Gute Argumente - Angelika Stucke - E-Book

Gute Argumente E-Book

Angelika Stucke

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Beschreibung

Manche Menschen bereiten ihrer Umwelt mehr Freude, wenn sie tot sind, das muss mal gesagt werden. Wenn diese Erkenntnis ausreichend gereift ist, ist der Schritt vom Gedanken zur Tat dann nur noch ein Klacks: Sigrid entsorgt ihren Haustyrann umweltverträglich in der idyllischen Bergwelt, Heike hat noch eine tödliche Rechnung mit dem Dorfpfarrer offen und Soledad sitzt ihr Problem im wahrsten Sinne des Wortes aus. Angelika Stucke schließt mit "Gute Argumente" ihre Trilogie über mörderische Frauen ab. Pointenreich und mit bitterbösem Humor führt die Autorin den Leser in den ganz normalen Alltagswahn, der sich irgendwann in Gewalt entlädt - da mischen randalierende Rentner ihr Altenheim auf wie Halbstarke, Damen jenseits der Menopause spielen russisches Roulette mit Giftcocktails oder schreiten beherzt an den Waffenschrank des Gatten. "Gute Argumente" für ihr Tun hat nämlich jede der Täterinnen und es ist ein Vergnügen, ihren mörderischen Spuren zu folgen!

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Seitenzahl: 137

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Angelika Stucke

Gute Argumente

13 Kriminalgeschichten

BOOKSPOT VERLAG

Für Schnulpi, meine Freundin Sabine Büssel

Der Sammler

Eine Stille, die nach Beklommenheit schmeckt, umgibt uns ganz plötzlich. Nie zuvor hat meine Großmutter solch deutliche Worte gesprochen. Nach ihrem Ausbruch wird unser Schweigen nur hin und wieder von einem hellen Klingeln unterbrochen, immer dann, wenn einer unserer Silberlöffel zufällig gegen die zarten Porzellanwände der Teetassen stößt. Ansonsten scheinen selbst die Singvögel vor Schreck verstummt zu sein.

Wir sitzen an dem steinernen Tisch im Blumengarten, mitten zwischen hoch gewachsenen Stockrosen, den Lieblingsblumen meiner Großmutter, breitköpfigen Sonnenblumen, spitzblättrigem Bilsenkraut und leuchtend blau blühenden Wegwarten. Feine violette Adern durchziehen die schmutziggelben, trichterförmigen Blüten des Bilsenkrautes, welches schuld daran war, dass mir als Kind der Zugang zu Omas Blumengarten strengstens verboten war. Tollkraut heißt die Pflanze auch, die mit der Tollkirsche verwandt und hoch giftig ist, aber bei Asthma und Bronchitis ganz vorzüglich heilen soll.

Seinen zweiten Namen verdankt das Kraut der Tatsache, dass man im Mittelalter meinte, Hexen benützten Bilsenkraut, um liebestoll machende Tränke zu brauen. Als Kind habe ich mir oft vorgestellt, wie Großmutter aus all ihrer medizinischen Flora magische Tränke zubereitet und vor meinen Spielkameraden damit angegeben, dass sie mich in Vollmondnächten auf ihrem Besen reiten lässt. Natürlich war das gelogen; die Polizei kam aber trotzdem zu meinen Großeltern, weil besorgte Eltern Omas Giftgarten angezeigt hatten. Damals habe ich gelernt, wie wichtig es im Leben sein kann, im entscheidenden Moment lieber die Klappe zu halten. Deshalb sage ich jetzt nichts, sondern rühre nur immer wieder verlegen in meinem Tee. Ich habe das Gefühl, einem ganz entscheidenden Moment im Leben meiner Großmutter beizuwohnen. «

»Manchmal wollte ich, er wäre tot!«, hat sie so laut gesagt und dabei mit zusammengeballter Faust immer wieder auf eines der Sitzkissen eingeschlagen, dass die kleine Mönchsgrasmücke, welche in den Holunderbüschen nach bereits gereiften Beeren suchte, erschreckt davongeflogen ist. Mit ‚er’ ist natürlich August Kück gemeint, mein Großvater. Ich dachte immer, nach der Goldenen Hochzeit gibt es kaum etwas, was eine Partnerschaft noch ernsthaft erschüttern könnte, aber da habe ich mich wohl getäuscht.

»Dieser verdammte Sammeltrieb bringt mich noch um den Verstand«, erklärt Oma ihren Ausfall jetzt. »Weißt du, dass ich neulich unter dem Sofa in der kleinen Stube drei Kisten voller sorgfältig geglätteter und geknickter Suppentüten gefunden habe?«

Ich schaue sie nur mit weit geöffneten Augen an und schweige lieber weiter. Das ist ein Trick, den ich lernte, als ich noch Psychologie studierte. Schauend und schweigend bringt man die verborgensten Seiten in der Seele eines Patienten ans Tageslicht.

Nicht dass Oma meine Patientin wäre, ich habe Psychologie ja auch gar nicht zu Ende studiert, aber wenn jemand dabei ist, sein Herz auszuschütten, kann ein interessiert schweigendes Gegenüber nie schaden. Dabei ist es natürlich wichtig, interessiert den Mund zu halten und nicht etwa abwesend, träumerisch oder gar urteilend.

»Was er damit einmal wollte, weiß er selbst nicht mehr«, fährt Oma aufgebracht fort. »Ich vermute, er hortete die Tüten als zukünftiges Isoliermaterial. Solange seine Sammelleidenschaft nur den Boden oder den Keller betraf, habe ich mich damit arrangieren können. Aber jetzt müllt er mir die Wohnung voll. Das kann so nicht weitergehen!«

An der Art, wie Oma jetzt das Kissen knetet, merke ich, wie sehr ihr die Situation an die Nieren geht. Ich schweige trotzdem weiter, klingele nur ab und zu aus Versehen mit dem Silberlöffel an der Teetasse. Der Earl Grey ist schon ganz kalt geworden, aber unter keinen Umständen will ich jetzt aufstehen und frischen brühen, denn Omas Redefluss ist gerade erst in Fahrt gekommen.

Ich hatte nicht gedacht, dass Opas Leidenschaft derartige Ausmaße angenommen hat. Dass er gern etwas aufhebt, was andere Menschen sofort als Abfall eingeordnet hätten, weiß ich ja seit eh und je, schließlich bin ich bei meinen Großeltern aufgewachsen. Aber dass Oma beinahe täglich neue Verstecke ausgelöffelter Joghurtbecher oder in Plastiktüten verwahrter Suppenknochen findet, hätte ich nie vermutet.

»Oft merke ich erst am Gestank, dass er wieder ein neues Versteck ausgemacht hat«, flüstert Oma jetzt. Tränen kullern dabei über ihr faltiges Gesicht. »Kind, ich halte das nicht länger aus! Seine Vergesslichkeit wird auch immer schlimmer. Ständig muss ich hinter ihm her sein, nachsehen, dass er seine Medizin nimmt, dass er sie nicht zweimal hintereinander nimmt … Anfang der Woche musste der Notarzt kommen, weil er nach dem Mittagsschlaf meinte, es sei ein neuer Morgen und alle Pillen erneut schluckte. Es ist anstrengender als einen Sack Flöhe zu hüten!«

»Und wenn du ihn ins Heim gibst?«, wage ich vorzuschlagen.

»Das kommt gar nicht infrage«, entrüstet sich meine Großmutter, und ich bin unsagbar stolz auf sie!

Seit 53 Jahren ist sie mit ihrem August verheiratet, da würde sie ihn nie einfach so abschieben. So viel Treue gibt es weder in der Generation meiner Eltern, die ich leider kaum kenne, noch in meiner. Heute gehen Partnerschaften doch schon bei der ersten kleinen Krise kaputt. Die Frauen aus Omas Generation dagegen halten zu ihren Männern, komme was wolle!

»Hast du dich schon einmal gefragt, was so ein Heimplatz kostet?«, sagt Oma jetzt, und meine Illusionen von einer besseren Generation schmelzen dahin wie Alpengletscher unter dem Klimawandel. »Das können wir uns gar nicht leisten!«

Eigentlich hatte ich vorgehabt, meine Großeltern nur am Nachmittag zu besuchen, aber angesichts des labilen Gemütszustandes meiner Oma und des blühenden Bilsenkrautes gleich neben uns, beschließe ich, doch besser über das Wochenende zu bleiben. Eine Zahnbürste ist ja schnell gekauft und in meinem alten Zimmer müssten noch ein paar ausrangierte Klamotten von mir hängen. Die hatte Opa vor Jahren aus der Altkleidersammlung gezerrt, um sie irgendwann zu einem Flickenteppich zu verarbeiten. Entschlossen nehme ich mir vor, an diesem Wochenende mit Oma zusammen ein bisschen Klarschiff im Haus zu machen.

»Genieß du noch etwas die Sonne«, sage ich also in einem Ton, der keine Widerrede duldet. »Ich räume derweil ab und schaue nach Opa.«

»Der schläft sicher fest, ich habe ihm vorhin noch eine meiner Spezialmischungen hingestellt«, antwortet Oma.

Nach dem Abwasch schleiche ich mich trotzdem auf Zehenspitzen vor die Tür zur kleinen Stube. Ich will nur mal nach dem Rechten schauen, nicht dass Opa wieder irgendetwas anstellt.

Die Tür lehnt nur an, ist nicht eingeklinkt. Durch die Ritze lausche ich nach seinem Schnarchen. Eigentlich sollte er noch immer seinen Mittagsschlaf halten, aber in dem Raum ist es ganz still. Die unverwechselbaren Pfeiflaute, die Opa sonst um diese Zeit abgibt, sind nicht zu hören.

Seltsam!

Ich stoße die Tür auf und richtig: das Sofa ist verwaist. Wer weiß, auf welch heimliche Sammlermission mein Großvater sich begeben hat, als er Oma und mich in sicherer Entfernung wusste. Es riecht ganz sonderbar in der Stube, so kokelig. Ich schaue mich um, und hole scharf Luft: Auf dem Couchtischchen steht eine angeschlagene Untertasse, gleich daneben schmort die glühende Spitze einer Zigarre langsam aber sicher ein hässliches Loch in Omas Kreuzstichdecke. Aus dem länglichen Häufchen Asche daneben schließe ich, dass Opa sich schon vor einiger Zeit samt der zum Unterteller gehörenden Porzellantasse verdrückt haben muss. Schnell greife ich zum Gießkännchen auf der Fensterbank und lösche den Schwelbrand. Opa ist wirklich zu einer Gefahr geworden! Dann spüle ich die Untertasse, werfe die aufgeweichte Zigarre und die Tischdecke in die Tonne für Restmüll und suche schließlich noch in dem Wäscheschrank im Schlafzimmer meiner Großeltern nach einer frischen Decke. Unter ihr verstecke ich notdürftig den Fleck, der sich in die lackierte Oberfläche des Couchtischchens gebrannt hat. Ich will nicht, dass Oma sich aufregt!

Ihre Bewegungen sind so fahrig, das ist mir heute erst richtig bewusst geworden. Ihre Hände, mit welchen sie stets kräftig zupackte, zittern bei jedem Griff. Vorhin im Blumengarten hatte ich sogar befürchtet, die Teekanne könne ihr jeden Moment entgleiten.

Ihr plötzlicher Wutausbruch kam als Erleichterung. Da habe ich etwas von der energischen Frau wiederentdeckt, die ich als meine Oma kenne.

Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass sie in der Lage ist, etwas an ihrer verzwickten Situation zu ändern. Wer ist eigentlich für so etwas zuständig? Wenn der eigene Mann zu einer Gefahr für Hab und Gut wird, um nicht zu sagen, für das eigene Leben und das anderer. Was wäre zum Beispiel, wenn Opa auf die Idee käme, sich einen Tee zu machen, dafür das Gas aufdreht, dann aber vergisst, selbiges auch wirklich anzuzünden? Während ich nach meinem Großvater Ausschau halte, male ich mir alle möglichen gefährlichen Szenarios aus, die durchaus auf der Titelseite der hiesigen Lokalzeitung landen könnten.

Ich finde ihn schließlich in dem alten Geräteschuppen gleich neben den Gemüsebeeten. Seit Jahren war ich schon nicht mehr hier. Als Kind habe ich im Sommer gern in diesem Schuppen geschlafen, das wäre heute nicht mehr möglich. Der windschiefe Holzbau ist von innen bis unters Dach mit Kisten und Kästen voll gepackt. Aus manchen stinkt es ganz erbärmlich, so säuerlich, als habe Opa dort ungereinigte Milchtüten gesammelt. Inmitten dieses Chaos holt mein Großvater auf einer rostigen Liege seinen restlichen Mittagsschlaf nach. Aber komisch: es pfeift dabei gar nicht wie sonst aus seinen behaarten Nasenlöchern. In der linken Hand, die merkwürdig schlaff Richtung Boden gesackt ist, hängt an seinem Zeigefinger noch eine angeschlagene Porzellantasse. Das Gegenstück zum Unterteller, der in der kleinen Stube stand. Auf dem Boden der Tasse glänzt ein Rest durchsichtiger, grünlich-gelber Flüssigkeit, die mich sofort an Omas Kräutertees denken lässt.

Scheiße!

Ich beuge mich zu Opa und fühle mit zwei Fingern nach seiner Halsschlagader. Da pocht nichts. Ich muss nicht lange überlegen, um zu wissen, was ich zu tun habe. Die Tasse ist schnell zu Scherben zertrümmert. Dann vergrabe ich diese noch für alle Fälle zwischen den ordentlichen Reihen der hoch rankenden Erbsensträucher.

Erst danach rufe ich den alten Doktor Thiele an, seine Nummer klebt ja direkt an der Wand neben dem Telefontischchen im Flur. Ohne zu zögern schreibt der nach einem kurzen Blick auf den friedlich eingeschlafenen Opa Altersschwäche auf den Totenschein. Er hatte schon immer eine Schwäche für Oma und deren Wissen.

»Es ist alles in Ordnung«, sage ich, als ich mich endlich wieder zu Oma in den Blumengarten setzen kann. Sie sei zu einem ihrer ausgedehnten Spaziergänge aufgebrochen, sagte ich Doktor Thiele, als der sich wie beiläufig, aber mit einem sehr interessierten Blitzen in den Augen, welches mir nicht entgangen ist, nach ihr erkundigte. Irgendwie hatte ich vermutet, dass sie dem alten Arzt heute lieber nicht in die Augen schauen wollte.

»Das ist gut, Kind«, antwortet sie und ihre Stimme klingt plötzlich wieder viel fester, auch ihre Bewegungen haben alles Fahrige verloren.

»Was für ein schöner Sommertag«, sagt sie noch, ehe sie wieder dem eifrigen Gezwitscher der Vögel lauscht.

Ein leichter Windhauch streift uns, in ihm wiegen sich Stockrosen, Sonnenblumen und Bilsenkraut.

Neumond

»Nun iss doch, Soledad, niemandem ist geholfen, wenn du dich so gehen lässt! Du musst doch auch an deine Jungen denken! Wenn du es schon nicht für dich tun willst, dann denk doch wenigstens an Carlitos und Juanjo!«

Die schneidende Stimme meiner Schwiegermutter reißt mich aus meinen Gedanken. Ich weiß gar nicht, wie lange ich schon an unserem Tisch im Innenhof sitze und in meinem Gazpacho rühre. Trotz des Reisigdachs, das für Schatten sorgen soll, ist es heiß hier draußen, wie immer im Sommer in Andalusien. Kleine Schweißperlen sammeln sich überall auf meinem Körper, bilden Rinnsale und laufen mir über den Rücken und zwischen den Brüsten herab.

»Ay, Madre, es ist viel zu heiß zum Essen«, versuche ich auszuweichen. Aber meine Schwiegermutter ist nicht dumm. »Ich weiß genau, dass du wieder an sie denkst. Das ist nicht gut, lass sie endlich ruhen!«, schimpft sie.

Über ein Jahr ist schon vergangen, und meine Schwiegermutter hat recht: ich sollte endlich versuchen zu vergessen, aber das kann ich nicht! Immer wenn ich endlos erschöpft in das dumpfe Nichts, das der Schlaf uns schenkt, absinken möchte, höre ich wieder ihr Lachen. Diese hellen Gluckser, die mich stets an das Klingeln der Glöckchen erinnerten, mit denen man Pferde für Umzüge schmückt. Und dann ist sie wieder da, diese grausame Gewissheit, niemals mehr die Stimme meiner Tochter zu hören. Nie wieder ihr kräftiges braunes Haar zu Zöpfen zu flechten. Kein Streicheln ihrer dicken Patschhändchen mehr auf meiner Haut zu spüren. Sie sei Schuld gewesen, hatte die Polizei damals gesagt. Der Fahrer habe gar nicht ausweichen können. Ein tragischer Unfall mit Todesfolge sei es gewesen, keine fahrlässige Tötung. Sonia sei plötzlich zwischen zwei parkenden Autos auf die Straße gelaufen, ihrem roten Ball hinterher, und der Mann am Steuer habe sofort gebremst, den Zusammenstoß aber nicht verhindern können. Ihn träfe keinerlei Schuld. Es kam noch nicht einmal zu einer Verhandlung.

Ich hatte in unserem Gemüsegarten gearbeitet und nur einen kleinen Moment nicht auf Sonia geachtet. Plötzlich hatte ich das schrille Quietschen von Autoreifen gehört und sofort gewusst, dass etwas Schlimmes passiert war. Als ich an der Durchfahrtsstraße ankam, die unseren kleinen Ort in zwei Hälften teilt, standen dort schon lauter Schaulustige, wir wohnen hier ja alle direkt an der Landstraße. Wie zu groß geratene Markierungsstreifen grenzen unsere dicht an dicht gebauten, weiß getünchten Häuser die Fahrbahn ab. Meine Schwiegermutter war bereits am Unglücksort angekommen und riss sich an ihren langen Haaren. Sie gab Laute von sich, die ich nicht für menschenmöglich gehalten hätte, bis ich das leblose Bündel auf dem Asphalt sah. Da war es mir, als hätte jemand eine Scheibe vor die Sonne geschoben. Es wurde dunkel und in meinen Ohren klang ein Summen, das immer lauter wurde. Später sagte man mir, dass auch ich geschrien hätte. Aber daran kann ich mich nicht mehr erinnern.

Dafür sehe ich in letzter Zeit wieder das schreckensbleiche Gesicht des Fahrers vor mir, wann immer ich die Augen schließe. Er war Ausländer. Seine etwas aufgedunsenen Züge, sein rundes Gesicht unter der blanken Schädeldecke hatten mich sofort an den Mond denken lassen. Er hatte die Sicherheitsverriegelung seines Mietwagens aktiviert, wahrscheinlich hatte er Angst, von dem aufgeregten Mob, der um die Unfallstelle schrie und tobte, gelyncht zu werden. Damit lag er gar nicht so falsch, wenn damals jemand eine Pistole oder ein Gewehr zur Hand gehabt hätte, hätte es an jenem Tag zwei Tote in unserem Dorf gegeben …

Erst als die Polizei eingetroffen war, ist der Mann ausgestiegen. Sein Spanisch klang etwas gebrochen, aber durchaus verständlich. Er versuchte sich zu entschuldigen, berichtete man mir später, aber ich hörte nur dieses Summen. Zu Sonias Beerdigung schickte er einen Kranz. Das war gut gemeint, er ist wahrscheinlich kein schlechter Mensch, aber trotzdem hätte er uns besser in Ruhe gelassen.

Vor ein paar Wochen traf ein Brief ein, genau zum Todestag meiner kleinen Sonia. Wieder bat der Fremde um Verzeihung, er habe seit jenem schrecklichen Geschehen jegliche Lebensfreude verloren. Geld hatte er auch mit in den Umschlag getan, wir sollten Grabschmuck davon kaufen. Ich habe die Scheine und den Umschlag mit Señor Hoffmanns Adresse an mich genommen und niemand etwas gesagt. Als Absender hatte er einen Stempel genommen, auf dem sogar seine Berliner Telefonnummer zu lesen war. Seitdem reift ein Plan in mir.

»Hija mia, ich weiß nicht, wohin das alles noch führen soll. Ist es nicht genug, dass unsere Kleine von uns gegangen ist? Willst du ihr unbedingt folgen? Schau dich doch an, wie mager du geworden bist! Du stehst ja schon mit einem Bein im Grab!« Es kommt nicht oft vor, dass meine Schwiegermutter so harsch mit mir spricht. Sie hat wohl Angst, dass José, ihr Sohn, mein Mann, die Familie verlassen wird. Zu Anfang trauerte er wie alle um unsere Tochter. Doch in letzter Zeit wendet er sich von mir ab.

»Du vergräbst dich in deinen Schmerz, Sole!«, wirft er mir vor. »Das Leben muss doch weiter gehen.« Manchmal, wenn wir nachts in unserem Bett liegen, beginnt er mich zu streicheln und flüstert mir ins Ohr: »Wir könnten doch wieder eine Tochter haben.« Ich drehe mich immer nur weg, schiebe meinen Körper so dicht wie möglich an die Bettkante und werde ganz starr. Früher hatten wir so viel Spaß miteinander, dass ich jeden Sonntag zur Beichte ging. Ehepaare sollen das ja eigentlich nur machen, wenn sie sich Nachwuchs wünschen … Ich könnte es nicht ertragen, noch einmal schwanger zu werden. Man kann ein Kind doch nicht mit einem anderen ersetzen. Seit Sonias Tod lasse ich José nicht mehr an mich heran. Selbst in Neumondnächten nicht, wenn die Wahrscheinlichkeit zu empfangen um so vieles geringer ist.