Salzmeile. Sobald er letztere erreichte, böten sich ihm viele Fluchtmöglichkeiten, und er wäre die beiden vermutlich los.

Flynn lief auf den namenlosen Stichweg zu. Er betete zu den Sieben Hohen, dass ihm niemand entgegenkam. Zunächst sah es so aus, als hätten die elbischen Götter sein Flehen erhört, denn die Gasse lag verlassen da. Kurz bevor er ihr von der Sonne hell erleuchtetes Ende erreichte, schob sich jedoch jemand in den schmalen Spalt. Er schluckte. Weil die Sonne ihn blendete, konnte Flynn nur die Umrisse der Person erkennen. Sie war klein, aber massig. Vermutlich handelte es sich um einen Zwerg.

Der Knoten, der sich in Flynns Hals gebildet hatte, löste sich wieder. Zwerge arbeiteten gemeinhin nicht als Kuriere, denn sie waren schlechte Läufer. Zu kurze Haxen und zu schwere Knochen, Flynn hätte diesen Kerl auf einem Bein hüpfend abhängen könnten. So hielt er einfach weiter auf den Zwerg zu und brüllte: »Die Straße frei!«

Der andere rührte sich nicht. Wie eine Mauer stand er da. Flynn hatte genau das erwartet. Zwerge waren entsetzlich berechenbar. Er bewegte sich so nah wie möglich an die linke Wand der Gasse heran. Das war notwendig, damit er den Trick ausführen konnte, der ihn an diesem tumben Kerl vorbeibefördern würde. Durch Flynns neue Position änderte sich der Winkel, in dem die Sonnenstrahlen auf ihn fielen, und er konnte etwas mehr von Gesicht und Kleidung seines Widersachers erkennen. Der Zwerg war in ein Kettenhemd gehüllt, das zur Hälfte von einer indigofarbenen Schärpe verdeckt wurde. Er war also doch ein Kurier. Über die linke Schulter hatte der Zwerg eine Armbrust geschlungen.

Flynn atmete tief durch. Wie die meisten Stadtzwerge vergessen hatten, wie man dem Gesang von Granit und Erz lauschte, so hatte es das Gros der Elben verlernt, sich zu bewegen wie ihre Vorfahren. Um vor aller Augen im Blattwerk zu verschwinden oder um über Bäume zu laufen, benötigte man viel Übung und vor allem Bäume. Die Stadt mit ihren Gassen, Häusern und Kanälen schärfte die Sinne nicht, im Gegenteil. Sie ließ die Fähigkeiten der Ersten Völker abstumpfen, seit Generationen, bis sie kaum noch etwas anderes waren als Menschen.

Flynn aber erinnerte sich. Vor seiner Ankunft in Brae Flammar hatte er viele Jahre als Kundschafter für die Seidenkarawanen gearbeitet. Er war durch die Grassee von Cheng gelaufen, tagelang und ohne Pause. Er hatte den She-Shao durchstreift, wie die Chu den sich endlos erstreckenden Smaragdwald nennen, schneller, als selbst ein Wolf es vermocht hätte, ohne je mit den Füßen den bemoosten Boden zu berühren. In Flynn steckte, wie dieser verstädterte Gartenzwerg gleich herausfinden würde, mehr Elb als in den meisten anderen seiner Rasse.

Ohne abzubremsen rannte er auf den Kurier zu, der ihm nun Auge in Auge gegenüberstand, die kurzen, säulenartigen Beine in den Boden gestemmt, die großen starken Hände in Hüfthöhe, bereit zuzupacken.

Doch es gab nichts, nach dem der Zwerg hätte greifen können. Ungläubig reckte der Kurier seinen Hals, als Flynn mit ausgestreckten Armen einige Meter vor ihm absprang und, nachdem er einige Schritte die Wand emporgelaufen war, hoch über ihn hinwegflog. Der Zwerg sah, wie der Elb über die Salzmeile hinwegsegelte. Er war derart hoch in der Luft, dass man sich fragte, wie er unbeschadet landen wollte.

Mit einem lauten Klatschen tauchte Flynn Grünblatt in den hinter der Salzmeile gelegenen Kanal ein. Als er wieder hochkam, spuckte er zunächst etwas Brackwasser aus, um dann rasch zur gegenüberliegenden Kanalmauer zu schwimmen, an der eine schmale, rostige Leiter befestigt war. Er kletterte hinauf. Oben angekommen, gestattete er sich einen Blick zurück. Die nächste Brücke war mindestens zweihundert Schritte entfernt. Vor dem Zwerg mit seinen kurzen Beinen und auch vor den beiden anderen Kurieren musste er keine Angst mehr haben.

Er sah, dass ihn mehrere Passanten ungläubig anstarrten. Der Elb musste lachen. Es brauchte schon etwas mehr als solche Tölpel, um Flynn Grünblatt aufs Kreuz zulegen, den besten Elbenkundschafter der Golfregion. Er strich sich das Wasser aus den Augen und schaute zur anderen Seite des Kanals, wo der Blaue Kurier stand. Der Zwerg machte keine Anstalten, sich in Richtung der Brücke zu bewegen. Allerdings hielt er etwas in der Hand.

Es war die Armbrust.

Flynn Grünblatt vernahm das charakteristische »Tschakk«, dann spürte er auch schon, wie ihn der Bolzen traf. Es war ein hervorragender Schuss, genau in die Brust. Der Elb fühlte, wie er taumelte. Er hörte ein weiteres »Tschakk«.

Ein zweiter Bolzen so schnell nach dem ersten? Keiner kann so schnell nachladen, dachte er, während sich die Welt um ihn herum zu drehen begann. Eine Doppelarmbrust aus Chu? Oder Magie? Der Elb spürte einen stechenden Schmerz an der rechten Schläfe. Alles um ihn herum wurde schwarz.

Als Flynn wieder zu sich kam, lag er auf dem Pflaster. Es wunderte ihn, dass er überhaupt wieder aufgewacht war. Zwei gut gezielte Armbrustbolzen hätten ihn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erledigen müssen. Er versuchte, sich aufzusetzen. Seine Schläfe pochte, sein Brustbein schmerzte, ansonsten schien ihm jedoch nichts zu fehlen. Mit zitternden Händen befingerte Flynn die Stelle an seinem Oberkörper, wo der Bolzen eingedrungen sein musste. Doch er fand keine Wunde, keinen Bolzen, nicht einmal ein Loch in seinem Lederhemd.

Er setzte sich auf und schaute sich um. Auf dem Pflaster neben ihm lagen zwei Armbrustbolzen, um die etwas herumgewickelt war. Er griff nach einem und betrachtete ihn. Die Spitze war entfernt und durch eine kleine metallene Kugel ersetzt worden, in etwa so groß wie eine Hirschnuss. Um den Schaft hatte man ein Stück Pergament gewickelt, das von einem indigofarbenen Wachssiegel zusammengehalten wurde.

Flynn seufzte. Die Übergabe war erfolgt. Er schaute hinüber zur anderen Seite des Kanals, von der aus ihn der zwergische Kurier beobachtete und ihm zunickte. Sein Gesicht verriet keinerlei Groll, nicht einmal Häme. Vermutlich machte er das nicht zu ersten Mal.

»Eine gute Masche!«, rief Flynn zu ihm hinüber.

»Danke«, erwiderte der Zwerg.

»Aber ist das zulässig? Eure Hand umfasste den Schrieb nicht, als er mich berührte.«

Der Blaue schüttelte den Kopf. »Ausschlaggebend ist, dass er Euch berührt. Wenn Ihr das nicht glaubt, dann geht in die Handelsfeste und lasst Euch in den Annalen des Codex die Ausfertigung Nummer tausendfünfundvierzig des Hohen Schiedsgerichts zeigen.«

Er schulterte die Armbrust, die er immer noch in seiner Rechten hielt.

»Wenn Ihr mich nun entschuldigen würdet? Ich wünsche Euch noch einen ausgezeichneten Tag.«

Mit diesen Worten wandte der Zwerg sich ab und verschwand.

»Eine ausgezeichneten Tag, bei allen neun Höllen!«, rief Flynn. Er stand auf und entrollte das Schriftstück. Zunächst fiel sein Blick auf die Summe am unteren Ende. Fast hätte er das Pergament fallen gelassen.

»21.375 Goldflamm?«

Wem schuldete er diese unglaubliche Summe? Mit 20.000 Goldflamm hätte er ein Haus auf der Diamantinsel kaufen können. Er überflog das Schriftstück. »Wird Flynn Grünblatt nach Paragraph 37 Absatz 2 des Codex hiermit kundgetan …«

Das meiste war juristisches Geseiere. Was Flynn wissen wollte, war, wie der Gläubiger hieß.

»Orfamay Nachtauge.«

Er hatte noch nie von der Frau gehört. Oder war Orfamay ein Männername? Menschen gaben einander höchst seltsame Namen, deren Sinn sich ihm nicht immer erschloss. Er las weiter.

»Allee des Östlichen Zephyrs 7«

Eine feine Adresse – die Allee des Östlichen Zephyrs lag in Brae Flammars Südviertel, jenem Stadtteil, in dem das wohlhabende Bürgertum wohnte. Er rollte das Pergament ein und steckte es in eine der vielen Taschen seines Lederwamses. Schon wollte Flynn sich auf den Weg zurück zum Schwarzen Wal machen, als ihm der zweite Bolzen ins Auge fiel, der immer noch auf dem Pflaster lag. Er war davon ausgegangen, dass die an diesem befestigte Pergamentrolle die gleiche Botschaft enthielt wie erste. Doch nun fiel ihm etwas auf. Die Rolle wurde nicht von einem indigoblauen Siegel zusammengehalten, sondern von einem, das pechschwarz war. Er bückte sich, um den Bolzen aufzuheben. Das Siegel zeigte ein stilisiertes Auge, das anstatt einer Pupille eine Mondsichel enthielt. Dies ließ ihn annehmen, dass es sich um das persönliche Signum von Herrn oder Frau Nachtauge handelte. Er brach es, und tatsächlich war das zweite Schreiben nicht identisch mit dem ersten. Flynn las:

»Hochverehrter Lord Grünblatt,

Wie Euch inzwischen bekannt sein dürfte, habt Ihr erhebliche Außenstände bei mir. Falls Ihr Euch fragt, wie Ihr dazu kommt, mir derart viel Geld zu schulden, verweise ich Euch gerne auf die in der Halle der Schriften einsehbare Rolle Nummer 7292637/2937. Aus dieser geht hervor, dass ich gewisse unvollstreckte Titel Eurer zahlreichen Gläubiger aufgekauft und gebündelt habe.

Ich möchte Euch ein Geschäft vorschlagen, mit dem sich mein Titel ohne die Notwendigkeit einer Zahlung reduzieren ließe. Bitte besucht mich so bald als möglich in meinem Domizil, damit wir alles weitere erörtern können.

Hochachtungsvoll,

O. Nachtauge«

Flynn ließ das Pergament sinken. Dann machte er sich auf den Weg in Richtung Südviertel.

3

Es war Colin schwergefallen, sich zwischen dem Ochsen vom Spieß und den Chu-Nudeln zu entscheiden, weswegen er beschlossen hatte, von beidem eine Portion zu essen. Nun spannte sein Gardistenwams noch mehr als gewöhnlich. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, denn es wurde allmählich heiß. Gerade hatte der Trompeter die siebte Stunde verkündet. Am Stand eines Teehändlers ließ der Zwerg sich eine kleine Porzellantasse geben, setzte sich auf einen der Schemel und nippte an der angenehm kühlen grünen Flüssigkeit.

Während er seinen Jadetee schlürfte, erspähte er aus den Augenwinkeln einen weiteren Taschendieb. Seufzend stellte er die Tasse auf dem Tischchen neben sich ab und holte eine kleine Wachstafel hervor. Auf ihr pflegte Colin alle Vorkommnisse des Tages feinsäuberlich zu notieren. Es war wichtig, über die Arbeit genauestens Buch zu führen, fand er. Andere Gardisten mochten diese Akribie für eine Marotte halten, hinter vorgehaltener Hand tuschelten sie vermutlich, dieses Sammeln und Horten von Zahlen und Informationen sei typisch zwergisch, ein Ersatz für das Zählen von Edelsteinen oder das exakte Vermessen von Gangsystemen.

Colin war das egal. Hinter dem Eintrag »Beutelschneider« machte er einen weiteren Strich. Es waren nun sieben. Wahrscheinlich waren im Laufe des Morgens noch mehr Taschendiebstähle erfolgt. Colin hatte nur jene notiert, die er mit eigenen Augen gesehen hatte, schließlich konnte er nicht überall sein. Wichtig war lediglich, dass er nunmehr über jene sieben Beutelschneider hinweggesehen hatte, die seine Vorgesetzten und die Fünf Familien für den Wazaar ausgehandelt hatten. Colin steckte die Tafel wieder ein und rieb sich die Hände. Den nächsten Halunken würde die volle Härte des flammarischen Gesetzes treffen.

Kurz nachdem Colin seine nächste Runde begonnen hatte, tauchte einer dieser Gauner auf, ein kleiner blasser Mann mit Haaren wie Seetang und dem Gesicht einer Kanalratte.

»Einen recht guten Tag, Hauptmann Silberbart«, sagte er.

Colin musterte den Kartelldieb. Es war Olfur Einbein, genannt die Silbermöwe. Der Spitzname rührte daher, dass Olfur auf offen herumliegende Wertsachen ähnlich reagierte wie eine Möwe auf Leckerbissen: Er schnappte blitzschnell zu. Man sagte, Olfur könne gar nicht anders, selbst wenn die Gefahr bestand, erwischt zu werden. Colin bezweifelte, dass der kleine Mann wirklich so unbeherrscht war, wie man sich erzählte, denn er sah, wie der Dieb einige Geschmeide betrachtete, die an einem Stand links von ihnen auslagen. Wehmut stand in seinen Augen, und seine Finger zuckten nervös. Dennoch hielt er sich zurück.

»Was willst du, Silbermöwe?«

Der Dieb holte eine kleine metallene Zunderschachtel aus der Hosentasche. Während er diese geschickt mit einer Hand öffnete, steckte er sich mit der anderen ein salenisches Rauchstäbchen zwischen die Lippen, das er mit dem Glutstein aus der Schachtel entzündete. Schmauchend erklärte er: »Ich wollte mich nach Eurem Tagewerk erkundigen.«

»Es ist recht viel los heute«, entgegnete Colin, »du kannst deinen Kompagnons also sagen, sie haben ihr Soll bereits erreicht.«

»Jetzt schon, zur Mittagsstunde? Wie soll man da sein Brot verdienen?«

»Indem du das nächste Mal früher aufstehst. Den letzten beißen eben die Haie.«

Bei dem Wort »Hai« zuckte die Silbermöwe zusammen. Olfur Einbein hatte ein Holzbein. Früher einmal war er Pirat gewesen. Bislang hatte Colin vermutet, Olfur habe sein Bein an einen pyronischen Händler verloren, der geschickt mit dem Entermesser war. Doch möglicherweise hatte er da falsch gelegen.

Die Silbermöwe setzte sich etwas umständlich auf den Sims des großen Brunnens in der Mitte des Platzes und schaute säuerlich. »Nicht beim ersten Ruf des Herolds aufstehen zu müssen war einer der wenigen Vorzüge meiner Profession.«

»Mir kommen gleich die Tränen, Olfur. Wenn du dich beschweren willst, solltest du das vielleicht bei Syros Syzaar tun.«

Die Syzaar waren eine der Fünf Familien, aus denen das Diebeskartell bestand. Die meisten kriminellen Aktivitäten in diesem Teil Brae Flammars gingen auf das Konto der Syzaari. »Schon gut, Hauptmann. Ich werde es an die anderen weitergeben.«

»Tu das.«

Der Dieb warf den Stummel seines Rauchstäbchens weg und nickte Colin zu. Dann verzog er sich. Der Gardist sah ihm nach. Binnen weniger Minuten würden alle anderen Gildendiebe dieses Distrikts erfahren, dass es auf dem Wazaar heute nichts mehr zu holen gab. Lediglich freischaffende Künstler würden weiterhin versuchen, die Marktbesucher um ihre Münzen zu erleichtern. Falls Colin heute noch jemanden verhaftete, würde es sicher kein Gildendieb sein. Dass so unliebsame Konkurrenz beseitigt wurde, war aus Sicht der Syzaar und der anderen Familien ein positiver Nebeneffekt des Arrangements mit der Stadtwache.

Colin Silberbart fühlte, wie es in seinem Bauch brodelte. Als er bei den Prächtigen Garden angeheuert hatte, war es ihm darum gegangen, Brae Flammars Straßen ein wenig sicherer zu machen und die Bürger seiner Heimatstadt zu beschützen. Er hatte natürlich geahnt, dass dies eine idealistische Vorstellung war und man mitunter Kompromisse eingehen musste. Ihm war jedoch nicht klar gewesen, wie eng Gilde und Garde miteinander verzahnt waren. In seinen Jahren als einfacher Gardist war es nicht so schlimm gewesen. Sicher, Durchstechereien waren vorgekommen, aber Colin hatte sich stets eingeredet, er werde diese unterbinden, wen er einmal Offizier wäre. Als Hauptmann musste er jedoch noch viel größere Schweinereien decken, von denen er als einfacher Soldat gar nichts mitbekommen hatte. Seit Eamon Eiswasser zum Sheriff berufen worden war, wurden er und seine Kollegen noch öfter als früher zum Wegschauen verdonnert. Es war überaus frustrierend.

Colin seufzte. Man konnte wenig tun. Die Dinge waren, wie sie nun mal waren. Um seinen immer noch wütend grummelnden Bauch etwas zu besänftigen, ging er zu Meister Alvars Stand.

»Gebt mir noch eine Portion von den Süßen Dublonen.«

4

Die Allee des Östlichen Zephyrs war eigentlich gar keine. Vielmehr handelte es sich um eine ganz gewöhnliche Straße, kaum breiter als die Gassen der Altstadt. Doch im Südviertel, dem feinsten Quartier Brae Flammars, war kein Platz für schnöde Straßen und schon gar keiner für Gassen. Hier gab es ausschließlich Alleen, Chausseen und Boulevards. Nach Flynns Meinung war dies ein weiterer Beweis für die Menschen im Allgemeinen und Flammari im Speziellen angeborene Großkotzigkeit. Alles musste besser klingen und größer aussehen, als es in Wirklichkeit war. Elben wären nie auf solch eine Idee gekommen. Wobei Flynn zugeben musste, dass es sich bei der Allee des Östlichen Zephyrs zwar nicht um eine imposante, aber zumindest um eine gepflegte Straße handelte. In regelmäßigen Abständen flankierten sauber getrimmte Pfeifnussbäume den Weg, der für flammarische Verhältnisse geradezu blitzblank war. Die Häuser waren nicht rot- oder ockerfarben wie im Rest der Stadt üblich. Stattdessen hatte man sie weiß getüncht. Anders als in den meisten anderen Stadtvierteln standen die Gebäude auch nicht dicht aneinander gedrängt, sondern lagen etwas auseinander, wie die Zähne eines vom Skorbut geplagten Seemanns.

Flynn musste nach dem Weg fragen, denn obzwar er die Hausnummer kannte, hatte er die fragliche Stadtvilla nicht finden können. Daran war die flammarische Nummerierung der Häuser schuld. Sie folgte einem System, das zu verstehen höchstens ein seit zwanzig Jahren in der Halle der Schriften arbeitender Stadtverwalter in der Lage war. Für Normalsterbliche wirkte die Abfolge der Hausnummern, nun ja, wahllos. Flynn marschierte die Allee des Östlichen Zephyrs hinab, vorbei an den Nummern 17, 134, 2b und P19. Dann erreichte er das gesuchte Haus. Es handelte sich um eine kleine Stadtvilla mit winzigem Garten. Flynn lehnte sich an einen der Pfeifnussbäume vor dem Anwesen. Er steckte zwei Finger in den Mund und blies hindurch. Ein für menschliche Ohren nicht vernehmbarer Ton entfuhr ihm, und um Flynn herum gingen Nüsse zu Boden. Der Elb las ein halbes Dutzend davon auf und begann, sie zu knacken. Während er aß, beobachtete er die Villa. Ihre Tür bestand aus schwarzlackiertem Holz, in deren Mitte ein kupferner, vom Grünspan befallener Klopfer hing, dem Kopf einer Seegorgone nachempfunden. Um das Grundstück herum verlief eine Buchsbaumhecke, das Gartentor war eine schmiedeeiserne Extravaganz, die irgendwelche menschlichen Götter bei ihren Ränkespielen zeigte. Er meinte Baar zu erkennen, den Gott des Wissens und Look, den Gott des Sieges. Möglicherweise war es auch Pensa, die Göttin der Strategie, da war er sich nicht sicher. Im menschlichen Pantheon existierten einfach zu viele Götter und Götzen, als dass man sie sich alle hätte merken können. Ansonsten gab es wenig Besonderes an dem Haus. Die Fenster waren vergittert, das Dach mit gebrannten Kacheln gedeckt. Neben dem Eingang schlummerte eine orange-weiß marmorierte Katze in der Sonne und musterte ihn eingehend.

Orfamay Nachtauge musste wohlhabend sein, das war offensichtlich. Allerdings schien sie nicht über den unermesslichen Reichtum der Oberen Tausend zu verfügen, sonst hätte ihr Haus nicht so nahe am Roten Kliff gelegen. In den meisten Städten wäre eine Wohnlage umso teurer gewesen, je näher sie am Wasser lag, aber nicht in Brae Flammars Südviertel. Das Kliff befand sich nämlich in einem ebenso andauernden wie aussichtslosen Kampf mit einem übermächtigen Gegner: der stürmischen See. Jahr für Jahr wich es einige Fußbreit zurück. In zehn, höchstens zwanzig Jahren, so schätzte Flynn, würde Nachtauges Villa auf dem Grund des Golfs von Kharkesh liegen.

Er schluckte den letzten Nusskern hinunter und ging zur Gartenpforte. Sie war unverschlossen. Flynn öffnete das Tor und stieg die Stufen zur Tür hinauf. Die Katze schaute ihn indigniert an und verschwand mit einem Satz hinter einem Busch. Flynn umfasste den Ring, den die Seegorgone zwischen ihren spitzen Zähnen hielt. Er klopfte dreimal.

Es dauerte etwas, bis jemand auf der anderen Seite einen Riegel beiseiteschob. Die Tür schwang auf und Flynn sah sich einer Frau gegenüber. Sie war vielleicht Mitte dreißig und trug ein langes, dunkelgrünes Kleid aus Baumwolle. Ihr Gesicht schien nur aus Augen und Lippen zu bestehen. Erstere waren groß und smaragdfarben, letztere voll und tiefrot.

Flynn räusperte sich. »Habe ich die Ehre, Lady Orfamay Nachtauge gegenüberzustehen?«

»Die habt Ihr, Flynn vom Dunkeltal.«

»Diesen Namen habe ich längst abgelegt. Woher kennt Ihr ihn?«

Sie musterte ihn mit einem Blick, der Flynn nicht behagte.

»Ich pflege über meine Geschäftspartner Erkundigungen einzuholen.«

»Geschäftspartner? Schuldner eher.«

»Nicht unbedingt. Aber ich bin sehr unhöflich. Bitte tretet doch ein.«

Sie machte eine einladende Geste. Flynn verneigte sich nochmals. Während er über die Schwelle trat, murmelte er »Friede Eurem Hause«, jene Formel, ohne deren Erwähnung kein Flammari je das Domizil eines anderen betreten hätte. Als er sich in der Vorhalle umsah, fiel ihm auf, dass die Villa praktisch leer war. Es schien weder Bilder noch Baldachine, weder Teppiche noch Tische zu geben.

»Mich deucht, Ihr mögt es luftig, Lady Nachtauge.«

»Ah, nein, ich lasse dieses Anwesen gerade renovieren. Fast alle meine Möbel und Habseligkeiten befinden sich derzeit in einem Lagerhaus.«

Ihre Stimme hatte einen leichten Akzent, der ostländisch klang. Flynn wagte eine Vermutung. »Ihr stammt aus Graak?«

»Fast richtig geraten. Noch etwas weiter westlich, aus Tyne.«

»Tyne-am-Oyn?«

»Tyne-an-der-See. Aber bitte, lasst uns in den Salon gehen.«