Guerillas - V.S. Naipaul - E-Book

Guerillas E-Book

V.S. Naipaul

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Beschreibung

»›Guerrillas‹ ist eines von Naipauls komplexesten Büchern; es ist sicherlich sein spannendstes.« The New York Times Der Journalist Roche stammt aus Südafrika, Jane ist eine britischer Verlegerin, beide wollen auf einer kargen Karibikinsel eine Revolution entfachen. Doch ihre Fantasien von Macht und Sexualität erweisen sich als falsch. Aus dem Versuch einer Befreiung wird ein Kampf aller gegen alle, in dem jeder zum Guerilla in seinem eigenen Krieg wird: gegen die Kolonialherren, gegen die Widersacher, aber auch gegen die Partner, gegen sich selbst. Der Nobelpreisträger Naipaul war der düstere Prophet der Endzeit und Chronist des Zerfalls der Karibik. »Ich bin an die 1000 Quadratmeilen gekettet, die Trinidad bilden, aber ich werde meinem Schicksal noch entgehen.« So war der Roman zugleich Befreiungsschlag wie »Anatomie der Verzweiflung« (The Observer). »›Guerillas‹ scheint V.S. Naipauls ›Herz der Finsternis‹ zu sein: eine Anatomie der Verzweiflung und der Leere, erschaffen von einem brillanten Künstler.« Observer

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Seitenzahl: 412

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V.S. Naipaul

Guerillas

Roman

 

Aus dem Englischenvon Ursula von Zedlitz

 

Inhalt

Vorwort

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Vorwort

In den späten Sechzigern des letzten Jahrhunderts lernte ich in den Ferien auf Trinidad einen Architekten kennen, der dort arbeitete. Da wir uns nur in Gesellschaft trafen, besaß ich keine Vorstellung davon, wie seine Bauten aussahen, aber ich merkte bald, dass er ein Mann mit einem ausgeprägten sozialen Gewissen war. Er wollte, dass ich mir einige seiner Sozialprojekte ansah. Sein wichtigstes war eine Farm für arbeitslose schwarze junge Männer. Ich schaute sie mir an. Da gab es nicht wirklich viel zu sehen: ein paar langgestreckte, niedrige Gebäude, grob gemauert, spärlich bepflanzt. Ein wenig verändert findet sich ein Bericht des Besuches in diesem Buch wieder. Ich hatte zu der Zeit nicht die geringste Ahnung, dass ich einmal an einem Buch mit solch einer sozialen Thematik schreiben würde. Aber mit der Zeit wurde dieser Besuch wichtig für das, woran ich gerade arbeitete.

Es war nicht überraschend, dass es auf der Farm so wenig zu sehen gab. An dem Ort ging es weniger um Ackerbau als um die rassistische Politik der Insel. Die dem zugrunde liegende Idee (wobei der Architekt politisch unvorbelastet war) bestand darin, dass die hiesige schwarze Bevölkerung ihre Lebenslust unterdrücken und mehr wie die ursprünglichen Einwohner und Asiaten werden sollte: Land erwerben, es mit der Familie bewirtschaften, ein eintöniges Leben fristen, Läden führen, Geld verdienen und es sparen, statt es für Kleider und Partys auszugeben; auf diese Weise kämen sie voran und gäben den anderen Gelegenheit, auch an ihnen zu verdienen.

Mein Besuch dauerte nicht lange. Ich war nicht sehr beeindruckt. Ich verließ Trinidad und kümmerte mich um meine eigenen Angelegenheiten. Doch ungefähr ein Jahr später (vielleicht auch länger) fand ich mich auf der Insel wieder. Diesmal hatte sie einen berühmten Gast: Michael X, auf Trinidad geboren, aber umgeben von einer Wolke metropolitischen Ruhms. Aufgrund seiner portugiesischen Herkunft behauptete er aber, ein Schwarzer zu sein. In England wie auf Trinidad war er ein Mythos; er hatte Kontakt zur liberalen Elite; er hatte Ideen für eine Reform des Umgangs zwischen den verschiedenen Hautfarben, die (in den 60er Jahren) Schwarzen wie Weißen einleuchteten. Er war erfolgreich und begehrt. Ein Abriss seiner Laufbahn findet sich in diesem Buch wieder.

Auf Trinidad hatte Michael X, wie es jemand von seinem Ruf gebührt, eine Art Hofstaat: eine Gruppe junger Männer aller Hautfarben, denen es gefiel, mit ihm assoziiert zu sein, und die von sich selbst als einer Kommune dachten, dazu kam ein amerikanischer schwarzer Radikaler und dessen englische Freundin, Gail Anne Benson. Benson und der Amerikaner waren in England gewesen, um die Autobiographie des Amerikaners zu promoten, und machten sie zum Hit. Bensons Slogan war dabei einfach: Sie sagte, der Amerikaner sei Gott, und das wurde in England gern geschluckt.

So trafen sie sich alle auf der Calypso-Insel Trinidad, das ganze Personal eines Dramas, das sich entfaltete und so blutig enden sollte.

Gegen Ende des Jahres sollte Gail Benson auf grässliche Weise ermordet und in einem Landflecken in einem Loch, das man für sie ausgehoben hatte, verscharrt werden. Michael X floh nach Guyana. Hier wurde er entdeckt, verraten und verhaftet. So einfach war das. Es war das Gegenteil von einem Höhepunkt. Man hätte erwarten können, dass Michael X sich eine Flucht ausdenkt, die dem Vorangegangenen würdig gewesen wäre.

In Trinidad wurde das für Gail Benson ausgehobene Loch zu etwas, das man gesehen haben musste: trocken und verstörend gewöhnlich. Freunde haben mich hingeführt, allein wäre ich nicht hingegangen; ich hätte es als zu nervenaufreibend empfunden. Ein paar Leute von der BBC waren da und beobachteten das Spektakel. Sie begrüßten mich freundlich; sie vermuteten, ich wäre hier, um darüber zu schreiben. Und merkwürdigerweise war das genau einer der Gründe, warum ich mich damals entschloss, gerade das nicht zu tun: Der Mordfall schien zu mächtig, er sprang einem direkt ins Auge, er war zu verstörend.

Einige Wochen später wollte in London das Sunday Times Magazine, dass ich etwas darüber mache. Ich hatte genügend Abstand zu der Sache gewonnen, sie war fast historisch. So konnte ich »ja« sagen, und ich tat’s. Ich reiste wieder nach Trinidad und arbeitete hart, um in ein paar Wochen die Hintergründe zu recherchieren.

Diese gut fundierte und detailreiche Sunday Times-Reportage machte den Roman möglich. Ohne sie hätte es zu viele Leerstellen gegeben, fern von jeder Erfindung.

V. S. Naipaul 2011

Die Reportage erschien 1972 in der Sunday Times, 1975 der Roman Guerillas. 1979 versah Naipaul die Reportage mit einem Postskript: Michael X and the Black Power Killings in Trinidad: Peace and Power (in: The Writer and the World. Essays, ed. by Pankaj Mishra, London 2002). Das Vorwort übersetzte Hans Jürgen Balmes.

1

Nach dem Mittagessen verließen Jane und Roche ihr Haus auf dem Ridge, um nach Thrushcross Grange zu fahren. Sie fuhren zu der heißen Stadt am Fuß der Hügel hinunter und dann quer durch die Stadt zu der Seestraße, durch Verkehrsstraßen, die mit Aufschriften beschmiert waren wie etwa: Schwarz zuerst, Wählt nicht, Geburtenkontrolle ist ein Anschlag auf das Heer der Schwarzen.

Die See roch wie Sumpf; sie kräuselte sich kaum, war mehr glitzernd als farbig, und die Hitze schien eingeschlossen unter der rosa Wolke von Bauxitstaub von der Bauxit-Verladestation. Nach dem Markt, wo Kühlwagen ausgeladen wurden, nach der Müllhalde, die in dem Überbleibsel eines Mangrovensumpfs brannte, wo schwarze Aaskrähen auf Zaunpfosten hockten oder auf dem Boden herumhopsten, nach den verbauten Hängen, nach den neuen Siedlungen, Reihen ungestrichener Betonkästen mit Wellblechdächern, die bereits wieder zu den Barackensiedlungen wurden, die man für diese Neubauten abgerissen hatte, nach den nackten Kindern, die im roten Staub neuer Alleen spielten, wo in den Hinterhöfen Kleidungsstücke wie Fetzen von den Leinen hingen, nach all diesem lichtete sich die Gegend etwas. Und man konnte erkennen, wohin sich die Stadt ausgedehnt hatte: Auf der einen Seite der Sumpf, der zu einer weiten Ebene austrocknete, auf der anderen Seite eine Hügelkette, die senkrecht aus der Ebene aufstieg.

Der Blick wurde bald wieder verstellt. Aus Dörfern waren Vororte geworden. Manchmal war die Seitenwand eines Betonhauses mit einer Reklame bemalt. In den Feldern, die überdauert hatten, standen Plakatwände. Und bald kam man an ein Fabrikgelände. Hier begannen die Wegweiser nach Thrushcross Grange: Der Name, die Entfernung in Meilen, eine geballte Faust als Symbol, das Schlagwort Für das Land und die Revolution und ganz unten der Name der Firma, welche das Schild aufgestellt hatte. Die Schilder waren alle neu. Die einheimische Abfüllfirma für Coca-Cola hatte eins aufgestellt, ebenso Amal (die amerikanische Bauxit-Gesellschaft), eine Reihe von Fluglinien und viele Warenhäuser der Stadt. Jane sagte: »Jimmy hat viele Leute erschreckt.«

Roche, leicht albern mit der billigen Sonnenbrille, die er zum Fahren trug, sagte: »Das würde Jimmy gern hören.«

»Thrushcross«, sagte Jane.

»T’rushcross. So wird es ausgesprochen. Es stammt aus Wur-thering Heights. Wie ›furthering‹ …«

»Ich fand, es klang sehr englisch.«

»Ich glaube nicht, dass es irgendetwas bedeutet. Ich glaube nicht, dass Jimmy sich wie Heathcliff oder so etwas vorkommt. Er machte einen Schriftstellerkursus mit, und es war eines der Bücher, die er dafür lesen musste. Ich glaube, der Name gefällt ihm einfach.«

Die Hügel rauchten, wie sie es jetzt täglich vom frühen Morgen an taten: Dünne Linien weißen Rauchs, welche staubfarben wurden und sich mit dem Dunst vermischten. Über den tiefer gelegenen Siedlungen, ockergelb, hatte die Dürre die Hügel gebräunt; und durch dieses Braun hatten die Buschfeuer unregelmäßige, dunkelrote Muster gezogen. Die Asphaltstraße war nassschwarz, in der Ferne durch Hitzewellen verzerrt. Die Grasränder waren durch Feuer geschwärzt und brannten stellenweise noch immer. Manchmal, über das Motorengeräusch hinweg, vernahmen Jane und Roche das Prasseln von Flammen, die sie in dem grellen Licht nicht sehen konnten.

In diesem Industriegebiet herrschte dichter Verkehr. Aber das Land zeigte noch immer seine jüngst vergangene ländliche Geschichte. Hie und da, zwischen den großen Schuppen und den modernen Bauten aus unverputztem Beton, den hohen Drahtzäunen und dem planierten Boden, gab es noch immer Felder, Überbleibsel der großen Landgüter, zusammen mit Überbleibseln der dazugehörigen Dörfer: Gemüseparzellen, alte Holzhäuser auf Steinen, Hütten, öde Vorderhöfe mit Zinniengruppen, Ixora-Büschen und Hibiskushecken. In den Feldern neben der Fernstraße wuchs jetzt Gras; Schilder boten Bauplätze und Fabrikgelände an. Manchmal stand ein einzelner rostender Wagen in einem eingesunkenen Feld, als sei er, nachdem er von der Straße abkam, einfach stehengelassen worden. Manchmal waren es Haufen von abgetakelten Fahrzeugen.

Jane sagte: »Ich dachte immer, England sei im Zustand des Verfalls.«

Roche sagte: »Wieso Verfall?«

Sie ließen die Fabriken hinter sich. Der Verkehr wurde schwächer, und als sie von der Fernstraße abbogen, waren sie endlich in einer Gegend, die ländlich wirkte. Aber der Busch machte einen verkümmerten und verfallenen Eindruck durch die Dürre. Es zeigten sich gepflasterte Stellen aus Beton und Asphalt, und manchmal standen Reihen von Ziegelsteinsäulen da, mit verdorrten Reben behangen, die an antike Ausgrabungen denken ließen: Die Säulen hätten den Boden eines römischen Bads gestützt haben können. Es war das, was von einem Industrieareal übrig geblieben war, eins der gescheiterten Projekte aus den frühesten Tagen der Unabhängigkeit. Ausländischen Investoren waren Steuerferien geboten worden; viele waren zu den Ferien gekommen und wieder fortgezogen.

Roche sagte: »Hoffentlich gibt es etwas zu sehen. Aber ich bezweifle es.«

»Hast du ihm gesagt, dass ich mitkomme?«

»Er war sehr ablehnend, als ich es ihm sagte. Aber ich glaube, in Wirklichkeit freute er sich. Er hatte die üblichen Ausreden. Die Dürre. Aber das ist typisch Jimmy. Macht immer Schwierigkeiten.« Roche hielt inne. »Er ist nicht der Einzige.«

Jane schwieg.

»Er sagte, einige der Jungens seien fort. Zurück in die Stadt, vermute ich. Und ich glaube, es ist ihnen unangenehm, dass man hinkommt, um ihnen nachzuspionieren.«

»Du meinst, sie wollen nur, dass man von ihnen spricht?«

Roche lächelte. »Es wird ihnen nicht schaden, wenn man sie überrascht. Es ist die einzige Möglichkeit, sie dahin zu bringen, zu tun, was sie angeblich tun wollen.«

Die Straßen des ehemaligen Industrieareals waren schmal und an den Rändern überwachsen, und die geschotterte Oberfläche war zum Teil nicht mehr vorhanden. Das Land, Teil der großen Ebene, war flach; aber jetzt nahm der niedrige Busch ab und lag zwischen Waldstrichen. Es gab noch immer zahlreiche Straßen; aber eine Abbiegung war wie die andere, und ein Fremder hätte sich leicht verirren können. Nachdem sie die Fernstraße verlassen hatten, waren keine Schilder nach Thrushcross Grange mehr vorhanden gewesen. Jetzt erhob sich mitten in der Einöde ein neues gelb-rot-schwarzes Schild mit der symbolischen Faust an der Spitze.

THRUSHCROSS GRANGE

VOLKSKOMMUNE

FÜR DAS LAND UND DIE REVOLUTION

Eingang ohne vorherige Erlaubnis zu allen Zeiten streng verboten. Auf Anweisung des Oberbefehls

James Ahmed (Haji)

Auf der untersten Zeile, in roten Lettern auf weißem Grund, stand der Name der einheimischen Firma Sablich, welche das Schild aufgestellt hatte.

Roche sagte: »Wir mussten Jimmys Text abschwächen.«

Roche arbeitete für Sablich.

»Haji?« fragte Jane.

»Soviel ich weiß, ist Haji ein Moslem, der nach Mekka gepilgert ist. Jimmy benutzt es im Sinn von Mister oder Esquire. Wenn er daran denkt.«

Nicht lange nach dem Schild kam ein Seitenweg. Dort bogen sie ab. Bald darauf sahen sie ein Schilderhaus mit schwarz-roten Diagonalstreifen bemalt. Es war leer, und die Metallstange, ebenfalls schwarz-rot gestreift, an einem Ende beschwert, um als Barriere zu dienen, stand senkrecht. Sie fuhren weiter. Die Straße war ebenso schmal wie die, von der sie abgebogen waren, mit unregelmäßigen Rändern, deren Gras und Unkraut den Asphalt überwucherten. Sie fuhren durch niedrigen Busch und Wald, bis jetzt war noch nichts von Bebauung zu sehen.

»Sie haben viel Land«, sagte Jane.

»Das ist es ja«, erwiderte Roche. »Jimmy ist fast in jeder Beziehung absurd. Aber irgendwie setzt er sich durch. Sablich wollte es ursprünglich alles aufkaufen, vermutlich als Investition. Dann trat Jimmy auf, und diesen Teil spuckten sie aus. Eine Pacht für 25 Jahre. Begabt. Einfach so.«

Roche lachte, und Jane sah seine Backenzähne: weit auseinanderstehend, schwarz an den Wurzeln, das Zahnfleisch zurückgegangen: wie ein Blick auf den Schädel. Die Straße machte eine Kurve, und sie sahen eine große Lichtung vor sich, die von drei Seiten durch Wald eingeschlossen war, die Waldwände schienen durch dünne weiße Stämme von Weichholzbäumen miteinander verbunden. Das gelichtete Waldstück war von einem Ende zum anderen gepflügt und mit Furchen durchzogen. Die Furchen waren voller glänzenden grünen Unkrauts, und die Ränder davon, von denen ein paar planlose, gescheiterte Pflanzbemühungen zeigten, waren hellbraun und knochentrocken. Weitab von der Straße, an einer der Waldwände, stand ein niedriger offener Schuppen, gedeckt mit ganzen Zweigen der Karat-Palme. In der Nähe davon und halb im Wald stand ein roter Traktor: Er sah ebenso verlassen aus wie die rostenden Autos in dem hohen Gras unterhalb der Böschung der Fernstraße. Das Feld wirkte ebenso verlassen. Aber bald nahm Jane drei Männer wahr, dann einen vierten, die im Hintergrund arbeiteten, gegen den Wald schwer erkennbar.

Roche sagte: »Das führen sie für uns auf. Oder für dich. Es ist ihre offizielle Ruhepause. Um diese Zeit arbeitet kein Mensch auf dem Feld.«

Nach der Lichtung kam wieder Wald, mit den dünnen weißen Zweigen der Weichholzbäume durchzogen und mit den Säulen der Waldpalme bestanden, deren gerade Stämme von schwarzen Nadeln starrten, mit dürren spitzigen Wedeln und Trauben von gelben Nüssen behangen, die aus graugrünen, bootförmigen Schalen platzten. Dann öffnete sich der Wald zu Lichtungen auf beiden Seiten der Straße. Auf der einen Seite war der Wald zu Baumstümpfen und niedrigem Busch geschlagen worden. Auf der anderen Seite der Straße war das Land kahl und rein, Bäume, Palmen und Busch waren abgeholzt worden, die Erde stellenweise bis zu dem rosa Lehm abgetragen. Auf dieser Seite, in einiger Entfernung von der Straße, stand auf einem glatten braunen Hang eine langgestreckte Hütte mit Betonblockmauern und einem schrägen Wellblechdach. Sie stand allein in der Leere. Das Dach blendete und wirkte glühend heiß; es ragte kaum über die Mauer hinaus und warf keinen Schatten.

Der Wagen hielt, und alles blieb still. Selbst als die Wagentüren knallten, kam niemand aus der Hütte. Kein Wind ging; die stumpfgrüne Waldmauer rührte sich nicht; die Asphaltstraße war weich unter dem Kies. Jane und Roche überquerten den ausgetrockneten Graben auf der Brücke aus drei zusammengebundenen Stämmen. Das kahle Land glühte. Jane wollte Schatten, und der einzige Schatten lag innerhalb des dunklen, fast schwarzen Eingangs der langgestreckten Hütte.

Sie ging Roche voraus, als ob sie, wie immer, den Weg kenne. Er war stehen geblieben, um sich umzusehen. Als er sah, wie Jane den flachen Hang zu der Hüttentür schritt, fühlte er, wie er gefürchtet hatte, dass ihre Anwesenheit hier unangebracht war und einem Eindringen glich. Die geblümte Bluse, durch die ihr Büstenhalter schimmerte, die engen Hosen, welche Lenden und Schambein in einem einzigen jähen Bogen modellierten: Das mochte in der Stadt hingehen, und in dem Einkaufszentrum auf dem Hügel würde es kaum auffallen, aber hier schien es herausfordernd, so übertrieben lässig, dass es aufgetakelt wirkte: London, ausländisch, fehl am Platz. Und wiederum fiel es Roche auf, wie weiß sie war, zu weiß, ein Weiß, das ganz anders war als die Farbe der einheimischen Weißen. Sie war so weiß, dass man sie nicht deuten konnte, nicht einmal ihr Alter war zu erraten. Er ging schnell, beschützend, auf sie zu. Ein rehfarbener Paria-Hund, mager, mit spitzem Gesicht, kam hinter der Hütte hervor, blieb stehen und beobachtete, ohne etwas zu erwarten.

Anfangs schien es kühl in der Hütte, und nach dem grellen Licht draußen wirkte sie dunkel. Beim Eintreten erblickten sie, direkt von Lehm auf Beton steigend, in einer ungefegten Ecke einen stählernen Aktenschrank, einen alten Küchenstuhl und einen staubigen Tisch mit etwas, das aussah wie eine ausgediente Schreibmaschine, einen ausgedienten Vervielfältiger und einige Metalltabletts. Dann, als sich ihre Augen an das Licht im Innern gewöhnten, sahen sie die ganze Länge der Hütte entlang zwei Reihen Metallbetten auf dem Betonboden. Nicht alle Betten waren gemacht; auf manchen lagen nur Matratzen, dünn, mit gestreiftem Bezug. Über den Betten, die in Gebrauch waren, hingen an Nägeln Kleidungsstücke: bunte Hemden aus glänzendem synthetischem Stoff, Pullover und Jeans, die angezogen so aggressiv und ausgezogen so schäbig wirkten.

Vier oder fünf Betten waren besetzt. Die Knaben oder Jünglinge, die auf ihnen lagen, sahen Jane und Roche an und blickten dann zu dem Wellblech hinauf oder zur gegenüberliegenden Wand. Ihre glänzenden schwarzen Gesichter blieben ausdruckslos; sie taten nichts, um die Anwesenheit von Fremden in der Hütte zur Kenntnis zu nehmen.

Roche sagte: »Mannie.«

Der angeredete Junge sagte, ohne sich zu bewegen: »Mr. Ahmed baden.«

Roche lachte: »Baden? Hat Jimmy mit dir gearbeitet?«

Mannie antwortete nicht.

Jane spürte durch ihre Schuhsohlen die Rauheit des ungepflegten Bodens. Es irritierte sie.

Roche sagte zu Jane, als spreche er zu den jungen Burschen: »Sie haben alles selber gebaut.« Er nahm die Sonnenbrille ab und sah weniger albern aus: Er sah distanzierter aus, als seine Stimme oder sein Benehmen glauben machten. Er sog am Ende eines seiner Brillenbügel. »Mannie, du warst doch der Maurer, nicht wahr?«

Mannie setzte sich auf und ließ die Beine über das Bett baumeln. Er war klein und schlank. Neben ihm auf einem Jutesack auf dem Fußboden lagen etwa ein Dutzend grüne Tomaten.

Die anfangs kühl wirkende Hütte schien jetzt weniger kühl; Jane bemerkte, dass das Wellblech Hitze ausstrahlte. Und die Hütte war offener, als sie gedacht hatte, und in Wirklichkeit voller Licht. Rechteckige Fenster mit Milchglasscheiben in Aluminiumrahmen waren in dem oberen Teil der Wand in gleichmäßigen Abständen angebracht. Alles war exponiert, beleuchtet und leicht übersehbar: die Burschen, ihre Gesichter, ihre Kleidung, die schmalen Betten, der Boden unter den Betten.

An der Wand neben dem Aktenschrank erwies sich das, was wie eine große Tabelle ausgesehen hatte, als ein Stundenplan.

Jane war dabei, ihn zu betrachten – Waschungen, Tee, Feldarbeit, Barackendienst, Feldarbeit, Frühstück, Ruhepause, Mittagessen, Diskussion, Barackendienst –, als sie hörte, wie Roche »Jimmy« sagte; sie blickte auf und sah im Türrahmen am Ende der Hütte einen Mann.

Der Mann zeichnete sich anfangs als Silhouette gegen das weiße Licht draußen ab. Als er die Hütte betrat, sah man, dass er von der Taille aufwärts nackt war, mit einem Handtuch über der Schulter. Als er den breiten Gang zwischen den Metallbetten entlangkam, mit kurzen, leichten Schritten, verstärkte sich der Eindruck gepflegter Wohlproportioniertheit. Dieser Eindruck entstand durch die Schmalheit der Taille, die Breite der Schultern, die Verschlossenheit seines Gesichtsausdrucks, durch seine vollen, glatt rasierten Wangen, durch seinen gepflegten Schnurrbart und durch seine Hosen, die aus glattem, rehfarbenem Stoff waren und so eng, dass er von der Taille bis zu den Schuhen glatt und schmal wirkte. Die Schuhe selbst waren spitz, hatten dünne Sohlen und glänzten unter einer Puderschicht von rotem Staub.

Jane hatte jemanden körperlich ungelenker und tiefdunkler erwartet, jemanden mindestens so schwarz wie die Burschen. Sie erblickte jemand, der in der Nähe ausgesprochen chinesisch aussah. Der dichte Schnurrbart verbarg die Form seiner Oberlippe und betonte mehr das Vorspringen als das Üppige der Unterlippe. Seine Augen waren klein, schwarz und ausdruckslos; das und der Schnurrbart, der auf einen zusammengepressten Mund hinwies, ließen ihn zugeknöpft, angespannt und undurchschaubar erscheinen.

Zu Roche sagte er »Massa«. Jane nickte er zu, scheinbar ohne sie zu sehen.

Ohne sich zu beeilen, gleichgültig gegen das Schweigen, nahm er das grüne Handtuch von der Schulter, hing es über die Lehne des Küchenstuhls und pflückte von einem Nagel an der Wand eine grau-blau-grüne Tunika. Die stumpfe Farbe hob den Kontrast zwischen seinem Gesicht und seiner blasseren Brust auf und machte ihn weniger beunruhigend. Endlich angekleidet, zog er die Tischschublade auf und sagte: »Ja, Massa. Wie Sie sehen, halten wir noch immer aus.«

»Wie ich sehe, haben Sie eine Vervielfältigungsmaschine«, bemerkte Jane.

»Aus zweiter Hand, von Sablich«, sagte Jimmy. »Mehr wie aus letzter Hand.«

»Sie sollten vielleicht lernen, sie zu benutzen«, meinte Roche.

»Ja, Massa.« Er nahm einige vervielfältigte Seiten aus der Schublade und reichte sie Jane. »Das zeigt Ihnen, worum es geht.«

Die oberste Seite hatte Eselsohren und fühlte sich staubig an. Jane las: »Communiqué No. 1 Rubriziert.«

Roche sagte: »Das ist ein Märchen. Wie ich sehe, ist der Traktor noch immer außer Betrieb, Jimmy. Ist Donaldson nicht gekommen?«

»Hmm. Hat man Ihnen bei Sablich das erzählt?«

»Ist er nicht gekommen?«

»Doch, Massa. Donaldson ist gekommen.«

Roche ließ das Thema fallen. »Na schön. Sehen wir uns mal an, was Sie wegen des Latrinentanks gemacht haben.«

Die beiden Männer gingen in die Sonne hinaus. Jane blieb zurück. Sie spürte, wie jetzt die Blicke der Burschen auf ihr ruhten, und sie sah sich die vervielfältigten Seiten in ihrer Hand an. Alle Revolutionen beginnen mit dem Land. Die Menschen werden auf der Erde geboren, ein jeder hat seinen eignen Platz, es ist sein Geburtsrecht, und die Menschen müssen ihren Anteil an der Erde in Brüderlichkeit und Harmonie beanspruchen. In diesem Geist kamen wir, eine unerschrockene Gruppe, in den Urwald, es ist der Lebensstil und das Glaubensbekenntnis von Thrushcross Grange. So fing das Communiqué an. Aber als Jane weiterlas, stellte sie fest, dass es bald zu dem wurde, was Roche gesagt hatte: ein Märchen, ein Schulaufsatz, ungrammatikalisch und konfus, über das Leben im Wald, über die Sorgen, Gefahren und Nöte isoliert lebender Männer, über den Mangel an Wasser, Elektrizität und Transportmöglichkeiten. Und dann war es voller Klagen über Leute und Firmen, die Versprechungen gemacht, die sie nicht gehalten hatten, über geschenktes Ausrüstungsmaterial, das sich als defekt erwiesen hatte.

Jane sah von den vervielfältigten Seiten auf und begegnete dem Blick eines der Burschen. Auf der Wand über seinem Bett sah sie ein Plakat: Eine Federzeichnung von Jimmy Ahmed, auf der er nur aus Haar, Augen und Schnurrbart bestand, was ihn tiefdunkler erscheinen ließ als in Wirklichkeit, darunter in primitiven Lettern die Unterschrift: »Ich bin niemandes Sklave oder Hengst. Ich bin Krieger und Fackelträger – Haji James Ahmed.«

Die rechteckigen Fenster zeigten einen farblosen Himmel. Aber jetzt hatte Jane mehr als ein Gefühl der Hitze: Sie hatte ein Gefühl der Trostlosigkeit. Später, auf dem Ridge, in London, ergab ihr Besuch in Thrushcross Grange vielleicht eine Story. Aber jetzt, in dieser Hütte, mit den ausrangierten Büromaschinen auf dem Tisch, den Plakaten und schwarzen Zeitungsausschnitten an den Wänden, mit den Burschen auf den Metallbetten, mit dem Licht und der Leere, die draußen herrschte, und dem alles umzingelnden Wald, empfand sie, dass sie eine vollkommen andere Welt betreten hatte.

Sie hörte ein Zischen. Es war eines der Straßengeräusche, die sie auf der Insel zu erkennen gelernt hatte. Auf diese Weise machte ein Mann einen entfernten Menschen auf sich aufmerksam: Dieses Zischen vermochte den Lärm des Verkehrs auf einer vielbefahrenen Straße zu durchdringen. Das Zischen kam von einem Burschen auf den Betten. Sie wusste, dass es ihr galt, aber sie nahm keine Notiz davon und versuchte weiterzulesen.

»Sister.«

Sie blickte nicht auf.

»Weiße Lady.«

Sie blickte auf. Sie tat einen Schritt auf die Betten zu. Dann, durch diese Bewegung kühn geworden, ging sie zwischen den Betten entlang und suchte nach dem Burschen, der sie angesprochen hatte.

Nur Mannie saß aufrecht da, alle anderen lagen. Ein Bursche schien, als sie vorbeiging, durch sie hindurchzustarren. Aber dann hörte sie ihn leise, wie zu sich selber sprechend, sagen: »Sie kennen also Ihren Namen.« Und der Bursche auf dem nächsten Bett sagte lauter in einem schroffen Ton, ohne sie anzusehen, während sein Gesicht auf einer Seite seines dünnen Kissens ruhte und seine engstehenden, blutunterlaufenen Augen auf den hinteren Eingang fixiert waren: »Geben Sie mir einen Dollar.«

Sein Gesicht war eigentümlich schmal und auf einer Seite verzogen, als ob er bei seiner Geburt beschädigt worden sei. Das Auge auf der verzogenen Seite war halb geschlossen; die Höcker auf der Stirn und die vorstehenden Backenknochen glänzten. Sein Haar war in kleinen Zöpfen frisiert: ein Medusenhaupt.

Sie nahm ein Portemonnaie aus ihrer Schultertasche und reichte ihm eine rote Dollarnote, vierfach gefaltet. Er hob, ohne seine Lage auf dem Bett zu verändern und noch immer ohne sie anzusehen, den Arm, nahm den Geldschein, ließ die Hand wieder auf das Bett fallen und sagte: »Danke, weiße Lady.« Danach war nichts mehr zu tun noch zu sagen. Sie ging an den Betten vorbei zurück, hinter sich das Schweigen spürend, hinaus in die Sonne und trat vom Betonboden der Hütte auf roten, heißen Lehm. Sie betrachtete die Waldpalmen, deren gerade Stämme mit schwarzen Nadeln besät waren und deren lebende, faulende Herzen mit Sacktuchfetzen bandagiert waren. Das Land war bis hinunter zur Straße und hinauf zur Waldwand kahl geschoren und hell. Aber das Land hinter der langgestreckten Hütte schien bereits aufgegeben und verkommen. Sie sah leere Hühnerställe, aus alten Brettern roh zusammengehauen, mit Zäunen aus durchhängendem Maschendraht: Wie die Hühnerställe in den offenen Höfen der neuen Siedlungen in der Stadt, so dass schon jetzt, mitten im Busch, der Eindruck von städtischen Slums entstand.

Sie sah Stöße von alten Latten und Wellblechplatten, alte Drahtrollen, Behälter: Hinterhoframsch. Sie sah eine Art Grube: vertrocknete Lehmhügel, einen Haufen von Betonblöcken. Am Rande der Lichtung stand eine Wellblechlatrine auf einem hohen Betonsockel. Sie schimmerte silbrig in dem harten Licht, und die Tür stand offen. Ein Dach aus Palmzweigen war am hinteren Ende der Rückwand der Betonhütte angebracht. Es begann in der Mitte der Mauer und fiel schräg fast bis zum Boden herab. In dem schwarzen Schatten des Daches standen auf einem Abwaschgestell aus zugerichteten Zweigen ungewaschene Emaillenäpfe, Teller und Schüsseln: Die Erde darunter war dunkel und schmierig. Trostlos. Es drängte sie jetzt, wegzukommen.

Als sie Roche und Jimmy auf sich zukommen sah, konnte sie an Roches deprimiertem und gereiztem Gesichtsausdruck erkennen, dass er mit Jimmy gestritten hatte. Aber Jimmy war ebenso ausdruckslos wie zuvor, sein Mund unter dem Schnurrbart anscheinend fest zusammengepresst.

Roche sagte: »Sie werden eines Tages eine Epidemie auf dem Hals haben.«

Jimmy sagte: »Ja, Massa.«

Roche lächelte Jane an. Seine Gereiztheit glich der ihren; aber sein Lächeln deprimierte sie. Dieses Lächeln, das sie einmal für so schwermütig und ironisch gehalten hatte, dem tiefsten Begreifen der Welt entsprungen, schien jetzt nur eine starre, bedeutungslose Ironie zu enthalten. Ja, noch weniger: Sarkasmus, Enttäuschung, Kleinlichkeit.

Sie gingen zum Wagen, um aufs Feld zu fahren. Jane saß neben Roche, Jimmy auf dem Rücksitz. Zu bald für Jane, die ein Ende des Besuches lieber gesehen hätte, stiegen sie aus, zu einem erneuten Schock von Hitze und Grelligkeit, und gingen von der Straße zu dem Fußweg am Rand des planierten Feldes neben der Waldmauer. Sie gingen hintereinander: Roche, Jane, Jimmy. Roche war noch immer gereizt. Jimmys Teilnahmslosigkeit war in eine gewisse Gelassenheit übergegangen. Zu Jane war er sogar aufmerksam: Sie bemerkte das sofort.

Er sagte mit seiner hellen Stimme: »Wie ist es Ihnen mit den Burschen ergangen?«

»Wir sagten nicht viel.«

Roche bemerkte, ohne sich umzudrehen: »Zum Reden haben sie nicht allzuviel Stoff.«

Jimmy stieß sein übliches Grunzen aus. »Hmm.«

Die Sonne schien voll auf sie und voll auf die Waldmauer, aus der Nähe jetzt weniger grün, dürrer und durchbrochener. Es war völlig windstill. Der Pfad war hart und uneben, und beim Gehen wirbelten sie Staub auf. Jane schwitzte; der Staub klebte an ihrer Haut.

Roche fragte: »Haben sie von dir Geld verlangt?«

»Einer wollte einen Dollar.«

Jimmy sagte: »Das war Bryant.«

»Einer mit Zöpfen. Sehr schwarz.«

»Bryant«, sagte Jimmy.

Roche fragte: »Hast du ihm einen Dollar gegeben?«

»Nein.«

Jimmy murmelte: »Hmm.«

Sie gingen zwischen dem Wald und dem dürren Feld, an Furchen vorbei, wo glänzend grünes Unkraut aus der verdorrten Erde wuchs, vorbei an dem verlassenen roten Traktor mit der Aufschrift Sablich’s; vorbei an dem verfallenden, palmzweiggedeckten Schuppen, wo langstielige junge Tomatenpflanzen in flachen Kästen mit vertrockneter Erde vergilbten; vorbei an menschlichen Exkrementen, die an zwei Stellen mitten auf dem Weg lagen. Sie verstummten, als sie über die Exkremente hinwegstiegen.

Dann fragte Jane, die an Schatten dachte und zugleich an etwas, das Jimmy und seinen Burschen zu tun leichter fallen würde: »Werden Sie Obstbäume pflanzen?«

Jimmy sagte: »Das ist langfristig. In der jetzigen Phase des Projekts brauchen wir Geld und konzentrieren uns auf Saaten, die Geld einbringen.«

Sie kamen an das Ende des Felds, wo vier Burschen in Jeans und Gummistiefeln in unkrauterstickten Furchen standen, über vier ausgetrocknete Ränder hinweg. Die Pflanzerdrucke des 19. Jahrhunderts parodierend, welche Einheimische zu sammeln begonnen hatten, pflanzten die Burschen mit mürrischen, niedergeschlagenen Augen, als verrichteten sie eine unangenehme Pflicht, langstielige Tomatensämlinge, die ebenso rasch, wie sie in ihre kleinen staubigen Löcher gesetzt wurden, umsanken und welkten.

Jimmy sagte zu Jane, als spreche er von einem rein einheimischen Produkt: »Tomaten. Auf dem Markt muss man achtzig Cent das Pfund zahlen. Der Verkauf, Massa – das wird schwierig sein.«

»Darüber reden wir, wenn es einmal so weit ist«, erwiderte Roche.

Sie ließen die Burschen hinter sich und gingen zu der Stelle, wo Bambusbüsche am Waldrand wuchsen und sich im Bogen über das Feld neigten. Es war kühl im Schatten des Bambus, und die Erde war weich und mit welkem Bambuslaub gepolstert. Die Bambusstiele, leuchtend grün bis chromgelb und strohfarben, schwankten unter ihrem eigenen Gewicht und rieben sich knirschend aneinander. Ein Busch hatte sich entzündet; aber schon sprossen wieder grüne Triebe aus seinem geschwärzten, aschebestaubten Herzen.

In diesem Teil des Felds, vom Bambus beschattet, war das Unkraut beinah zum Busch geworden. Durch diesen hindurch gingen sie zu dem, was Jimmy den Gemüsegarten nannte; das dort gezogene Gemüse war nur für Thrushcross Grange bestimmt. Der Gemüsegarten stand knietief in Unkraut, ohne eine Spur von Furchen. Weder Jimmy noch Roche schienen darüber erstaunt. Mit plötzlicher Energie zog Jimmy Unkraut auseinander, suchte nach dem, was gepflanzt worden, und zeigte, was gewachsen war: deformierte, blasse Auberginen und verkümmerte Eibische. Er war erregt: Er war wie ein Mensch, der die Einfachheit der Natur entdeckt, ihre unwandelbaren Gesetze, den Prozess, der für ihn ebenso gearbeitet hatte wie für andere.

Jimmy wohnte nicht in Thrushcross Grange. Sein Haus lag etwas entfernt davon, durch ein Waldstück von der Kommunenhütte getrennt. Es gab einen Weg durch den Wald, aber es gab auch einen durch die Seitenstraßen des ehemaligen Industriegeländes, und sie fuhren mit dem Wagen.

Die Einladung war unerwartet; Roche gegenüber war Jimmy bezüglich seines Hauses stets verschwiegen gewesen. Aber Jane war nicht überrascht. Sie hatte bereits gespürt, dass Jimmys anfängliche Kühle nur eine Form von Ängstlichkeit gewesen war; dass er diesen Besuch für wichtig erachtet und sich darauf vorbereitet hatte, seinen Auftritt, sein verschlossenes, ausdrucksloses Gesicht; und dass er sich allmählich gelöst hatte und immer mehr ein Mann geworden war, dem es darauf ankam, Eindruck zu machen, sich zur Schau zu stellen. In einem bestimmten Moment, als Jimmy sich im Gemüsegarten hinuntergebeugt hatte, um das Unkraut von den Gemüsepflanzen zu trennen, hatte Jane gedacht: Er ist ein Verehrer. Und ihre Nervosität, die bis dahin Hitze und Staub gegolten hatte, war umgeschlagen in die Nervosität einer Frau, die sich umworben weiß. Sie fühlte sich sicherer. Sogar noch ehe sie an das gestreifte Schilderhaus gekommen waren, hatte Roche, versteckt hinter seiner Sonnenbrille, ihre neue Stimmung bemerkt. Es war etwas, an das er sich aus ihrer ersten Zeit in London erinnerte: jene Nervosität, mit plötzlicher Koketterie gepaart, was ihr besonderer Stil war. Die Seeanemone, dachte er: die ihre Fangarme auf dem Boden des Meeres schwenkt. Verwurzelt und sicher, und gleichgültig gegen das, was sie anlockte. Die Drachen-Dame, unendlich lässig, unendlich unbewusst berechnend, so gleichgültig dem eigenen Körper gegenüber, anscheinend so bereit, ihn zu missbrauchen, und doch so achtsam auf den Körper, so achtsam auf Teint und Zähne und Haar.

Das Haus stand für sich am Ende einer schmalen Straße, die in einiger Entfernung von der Waldmauer aufhörte. In den Tagen des Industrieareals war es das Haus eines amerikanischen Fabrikdirektors gewesen. Das Unternehmen hatte, als es noch günstig war, sein Kapital und seine Maschinen abgezogen; die Fabrikgebäude, Gerippe aus Wellblech oder Holz, waren als Baumaterial versteigert und demontiert worden, und alles, was jetzt von der Fabrik übrig war, war die in einer Sackgasse endende Straße, der planierte Boden auf beiden Seiten der Straße und das Haus am Ende der Straße.

Rosa und weißer Oleander waren hoch um das Haus gewachsen, und Bougainvillea wucherte üppig. Überraschend leuchtende Farben in all dem Braun. Das Haus, das auf niedrigen Betonsäulen stand und ockergelb gestrichene Betonmauern hatte, sah in seiner Architektur einfach aus; aber das Wellblechdach war kompliziert: Eine versuchte Annäherung an das, was hierzulande als kalifornischer Stil galt.

Als sie ankamen, fuhr ein kleiner blauer Lieferwagen aus dem Hof: Chen Bros/Qualitätslebensmittel. Roche wich zur Seite, um den Lieferwagen vorbeizulassen, und fuhr dann an dem grellen Weiß der Vorderveranda vorbei in den Schutz und die Kühle der Garage neben dem Haus. Am hinteren Ende der Betonstufen standen Pappkartons voller Pakete und Packungen.

Jane sagte: »Sie liefern hierher?«

»Und sie liefern ohne Aufschlag«, sagte Roche und nahm die Sonnenbrille ab. »Es kommt gleich hinter Selbstversorgung.«

»Meine chinesischen Brüder«, sagte Jimmy. Als sie zurück in die Sonne zur Vorderfront des Hauses gingen, fragte er Jane direkt: »Wissen Sie etwas über Chinesen?«

Sie war kokett, interessiert, amüsiert.

»Ich bin im Hinterzimmer eines chinesischen Kramladens geboren. Aber das dürfte ziemlich augenfällig sein.«

Jane sagte: »Ich weiß nichts über chinesische Kramläden.«

»Wahrscheinlich habe ich deswegen immer Hunger gehabt. Meine chinesischen Brüder verstehen die Situation.«

Der Garten sah zugleich versengt und überwuchert aus. Crabgrass war ins Kraut geschossen, mit mehr Stielen als Gras, war vertrocknet und hinterließ kahle Erdstellen. Aber die Dürre, die das Land getötet und die Hügel in Brand gesetzt hatte, hatte aus den ungestutzten Bougainvilleas und den fast nackten Hibiskussträuchern die zartesten Blüten gezeitigt. Es war die Jahreszeit neuen Laubs, wo dieses auftauchte, war es noch immer von frischestem Grün.

Die Sonne strahlte voll auf die Terrazzoveranda, und das Wohnzimmer fing das Licht ein. Ein viereckiger englischer Teppich, stahlblau mit Tupfen von Schwarz und Gelb, bedeckte fast den ganzen Fußboden. Auch die Möbel waren englisch und hatten eine ähnlich primitive Modernität; sie waren von der Art, die man in Möbelgeschäften in den Hauptstraßen englischer Marktstädtchen sieht. Eine dreiteilige Sitzgarnitur, spießig und klobig, mit dicken Kissen, war mit einem tigergestreiften synthetischen Stoff bezogen, dick und fellartig. Auf den eingebauten Bücherregalen standen eine Anzahl Bücher in dem gleichen fuchsienroten Einband dicht nebeneinander: Die Hundert Besten Bücher der Welt; es gab auch einige Paperbacks und einen säuberlichen Stapel Schallplatten. Eine blau getönte Vase enthielt drei Bougainvilleazweige. Es war ein Zimmer ohne Unordnung; es war offensichtlich für den Besuch vorbereitet worden.

Jane fühlte, dass man einen Kommentar erwartete. Sie sagte: »Aber es ist ja, als ob man in England wäre.«

Jimmy erwiderte: »Alle Sachen hier kommen aus England. Sie wissen, was man sagt: Man kann in England vielleicht nicht sein Auskommen finden, aber England lehrt einen, wie man lebt.«

Auf zwei der eingebauten Regale, unterhalb der Bücher und Schallplatten, standen unaufgezogene Fotos in billigen Rahmen: Jimmy in London, mit verschiedenen Leuten. Jane erkannte einige Berühmtheiten: einen Schauspieler, einen Politiker und einen Fernsehproduzenten. Es waren Leute außerhalb von Janes Kreisen, und in London waren die Namen ihr gleichgültig gewesen. Aber hier wirkten sie glanzvoll; und es ging ihr auf, dass diese Umgebung, welche seine eigene war, Jimmy als Menschen verkleinerte.

Sie sagte: »Ihre englischen Erinnerungen.«

Er erfasste die automatische Ironie in ihrer Stimme, und seine Augen wurden unruhig. Dann presste er die Lippen unter dem Schnurrbart fest zusammen.

Sie sah ein anderes, gerahmtes Foto. Das Foto war verstümmelt, in der Mitte unregelmäßig durchgeschnitten worden, um eine Figur wegzulassen. Übrig blieb das Bild zweier Kinder von gemischter Herkunft, mit runden Gesichtern, groben Zügen, Haar krauser als das von Jimmy und einer Hautfarbe, die nicht blass war. Ein verstümmeltes Foto, eine Mahnung an die herausgeschnittene Person: Es war merkwürdig, dass jemand, der Fotos so gern mochte, kein Bild hatte, auf dem die Kinder allein fotografiert waren.

Ein Dreieck weißen Lichts drang von der Veranda in das Wohnzimmer, über den aufgebogenen Rand des stahlblauen Teppichs, der unbefestigt auf dem Terrazzoboden lag. Die Helligkeit zeigte feinen Staub auf der Rauchglasplatte des ovalen Tisches in der Mitte des Raums. Auf diesem Tisch sah Jane, wie zur Schau gestellt, Luftpostbriefe mit englischen Briefmarken.

Sie sagte: »Sie vermissen England wohl sehr?«

Sie sah, wie er zögerte: Es war, als habe sie ihm eine Fangfrage gestellt.

Roche sagte in jenem müden Ton, der sie einmal bewogen hatte, nach einem tieferen Sinn in seinen Worten zu suchen: »England liegt im Zentrum des Zyklons, das ist ein Glück.«

Sich halb kokett von Jimmy abwendend, ihr Teint so frisch, so gepflegt, sagte sie mit rasch aufscheinender Nervosität in den Augen: »Ist es ein Glück, halb tot zu sein?«

Es war das, was er sie gelehrt, was sie von ihm aufgeschnappt und als Worte, als vorübergehende Haltung in das Chaos von Worten und Attitüden, die sie besaß, einbezogen hatte: Worte, die sie jederzeit fallenlassen konnte, so leicht, wie sie sie aufgeschnappt hatte, und vergessen, dass sie sie jemals ausgesprochen hatte, sie, die einmal mit einem jungen Politiker verheiratet gewesen war und ohne Anstrengung eine landläufige Korrektheit verkörpert hatte und ebenso leicht zu einer solchen Rolle zurückkehren konnte. Sie war ohne Gedächtnis: Das hatte Roche vor einiger Zeit festgestellt. Sie war unbeständig, sogar inkonsequent. Sie wusste nur, was sie war und wozu sie geboren war; an dieses Wissen war sie gebunden; das war ihre Stabilität, die ihr erlaubte, sich gefahrlos in Abenteuer zu stürzen. Im Fall von Abenteuern war sie gleichgültig, vielleicht blind gegenüber dem Widerspruch von dem, was sie sagte, und dem, was sie überzeugt war zu sein; und diese Gleichgültigkeit oder Blindheit, dieser Mangel an einem Sinn für das Absurde waren Teil ihrer Unangreifbarkeit.

Jimmy sagte schließlich: »Meine Kinder fehlen mir.«

Er bot alkoholfreie Getränke an. Er sei Moslem, sagte er, und trinke keinen Alkohol. Nachdem er sie bedient hatte, setzte er sich in einen der gelb bezogenen Sessel. Mit zwei kleinen, geschickten Bewegungen zog er seine Hosenbeine hoch, jede Falte zwischen Daumen und Zeigefinger haltend. Er legte seine nackten Arme flach auf die Sessellehnen und begann seine Handflächen sehr sanft über das dicke, synthetische Fell zu reiben. Jane bemerkte die reibende Bewegung und streichelte das Fell auf ihrem eigenen Sessel. Er war glatt und fühlte sich fast ölig an; ihre Handflächen juckten, und sie biss die Zähne zusammen.

Er war so adrett mit seinen engen Bügelfaltenhosen, seine Gesten waren so sparsam und präzis. Seine volle Unterlippe war feucht und in der Mitte sehr rosa: Jane schien es, als sei das Rosa durch das beständige Lecken seiner Zungenspitze entstanden. Er war sehr glatt rasiert; das starke Haar lag tief in seiner derben Haut, und Kinn und Wangen waren uneben vom Rasiermesser, mit einem weißen Flaum auf den unebenen Stellen.

Das alkoholfreie Getränk, das er serviert hatte, war unangenehm. Es hatte den fauligen Geschmack der blassen Flüssigkeit auf dem oberen Teil einer ungeschüttelten Flasche Orangensafts; und die geeisten Gläser, mehr oder weniger voll, an der Außenseite beschlagend, blieben in ihren hölzernen Untersätzen auf der Glasplatte des Tisches stehen.

Roche hatte sich von der Unterhaltung zurückgezogen. Seine Stirn war gerunzelt; er war sichtlich gereizt. Jane war gelassen.

Jimmy sagte: »England ist nicht echt.«

»Was meinen Sie damit, es ist nicht echt?« sagte Roche.

»Wissen Sie überhaupt, was Sie meinen?«

»Ich weiß, was er meint«, sagte Jane.

Jimmy leckte sich flüchtig die Lippen. Seine Hände blieben still, die Finger auf den Armlehnen gespreizt, und er drückte den Rücken flach an den Sessel. »Dort werden die Probleme nicht gelöst werden. Sie wissen, was in England vorgeht. Alle gehen zur Demo und der Versammlung, und dann verlassen sie einen und gehen nach Hause Tee trinken.«

Roche sagte: »Geht man in England noch immer nach Hause, um Tee zu trinken?«

Jimmy sah Jane an. Sie war interessiert, lächelnd, kokett und rot im Gesicht. Er sagte: »Ich hatte Glück. Ich bin rechtzeitig entkommen. Da drüben kann der Schwarze zum …«, er suchte nach dem Wort, »zum Playboy werden. In England macht man uns zum Playboy.«

Es war das falsche Wort. Jane überlegte und entdeckte, was er meinte: Plaything – Spielzeug.

Sie sagte: »Playboy. Das war der Eindruck, den die Zeitungen vermittelten.«

In London also hatte sie von ihm gehört. Er sagte: »Hmm.«

Roche bemerkte: »Ich habe Stephens nicht gesehen. Was ist mit ihm?«

»Wahrscheinlich ist er von uns weggelaufen, Massa.«

Jane sagte: »Ich möchte noch mehr über England hören.«

Roche warf ein: »Ich frage ihn nach Stephens.«

Jane lächelte und kreuzte die Beine.

»Diese Leute wollen sofortige Resultate, Massa. Stephens war der Wilde. Sie glaubten mir einen Arbeiter zu schicken, Sie wussten nicht, dass Sie mir einen Jungen schickten, der mich umbringen wollte. Er fand, sein Platz wäre hier.« Er deutete mit der Hand rundum das Zimmer. »Jeder will ein Führer sein.«

»Stephens ist also fort?« fragte Roche.

»Ich weiß es nicht, Massa.«

Jane sagte: »Das Leben hier muss hart sein.«

»Von hartem Leben weiß ich nichts«, sagte Jimmy. »Für mich ist es Leben. Für mich ist es Arbeit. Ich bin ein Arbeiter. Ich bin im Hinterzimmer eines chinesischen Kramladens geboren. Ich bin ein hakwai-Chinese. Sie wissen, was hakwai ist? Auf Chinesisch verächtlich für Schwarzer. Sie haben dafür auch ein Wort. Und das, glaubte man, würde ich nach meiner Rückkehr hier sein. Oh, in England ist er eine große Nummer und so weiter, aber hier wird er nur ein hakwai sein. Soll er doch seine Bewegung anfangen. Soll er sich doch für die Schwarzen einsetzen. Wollen mal sehen, wie weit er damit kommt. Dies ist nicht England. Sie glaubten, ich sei ihnen in die Falle gegangen. Jetzt erkennen sie, dass sie sich selber eine Falle gestellt haben. Was, Massa? Sablich und alle anderen. Sie müssen mich aufbauen. Denn wenn ich versage – hmm. Ich bin der Einzige, der zwischen ihnen und der Revolution steht, und das wissen sie, Massa. Deshalb bin ich der Einzige, den sie fürchten. Sie wissen, dass ich nur ein Megaphon in die Hand zu nehmen brauche, und das ganze Kartenhaus stürzt zusammen. Ich bin nicht wie die andren. Ich bin kein Straßenecken-Politiker. Ich halte keine Reden. Niemand wird mich ins Gefängnis werfen, weil ich subversiv wäre. Ich bin nicht subversiv. Ich bin ein Freund aller Kapitalisten in diesem Land. Jeder ist mein Freund. Ich gehe nicht auf die Straße, um die Regierung zu stürzen. Niemand wird mich erschießen. Ich bin hier, und ich bleibe hier. Wenn sie mich umbringen wollen, dann müssen sie herkommen. Ich trage keine Waffe.« Er hob die nackten Arme von der Sessellehne und zeigte die Handflächen. Die kurzen Ärmel der mausgrauen Tunika rutschten über seine blassen, festen Bizepse hinauf und enthüllten das krause Haar in den Achselhöhlen. »Ich habe keine Waffe. Ich bin kein Guerilla.«

Er hielt abrupt inne und senkte die Arme. Er hatte sich von den Worten hinreißen lassen; er hatte zu schnell gesprochen und seine Gedanken nicht geordnet. Er hatte nicht die richtigen Dinge gesagt, er hatte zu vieles miteinander vermischt. Seine Augen verschleierten sich, seine Unterlippe schob sich vor. Seine Hände lagen flach auf den Armlehnen, die Finger steif nebeneinander.

Jane fragte: »War Ihre Frau Engländerin?«

Jimmy stand auf. Sein Blick verschleierte sich noch mehr. Seine Unterlippe begann sich zu schürzen. Auf seiner glatten Stirn erschienen Falten, und die Haut unter seinen Augen wurde dunkel. »Ja, ja«, sagte er.

Roche sah, dass es Zeit zum Aufbruch war.

 

»Jedes Mal, wenn ich Jimmy treffe«, sagte Roche, als sie abfuhren, »lege ich es darauf an, ihn wenigstens einmal auf den Boden der Wirklichkeit zurückzubringen. Er war heute ungewöhnlich erregt. Ich nehme an, deinetwegen.«

»Er gab kolossal an.«

»In allem, was er sagt, steckt immer ein Körnchen Wahrheit. Das ist das Merkwürdige.«

»Dieser grässliche Schuppen. Diese schwachsinnig aussehenden Burschen. All die Scheiße im Feld.«

»Hast du dem Jungen Geld gegeben?«

»Nein.«

»Wenn man sich einmal erpressen lässt, ist es schwer, ihnen gegenüber Autorität zu bewahren.«

Jane sagte: »Harry de Tunja erklärte, dass Jimmy unheimlich sei. Ich fand diese Burschen viel unheimlicher.«

»Sie meinen es nicht ernst. Gefährlich werden sie erst, wenn man mit ihnen spielt. Das ist ein weiterer Grund, weshalb ich mich bemühe, mit Jimmy einmal wenigstens wütend zu werden.«

»Ist die Geschichte von der Vergewaltigung wahr? Ist das der Grund, weshalb er abgeschoben wurde?«

»Ich habe keinen Anlass, es zu bezweifeln. Aber man muss mit dem arbeiten, was vorhanden ist.«

»Ich möchte doch wissen, wie Klein Doris es aufgefasst hat.«

»Doris?«

»Ich dachte an die Frau. Ich denke, sie muss eine Doris gewesen sein, meinst du nicht?«

»Es waren keine Dorisse, die in London hinter Jimmy her waren. Du hast die Welt klar vor Augen, und dennoch ist es komisch, wie du dir den ganzen Tag comic strips ausdenkst. Jemanden Doris zu nennen, heißt nicht, einen Standpunkt zu haben. Damit sagst du gar nichts. Von Doris und der Scheiße im Feld zu reden, macht noch keinen Standpunkt aus.«

»Vielleicht habe ich keinen Standpunkt.«

»Wenn du nur nicht so tätest, als hättest du einen. Erinnerst du dich, wie du das Gespräch bei den Grandlieus unterbrochen hast? Du dachtest, du zeigtest so viel Anteilnahme, als du von den Barackensiedlungen und den scheußlichen kleinen schwarzen Tieren sprachst, die im Unrat herumkrochen. Du dachtest, du sprächest über Dinge, die noch kein Mensch gesehen hätte. Du dachtest, du nähmest so viel mehr Anteil als irgendein anderer. Aber du hast gar nichts gesagt. Es war eine billige Art, dich wichtig zu machen.«

»Nun, jetzt sehe ich die Barackensiedlungen nicht mehr.«

Sie waren auf der Fernstraße. Die Sonne fiel ihnen schräg ins Gesicht. Die Hügel rauchten; aber trotz der andauernden, stillen Hitze hatte sich das Licht auf den Hügeln geändert, sich vom Mittags- zum Nachmittagslicht gewandelt. In dem gelb werdenden Dunst über den Hügeln zeigten sich Spuren des kommenden Sonnenuntergangs; schon bildeten sich hoch am Himmel die abendlichen Wolken. Sie kamen in das Fabrikgebiet: Verkehr, geschwärzte Grasstreifen, Fabrikgebäude, die noch immer provisorisch wirkten in der flachen Landschaft der alten Plantagen, wo Zierbäume und junge Königspalmen mit glatten Stämmen auf braunem Fabrikrasen wie Dinge standen, die aus dem Wald gerettet worden waren. Hier und da, tief in den Feldern hinter den Fabriken, waren Automobile, in deren Kofferraum Männer Bündel geschnittenen Grases luden, Futter für die Kühe und andere Tiere, die sie noch immer hielten, deren Pferche manchmal hinter den Hütten und Häusern an der Fernstraße zu sehen waren.

Da war ein Mann, der unentwegt auf der Straße vor ihnen herlief, ungeachtet des Verkehrs und der Abgase: ein älterer Schwarzer mit langem Hals, hagerem Gesicht, in schwarzen Sportshorts und durchweichtem weißen Unterhemd. Er war eine bekannte Gestalt, ein geistesgestörter Mann, der zu unbestimmten Zeiten am Tag und in der Nacht auf die Straße ging und meilenweit rannte.

Und Jane dachte, dies war wieder etwas, das sie nicht mehr sah: Menschen wie der Läufer, Menschen wie die Wilden, die in den Hügeln lebten, unter den neuen Siedlungen oder unten in der Stadt, in den Hinterhöfen gewisser Durchfahrtsstraßen: Treibholz, eine ganz gleichgerichtete Gesellschaft.

Sie sagte: »Hat die Regierung tatsächlich Angst vor Jimmy?«

»Die Regierung hat vor allen Angst. Und Jimmy hat recht. Sie muss ihn aufbauen und so tun, als unterstütze sie ihn, den Macher. Und Jimmy hat jene englische Reputation. Man kann ihn nicht einfach beiseiteschieben.«

»Was für eine merkwürdige Vorstellung muss er von England haben.«

»Für seine Zwecke verstand er es vermutlich gut genug.«

Jane sagte: »Du tönst nicht so, als ob du ihn magst.«

»Es ist keine Frage von mögen. Und ich habe nichts gegen Jimmy. Er ist wie die anderen. Er sucht nach einer Gefolgschaft.«

»Natürlich macht er jedem etwas vor, nicht wahr? Und alle machen ihm etwas vor. Jeder tut so, als existiere etwas, das gar nicht existiert.«

Roche sagte: »Man muss mit dem arbeiten, was vorhanden ist.«

»Aber er muss doch wissen, dass diese Felder in einem fürchterlichen Zustand sind. Weiß er das nicht? Oder ist er einfach verrückt wie alle anderen?«

Langsam in dem dichter werdenden Verkehr, und immer mit der Sonne in den Augen, kamen sie durch die Vororte in die Stadt: Zu den schwelenden Müllhalden, mit Haufen neuen Abfalls, zu der neuen Siedlungsanlage mit ihren langen, roten Alleen, die jetzt voller Männer, Frauen und Kinder waren; zu dem Marktplatz, wo Kühlwagen in den ungepflasterten Vorhöfen standen, zu der Seestraße, wo einmal die Rede von einem Kulturzentrum an der Wasserfront gewesen war, von Gehwegen und Restaurants, einem Theater und einer marina, wo aber jetzt roter Bauxitstaub von der Bauxitverladestation alles überzog. Die Straße war hier holperig mit unregelmäßigen Rändern; auf den unausgebauten Bürgersteigen, von hartem Gras überwachsen, lagen Teile von Betonrohren, mit Schlagworten beschmiert, und alte, plattgetretene Kieshaufen und andere Straßenbaumaterialien, jetzt mit Bauxitstaub vermischt, gelbe Fetzen von Zeitungspapier und ausgebleichte leere Zigarettenpackungen.

Jane sagte: »Was ist ein Sukkubus?«

Feiner, roter Staub puderte Roches Sonnenbrille, so dass er blicklos wirkte. Er sagte: »Es klingt wie Inkubus. Aber das kann nicht stimmen.«

»So nannte Harry de Tunja Jimmy Ahmed, als ich ihm erzählte, dass wir zu ihm führen. Er sagte, Jimmy sei ein Sukkubus.«

»Es klingt wie eine Art Parasit. Etwas, das man mit sich herumträgt. So eine Art Blutegel.«

Sie bogen endlich in das Stadtinnere ein. Dort standen die Lagerhäuser und außerdem viele Rumbuden. Aus jeder Rumbude klang Lärm. Das Gebiet hatte früher einmal zum Stadtzentrum gehört. Aber die Stadt hatte kein Zentrum mehr. Mit der Einführung der zahlreichen Automobile waren die Hügel erschlossen und zu selbständigen Vororten entwickelt worden, mit eigenen Einkaufs- und Vergnügungsplätzen, und die Bauern, die einst das Hügelland bebauten und es ausbeuteten, hatten verkauft und waren in die Ebene gezogen.

Oben auf dem Kamm atmete man bessere Luft; man verlor dort das Gefühl für die Stadt und sah sie als Teil eines erweiterten Ausblicks auf das Meer, die Mangroven und die große Ebene. Man sah sie, wie sie sich jetzt darbot, als Teil der Farben des späten Nachmittags, wo Rauchschwaden und rosa Gewölk vom Rand der See aufstiegen, um sich mit der Gloriole grauer, roter und orangefarbener Wolken zu vereinen.