Gute Absicht - Angelika Stucke - E-Book

Gute Absicht E-Book

Angelika Stucke

0,0
1,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein grausamer Mord erschüttert die niedersächsische Kleinstadt Roßbach: die ambulant arbeitende Fußpflegerin Kornelia Lorenz findet ihre Patientin Melanie Rott tot in deren Haus auf. Offensichtlich wurde die alte Frau vor ihrem unfreiwilligen Ableben sadistisch gefoltert, die Dorfgemeinschaft ist in Aufruhr. Da Kornelia in ihrem Beruf viel herumkommt und zur Ermordeten ein freundschaftliches Verhältnis pflegte, beschließt sie, eigene Ermittlungen anzustellen. Damit bringt sie sich in höchste Gefahr, da der geisteskranke Mörder ihr bereits viel näher ist, als sie vermutet … Angelika Stucke legt mit "Gute Absicht" einen rasanten Krimi aus ihrer Heimatregion vor, der mit viel Lokalkolorit, skurrilen Landeiern und einer sympathischen Heldin punktet. Ein spannendes Lesevergnügen mit schwarzem Humor und überraschenden Wendungen!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 321

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Angelika Stucke

Gute Absicht

Kriminalroman

BOOKSPOT VERLAG

Für Familie Schiffer:

Fia und Jupp

Mika und Claudia

Isabella und Sarah

Kalla

y para Chema siempre

1

Man könnte wirklich meinen, Dieter schlägt mich, dachte Kornelia Lorenz, während sie eingehend ihr rechtes Bein musterte, das aus den duftenden weißen Schaumbergen ihrer Badewanne ragte. Warum habe ich nur das schwache Bindegewebe von Vaters Seite erben müssen? Tante Konstanze sah auch immer so aus, so verhauen. Sie tauchte das Bein wieder in das wärmende Wasser und nahm sich ihr linkes vor. Das sah kaum besser aus: unzählige blaue Flecken zierten auch hier vor allem den Oberschenkel. Die Badewanne war extra breit, darauf hatte Kornelia beim Umbau bestanden. Sie liebte ihre Auszeiten im Bad, wenn sie für niemand da sein musste. Am liebsten bliebe sie stundenlang im Wasser liegen, wenn das mit der Zeit nicht auskühlen würde.

Manchmal schloss sie die Augen und träumte sich in ein ganz anderes Leben, in dem sie, wie schon in ihren Kindheitsträumen, irgendwo im Dschungel lebte – als junges Mädchen hatte sie sehr für Tarzan geschwärmt. Aber statt in die ferne Welt voller Abenteuer zu ziehen, war sie in Roßbach geblieben, wo ihre Eltern ein Haus gekauft hatten, als sie 15 war. Und statt Tarzan hatte sie dann Dieter Lorenz geheiratet, einen Malermeister. Der hatte damals noch einen ähnlich athletischen Körper wie der Affenmensch vorzuweisen: Waschbrettbauch und stahlharte Muckis vom Scheitel bis zur Sohle. Heute war Dieter zwar immer noch ziemlich kräftig, was seine Armmuskulatur betraf, das war bei einem Handwerker auch nicht anders zu erwarten, aber der hübsche Waschbrettbauch hielt sich schon seit Jahren hinter wachsenden Wohlstandsringen versteckt.

Ich bin ungerecht, dachte Kornelia jetzt. Schließlich sitzt bei mir auch nicht mehr alles wie vor 30 Jahren. Und dann diese Orangenhaut! Nicht genug, dass ich mich im Sommer wegen der blöden Mulden kaum ins Schwimmbad traue, jetzt glaubt Petra auch noch, mein Mann misshandele mich. Dabei sollte sie es doch besser wissen, schließlich kennt sie Dieter schon aus der Schulzeit, während ich erst ’75 nach Roßbach gezogen bin, da ging mein späterer Ehegatte schon in die Lehre.

Die dunklen Male auf Kornelias heller Haut rührten von ihrer Lieblingsbeschäftigung her, der Gartenarbeit. Besonders im Spätherbst liebte sie die Vorbereitungen auf einen langen Winter, wenn Hecken und Efeu zurückgeschnitten werden mussten, empfindliche Sträucher abgedeckt wurden, und die Natur sich allgemein auf eine Ruhephase vorbereitete. Das müsste es bei uns Menschen auch geben, wünschte sie sich oft. Ein paar Monate süßes Nichtstun. Aber an eine längere Pause war bei Kornelia gar nicht zu denken. In einem Haushalt mit zwei fast erwachsenen Söhnen und einem etwas altmodisch geratenen Mann konnte sie von Glück sagen, wenn ihre Auszeiten in der Badewanne berücksichtigt wurden. Sie setzte sich auf und begann langsam, ihren Kopf zu rollen. Genau fünfundzwanzig Mal in eine Richtung und dann fünfundzwanzig Mal in die andere. Danach waren die Schultern dran. Ihr gesamter Nackenbereich war verspannt. Das rührte von der immer selben Bewegung beim Heckenschneiden her. Kornelia benutzte dazu die altmodische und schon recht stumpfe Schere, die früher ihrem Vater gehört hatte. Sie hätte auch den neuen elektrischen Apparat nehmen können, aber nachdem sie im letzten Jahr mit einer ganz ähnlichen Maschine einen Kurzschluss verursacht hatte, war ihr das zu gefährlich. Sie wollte nicht wieder schuld daran sein, dass Gabriels Prüfungsarbeiten ungesichert das Zeitliche segneten. Gabi nannte er sich neuerdings, und Kornelia hatte sich bereits mehr als einmal bei der heimlichen Befürchtung ertappt, ihr Großer könne schwul sein. Nicht, dass sie etwas gegen Schwule hätte. Ganz im Gegenteil! Die wenigen, die sie vom Fernsehen her kannte, waren ihr lieber als jeder durchschnittliche heterosexuelle Vertreter männlichen Geschlechts der Gattung Mensch. Sie wirkten so ehrlich. Aber schwul in Roßbach? Das war ein Ding der Unmöglichkeit! Und würde unweigerlich Nachteile für den betreffenden Sohn mit sich ziehen.

Sie seufzte. Wieder einmal waren die Sorgen ganz ungebeten in ihre Gedanken gedrungen. Dabei hatte sie sich noch beim Einlassen des Badewassers so fest vorgenommen, ihre Seele baumeln zu lassen. Genau so, wie das in den Zeitschriften beschrieben stand: Schaumbad, gedämpftes Licht, absolute Ruhe …

»Mama, Mama, die olle Frau Rott ist am Telefon!« Energisch pochte es an der Badezimmertür.

Kornelia holte tief Luft und tauchte mit dem Kopf unter die Schaumkronen. Eine völlig unnütze Geste, denn auch dort war das Klopfen – zwar gedämpft, aber dennoch deutlich – zu vernehmen. Resigniert tauchte sie wieder auf.

»Sag ihr, ich rufe gleich zurück«, schrie sie gegen die Tür, an deren Klinke jetzt von außen gerüttelt wurde. »Und lass das Rütteln, sonst fällt der Griff wieder ab!«

Irgendwie ging in letzter Zeit alles zu Bruch, was Mika, ihr Jüngster, anpackte. Er machte gerade diese furchtbare Phase des Erwachsenwerdens durch, bei der er überall aneckte. Die hatte Kornelia noch aus Gabriels Zeiten in schlechter Erinnerung. Ihre Söhne lagen sechs Jahre auseinander. Das hatten sie und Dieter so gewollt. Sie hatten für jedes Kind Zeit haben wollen. Besonders in den entscheidenden ersten Jahren. Heute dachte Kornelia manchmal, dass sie damit einen Fehler gemacht hatten. Die beiden Jungen waren einfach zu weit auseinander. Fast wie zwei Einzelkinder im Charakter, und die Zeit, in der sie selbst als Mutter gefragt war, schien einfach nie vorbeizugehen.

Widerwillig erhob sie sich aus dem schon etwas ausgekühlten, aber noch immer so schön nach Rosen duftenden Badewasser. Sie griff nach ihrem flauschigen Bademantel und hüllte sich darin ein. Kornelia liebte es, sich nicht wie morgens nach dem Duschen in Eile abtrocknen zu müssen, sondern einfach den dicken Frotteemantel überzustreifen und von selbst zu trocknen. In der rechten Tasche steckte ihre Armbanduhr. Sie schaute auf das Zifferblatt: nur eine halbe Stunde hatte sie diesmal ihr Bad genießen dürfen.

Vor der Badewanne standen ihre Plüschpantoffeln, in denen sie sich immer etwas lächerlich vorkam. Sie waren ein Weihnachtsgeschenk von Mika gewesen, und Kornelia hatte es einfach nicht übers Herz gebracht, die sicherlich liebevoll ausgesuchte Gabe ihres Jüngsten umzutauschen. Warm waren sie ja, aber dass jeder Fuß von einem Mäusekopf – komplett mit dunklen Knopfaugen, rosa Zunge und Schnurrhaaren – geziert wurde und die Pantoffeln zu allem Überfluss hinten auch noch ein kleines graues Schwänzchen trugen, entsprach nicht wirklich ihrem Ideal eines Hausschuhs.

»Was wollte Frau Rott denn?«, fragte sie ihren Sohn, der jetzt wieder in seinem Jugendzimmer vor dem Computer saß. Er verbrachte viel zu viel Zeit vor dem Ding.

»Hatse nich gesagt«, antwortete Mika, ohne auch nur einen Blick vom Bildschirm zu werfen. Eifrig hüpften seine Finger dabei auf der Tastatur herum.

»Danke auch.« Kornelia schloss die Tür zu Mikas Zimmer und schlurfte in die Stube. Dabei musste sie höllisch aufpassen, dass sie nicht auf eines der Mäuseschwänzchen trat und darüber stolperte.

Dieter schlummerte bei halb geöffnetem Mund in seinem Lieblingssessel. Die Beinstütze hatte er hochgefahren, die Rückenlehne so weit es ging nach hinten geklappt. Ein regelmäßiges Brummen ließ darauf schließen, dass die Massagefunktion des Sessels eingeschaltet war.

»Was is’n?«, murmelte ihr Mann schlaftrunken, als Kornelia sich über ihn beugte, um an das Telefon zu gelangen.

»Nichts, nichts, schlaf weiter«, flüsterte sie und gab ihm rasch einen zarten Kuss auf den Mund.

Obwohl sie im kommenden Jahr die Silberhochzeit feiern würden, waren solche kleinen Zeichen der gegenseitigen Zuneigung noch nicht aus dem Alltag der Lorenz’ verschwunden. Kornelia wusste, dass viele Bekannte sie um ihre gute Ehe beneideten.

»Man muss es sich einfach nur in seinem eigenen Leben bequem machen«, antwortete Kornelia ihnen regelmäßig auf die Frage nach dem Geheimnis hinter ihrer glücklichen Beziehung.

Nur ihrer besten Freundin Petra gegenüber gab sie zu, dass auch sie hin und wieder in Versuchung geriet. Vor allem, wenn sie bei Hinnack Johns Hausbesuche machte.

Kornelia arbeitete als freie Fußpflegerin. Mit ihrem Instrumentenkoffer fuhr sie über die Dörfer und befreite ihre Mitmenschen von überflüssiger Hornhaut, zu lang gewachsenen Zehennägeln und sich breit machenden Hühneraugen. Manche rümpften die Nase, wenn sie von ihrem Beruf hörten, aber Kornelia liebte ihre Arbeit. Sie konnte sich die Stunden so legen, wie es ihr passte, nahm sich die Freiheit, auch im letzten Moment einen Hausbesuch abzusagen und war doch überall ein gern gesehener Gast. Kaum ein Kunde, der ihr nicht eine Tasse Kaffee, ein Stückchen Kuchen, ein Sektchen oder sonst eine Erfrischung oder Knabberei anbot. Die meisten wurden bei Kornelia neben Hornhaut und Hühneraugen auch ihre Sorgen los. Sicher wollte auch die alte Frau Rott nur wieder über ihre Kümmernisse klagen. Sie lebte sehr zurückgezogen und hatte außer Kornelia kaum jemanden, dem sie sich anvertraute.

Eigentlich habe ich gar keine Lust auf die immer gleichen Stories, dachte Kornelia jetzt und legte das kabellose Telefon wieder ab. Sie blickte auf ihren aufgeschlagenen Terminkalender, aus dem sie sich die Telefonnummer der alten Dame gesucht hatte. Ich sehe Frau Rott doch sowieso gleich am Montagmorgen.

Später sollte sie diese Entscheidung bereuen, aber das konnte Kornelia an diesem Freitagabend nicht ahnen.

2

Die alte Frau Rott hatte schlecht geschlafen. Immer wieder war sie wach geworden und hatte auf ihren Wecker geschaut. Er war einer dieser altmodischen, deren Ziffernblatt und Zeiger noch lange im Dunkeln grünlich leuchteten, wenn zuvor das Licht eingeschaltet gewesen war. Sie war von Erinnerungen geplagt worden, die sie längst vergessen geglaubt hatte.

Schuld daran war dieser Mann, dem sie vor wenigen Tagen auf dem Feldweg gleich hinter ihrem Haus begegnet war. Er hatte ein ihr bekanntes Gesicht, und doch wusste sie ihn nicht einzuordnen. Es war ganz verflixt – genau so, als wolle man ein Wort aussprechen, das einem schon auf der Zunge liegt, aber partout den Weg über die Lippen nicht findet. Seit sie ihn gesehen hatte, waren diese furchtbaren Erinnerungen wieder da. Hinzu kam diese merkwürdig unhöfliche Art, in der er sie eingehend gemustert hatte. Er hatte ihr direkt in die Augen geschaut, obwohl er nicht einmal auf ihren Gruß geantwortet hatte. Melanie Rott waren dabei kalte Schauer über den Rücken gelaufen. Der Mann hatte ihr Angst gemacht. Er hatte so etwas Fanatisches im Blick, wie sie es zuletzt nur bei hungernden Menschen in den wirren Nachkriegsjahren erlebt hatte.

So hatte sie sich von alten Phantasien verfolgt auch diese Nacht in ihrem Bett gewälzt, hatte versucht, mal auf der einen, mal auf der anderen Seite zu schlafen, hatte sich auf den Rücken gelegt, dann auf den Bauch. Es hatte nichts genutzt. Fast war sie dankbar gewesen, als der Wecker um sechs Uhr früh klingelte.

Zeit ihres Lebens war sie eine rechtschaffene Frau mit festen Prinzipien gewesen. Die würde sie auch im Alter wegen eines merkwürdigen Fremden und einer weiteren schlecht verbrachten Nacht sicher nicht aufgeben. Ihr Tagesablauf hatte geregelte Zeiten, an die sie sich strikt hielt. Sie glaubte es dieser Tatsache zu verdanken, dass sie auch mit 87 noch einen so beweglichen Körper und einen hellwachen Geist hatte. Wenn sie da an viele ihrer Schulfreunde dachte, lebte die eine Hälfte nicht mehr und die andere Hälfte wäre im Grab wohl besser aufgehoben.

Auf dem Bettvorleger neben ihrem Bett versuchte sie bei durchgedrückten Knien mit den Fingerspitzen ihre Zehen zu streifen. Heute fiel ihr das besonders schwer. Ihre Bewegungen waren langsamer als sonst, fahriger. Beinahe verlor sie das Gleichgewicht. Trotzdem machte sie verbissen weiter. Erst als sie das zehnte Mal ihre Füße hatte streifen können, gab sie sich zufrieden. Auch das Ankleiden dauerte heute länger als gewöhnlich. Ihre Hände zitterten, als sie die feinen Perlonstrümpfe an ihren Beinen glatt zog. Die verflixten Strumpfhalter wollten einfach nicht zugehen. An einfacher zu handhabende Strumpfhosen hatte sie sich nie gewöhnen können.

Schließlich saßen sowohl die Strümpfe als auch ihr marineblaues Kleid und der Dutt, zu welchem sie ihr feines graues Haar jeden Morgen hochsteckte. Früher hatte sie eine dunkle, volle Haarpracht besessen, heute verdeckten ihre hellgrauen, beinahe silbernen Haare kaum die falsche, etwas zu breite Haarwurst, über die sie ihre Strähnen sorgsam verteilte.

Melanie Rott ging in die Küche. Draußen war es noch dunkel. Sie knipste die Lampe über dem großen Küchentisch an und begann, den Frühstückstisch zu decken. Obwohl sie allein lebte, zwang sie sich, sämtliche Mahlzeiten bei ordentlich gedecktem Tisch einzunehmen. Solche Disziplin auch in den alltäglichen Dingen des Lebens war wichtig. Man durfte sich einfach nicht gehen lassen. Im Herbst und Winter zündete sie sich morgens zusätzlich zum elektrischen Licht sogar eine Kerze an, so wie früher, als Rolf noch lebte.

Ihr Mann hatte Kerzenschimmer geliebt. »Riech doch nur einmal, Melli, das duftet doch wie an Weihnachten!«, hatte er immer gesagt, wenn eine Kerze ausgepustet wurde und die feinen Rauchschwaden von dem noch glimmenden Docht an die Zimmerdecke zogen. Rolf war im Grunde seines Herzens immer ein Romantiker geblieben, daran hatten selbst die Grausamkeiten des Krieges nichts ändern können, welche sie beide so früh im Leben hatten erfahren müssen. Er war eine solch zartbesaitete Seele gewesen, immer auf ein hübsches Ambiente bedacht. Deshalb hatte sie sich auch nicht vorstellen können, dass das, was man nach dem Krieg über ihn verbreitete, hatte wahr sein können. Sie glaubte es heute noch nicht, obwohl sich Rolf damals, als die ersten Gerüchte aufkamen, sofort das Leben genommen hatte. Das war Anfang der Sechziger gewesen. Sie hatten den Umzug nach Roßbach gerade erst hinter sich gebracht.

Melanie hatte ihn selbst gefunden. An einem Sonntagmorgen war sie sehr früh aufgewacht und hatte das Bett neben sich leer vorgefunden. Ihr Herz hatte sofort zu rasen begonnen, so als wisse es etwas, was ihr selbst noch verborgen blieb. Aber sie hatte sich nicht weiter darum gekümmert, war in die Küche gegangen, um das Frühstück zu machen. Rolf ging ja oft, wenn er die ganze Nacht über keinen Schlaf finden konnte, sehr zeitig in den Wald. Erst als ihr Mann um acht Uhr immer noch nicht erschienen war, hatte sie begonnen, sich Sorgen zu machen. Denn sonntags frühstückten sie stets um acht. Melanie war in den Garten gegangen, um nach Rolf zu rufen. Und da sah sie es. Seine Füße hingen ausgestreckt nur wenige Zentimeter über dem noch taufrischen Gras unter den Apfelbäumen. Sie hatte nicht mehr sehen müssen.

Wie in Trance war Melanie zurück ins Haus gegangen und hatte zunächst einmal das ewig gleiche Ritual des sonntäglichen Frühstücks eingehalten, erst danach hatte sie ihren Nachbarn Günter Banasch verständigt, welcher sich als Ortsbrandmeister um alle weiteren Schritte gekümmert hatte.

Wieder hatte die Vergangenheit sie eingeholt. Unwillig wischte sich die alte Frau Rott über ihr runzliges Gesicht, so als könne sie mit dieser Handbewegung ungebetene Erinnerungen wegwischen. Sie rührte noch etwas mehr Honig in ihren Tee. Das süße Getränk sollte ihre Nerven beruhigen.

Vielleicht sollte ich mir einen Hund anschaffen, überlegte sie, während sie sich zwang, ein paar Bissen von ihrer Butterstulle zu essen. Dann würde ich mich sicherer fühlen. Ich lebe hier ja schon recht einsam. Sie kaute auf der zähen Rinde des Grahambrotes und nahm dann einige winzige Schlückchen von ihrem Tee. Angewidert verzog sie den Mund. »Gott, ist das süß«, murmelte sie vor sich hin.

Wie viele Menschen, die allein leben, hatte sie die Angewohnheit, ihre Gedanken laut auszusprechen.

»Es muss ja kein junger Hund sein, ein älterer aus dem Tierheim wäre wahrscheinlich sogar besser.« Frau Rott rechnete mit noch etwa zehn Jahren, die sie zu leben hatte. In ihrer Familie war es keine Seltenheit, den hundertsten Geburtstag zu begehen. Auf keinen Fall wollte sie nach ihrem Tod ein verwaistes Tier zurücklassen. Auch der Gedanke, dass man ihren Leichnam in ihrem abseits gelegenen Haus vermutlich erst nach mehreren Tagen auffinden würde, von einem verzweifelten Tier an mehreren Körperteilen angeknabbert, hielt sie davon ab, an ein junges Tier zu denken, welches sie aller Wahrscheinlichkeit nach überleben würde.

»Außerdem flößt ein ausgewachsener Hund mehr Respekt ein«, fuhr sie in ihren Überlegungen fort. Nur ungern gestand sie sich ein, dass der Wunsch nach einem Wachhund erst mit dem Auftauchen dieses seltsamen Mannes in ihr wuchs.

»Wenn ich nur wüsste, wo ich den schon mal gesehen habe …« Vorsichtig nahm sie noch einen weiteren Schluck von ihrem versüßten Tee. Am liebsten hätte sie den Inhalt ihrer Tasse weggegossen, aber das verbot ihr ihre Erziehung. Lebensmittel ließ man nicht umkommen und warf sie schon gar nicht weg. Deshalb kaute sie auch Morgen für Morgen tapfer auf den gebräunten Rinden ihrer Butterstulle. Sie brachte es einfach nicht übers Herz, diese, wie manche Alten das taten, abzuschneiden und in den Mülleimer zu werfen. Selbst im Altersheim hatte sich diese Unsitte verbreitet, davon konnte sich Melanie Rott jedes Mal überzeugen, wenn sie ihre Freundin Amalie Pfingsten dort besuchte und zum Abendessen blieb. Sie selbst wärmte sich gegen sechs Uhr abends stets die Reste des Mittagessens auf, welches sie sich täglich frisch zubereitete. Auch das gehörte zu ihrer durch und durch disziplinierten Routine.

Heute wollte sie sich auf dem Markt einen Kürbis kaufen, aus dem sie eine Cremesuppe bereiten wollte. »Gemahlenen Kreuzkümmel brauche ich dafür auch noch, das darf ich nicht vergessen.« Als zweiten Gang sollte es Dorade geben.

Sie erhob sich und begann, den Tisch abzuräumen. Draußen war es noch immer stockdunkel. »Zum Glück wird am nächsten Wochenende die Uhrzeit wieder umgestellt, und es ist morgens früher hell!«

Während sie das wenige benutzte Geschirr sogleich in der Spüle abwusch, schaute sie auf die Uhr, die über dem Fenster am Küchentisch hing. »Schon kurz nach sieben und draußen herrscht noch immer düsterste Nacht!«

Als sie ihre Blicke wieder auf die Spüle richtete, meinte sie, aus dem Augenwinkel eine Bewegung im Obstgarten wahrgenommen zu haben. Aber das war bei dieser Dunkelheit ja völlig unmöglich!

3

Der Junge lag schon über zwei Stunden unter dem Bett. Der Stragulaboden war kalt, hart und staubig. Bei jedem Atemzug wirbelten graue Wollmäuse um sein Gesicht, welche, kamen sie ihm direkt unter die Nase, einen furchtbaren Niesreiz auslösten. Er musste sich jedes Mal sehr anstrengen, um nicht laut loszuprusten, schließlich wollte er unentdeckt bleiben. Einmal kitzelte ihn so ein Staubknäuel, gerade als Schwester Elisabeth das Zimmer betrat.

Jetzt ganz still bleiben, lieber Gott, bitte, lass mich nicht niesen müssen, schickte das magere Kerlchen Stoßgebete zum Himmel. Er schwitzte. Sein Kopf war ganz heiß, vermutlich hatte er Fieber. Immer wieder schüttelte es ihn am ganzen Leib. Trotzdem wollte er nicht aus seinem Versteck kommen. Er hatte Angst vor den Schwestern. Welche Strafe hatten sie wohl diesmal über ihn verhängt?

In der vergangenen Nacht war er entdeckt worden, gerade als er in das Bett seines kleineren Bruders hatte steigen wollen. Paul hatte so furchtbar gewimmert und nach Mutter gerufen, das hatte er einfach nicht überhören können. Er hatte seinen achtjährigen Bruder trösten wollen, ihm wie schon so oft erzählen wollen, dass sicher bald alles gut werden würde. Dass sie beide sicher bald wieder zur Mutter gebracht werden würden. Dass sie jetzt hier in diesem Waisenheim lebten, konnte ja nur ein Missverständnis sein, schließlich war ihre Mutter nicht gestorben!

Die schweren schwarzen Schnürstiefel der Schwester, die ihr bis über die Knöchel reichten, standen jetzt direkt vor dem Bett. Josef hielt den Atem an. Er wusste nur zu gut, wie weh diese Stiefelspitzen tun konnten.

Schwester Elisabeth keuchte. Die vielen Treppen in dem alten Gebäude machten ihr zu schaffen. Vielleicht sollte ich doch endlich versuchen, etwas abzunehmen, dachte sie, während sie sich mühsam in die Hocke setzte. Sie ächzte, das Rheuma schmerzte sie heute ganz besonders stark in der Hüfte. 

»Hab ich dich, Bürschchen«, murmelte sie vor sich hin, obwohl sie den Ausreißer bislang nur unter einem der Betten vermutete. »Na warte, wenn ich dich in die Finger kriege …«

Josef schloss die Augen. Wie früher, als er noch sehr klein war und beim Versteckspielen mit Mutter und Paul die Augen zumachte in der Hoffnung, so unentdeckt zu bleiben.

Die Drohung der Erzieherin blieb im Raum stehen. Schwester Elisabeth horchte angestrengt. Bewegte sich da nicht etwas unter dem Bett, gleich am Fenster? Schnaufend richtete sie sich wieder auf. Still verfluchte sie ihre enorme Leibesfülle, die es ihr unmöglich machte, richtig unter den Betten nachzuschauen. Dafür war der Abstand zwischen dem Fußboden und den Betten einfach zu gering. Keine fünfzehn Zentimeter maß er bei manchen der älteren Bettgestelle. Außerdem machte ihr an diesem Tag auch ihr Sodbrennen wieder ganz furchtbar zu schaffen. Sie befürchtete, sich übergeben zu müssen, sollte sie sich tatsächlich bücken.

»Na, du wirst schon irgendwann rauskommen müssen und dann wirst du dein blaues Wunder erleben.« Sie schlurfte in Richtung Tür davon. Schon quietschten die Scharniere, die dringend einige Tropfen Öl gebrauchen könnten.

Josef blinzelte. Vorsichtig drehte er den Kopf nach beiden Seiten. Hatte Schwester Elisabeth tatsächlich so schnell aufgegeben? Er konnte es nicht glauben. Aber die schwarzen Stiefel waren nirgendwo auszumachen. Jedenfalls nicht aus seiner Position. Er konnte unter der niedrigen Bettkante die große Schlafhalle ja nur begrenzt einsehen. Langsam begann er, unter dem Bett hervorzurobben. Die Bewegung strengte ihn an. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, und der Schüttelfrost jagte erneut einen Schauer durch den schmächtigen Knabenkörper. Zehn Jahre war Josef im vergangenen April geworden. Da war die Welt noch in Ordnung gewesen. Jedenfalls so weit sie das nach den wirren Kriegsjahren überhaupt sein konnte. Vater war immer noch nicht heimgekehrt. Manchmal fühlte Josef, dass die Mutter gar nicht mehr daran glaubte, ihren Mann irgendwann einmal wieder in die Arme schließen zu dürfen. Sie hatte dem Jungen mehr und mehr Arbeiten überlassen, die eigentlich der Mann im Haus erledigen müsste. Den Eimer mit Kohlen hochholen war so eine Aufgabe. Josef wusste, dass Mutter in dem dunklen Keller Angst hatte. Deshalb hatte er immer wieder gesagt: »Das kann ich doch machen, ich bin doch schon stark genug.«

Dabei war auch ihm der muffig riechende Keller nicht geheuer. Die letzten Stufen der Kellertreppe rannte er immer so schnell er konnte, weil er sich einbildete, jemand verfolge ihn. Dass er dabei einige der teuren Kohlen verlor, war ihm egal. Völlig außer Atem erreichte er stets den Hausflur, auf welchem die Kellertreppe endete. Die Treppe bis in den ersten Stock ging er dann so langsam, dass sein Brustkorb sich wieder gleichmäßig hob und senkte, sobald er in die Küche trat. Mutter sollte stolz auf ihren mutigen und kräftigen Sohn sein!

Wie lieblich sie ihn anlächelte, wenn er mit dem schweren Kohleneimer durch die Tür kam. Das kam nicht oft vor, dass Mutter von ihrer Handarbeit aufblickte. Meistens sprach sie mit ihren Söhnen, ohne die Augen von dem Stück Stoff oder dem Garnknäuel zu nehmen, welches sie gerade in den Händen hielt. Sie war Schneiderin und verdiente ihren Unterhalt durch Heimarbeit. Das hatte sie ihrer Freundin Melanie zu verdanken. Die wohnte im Erdgeschoss des Hauses und arbeitete als Näherin in einer Fabrik, die Anoraks herstellte. Mutter strickte an einer Maschine die Bündchen und nähte auch ab und zu an einer anderen Maschine Kapuzen, wenn die Arbeiterinnen in der Fabrik bei besonders großen Aufträgen nicht mithalten konnten. Natürlich verdiente sie zu Hause nicht so viel, wie sie für die gleiche Arbeit in der Fabrik bezahlt bekommen würde, aber sie wollte ihre Söhne nicht den ganzen Tag allein lassen. Vormittags waren die ja in der Schule, aber wer sollte sich am Nachmittag um sie kümmern, und wer würde ihnen das Mittagessen kochen? Mutter war Melanie für die Vermittlung so dankbar gewesen, dass sie ihr eine ganze Tafel Schokolade geschenkt hatte, statt ihr wie sonst nur ein Stückchen anzubieten.

Josef schluckte, wenn er jetzt an die leckere Schokolade dachte, die Bobby ihnen immer am Wochenende mitgebracht hatte. Seit Paul und er im Heim waren, hatten sie keine Süßigkeiten mehr probiert. Etwas zittrig von der langen Zeit, die er steif auf dem kalten Stragula gelegen hatte, richtete er sich auf. Seine kurze Hose und sein Hemd waren voller grauer Fussel. Er wischte sie mit beiden Händen von der Brust. Als er sich bückte, um auch die Kniestrümpfe zu säubern, fühlte er plötzlich einen heißen Schmerz im linken Ohr.

»Hast wohl gedacht, du entkommst mir!«, flüsterte Schwester Elisabeth ganz nah an seinem Ohr, an dem sie dabei so kräftig zog, dass Josef schon befürchtete, es könne abreißen.

Tränen schossen ihm in die Augen. »Au, nicht, nicht!«, schrie er.

»Ja, schrei nur, es hört dich ja sowieso keiner!«, lachte die Erzieherin ihm hämisch ins Gesicht. Ihr schlechter, stets etwas faulig riechender Atem traf den Jungen mit voller Wucht. Ihm wurde schwummerig. Ein erneuter Schüttelfrost durchlief seinen ausgemergelten Knabenkörper. »Zitter du nur, wirst schon wissen, was jetzt auf dich zukommt«, die Schwester zog den Jungen am Ohr bis zur Treppe. »Das nächste Mal musst du schon besser aufpassen, wenn du mir entkommen willst, Schlauberger. Dass eine Tür auf und zu geht, heißt noch lange nicht, dass auch jemand hindurchschreitet.«

Schwester Elisabeth hielt viel von ihren eigenwilligen Erziehungsmethoden. Sie wollte die in ihre Obhut gegebenen Jungen auf die grausame Welt da draußen vorbereiten. Tritte, Prügel, Schläge haben noch nie einen umgebracht, sagte sie sich immer. Ganz im Gegenteil: Meine Jungs verlassen das Heim gehärtet. Wie Stahl, der zunächst auch durchs Feuer muss.

4

Melanie Rott schob den noch halb vollen Teller weit von sich weg. Sie hatte keinen wirklichen Appetit gehabt, als sie sich das Mittagessen zubereitet hatte, aber das wurde nun einmal um Punkt 12 Uhr eingenommen. Und genau mit der Erkennungsmelodie für die 12-Uhr-Nachrichten im Radio hatte Melanie Rott an ihrem Küchentisch gesessen.

Da Freitag war, hatte sie sich auf dem Markt in Gronau eine frische Dorade besorgen wollen; sie war dafür, gleich nachdem sie das Frühstücksgeschirr weggespült und ihr Bett gemacht hatte, eigens auf ihr Fahrrad gestiegen und die knapp vier Kilometer bis ins Zentrum der Kleinstadt in langsamem aber gleichmäßigem Tempo geradelt. Die Luft war noch recht frisch gewesen, in den Feldern direkt an der Leine stand Frühnebel. Noch waren die Strahlen der Sonne nicht stark genug, aber es versprach ein wunderschöner goldener Oktobertag zu werden. Melanie atmete tief durch. Die Luft schmeckte süßlich. Es roch nach Sirup, nach frisch gerodeten Rüben. Und richtig, als sie den Feldweg nach Barfelde kreuzen musste, sah sie den stattlichen Haufen Zuckerrüben, der auf seinen Abtransport wartete. Bunte Blätter wirbelten auf dem Fahrradweg hoch, wenn sie durch einen vom Wind zusammengefegten Haufen hindurch fuhr. Sie jauchzte dabei etwas zaghaft, aber doch wie ein Schulkind.

Melanie Rott hatte den Herbst immer geliebt. Es war die Zeit der Fülle, wenn allerorts Zwetschgen, Äpfel, Birnen und Walnüsse zu Boden fielen. Früher hatten die Menschen diese Früchte aufgesammelt, Kompott, Most und andere Konserven für den Winter daraus zubereitet. Heute verrottete das meiste Obst, das an den Landstraßen und Feldwegen reifte.

Das Angebot des Fischhändlers war eine Enttäuschung gewesen. Es ging kaum über sauer eingelegte Heringe hinaus. Ja, da hatten auch noch Lachs und Forelle im Angebot gestanden, aber Frau Rott hatte das Gefühl gehabt, das junge Mädchen am Stand hatte nicht einmal gewusst, was eine Dorade ist.

Wie ignorant viele junge Menschen heutzutage doch sind, hatte sie für sich gedacht und sich schließlich etwas missmutig für einen Topf Matjessalat entschieden. Dazu passte allerdings der Kürbis schlecht, den sie ursprünglich auch noch hatte erstehen wollen. Der Matjes war gut. Die Fischstückchen zergingen fast auf der Zunge, man musste kaum kauen, auch die Kartoffeln schmeckten vorzüglich, waren fest im Biss, kein bisschen breiig und auch nicht versalzen, was öfter vorkam, als man annehmen sollte. Trotzdem hatte Melanie nur lustlos in ihrem Essen gestochert. Sie schob ihre gedrückte Stimmung zunächst auf den Schlafmangel. Die Müdigkeit lastete wie Blei auf ihren Schultern. Sie fühlte, wie die Schwermut ihre Finger nach ihr ausstreckte.

»Eigentlich ist heute kein Tag dafür«, murmelte sie erstaunt vor sich hin. »Die Sonne scheint doch so schön.«

Entschlossen richtete sie sich auf und ging in den Flur. Der Abwasch konnte ruhig warten. Das war zwar sonst nicht ihre Art, benutztes Geschirr einfach auf dem Tisch stehen zu lassen, aber sie hatte zu große Angst vor der düsteren Stimmung, die jetzt nach ihr griff. Da half nur Bewegung. Schnell schlüpfte sie in die dicke Strickjacke und stürzte nach draußen. Vor dem Haus schloss sie die Augen und hielt ihr Gesicht einen Moment lang in die Sonne.

Sie kannte sich sehr gut, wusste, wann die Gefahr, in eine Depression abzugleiten, besonders nah war. Nie wieder wollte sie sich so eingesperrt fühlen wie damals, kurz nach Rolfs Freitod, als sie ihren eigenen Körper als Käfig empfunden hatte. Es war furchtbar gewesen. Eingesperrt in sich selbst und nirgends die Möglichkeit zur Flucht.

Für ihr hohes Alter schritt sie recht hurtig aus. In der rechten Hand hielt sie ihren Spazierstock, am linken Arm baumelte ein mittelgroßer Weidenkorb. Sie wollte bis in den Buchenhain gleich bei Haus Escherde, wo sie sich an diesem sonnigen Herbsttag eine reiche Pilzernte versprach.

Als sie im alten Holzschuppen nach dem Korb gesucht hatte, hatte sie sich so seltsam beobachtet gefühlt. Ganz unangenehm war ihr der kurze Aufenthalt im Schuppen gewesen. Zum Glück hatte sie sich dann sehr schnell erinnert, dass der Weidenkorb ja noch, mit Walnüssen gefüllt, gleich hinter der Kellertür stand. Sie war also noch einmal ins Haus gegangen, hatte die am Vortag gesammelten Nüsse in dem langen Holzregal der Vorratskammer zum Trocknen auf Zeitungspapier ausgelegt und war dann endlich aufgebrochen.

Jetzt konnte sie sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, ob sie beim zweiten Verlassen ihres Hauses auch die Haustür verschlossen hatte. Das geschah ihr immer wieder. Diese Zweifel, ob sie den Ofen ausgeschaltet, das Wasser abgedreht, oder die Tür verschlossen hatte. Normalerweise drehte sie dann jedes Mal sofort um, nur um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Noch nie hatte sie tatsächlich etwas vergessen gehabt.

Und diesmal drehst du nicht um!, befahl sie sich selbst, während sie weiter Richtung Hildesheimer Wald marschierte. Was soll denn auch schon passieren, selbst wenn die Tür einmal aufsteht? Bei mir gibt es doch sowieso nichts zu holen.

Eilig trippelte sie weiter. Als sie an dem kleinen Vogelschutzgebiet vorbeikam, das vor etlichen Jahren gleich an der Ortsgrenze Roßbachs angelegt worden war, gönnte sie sich eine kurze Verschnaufpause. Sie war zwar erst knapp einen halben Kilometer gegangen, ihr Herz klopfte dennoch wie das eines Marathonläufers nach der ersten Stunde. Andächtig lauschte sie dem vielstimmigen Piepen und Pfeifen, dem Trillern und Zwitschern, das aus dem dichten Baum- und Buschbestand bis an ihr Hörgerät drang. Erst im vergangenen Winter hatte sie sich auf einem von Schülern der Hauptschule Gronau veranstalteten Weihnachtsbasar ein Buch über Vogelstimmen gekauft, dem eine CD mit Hörbeispielen von 86 heimischen Singvögeln beilag. Sie hatte danach lange überlegt, ob die Anschaffung eines CD-Spielers in ihrem Alter noch lohne, pflegte sie doch vornehmlich dem Radio zu lauschen, hatte sich dann aber schließlich doch, einer übermütigen Stimmung folgend, zu einem Kauf entschließen können und sich den Musikapparat unter den festlich geschmückten Tannenbaum gelegt. Seither achtete sie stets darauf, ihre Hörhilfe auch für ihre langen Spaziergänge einzulegen, um ihre Fortschritte bei der Zuordnung der verschiedensten Vogelgesänge überprüfen zu können.

Ihre Schwerhörigkeit, welche sie manchmal als einen Segen empfand, besonders an Sonntagen, an denen sie Pastor Willems wieder einmal eine Freude machen wollte und seine langweiligen Gottesdienste besuchte, war Gott sei es gedankt ihr einziges offensichtliches Altersgebrechen. Wenn sie morgens aus dem Bett stieg, fühlte sie sich auch oft genug steif, aber niemand, der ihr begegnete, würde Melanie Rott auf 87 Jahre schätzen. Stets hielt man sie für höchstens Ende siebzig.

Melanies eiserner Wille, sich täglich in Bewegung zu halten, war nur zum Teil für ihre relative Frische verantwortlich. Zum anderen Teil waren es ihre Gene. Schon ihr Großvater mütterlicherseits hatte seinerzeit noch mit Mitte neunzig Tag für Tag ein Stück Brennholz aus dem Wald geholt, welches er für den Winter an der Südwand des Hauses in ordentlichen Reihen aufschichtete. Erst mit 98 hatte der alte Brunotte das Zeitliche gesegnet, nachdem er sich beim Schlittenfahren mit seiner Enkelin Melanie eine schwere Erkältung eingefangen hatte. Melanie war felsenfest davon überzeugt, selbst auch noch mehr als zehn gute Jahre vor sich zu haben. Nach Möglichkeit wollte sie einen neuen Rekord aufstellen. Sie malte sich die Schlagzeilen schon aus: Hundert Jahre und noch immer die eigenen Zähne im Mund! Frau Rott, wie haben Sie das geschafft? Hundertjährige ist allen ein Vorbild – nie Süßes genascht! Oder: Mit Disziplin auf dem Weg ins zweite Lebensjahrhundert …

Da, war das nicht ein Gelbspötter gewesen? Bevor sie sich das Bestimmungsbuch zugelegt hatte, hatte sie nicht einmal gewusst, dass es einen Vogel mit diesem Namen gab. Kaum, dass sie das helle Morgenlied einer aufsteigenden Lerche von dem aufgeregten Tschilpen eines Spatzen hatte unterscheiden können. Sie war sehr stolz darauf, in ihrem Alter auch geistigen Anregungen gegenüber offen geblieben zu sein.

Das dumme Gefühl, das sie schon den ganzen Tag beunruhigt hatte, schien endlich zu verklingen. Es gibt doch nichts Erbaulicheres als die Natur mit offenen Sinnen aufzunehmen, dachte die alte Frau Rott, lauschte dem Konzert ihrer gefiederten Freunde noch einige Minuten, um dann wie beflügelt in Richtung Buchenhain davonzuschreiten.

5

Schwester Agathe war von einem dumpfen Geräusch geweckt worden. So, als wäre in der Küche, die direkt unter ihrer kargen Schlafzelle lag, ein Kartoffelsack umgefallen. Und wenn sie es sich jetzt richtig überlegte, hatte sie da nicht zuvor schon erstickte Schreie gehört, diese aber in ihrem schlaftrunkenen Zustand nicht bewusst wahrgenommen, sondern vielmehr in ihre schrecklichen Alpträume eingebaut?

Seit zwei Wochen verfolgte der Dämon sie im Schlaf. Vierzehn lange Tage und Nächte, seit sie überfällig war. Schwester Agathe wusste nicht, was schlimmer war, die Tage, an denen sie bei jedem leichten Ziehen im Bauch sobald sie konnte auf das Klo lief, nur um wieder enttäuscht zu werden, oder die Nächte, in denen sie sehr, sehr lange brauchte, um überhaupt Schlaf zu finden. Ihr Gewissen peinigte sie. Furchtbare Bilder wahrer Höllenqualen ließen sie oft schweißgebadet aufwachen. Manchmal glaubte sie, beim Erwachen einen leichten Hauch von Schwefel erschnuppern zu können. Noch hatte die junge Schwester es nicht gewagt, ihr Gewissen bei einer Beichte zu erleichtern. Sie wusste, dass sie für ihr Vergehen unweigerlich aus der Gemeinschaft ausgestoßen werden würde. Beichtgeheimnis hin oder her.

Gleich nach dem Vorfall hatte sie sich einreden wollen, es sei nicht wirklich passiert. Hatte, wenn sie an seine fordernden Küsse dachte, an seine warmen, kräftigen Hände, seinen pulsierenden Leib, gewünscht, es möge sich um reine Phantasiegebilde handeln. Aber dann wollte das Blut einfach nicht kommen. Nervös drehte sie an dem schmalen goldenen Ring, der sie als Braut Jesu auszeichnete. Sie hatte keinen Geringeren als den Heiland selbst betrogen! Und noch dazu mit einem der ihr anvertrauten Zöglinge!

Da! Da war es wieder, wie ein Poltern. Verschreckt zog die junge Schwester die schwere Bettdecke über ihren Kopf. Sie zitterte. Von unten drangen erneut Schreie an ihr Ohr. Die Schreie anderer Verdammter, die im Fegefeuer litten und auf sie warteten. Schwester Agathe kniff fest die Augen zu und begann mit bebender Stimme ein Ave Maria nach dem anderen zu murmeln.

******

Wie sich ihre ganze dämliche Überlegenheit plötzlich in Luft auflöst! Jetzt, da sie in die Ecke gedrängt steht und ihr ganz langsam die Erkenntnis kommt, dass sich der Spieß gedreht hat, dass ich der Stärkere geworden bin!

»Jeder empfängt früher oder später nach seinen Taten, Schwester Elisabeth«, flüsterte Josef. Seine Stimme war brüchig vor Aufregung. »Haben Sie uns das nicht immer gelehrt?«

Er hatte ihr aufgelauert, genau so, wie er sich das in den langen Jahren immer wieder ausgemalt hatte. Wenn er nachts mit knurrendem Magen wach lag, an Mutter dachte, die keine Besuchserlaubnis erhielt, weil sie angeblich einen unschicklichen Lebenswandel führte. Man musste ihre Söhne vor ihr schützen, hatte eine Nachbarin in bester Absicht bei der endgültigen Gerichtsverhandlung erklärt. Immer wieder hatte sie vom Zeugenstand aus missbilligende Blicke auf Bobby geworfen, der gleich neben Mutter saß. Mutter war bleich gewesen, dunkle Ringe hatten sich unter ihren Augen abgezeichnet. Ihre Augen waren gerötet gewesen, so als hätte sie sehr viel geweint. Neben Mutters Blässe war Bobbys Hautfarbe noch dunkler erschienen.

Paul hatte die Trennung nicht verkraftet. Er war schon immer so sensibel gewesen. In ihrem zweiten Jahr im Waisenheim war er gestorben. Er war einfach so eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Selbst der Arzt hatte außer einer chronischen Unterernährung, die damals nichts Ungewöhnliches war, keine Krankheit feststellen können. Paulchen war in der Obhut der Schwestern eingegangen wie eine Blume, der das Licht der Sonne fehlt.

Schon damals hatte Josef Schwester Elisabeth die Schuld am frühen Tod seines Bruders gegeben. Er wusste, dass die übergewichtige Schwester Nacht für Nacht in der Küche von den karg bemessenen Rationen der Kinder naschte. Einmal, als er um ein Glas Wasser zu trinken mitten in der Nacht aufgestanden und in die Küche gegangen war, hatte er sie überrascht. Seither hatte er noch mehr unter ihren spitzen Stiefeln zu leiden gehabt. Es war beinahe so, als wolle die Schwester ihr Gewissen durch die Tritte, die sie dem Jungen verpasste und die Strafarbeiten, die sie ihm aufbrummte, erleichtern.

Josef war an den Quälereien nicht gebrochen, sie hatten ihn abgehärtet. Im Grunde genommen hatten Schwester Elisabeths Erziehungsmethoden genau das erreicht, wovon sie immer schwärmte: Der schmächtige Junge war zu einem Mann geworden, in dessen Brust ein kaltes Herz schlug. Ein Herz wie aus Stahl. Rein auf dem Papier war Josef noch kein Mann, in wenigen Tagen würde er 17 werden, es fehlten also noch vier Jahre, bis er auch von Amts wegen als erwachsen gelten würde. Aber er hatte den Realschulabschluss schon seit einem Jahr in der Tasche und erst kürzlich eine Lehrstelle in einer Baufirma gefunden. Er war sehr kräftig gebaut und wollte Zimmermann werden. Bald würde er das Heim verlassen müssen. Er hatte keine Zeit zu verlieren. In dieser Nacht wollte er endlich auch an Schwester Elisabeth Rache nehmen.

Der dummen Gans Agathe mit ihrem stets milden Lächeln hatte er es schon vor Wochen gegeben. Hatte sie nicht immer behauptet, die Jungen zu lieben? Deshalb hatte er ihr im Klostergarten aufgelauert und sie in die Büsche gezogen.

»Die hätten Sie mal sehen sollen, Schwester. Regelrecht angefleht hat sie mich, dass ich es ihr nur bald mache.« Er labte sich an den schreckgeweiteten Augen der Nonne. Wieder zitierte er einen Absatz aus der Bibel: »Wer sich gegenüber einer Jungfrau ungehörig zu verhalten glaubt, wenn sein Verlangen nach ihr zu stark ist, der soll tun, wozu es ihn drängt …« flüsterte er direkt in ihr Ohr. Mit seinen Lippen spürte er, wie sich sämtliche Poren am Hals der alten Schwester zusammenzogen. »Nein, machen Sie sich keine Hoffnungen, mit Ihnen habe ich etwas anderes vor!« Leise lachte er auf, während er nach dem scharfen Fleischmesser griff, das täglich gewetzt wurde. Langsam näherte er es ihrem Gesicht. »Sie wissen doch: Jeder empfängt nach seinen Taten.«

Es war Vollmond und unter den Strahlen des Erdtrabanten, welche die Küche in ein bläuliches Dämmerlicht tauchten, blitzte die Klinge silberweiß. Schwester Elisabeths Fleischmassen wogten. Sie atmete schwer. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Oberlippe. Sie hatte Angst, Todesangst. In den Augen des jungen Menschen konnte sie kein Leben ausmachen. Keine Gefühlsregung, nicht einmal Hass blitzte da. Josefs Pupillen waren kalt und starr, leblos wie die Augen einer Maske.

Zuerst ritzte er ihre Gesichtshaut nur oberflächlich. Sofort perlte das Blut. Die Schwester schrie auf. Ihre linke Wange brannte. Erschreckt fasste sie sich dorthin. Sofort war ihre Hand mit Blut verschmiert.

»Er hat Sie dem Untergang geweiht und zum Schlachtopfer bestimmt.« Es klang wie ein irrer Singsang aus dem Mund des jungen Mannes, als er die Schneide erneut aufblitzen ließ. Diesmal traf es ihren Oberschenkel.

Ein gutes Gedächtnis hat er schon immer gehabt …, die Schwester wunderte sich über ihre eigenen Gedanken. Konnte der Tod wirklich so banal sein? Sollte dies der endgültige Moment sein? Nein! Verzweifelt versuchte sie zu entkommen, riss dabei den schweren Sack mit Speisekartoffeln um, der neben der Spüle stand. Die Erdäpfel kullerten über den Fliesenboden. Irgendwer muss uns doch hören! Sie glaubte, laut gerufen zu haben, aber es war nur ein verzweifeltes, heiseres Krächzen. Sie griff nach Töpfen und Pfannen, die zum Trocknen über der Spüle hingen. So viel Lärm wie möglich machen, war alles, was sie jetzt denken konnte. Erneut wollte sie schreien, aber die Furcht schnürte ihr die Kehle zu. Wieder stand er direkt vor ihr.

»Ihr Land wird betrunken von Blut, ihr Erdreich ist getränkt von Fett. Denn der Herr hat einen Tag der Rache bestimmt.« Jetzt bohrte sich das Messer in ihren Bauch.

Jesaja 34, die Ankündigung des Gerichts über Edom, war das Letzte, was Schwester Elisabeth dachte. Sie sackte zu Boden. Schnell breitete sich eine dunkle Blutlache auf den gelb und schwarz gehaltenen Fliesen des Küchenbodens aus. Die Schwester verlor das Bewusstsein. Josef hatte ihre Aorta getroffen.

Ein erstickter Schrei gleich hinter ihm ließ ihn herumfahren. Wie ein Gespenst stand Schwester Agathe in ihrem Leinennachthemd mitten im Raum. Josef drehte sich zu ihr um, ging langsam auf sie zu. Die junge Schwester stand unter Schock. Ihre Augen waren weit aufgerissen, sie zitterte am ganzen Leib.

»Von deiner Schande hören die Völker, dein Wehgeschrei erfüllt die Erde.« Er raunte ihr die Worte ins Ohr, während er sie langsam zu der verblutenden Schwester am Boden führte. Wie ein Opferlamm schob er sie vor sich her, und in einer Art Trance ließ Agathe ihn gewähren. Hatte sie nicht gerade noch ihren Herren um ein Zeichen angefleht? Er solle ihr zeigen, wie sie Buße tun könnte.

Ein heftiger Stoß in ihre Kniekehlen und die junge Schwester sackte über dem leblosen Körper Schwester Elisabeths zusammen. In der rechten Hand hielt sie das Fleischmesser, welches Josef ihr in die Faust gedrückt hatte.

******

Der grausame Mord an Schwester Elisabeth war schnell aufgeklärt. Hatte man die junge Schwester Agathe doch noch mit der Tatwaffe in der Hand über der Toten liegend vorgefunden. Es war keine große kriminalistische Untersuchung nötig gewesen, denn Schwester Agathe hatte sich während der Verhandlung sofort geständig gezeigt.

Josef verließ wenige Tage später das Waisenhaus für immer, um seine Lehre als Zimmermann zu beginnen. Er schritt durch das große Tor und drehte sich nicht ein einziges Mal um. Keine Regung zeigte sich auf seinem Gesicht. Langsam ging er über das Kopfsteinpflaster. In seinem Rucksack befand sich ein Knäuel blutbefleckter Kleidung und ein Fläschchen Benzin, das er aus dem großen Kanister in der Wäscherei abgefüllt hatte. Die Nonnen benutzten es für besonders hartnäckige Flecken.

Noch ehe er die Baufirma am anderen Ende der Stadt erreichte, machte er an einer der vielen Ruinen halt, die noch immer viele Straßenzüge der Stadt verunstalteten. In einem offenen Kamin im Erdgeschoss des verfallenen Wohnhauses entzündete er das Wäscheknäuel. Er kniete vor dem Feuer und blickte in die Flammen, bis auch der letzte Fetzen Stoff verfallen war. Erst dann richtete er sich auf. Tief atmete er durch. Er fühlte sich frei, das erste Mal seit sieben Jahren.

6

Durch die Ritzen der brüchigen Bretter hindurch, aus denen der alte Holzschuppen gebaut war, konnte er sie sehr genau beobachten. Es war ein Wunder, dass der alte Verhau nicht schon vor Jahren von starken Herbststürmen umgerissen worden war. Soweit er das übersehen konnte, war seit Jahrzehnten keine Schutzschicht mehr gestrichen worden. Das Holz war gräulich geworden, an manchen Stellen war es morsch. Mit dem Taschenmesser hatte er die horizontale Ritze, die genau dem Eingang des Hauses gegenüberlag, etwas erweitert. Er fühlte sich wie ein Jäger, der auf dem Hochstand einem Bock ansitzt, der endlich zum Abschuss freigegeben wurde.