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Lemuel Gulliver muss ein echter Glückspilz gewesen sein! Sonst wäre er nicht allen Gefahren entronnen, denen er als Schiffsarzt ausgesetzt war. Seine Fahrten bescherten ihm die unglaublichsten Abenteuer und endeten mehr als einmal mit Schiffbruch. So landete er in Liliput bei den Zwergen, wo er nur auf Zehenspitzen durch die Stadt gehen durfte, ein anderes Mal geriet er zu den Riesen nach Brobdingnag, wo er fast in einem Sahnekännchen ertrunken wäre.
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Seitenzahl: 74
Veröffentlichungsjahr: 2018
Erich Kästner
Gullivers Reisen
Nacherzählt von Erich Kästner
Illustriert von Horst Lemke
Liebe Leser,
mein Name ist Lemuel Gulliver. Wir schreiben das Jahr 1725, und ich bin nicht mehr der Jüngste. Früher war ich Schiffsarzt, jetzt bin ich Großvater. So ändern sich die Zeiten. Früher liebte ich die Abenteuer, heute liebe ich meine Ruhe. So ändern sich die Menschen. Früher war mir England, meine Heimat, zu klein, und nun ist mir der Obstgarten, wo ich sitze und schreibe, fast zu groß. So ändert sich das Augenmaß.
Der Obstgarten gehört zu einem alten Haus, das mir gehört, und es liegt in Redriff, an der englischen Küste. Wir haben heuer einen milden Herbst, und ich höre, weil das Küchenfenster offen steht, wie meine Frau mit den Pfannen und Töpfen klappert. Außer unserem Haus gehört mir noch ein Grundstück in Epping, wo John, unser Sohn, mit seiner Familie wohnt, und der Londoner Gasthof »Zum schwarzen Ochsen« in der Fetter Lane, den unsere Tochter Betty mit ihrem Mann bewirtschaftet. Die Kinder unserer Kinder, fünf Enkel insgesamt, sind gesund und munter, und im Juni waren alle fünf bei uns zu Besuch. Kurz gesagt, es geht uns gut.
Von meinen Ersparnissen als Schiffsarzt hätte ich die drei Grundstücke nicht kaufen können. Beim Erwerb des Hauses mit dem Obstgarten, worin ich jetzt sitze, kam mir zupasse, dass mich Onkel William in seinem Testament mit einem Legat bedacht hatte. Doch das meiste Geld verdiente ich seinerzeit auf den Jahrmärkten. Ohne jene Einkünfte wäre ich heute kein dreifacher Hausbesitzer, sondern womöglich ein armseliger Dorfbarbier, der den Bauern die Bärte schabt und die Stockzähne reißt.
Ja, die Jahrmärkte brachten mir ein schönes Stück Geld ein, das erste Mal im Jahre 1702, als ich aus Liliput und Blefuscu zurückgekommen war und die winzigen Pferde, Kühe und Schafe herumzeigte, die ich mitgebracht hatte. Ich brauchte nichts zu tun, als die Tierchen auf einen Tisch zu setzen, zu füttern und aufzupassen, dass sie nicht vom Tisch fielen. Meine Frau saß an der Kasse, und ganz England rannte uns die Bude ein. Noch als ich das possierliche Kleinvieh weiterverkaufte, zahlte mir der Schausteller Templeton sechshundert Dukaten auf die Hand.
Im Jahre 1706, nach meiner Rückkehr aus Brobdingnag, dem Reich der Riesen, machte ich das zweite große Jahrmarktsgeschäft. Damals zeigte ich meinen staunenden Landsleuten das Hühnerauge der Riesenkönigin, das so groß war wie eine Kanonenkugel, nur nicht ganz so rund. Auch den Backenzahn ihres Leibkutschers stellte ich aus. Man hätte das Ding für einen alten, geschwärzten Schornstein halten können. Außerdem bewunderte man besonders das Schneckenhaus, worüber ich gestolpert war und mir das Bein gebrochen hatte. Sogar die meterlangen Nähnadeln erregten beträchtliches Aufsehen, und natürlich die drei Wespenstacheln, vor allem, weil ich bei dieser Gelegenheit jedes Mal meinen Kampf mit den Wespen beschrieb, die größer gewesen waren als bei uns die Habichte.
Ich würzte meine Erklärungen und Beschreibungen mit Sätzen, die des Nachdenkens wert waren. An einen der Sätze erinnere ich mich noch. Er stammte vom Doktor Jonathan Swift, einem hochgelehrten Mann voller Phantasie, und lautet: »Die Philosophen haben zweifellos Recht, wenn sie behaupten, dass nichts an und für sich klein oder groß ist, sondern einzig und allein im Vergleich mit anderem.« Die drei Wespenstacheln schenkte ich später der Universität Oxford, in deren naturwissenschaftlichem Kabinett sie noch heute Staunen erregen.
Das alles ist rund zwanzig Jahre her. Soeben ist, aus dem Wipfel über mir, ein roter, reifer Apfel auf den Tisch gefallen, und da musste ich an jenen Riesenapfel denken, der mich damals im Garten des Königs um ein Haar erschlagen hätte. Der königliche Hofzwerg saß versteckt im Baum und rüttelte an einem Zweig. Denn er war eifersüchtig, weil ich viel, viel kleiner war als er und ihn deshalb, seit ich am Hofe war, niemand mehr beachtete. Der Apfel, der donnernd neben mir zu Boden fiel, war achtzehnhundertundzwölfmal so groß wie unsere Äpfel. Einen Riesenschritt weiter links, und ich wäre mausetot und Apfelmus gewesen.
Eigentlich habe ich immer Glück gehabt. Sogar wenn die Schiffe, auf denen ich fuhr, im Sturm zerbrachen und versanken, wurden für mich aus den Unglücksfällen Glücksfälle. Ich kam zu den Zwergen und zu den Riesen und zu Geld. Und an Erinnerungen wurde ich reicher als ein Millionär. Ich will nicht geizig sein. Ich will sie verschenken, indem ich sie aufschreibe. Für alle Menschen, die neugierig sind. Für die Gelehrten, fürs Volk und für die Kinder.
Kaum dass ich in Cambridge studiert und bei Professor Bates, dem bekannten Londoner Arzt, als Assistent allerlei Nützliches hinzugelernt hatte, ging ich zur See. Ich machte weite Reisen und verdiente dabei mein Brot. Was wollte ich mehr? Doch drei Jahre später heiratete ich, und Mary sagte, sie sei nicht nur dazu da, um ihrem Mann vom Hafen aus nachzuwinken. Deshalb versuchte ich mein Glück in London.
Doch das Glück kam nicht. Es gab genug kranke Leute, aber sie gingen zu anderen Ärzten, und das Geld, das Mary in die Ehe mitgebracht hatte, schmolz wie Butter in der Sonne. John kam zur Welt, ein Jahr später Betty, und so half es nichts: Ich musste wieder Schiffsarzt werden. Am 4. Mai 1699 lichtete die »Antilope« in Bristol die Anker. Mary stand mit den Kindern am Kai und winkte mir nach.
Das Schiff fuhr nach Ostindien, und die ersten Monate ging alles gut. Ich hatte nicht viel zu tun. Ich behandelte einen Beinbruch, zwei Blinddärme, drei Darmkoliken, vier Furunkel und fünf hohle Zähne. Auch Wind und Wetter boten nichts Außergewöhnliches. Aber Ende Oktober gerieten wir in einen fürchterlichen Sturm, der kein Ende nehmen wollte. Drei Matrosen wurden über Bord gespült, zwei von einem Mast erschlagen, sieben starben durch Überanstrengung, die Messinstrumente fielen aus, der Kapitän wusste nicht mehr, wo wir waren, und am 5. November lief das Schiff bei Nacht und Nebel auf ein Riff. Die »Antilope« zerbrach und versank.
Ich weiß nur noch, dass ich mit fünf Matrosen in einem Rettungsboot saß und dass wir aus Leibeskräften ruderten, um von dem Felsen fortzukommen. Nach ungefähr einer Stunde kenterte das Boot. Es war noch immer tiefe Nacht, und ich hielt mich mühsam über Wasser, ohne Hoffnung und dennoch entschlossen, meine letzte Minute bis zur letzten Sekunde zu verteidigen. Da, mit einem Mal, fühlte ich Grund unter den Füßen! Ich richtete mich auf. Ich watete und stolperte vorwärts. Das Wasser wurde flacher und flacher. Ich betrat festen Boden. Ich spürte kurzes weiches Gras. Wo befand ich mich? Nirgends blinkte ein Licht. Nirgends ertönte ein Laut. Nirgends gab es einen Weg oder ein Haus, nirgendwo einen Menschen. Nun, fürs Erste war ich gerettet! Ich ließ mich ins Gras sinken und schlief ein.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, schien mir die Sonne so grell ins Gesicht, dass ich mich umdrehen wollte. Doch ich konnte mich nicht umdrehen! Nun wollte ich die Hände vors Gesicht legen. Aber die Hände rührten sich nicht! Dann wollte ich mich aufsetzen. Es misslang! Ich wollte den Kopf heben. Auch das war unmöglich! Ich konnte ihn nicht einmal zur Seite drehen, so sehr riss es mich an den Haaren. Erschöpft und von der Sonne geblendet, schloss ich die Augen. Noch einmal versuchte ich, jetzt blitzwach und mit aller Kraft, mich zu setzen, zu drehen und zu wenden. Es war alles vergeblich. Bei der leisesten Bewegung taten mir die Haut und die Haare, die Knochen und Gelenke so abscheulich weh, dass ich in einem fort »Oh!« und »Aua!« rief.
Ich war gefesselt. Doch wer, um alles in der Welt, hatte das Kunststück fertiggebracht, ohne dass ich aufgewacht war? Und womit hatte mich dieser Mensch gefesselt? Ich spürte keine Stricke, keine Ketten, keine Eisenklammern und keine Kupferdrähte. Und trotzdem lag ich, von den Fußknöcheln bis zu den Fingerkuppen und Haarspitzen, wie angeschmiedet und festgenagelt auf der Erde. Nur die Augäpfel und die Augenlider konnte ich bewegen, sonst nichts. War ich auf eine Zauberinsel geraten? Hatte man mich verhext?
Während ich so dalag und hilflos in den blauen Himmel starrte, spürte ich, wie irgendetwas meine Hosenbeine heraufkrabbelte und sich vielfüßig auf mir fortbewegte. Waren es Ameisen? Oder Spinnen? Waren sie giftig? Dachten sie, ich sei tot?
Als sich das verdächtige Gekrabbel meiner Brust näherte, hob ich mit einem energischen Ruck, der mir sehr wehtat, den Kopf um ein paar Zentimeter, blickte auf meine Weste, schrie auf und ließ den Kopf wieder ins Gras fallen. Das war doch nicht möglich! Wisst ihr, was ich gesehen hatte? Mindestens vierzig Menschen, keiner größer als mein kleinster Fingernagel! Alle miteinander auf meiner Brust! Und alle bewaffnet! Manche mit Lanzen und Speeren, manche mit Pfeil und Bogen, und ihr Offizier, winziger als ein Nürnberger Zinnsoldat, mit einem Degen! Fast die Hälfte der kleinen Kerle purzelte, weil ich geschrien hatte, vor Schreck von mir