H. P. Lovecraft - Leben und Werk, Band 1 - S. T. Joshi - E-Book

H. P. Lovecraft - Leben und Werk, Band 1 E-Book

S. T. Joshi

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Beschreibung

H. P. Lovecraft gilt als der bedeutendste Autor unheimlicher Phantastik des 20. Jahrhunderts. Im angloamerikanischen Raum ist er längst als Klassiker anerkannt, und auf Deutsch liegt sein Werk in verschiedenen Ausgaben und Übersetzungen vor. Sein Leben dagegen ist mehr als umstritten: Als "Einsiedler von Providence" wurde er bezeichnet, als Rassist und Menschenfeind. Dem steht entgegen, dass er sich sein Leben lang als Amateurjournalist innerhalb eines großen Bekanntenkreises bewegte. Außerdem hat er Zentausende von Briefen geschrieben, an Schriftstellerkollegen wie Robert E. Howard und Clark Ashton Smith und an "Fans" wie den "Psycho"-Autor Robert Bloch und den späteren Lovecraft-Verleger August Derleth. Grundlage jeder ernsthaften Beschäftigung mit Lovecraft ist das Standardwerk "I am Providence: The Life and Times of H. P. Lovecraft" von S. T. Joshi , erstmals 1996 erschienen und, als definitive Ausgabe überarbeitet und erweitert, in zwei Bänden 2010. Diese materialreiche Biographie liegt nun zum ersten Mal in Deutsch vor.

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Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1996 als gekürzte einbändige Ausgabe unter dem TitelH. P. Lovecraft, A Life. Die vollständige zweibändige Ausgabe erschien erstmals 2010 unter dem TitelI am Providence. The Life and Times of H. P. Lovecraftbei Hippocampus Press, New York.

Deutsche Erstausgabe© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe Golkonda Verlag GmbH, München ∙ Berlin

© 2010 S. T. Joshi

© der Übersetzung 2017 Andreas Fliedner

© des Vorworts 2017 Michael Siefener

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten.

Lektorat: Andy Hahnemann

Redaktion: Hannes Riffel

Korrektur: Andreas Fliedner

Umschlag & Gestaltung: benswerk [https://benswerk.wordpress.com/]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz, Berlin

ISBN 978-3-944720-51-7 [Print]

ISBN 978-3-944720-53-1 [E-Book]

Alle Rechte vorbehalten

www.golkonda-verlag.de

Inhalt

Impressum

Inhalt

Eine Vorbemerkung

1. Reinblütiger englischer Adel

2. Ein waschechter Heide

3. Dunkle Wälder und unergründliche Höhlen (1898–1902)

4. Und das unerforschte Afrika? (1902–1908)

5. Barbar und Fremder (1908–1914)

6. Ein neuerlicher Lebenswille (1914–1917)

7. Metrischer Mechaniker (1914–1917)

8. Träumer und Visionäre (1917–1919)

9. Fiebriges und unaufhörliches Geschreibsel (1917–1919)

10. Zynischer Materialismus (1919–1921)

11. Dunsany-Studien (1919–1921)

12. Ein Fremder in diesem Jahrhundert (1919–1921)

13. Der Scheitelpunkt meines Lebens (1921–1922)

14. Zu meinem eigenen Vergnügen (1923/1924)

15. Ehebande (1924)

Anhang

Abkürzungen

Zitate

Literaturverzeichnis

Phantastik im Golkonda Verlag

Eine Vorbemerkung

von Michael Siefener

Howard Phillips Lovecraft (1890–1937) war gewiss der bedeutendste Autor phantastischer Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Aber braucht man deshalb gleich eine zweibändige Biographie über ihn? Die Antwort ist einfach und eindeutig: ja.

Lovecrafts äußeres Leben mag vergleichsweise ereignislos verlaufen sein, sein inneres Leben hingegen war überreich und stark facettiert. Aus diesem inneren Leben zog er die Kraft für seine außergewöhnlichen Erzählungen, die in der Folge so unterschiedliche Autoren wie Stephen King, Ramsey Campbell, Thomas Ligotti und Neil Gaiman oder hierzulande Wolfgang Hohlbein inspiriert haben. Eine Biographie über Lovecraft muss daher genauso eine äußere wie eine innere Biographie sein, also eine Entwicklungsgeschichte seiner Ideen, Ansichten und Vorstellungen.

Noch einmal die Frage: und das alles auf rund anderthalbtausend Seiten?

Noch einmal die Antwort: ja.

Wenn ich mich als Kind über das eine oder andere beschwert habe, zum Beispiel über die Qualität des häuslichen Essens, pflegte mein Großvater stets zu sagen: »Sei still und zufrieden. Wir damals … wir hatten doch gar nichts.« Jetzt, einige Jahrzehnte später, ertappe ich mich dabei, dass ich denselben Satz immer öfter denke und manchmal auch laut ausspreche, so zum Beispiel: »Wir damals … wir hatten doch gar nichts, nicht einmal eine Lovecraft-Biographie.« Schon für ein schmales Bändchen über diesen Autor wäre ich dankbar gewesen, von substanzielleren Werken ganz zu schweigen.

Wie viele andere Leser meiner Generation entdeckte ich die Erzählungen Lovecrafts durch die legendäreBIBLIOTHEK DES HAUSES USHER, zwischen 1969 und 1975 herausgegeben von Kalju Kirde, und später durch die Nachfolgebände in derPHANTASTISCHEN BIBLIOTHEKbei Suhrkamp, herausgegeben von dem unvergleichlichen Franz Rottensteiner. Nachdem ich die ersten Geschichten über unnennbare Wesenheiten jenseits von Raum und Zeit gelesen hatte, wuchs in mir der Wunsch, etwas über den Urheber dieser faszinierenden Garne zu erfahren. Doch außer den Vor- oder Nachworten in den betreffenden Bänden fand ich nichts über ihn. Eben: »Wir hatten doch gar nichts.«

In Deutschland änderte sich das erst im Jahre 1983. Damals erschien im Corian-Verlag Heinrich Wimmer der BandH. P. Lovecraft – der Poet des Grauens, herausgegeben von Hans Joachim Alpers. Auch dies war keine Biographie, sondern eine Sammlung von Aufsätzen über Lovecraft, in der Hauptsache von deutschen Autoren verfasst. Beigegeben waren eine Erzählung Lovecrafts sowie einige Briefe aus seiner ungeheuer umfangreichen Korrespondenz. Damit bekamen wir zumindest einen ersten Einblick in das Leben und Denken dieses außergewöhnlichen Schriftstellers. Vorher gab es meines Wissens nur eine kurze Erwähnung zum Werk und zur Biographie Lovecrafts in Kalju Kirdes bahnbrechendem Aufsatz »Bemerkungen über Weird Fiction« (QUARBER MERKUR/MUTANT1966/67). In den USA war die Lage natürlich anders.

Schon 1941 veröffentlichte W. Paul Cook einen kleinen Band mit den Erinnerungen verschiedener Personen an H. P. Lovecraft, und 1945 erschienH. P. L.: A Memoirvon August Derleth bei Ben Abramson in New York. Dies war die erste substanzielle Abhandlung über Lovecrafts Leben und Werk und umfasste 122 Seiten. Derleth war, auch wenn er Lovecraft nie persönlich begegnet ist, ein enger Freund des Autors und gründete 1939 zusammen mit Donald Wandrei den Verlag Arkham House, zunächst um das Werk Lovecrafts in gebundenen Büchern herauszubringen. Später wurde das Programm um etliche andere lebende und tote Autoren erweitert, und bis zum Jahr 2003 erschienen knapp über zweihundert Bände (seitdem ist der Verlag leider zum publizistischen Äquivalent eines Zombies geworden). Derleth, der selbst ein beachtlicher Autor phantastischer Literatur und ein noch beachtlicherer Autor von Regionalliteratur war (er lebte in Wisconsin), ließ 1959 bei Arkham House ein weiteres Bändchen über Lovecraft folgen (Some Notes on H. P. Lovecraft), das hingegen nur 42 Seiten umfasste.

Schon 1955 hatte der Dichter und Phantastikautor Joseph Payne Brennan einen Aufsatz mit dem TitelH. P. Lovecraft: An Evaluationveröffentlicht, der sich vorwiegend mit Lovecrafts Werk beschäftigte und ganze acht Seiten umfasste. All das – und einige weitere kleine Schriften, die in der Folgezeit entstanden – war noch meilenweit von einer »richtigen«, ausführlichen Biographie entfernt, aber es bereitete den Boden für die erste umfassende Arbeit über Lovecraft von L. Sprague de Camp, die 1975 bei Doubleday & Co. unter dem TitelLovecraft: A Biographyerschien. Dieses Werk war immerhin schon 510 Seiten stark, doch es wurde rasch angefeindet, da de Camp es gewagt hatte, psychologische Spekulationen über Lovecraft anzustellen und Wertungen vorzunehmen, die seinen – bereits sehr zahlreichen – Fans zutiefst widerstrebten. Trotz ihrer Mängel ist diese Arbeit die erste detaillierte Biographie über Lovecraft, die in großem Umfang aus schriftlichen und mündlichen Quellen schöpft und den Autor wahrhaft lebendig werden lässt.

Ebenfalls 1975 veröffentlichte Lovecrafts Freund und Kollege Frank Belknap Long seine persönlichen Erinnerungen an Lovecraft während dessen New Yorker Zeit unter dem TitelHoward Phillips Lovecraft: Dreamer on the Nightsidebei Arkham House. Hierbei handelt es sich eher um eine Reihe von Anekdoten, nicht um eine erschöpfende Biographie. Doch gerade die enge Beziehung zwischen Long und Lovecraft und der Charakter eines »Augenzeugenberichtes« verleihen diesem Buch eine ungeheure Authentizität, die Lovecrafts Charakter und Gewohnheiten plastischer zeichnet als alle Bücher davor. Deshalb sei diese Publikation jedem ans Herz gelegt, der sich eingehend für Lovecraft interessiert.

Diese Reminiszenzen von F. B. Long waren es, die ich, nachdem ich voller Freude und Verwunderung den von Hans Joachim Alpers herausgegebenen BandH. P. Lovecraft – der Poet des Grauenseines Tages in der Kölner Bahnhofsbuchhandlung entdeckt und sogleich mit zitternden Händen gekauft hatte, in einer Fremdsprachenbuchhandlung in Köln bestellte, was leider nicht ganz einfach war. Man bedenke, die Vor-Internet-Ära war eine Zeit dickleibiger Kataloge und unwilliger Buchhandlungen, wenn es um Bestellungen aus dem Ausland ging. Ich wartete viele Monate auf den Long-Band, nachdem ich den Buchhändler wortreich hatte überreden müssen, dass er dieses kleine, für ihn läppische Buch aus einem obskuren Verlag in den Vereinigten Staaten für mich bestellte. Als ich trotz dieser WidrigkeitenHoward Phillips Lovecraft: Dreamer on the Nightsideendlich in Händen hielt, war mir das Buch umso wertvoller und lieber, und trotz meiner damals noch sehr mangelhaften Englischkenntnisse verschlang ich es sofort und sah HPL, wie er von seinen Freunden abgekürzt wurde, ungeheuer deutlich vor mir. Doch da das Buch nicht gerade vor Fakten strotzt, wuchs in mir das Verlangen nach einer ausführlichen und informativen Biographie.

Was war es da für eine Freude, als 1989 endlich de Camps Werk bei Ullstein auf Deutsch unter dem TitelLovecraft: Eine Biographieerschien – leider stark gekürzt, aber »wir hatten doch sonst nichts …«

In der Folgezeit wuchs das Interesse an Lovecraft auch in Deutschland beständig, was zu weiteren sekundärliterarischen Veröffentlichungen führte, zum Beispiel zu dem sehr informativen BandDer Einsiedler aus Providence: Lovecrafts ungewöhnliches Leben, herausgegeben von Franz Rottensteiner, erschienen im Jahre 1992 in derPHANTASTISCHEN BIBLIOTHEKbei Suhrkamp. In diesem Buch sind Aufsätze US-amerikanischer Autoren wie Winfield Townley Scott, Kenneth W. Faigh (der u. a. wertvolle Forschungen zu Lovecrafts Stammbaum betrieben hat) und W. Paul Cook enthalten.

Während in Amerika die Literatur über Lovecraft explosionsartige Zuwächse verzeichnete, nahm auch hierzulande die Beschäftigung mit dem Autor und seinem Werk an Fahrt auf. Es wäre ermüdend, alle oder auch nur die bedeutendsten Publikationen diesseits und jenseits des Atlantiks hier aufzuführen – wer sich ein Bild machen möchte, dem empfehle ich einen Blick in die Bibliographie am Ende dieses Buches.

Die maßgeblich treibende Kraft hinter der Lovecraft-Forschung der letzten 35 Jahre war Sunand Tryambak Joshi (geboren 1958), der im Jahre 1980 sein erstes Buch über Lovecraft veröffentlichte. Zum großen Schlag in biographischer Hinsicht holte Joshi im Jahre 1996 aus. Damals erschien bei der – inzwischen leider nicht mehr existenten – Necronomicon Press in Warwick, Rhode Island, das umfangreichste Buch, das dieser Kleinverlag je gedruckt hat:H. P. Lovecraft: A Life, in dem auf 704 äußerst eng bedruckten Seiten Leben und Werk des Autors ausgebreitet werden. Doch dieses Werk war gekürzt, und so ließ Joshi 2010 in der New Yorker Hippocampus Press die vollständige zweibändige Ausgabe unter dem TitelI Am Providence: The Life and Times of H. P. Lovecraftfolgen. Die vorliegende deutsche Ausgabe, ebenfalls in zwei Bänden, stellt eine ungekürzte Übersetzung dieser Edition dar.

Joshis Monumentalwerk ist eine wahre Fundgrube an Informationen zu Lovecrafts Leben und Werk. Zunächst drängt sich unwillkürlich die Frage auf: Woher weiß man so viel über diesen Autor, dass man Tausende von Seiten über ihn füllen kann? Die Antwort ist einfach: Lovecraft war ein überaus fleißiger Briefschreiber, und die meisten seiner Korrespondenten haben seine Briefe aufbewahrt. Viele sind später in öffentlichen Institutionen archiviert worden, und etliche befinden sich noch in privatem Besitz. Bei Arkham House wurden zwischen 1965 und 1976 fünf Bände mit Briefen von H. P. Lovecraft veröffentlicht, und in den letzten Jahren sind etliche weitere Bände bei anderen Verlagen hinzugekommen. Während ich diese Zeilen schreibe, bietet das führende amerikanische Fachantiquariat für Phantastik, L. W. Currey in Elizabethtown, New Jersey, ein Konvolut von 52 Briefen und drei Brieffragmenten H. P. Lovecrafts an den bereits erwähnten Frank Belknap Long an – für 150.000 Dollar. Auch einzelne Briefe finden sich immer wieder im antiquarischen Handel – stets zu Preisen jenseits der 1000 Dollar. Zumindest zeigen diese exorbitanten Summen die Wertschätzung, die Lovecraft gegenwärtig genießt.

So konnte sich Joshi also auf Unmengen von schriftlichen Äußerungen Lovecrafts stützen – ein Umstand, um den ihn die Biographen moderner Autoren sicher beneiden, da heutzutage doch der größte Teil des Schriftverkehrs über E-Mails und andere elektronische Wege abgewickelt und nur selten ausgedruckt und aufbewahrt wird.

Joshi beginnt seine Biographie mit Lovecrafts Familiengeschichte. Man mag sich fragen, ob es sinnvoll ist, den Leser am Anfang mit solch umfangreichen genealogischen Informationen zu traktieren, doch die Antwort auf diese Frage ist eindeutig: Ja, es ist sinnvoll. Lovecraft selbst legte stets großen Wert auf seine Abstammung, und sein Interesse an Genealogie und Geschichte ist im Lichte seiner eigenen Familienhistorie zu sehen, die weit in die von Lovecraft so geliebte Vergangenheit zurückreicht und ihn mit anderen, scheinbar besseren Zeiten verband. Die Familie Phillips, der Lovecraft entstammte, gehörte schließlich zu den Alteingesessenen in Neuengland und umgab sich mit gleichsam aristokratischem Gehabe. Besonders bei Lovecraft ist zu sehen, wie das Verständnis für die Vergangenheit – auch die eigene – den Blick auf die Gegenwart zu bestimmen vermag.

Auf seinem langen Weg durch Lovecrafts Leben räumt Joshi auch mit einigen Mythen auf, die sich um die Person des Autors gebildet hatten. So wurde Lovecraft früher stets als der »Einsiedler von Providence« beschrieben, doch nach der Lektüre dieser Biographie wird der Leser erkennen, dass dies eine Fiktion ist. Lovecraft hatte unzählige soziale Kontakte, teils durch seinen umfangreichen Briefwechsel, teils – vor allem während seiner New Yorker Jahre – durch persönlichen Umgang. Außerdem reiste er viel, besuchte seine Brieffreunde, war in verschiedenen Amateurschriftsteller-Organisationen tätig und sogar einige Jahre lang verheiratet (auch wenn diese Ehe unter keinem guten Vorzeichen stand und schließlich wieder aufgelöst wurde). Auf alle Fälle stand er mit mehr Menschen in persönlichem Kontakt, als ich selbst je kennenlernen werde.

Lange Kapitel sind Lovecrafts Kindheit gewidmet, und auch diese Kapitel sind äußerst wichtig, denn sie zeigen uns einen relativ normalen Jungen, den die seltsame Erziehung durch seine Mutter nicht wesentlich hatte schädigen können.

Es mag stimmen, dass Lovecrafts äußeres Leben nicht sonderlich aufregend verlief, dafür aber war sein inneres Leben umso reichhaltiger. Und in ihm liegt auch der Schlüssel zu seinem Werk. Daher ist es unerlässlich, immer wieder Lovecraft selbst durch seine Briefe und andere überlieferte Aussagen zu Wort kommen zu lassen. So entfaltet sich vor unseren Augen die Genese einer ungeheuer reichhaltigen Phantasie, die durch einen analytischen Verstand fortwährend in Zweifel gezogen wird. Wir erleben den Kampf um die adäquate Ausdrucksweise sowie die Entwicklung der Anschauungen und der Fähigkeit, diese Anschauungen in Literatur umzusetzen. Wir erfahren die Hintergründe der einzelnen Geschichten und ihrer allmählichen Entstehung. Wir spähen gleichsam in den ungeheuer komplexen Geist eines Autors und spüren den unzähligen Verästelungen nach, die Joshi vor uns ausbreitet wie eine innere Landkarte. Wer vertraut ist mit den Werken Lovecrafts, wird faszinierende Erkenntnisse erlangen, und wer noch nicht viel von ihm gelesen hat, wird einen unbändigen Appetit auf mehr bekommen. Gerade die Detailfülle von Joshis Biographie macht sie so interessant und sorgt dafür, dass hier jeder auf seine Kosten kommt. Sie ist ein Meisterwerk und ein Musterbeispiel für ihr Genre, weil sie ihrem Gegenstand gerecht wird und den Horizont des Lesers auf eine geradezu unheimliche Weise bereichert.

Zumindest die zeitgenössischen Entdecker von Lovecrafts Werken können also nicht mehr behaupten: »Wir haben ja gar nichts«, wenn sie abseits der oft zweifelhaften Quellen des Internets nach verlässlichen Informationen über das Leben Lovecrafts suchen. Hier sind sie.

1. Reinblütiger englischer Adel

Da er sich nur sporadisch für die Erforschung seines Stammbaums begeisterte, gelang es Howard Phillips Lovecraft nicht, viel mehr über seine Familie väterlicherseits herauszufinden, als aus den Aufzeichnungen seiner GroßtanteSarah Allgood hervorging.1 Viele der von ihr gesammelten Informationen, insbesondere über die Familie Lovecraft vor ihrer Ankunft in Amerika im frühen 19. Jahrhundert, wurden allerdings durch spätere genealogische Forschungen nicht bestätigt. Darüber hinaus hat sich einiges von dem, was Lovecraft über seine väterlichen wie mütterlichen Ahnenreihen berichtet, als eindeutig falsch herausgestellt. Lovecrafts Stammbaum lässt sich also nur in Ansätzen rekonstruieren.

Folgt man den Aufzeichnungen von Sarah Allgood, dann taucht der Name Lovecraft oder Lovecroft zum ersten Mal um 1450 in einer Reihe von Wappentafeln auf, die Lovecrofts in Devonshire in der Gegend des Flusses Teign ausweisen. Einige Nebenlinien lassen sich sogar bis zur Normannischen Eroberung oder noch weiter zurückverfolgen. Lovecrafts unmittelbare Ahnenreihe beginnt 1560 mit John Lovecraft. In Lovecrafts eigenen Worten: »Nun – John zeugte Richard, Richard zeugte William, William zeugte George, George zeugte Joseph, Joseph zeugte John, John zeugte Thomas, Thomas zeugte Joseph, Joseph zeugte George, George zeugte Winfield und der zeugte deinen alten Großpapa« – wobei Lovecraft mit dem »alten Großpapa« sich selbst meint.2

Unglücklicherweise hat Kenneth W. Faig, Jr. kürzlich in Bezug auf die Aufzeichnungen Sarah Allgoods festgestellt, dass sie »weitgehend der Phantasie ihrer Autorin entsprungen sind«.3 Es ist Faig zusammen mit A. Langley Searles und Chris Docherty nicht gelungen, auch nur einen einzigen Namen aus der lovecraftschen Ahnenreihe vor seinem Urgroßvater Joseph Lovecraft (1775–1850) zu verifizieren. Es gibt einige Anhaltspunkte dafür, dass Joseph von John (und nicht Thomas) Lovecraft (1742–1780) und John von Joseph Lovecraft (1703–1781) abstammen könnte, doch auch das bleibt letztlich Spekulation. In Bezug auf Lovecrafts mehrfach geäußerte Vermutung, dass er von einer anderen Nebenlinie abstammen könnte, fährt Faig fort: »Aller Wahrscheinlichkeit nach stammte Lovecraft nicht von irgendeiner der ›großen‹ Familien ab, die in seiner Ahnentafel auftauchen. Fulford, Edgecombe, Chichester, Carew, Musgrave und Reed – das sind nur ein paar der Namen, die wahrscheinlich nicht zu Lovecrafts direkten Vorfahren zählen.«4

Leider findet sich die einzige genuin phantastische Legende in Lovecrafts Stammbaum ausgerechnet in einer dieser Nebenlinien. Lovecrafts Großvater väterlicherseits, George Lovecraft, war mit Helen Allgood verheiratet, und durch sie meinte Lovecraft, mit den Musgraves von Eden Hall in Cumberland verwandt zu sein. Von diesen erzählte man sich, dass einer der ihren den Feen einen Trinkbecher gestohlen hatte. Nachdem die Feen vergeblich versucht hatten, ihn zurückzuerhalten, sprachen sie die folgende Prophezeiung aus:

Kommt dies Glas zu Fall

Fahr wohl dann, o Glück von Edenhall

Lovecraft berichtet in einem Brief, dass der Trinkbecher im South Kensington Museum in London – eigentlich seit 1899 Victoria and Albert Museum – zu sehen sei.5 Das betreffende Objekt – ein etwa 15 Zentimeter hoher Trinkbecher syrischer Herkunft aus dem 13. Jahrhundert, der vermutlich als Beute aus den Kreuzzügen nach England gelangte – befindet sich heute in der Islamischen Galerie des Museums. Seit 1926 war er eine Leihgabe der Familie Musgrave, und 1959 wurde er vom Museum angekauft.6 Die Legende um das Gefäß findet sich erstmals 1791 im GENTLEMAN’S MAGAZINE erwähnt.7

Später hatte der astronomiebegeisterte Lovecraft die Genugtuung, unter seinen entfernteren Verwandten mütterlicherseits einen echten Mann der Wissenschaften zu entdecken. John Field oder Feild (1520–1587) veröffentlichte 1556 ein astronomisches Jahrbuch für das Jahr 1557 und 1558 ein weiteres für die Jahre 1558, 1559 und 1560. In diesen Bänden findet sich die erste Darstellung der kopernikanischen Theorie in englischer Sprache.8 Leider sind inzwischen Zweifel an der Verwandtschaft zwischen diesem John Field und jenem John Field (gest. 1686) aufgekommen, der einer der ersten Siedler in Providence, Rhode Island, und ein direkter Vorfahre von Lovecrafts Mutter war. Lovecraft, der diese verwandtschaftliche Bindung für authentisch hielt, war begreiflicherweise hocherfreut, denn als Atheist war er mit seiner Ahnenreihe väterlicherseits alles andere als zufrieden. Sie schien ihm »verseucht von Geistlichen, während an klaren Denkern Mangel herrscht«.9 Über seine Vorfahren im Allgemeinen urteilte er: »Keine Philosophen, keine Künstler, keine Schriftsteller – niemand dabei, mit dem ich mich unterhalten könnte, ohne Kopfschmerzen zu bekommen.«10

Lovecraft fand besonderes Vergnügen an den (vermutlich von Helen Allgood gesammelten) Berichten über seinen Ahnen Thomas Lovecraft (1745–1826), der offensichtlich ein derart ausschweifendes Leben geführt hatte, dass er sich 1823 gezwungen sah, den Familiensitz Minster Hall in der Nähe von Newton Abbot zu verkaufen. Obwohl es angesichts seiner im Allgemeinen eher negativen Haltung gegenüber sexueller oder materieller Zügellosigkeit eher überrascht, fühlte sich Lovecraft zu diesem Vorfahren seltsam hingezogen. Er war stolz darauf, ein Buch mit der Inschrift »Tho. Lovecraft, Gent. His Book, 1787«11 zu besitzen und äußert sich fast beifällig über die Verschwendung des Familienbesitzes durch seinen Ahnen. Auch in diesem Fall bleibt ein tatsächliches Verwandtschaftsverhältnis jedoch zweifelhaft. Faig schreibt dazu: »Es ist uns nicht gelungen, einen Thomas Lovecraft ausfindig zu machen, der 1766 Letitia Edgecombe heiratete und Besitzer von Minster Hall bei Newton Abbot war. Ein Anwesen mit dem Namen Minster Hall ist in Devon nicht belegt.«12 Lovecraft ging davon aus, dass es sich bei Joseph Lovecraft, der 1827 mit seiner Ehefrau Mary Fulford (tatsächlich Mary Full, 1782–1864) und ihren sechs Kindern John, William, Joseph Jr., George, Aaron und Mary Full nach Ontario in Kanada ausgewandert war, um Thomas Lovecrafts sechstes Kind gehandelt hat.

Da Joseph in Kanada keine Arbeit fand, zog die Familie weiter südwärts bis in die Gegend von Rochester, New York, wo er sich spätestens 1831 als Küfer und Schreiner niederließ. Die Einzelheiten seiner Auswanderung bleiben unsicher, und einige von Lovecraft kolportierte Details scheinen definitiv falsch zu sein – so befanden sich zum Beispiel Joseph und seine Kinder 1828 noch in England. Als gesichert kann jedoch gelten, dass wir Joseph Lovecraft um das Jahr 1831 in der Gegend von Rochester antreffen.

Lovecraft war überzeugt, dass damit in England keine Lovecrafts mehr übrig geblieben waren. Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es allerdings eine Vielzahl von Personen mit den Namen Lucraft oder Luckraft,13 und noch heute findet man diesen Namen im Londoner Telefonbuch.14 Es handelt sich offenbar um variierende Schreibweisen oder verwandte Familien. Lovecraft selbst hatte jedoch keinerlei Kontakte zu Verwandten in England. Bemerkenswert ist, dass bei der Volkszählung 1840 in Rochester der Nachname von Joseph Lovecrafts Söhnen John F. und William als »Lovecroft« angegeben wird, während bei derselben Volkszählung in Peru Township in Clinton County, New York, der Nachname von Joseph Jr. »Lucraft« geschrieben wird.15

Lovecrafts Großvater väterlicherseits, George Lovecraft, wurde 1815 geboren.16 1839 heiratete er Helen Allgood (1820–1881) und verbrachte den größten Teil seines Lebens in Rochester, wo er als Sattler tätig war. Von seinen fünf Kindern starben zwei noch im Säuglingsalter. Die überlebenden waren Emma Jane (1847–1925), Winfield Scott (1853–1898) und Mary Louise (1855–1916). Emma heiratete Isaac Hill, den Rektor der Highschool von Pelham, New York,17 und Mary ehelichte einen gewissen Paul Mellon. Winfield heiratete Sarah Susan Phillips und aus ihrer Verbindung ging Howard Phillips Lovecraft hervor. Eine Reihe der genannten Personen – darunter George Lovecraft, Helen Allgood Lovecraft, Emma Jane Hill, Mary Louise Mellon – liegen auf dem Woodlawn Cemetery im New Yorker Stadtteil Bronx begraben.18

Es scheint, dass Lovecraft weit mehr Energie darauf verwendet hat, seine mütterlichen Vorfahren ausfindig zu machen, obwohl man auch hier den Ergebnissen seiner Nachforschungen nicht immer trauen kann. 1915 meinte er zu wissen: »Der erste Phillips meiner Linie kam gegen Ende des 17. Jahrhunderts aus Lincolnshire nach Rhode Island und ließ sich im westlichen Teil der Kolonie nieder.«19 Zu diesem Zeitpunkt konnte Lovecraft seinem ersten nach Amerika umgesiedelten Vorfahren noch keinen Namen zuordnen. Doch 1924 gab er an, von Reverend George Phillips (gest. 1644) abzustammen, der im Jahre 1630 England verlassen hatte, um sich in Watertown, Massachusetts (dem westlichen Nachbarort von Cambridge), niederzulassen.20 Allerdings gibt es begründete Zweifel an der Richtigkeit von Lovecrafts Behauptung, dass George der Vater von Michael Phillips (1630?–1686?) aus Newport, Rhode Island, war, der Lovecrafts erster gesicherter Urahne ist. Fest steht jedenfalls, dass Asaph Phillips (1764–1829), Michaels Urenkel (oder, was wahrscheinlicher ist, Ur-Urenkel), landeinwärts zog und sich um das Jahr 1788 in Foster, im mittleren Westen des Staates nahe der Grenze zu Connecticut niederließ. Asaph und seine Frau Esther Whipple (die entfernt mit Abraham Whipple, dem Helden des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs, verwandt war) hatten acht Kinder, die – für die damalige Zeit äußerst ungewöhnlich – alle das Erwachsenenalter erreichten. Das sechste Kind, Jeremiah Phillips (1800–1848), baute in Foster eine Wassermühle am Moosup River – er starb am 20. November 1848, als sein Mantel sich im Mahlwerk der Mühle verfing und ihn in die Maschinerie zog. Seine Frau Roby Rathbun Phillips war im gleichen Jahr noch vor ihrem Mann gestorben, sodass ihre vier Kinder Susan, James, Whipple und Abbie als Waisen zurückblieben. Whipple Van Buren Phillips (1833–1904) war Lovecrafts Großvater mütterlicherseits.

Lovecraft erwähnt, dass Whipple Schüler der East Greenwich Academy – damals Providence Conference Seminary21 – war, aber es ist unklar, wann er diese Schule, ein methodistisches Internat, besuchte. Vermutlich war es in der Zeit vor dem Tod seines Vaters Jeremiah. 1852 zog Whipple zu seinem Onkel James Phillips (1794–1878) nach Delavan, Illinois, einer Temperenzlerstadt, die von seinen Verwandten gegründet worden war. Er kehrte jedoch schon im nächsten Jahr nach Foster zurück, weil er, wie in seinem Nachruf zu lesen ist, das Klima in Delavan nicht vertrug.22 In diese Zeit fällt vermutlich das, was Lovecraft als seine »kurze Karriere als Landschullehrer« bezeichnet.23 Am 27. Januar 1856 heiratete er seine Kusine Robie Alzada Place (1827–1896).24 Sie bezogen ein Anwesen in Foster, das Robies Vater, Stephen Place, erbaut hatte. Ihr erstes Kind Lillian Delora (1856–1932) kam nur drei Monate später zur Welt. Auf Lillian Delora folgten vier weitere Kinder: Sarah Susan (1857–1921), Emeline (1859–1865), Edwin Everett (1864–1918) und Annie Emeline (1866–1941). Lovecrafts Mutter Sarah Susan wurde, wie schon ihre Mutter vor ihr, im Haus der Familie Place geboren.25

Im Jahr 1855 kaufte Whipple in Foster einen Gemischtwarenladen, den er mindestens zwei Jahre lang führte.26 Anschließend verkaufte er Laden und Inventar, vermutlich mit beträchtlichem Gewinn. Damit begann seine Karriere als Unternehmer und Landspekulant. Um diese Zeit27 verlegte er seinen Wohnsitz in die Stadt Coffin’s Corner, einige Meilen südlich von Foster, wo er »eine Mühle, ein Haus, ein Gemeindehaus und mehrere Hütten für Arbeiter«28 errichtete. Da er das gesamte Land dort gekauft hatte, benannte er die Stadt, zu Ehren des aus Rhode Island stammenden Helden des Unabhängigkeitskrieges Nathanael Greene, in Greene um. Als Lovecraft gemeinsam mit seiner Tante Annie 1926 die Stadt besuchten, waren viele der von Whipple errichteten Gebäude – darunter das Haus, das er für seine Familie gebaut hatte – noch vorhanden. Es scheint außergewöhnlich, das ein Vierundzwanzigjähriger praktisch eine komplette Stadt besitzt, doch Whipple war offensichtlich ein energischer und unternehmungslustiger Geschäftsmann, der in seinem bewegten Leben mehr als ein Vermögen gewann und wieder verlor.

Lovecraft erwähnt, dass sein Großvater in Greene eine Freimaurerloge gründete, was von Henry W. Ruggs History of Freemasonry in Rhode Island (1895) bestätigt wird. Rugg schreibt:

Im Jahr 1869 ersuchten Bruder Whipple D. [sic] Phillips und fünfzehn weitere Brüder, in der Mehrzahl Mitglieder der Manchester-Loge, um die Erlaubnis, eine neue Loge zu gründen, die den Namen »Ionische Loge« tragen sollte. Das Gesuch wurde dem ehrwürdigen Bruder Thomas A. Doyle, der zu dieser Zeit das Amt des Großmeisters bekleidete, vorgelegt, der ihm zustimmte und mit Datum vom 15. Januar 1870 den Petenten die Erlaubnis erteilte, in dem zur Stadt Coventry gehörigen Dorf Greene eine Loge zu bilden und zu eröffnen, die den Namen Ionische Loge Nummer 12 tragen sollte.

Mit dieser Erlaubnis ausgestattet fand das erste Treffen der beteiligten Brüder am 19. März 1870 statt. Bruder Whipple D. Phillips amtierte dabei als Meister, Bruder Warren H. Tillinghast als Erster Aufseher und William Carter als Zweiter Aufseher.29

Whipple Phillips bekleidete darüber hinaus auch Ämter in weiteren Freimaurervereinigungen in Rhode Island. Als 1886 der Ionischen Loge von Greene ihr bisheriger Sitz zu klein wurde, vermietete Whipple – obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits in Providence wohnte – den Freimaurern »Phillips Hall«, ein Gebäude, das er gebaut hatte und das sich noch immer in seinem Besitz befand.30

Um diese Zeit unternahm Whipple einen kurzen Ausflug in die Politik. Von Mai 1870 bis Mai 1872 war er, so verzeichnet es sein Nachruf, Mitglied des Repräsentantenhauses von Rhode Island. Doch fühlte er sich dort offensichtlich weniger wohl als im Geschäftsleben. Lovecraft berichtet über das Auf und Ab seiner Geschäfte zu dieser Zeit: »1870 wurde er vom plötzlichen Zusammenbruch seiner Finanzen überrascht – den er hätte vermeiden können, wenn er die Verantwortung für einen unterschriebenen Wechsel abgeleugnet hätte, was für ihn als Gentleman jedoch nicht in Frage kam. Dadurch wurde die Familie nach Providence verschlagen, wo sich Whipples Finanzen glücklicherweise wieder erholten.«31 Es ist vielleicht möglich, zumindest etwas Licht in diese Angelegenheit zu bringen. Casey B. Tyler, der Cousin von Lovecrafts Großmutter mütterlicherseits,32 bemerkt in seinen Historical Reminiscences of Foster, Rhode Island (1884–93), dass Whipple »schließlich jenem berüchtigten Dämon ›Hugog‹ zum Opfer fiel und einen Großteil seines hart erarbeiteten Vermögens verlor«. Tyler gibt keine Auskunft darüber, wer dieser Hugog war, berichtet jedoch, dass er selbst 1869 durch »die Schurkerei eines vorgeblichen Freundes, der sich Mr. Hugog nannte«, 10.000 Dollar einbüßte.33 Der Verdacht liegt nahe, dass es zwischen dem Betrug, dem Tyler zum Opfer fiel, und Whipples finanziellem Desaster eine Verbindung gab. Jedenfalls hatte Tyler nichts Gutes über Mr. Hugog zu sagen: »Unter allen Menschen, die aus Foster stammen, hat es nur eine einzige Person gegeben, die der Stadt zu Schande und Unehre gereicht hat. Mögen ihre Schandtaten vergeben und ihr unwürdiger Name vergessen werden.«34 Offensichtlich ist Tylers Wunsch in Erfüllung gegangen.

Um diese Zeit muss das Anwesen der Familie Place in Foster verkauft worden sein, da Lovecraft vermerkt, dass es 1870 von der Familie aufgegeben wurde.35 Der Umzug nach Providence fand wahrscheinlich 1874 statt.36 Nach mehreren Wohnungswechseln ließ sich Whipple um 1876 auf der West Side von Providence, am Broadway 276 nieder – am Westufer des Providence River, dort, wo sich heute der Geschäftsbezirk der Stadt befindet. Der Hauptsitz seines Unternehmens befand sich ebenfalls in dieser Gegend, in der Custom House Street, in der Nähe des Flussufers. Das städtische Adressbuch von 1878 führt ihn als Inhaber einer Firma für »maschinelles Säumen«, d. h. für die Herstellung von Säumen für Vorhänge, Decken und eventuell auch Kleidung. Eine Folge dieser Tätigkeit war Whipples Besuch der Pariser Weltausstellung von 1878.37 Lovecraft berichtet, dass sein Großvater »ein kultivierter & weitgereister Mann« war und betont besonders »dass er mit allen Sehenswürdigkeiten Europas vertraut war, die er aus erster Hand kannte«.38 Whipples Ausflug nach Paris war vermutlich nur die erste einer Reihe von Reisen, die ihn über den Atlantik führten: So verzeichnet sein Nachruf eine »ausgedehnte Geschäftsreise« nach London und Liverpool im Jahre 1880.

Zu dieser Zeit verfügte Whipple Phillips zweifellos über ein beachtliches Vermögen. In den Jahren 1880–81 baute er das Haus in der Angell Street 194 und rief zugleich sein ehrgeizigstes geschäftliches Unternehmen ins Leben: die Owyhee Land and Irrigation Company in Owyhee County im äußersten Südwesten von Idaho, »deren Unternehmenszweck die Errichtung eines Damms am Snake River & die Bewässerung des umliegenden Farm- und Obstbaulandes war«.39 Das Unternehmen wurde unter dem Namen Snake River Company bereits 1884 ins Handelsregister von Providence eingetragen, wobei Whipple als Geschäftsführer und sein Neffe Jeremiah W. Phillips (der Sohn seines Bruders James W. Phillips) als Sekretär und Schatzmeister fungierten. Zunächst handelte die Firma mit »Land und Vieh«, doch bereits kurze Zeit später wandte sich Whipple einem anderen Projekt zu: der Errichtung eines Damms – nicht zum Stauen des Snake River, wie Lovecraft dachte, sondern seines Zuflusses, des Bruneau River. Lovecraft berichtet, dass das Unternehmen im Oktober 1889 umfirmierte und als Owyhee Land and Irrigation Company ins Handelsregister von Maine eingetragen wurde.40

Die Arbeiten an dem Damm begannen im Herbst 1887 und waren zu Beginn des Jahres 1890 abgeschlossen. Whipple, der ja bereits einige Erfahrung mit dem Benennen und Gründen von Städten hatte, kaufte 1887 die Henry-Dorsey-Fähre über den Snake River und gründete an der Fährstation eine Ortschaft, der er den Namen Grand View gab. (Bei der Volkszählung von 1980 zählte der etwa dreißig Meilen südlich von Boise gelegene Ort 366 Einwohner.) Er baute dort auch das Grand View Hotel, das sein Sohn Edwin betreiben sollte.

Doch da schlug das Unheil zu. Am 5. März 1890 wurde der Damm durch ein Hochwasser vollständig unterspült und die 70.000 Dollar, die Whipple in den Bau investiert hatte, waren verloren. Die im nahe gelegenen Silver City erscheinende Zeitung OWYHEE AVALANCHE wagte jedoch eine optimistische Voraussage: »Der Geschäftsführer Mr. Phillips ist jedoch kein Mann, der sich von einem Unglück wie dem beschriebenen entmutigen lassen würde. Zweifellos wird er in weniger als zwei Jahren an Stelle des zerstörten Damms einen neuen und besseren errichtet haben.« Und in der Tat sollte die AVALANCHE recht behalten: Die Bauarbeiten für den neuen Damm begannen im Sommer 1891 und wurden im Februar 1893 abgeschlossen.

Whipple war jedoch keineswegs ständig vor Ort. Es scheint vielmehr so, als ob er die Baustelle nur gelegentlich besucht hat. Wenn er nicht in Idaho war, investierte er, insbesondere von April 1893 an, beträchtliche Zeit und Energie in die Erziehung seines zu diesem Zeitpunkt einzigen Enkels, Howard Phillips Lovecraft. Die AVALANCHE verzeichnet Besuche Whipple Phillips in Idaho im Juni und im Oktober 1891 und im Juli 1892. Bei späteren Reisen in die Gegend schickte er seinem Enkel Briefe aus Boise City, Mountain Home und Grand View.41

Um 1900 scheint die Owyhee Land and Irrigation Company in finanzielle Schwierigkeiten geraten zu sein. In jenem Jahr ist sie zum letzten Mal im städtischen Adressbuch von Providence verzeichnet. Am 12. März 1901 wurde das Unternehmen in Silver City zwangsversteigert. Whipple Phillips war einer von fünf Käufern. Der Wert des Unternehmens war jedoch am 25. Mai 1900 auf gerade einmal 9.430 Dollar geschätzt worden, wobei die Hälfte auf den Bewässerungskanal einer Mine entfiel. Der letzte Schlag erfolgte zu Beginn des Jahres 1904, als der Damm ein weiteres Mal zerstört wurde. Lovecraft berichtet, dass diese zweite Katastrophe »die Phillips-Familie buchstäblich finanziell auslöschte und den Tod meines Großvaters – der im Alter von 70 Jahren an einem Schlaganfall starb – beschleunigte«.42 Whipple Phillips starb am 28. März 1904. Nach seinem Tode kauften drei andere Personen seinen Anteil an der Owyhee Land and Irrigation Company und benannten das Unternehmen in Grand View Irrigation Company, Ltd. um.

Das Projekt in Owyhee stand in den letzten Jahren seines Lebens im Mittelpunkt von Whipples unternehmerischer Tätigkeit, obwohl er offensichtlich in Providence und anderswo weitere Geschäftsinteressen hatte, wie seine ausgedehnten Reisen nahelegen. Arthur S. Koki, der Zugang zu den Papieren der Familie Phillips hatte, hat Unterlagen entdeckt, in denen Whipple als Inhaber des Westminster Hotels in der Westminster Street 317 in Providence genannt wird. Es ist jedoch unklar, wann und wie lange Whipple Eigentümer des Hotels war.43 Trotz der beträchtlichen Geldsumme, die er mit dem Staudammprojekt in Idaho verlor, erscheint Whipple Phillips als ein äußerst fähiger Geschäftsmann – kühn, ideenreich und vielleicht auch ein wenig skrupellos –, der zugleich vielseitig gebildet war und dem das finanzielle, geistige und persönliche Wohlergehen seiner Familie sehr am Herzen lag. Letzteres zeigt sich deutlich in dem Anteil, den er an der Erziehung seines Enkels Howard Phillips Lovecraft nahm.

Über Whipples Ehefrau Robie wissen wir nur sehr wenig. Lovecraft erwähnt, dass sie das Lapham Institute in North Scituate, Rhode Island, etwa fünfzehn Meilen nordöstlich von Greene, besuchte.44 Das Lapham Institute war 1839 als Smithfield Institute von der Rhode Island Association of Free Baptists45 gegründet worden, und es ist anzunehmen, dass Robie Place eine der ersten weiblichen Schülerinnen dieser Institution war. Die Tatsache, dass sie diese Schule besuchte, spricht für eine starke religiöse Prägung, ebenso wie der Umstand, dass sie und ihre drei Töchter in den 1880er Jahren der First Baptist Church beitraten. Zumindest Robie und Susie blieben beide bis zu ihrem Tode eingeschriebene Mitglieder.46 Lovecraft beschreibt seine Großmutter in einem frühen Brief als »eine stille, heitere Dame alter Schule«.47

Die ältere von Lovecrafts beiden Tanten, Lillian Delora Clark, besuchte von 1871 bis 1873, vielleicht auch länger, das Wheaton Female Seminary (heute Wheaton College) in Norton, Massachusetts.48 Norton ist eine kleine Stadt im Südosten des Bundesstaates, etwa zehn Meilen von der Grenze zu Rhode Island entfernt. Es ist unklar, warum Lillian – ebenso wie Lovecrafts Mutter Susie – gerade diese Schule besuchte und keine, die näher am Wohnort der Familie lag. Lovecraft erwähnt, dass Lillian »zusätzlich die State Normal School besuchte und für einige Zeit Lehrerin war«.49 Lovecraft war stolz auf die künstlerische Begabung sowohl seiner Tante wie seiner Mutter und behauptete, dass »Bilder von Lillian im Providence Art Club ausgestellt wurden«.50

Seinen Onkel Edwin Everett Phillips erwähnt Lovecraft hingegen kaum, und es ist offensichtlich, dass er keine enge Beziehung zu ihm hatte. Nachdem Edwin Everett seinem Vater bei dessen Unternehmungen in Idaho für kurze Zeit zur Hand gegangen war, kehrte er 1889 nach Providence zurück und versuchte – anscheinend nicht sehr erfolgreich – sich selbst als Geschäftsmann zu etablieren. 1894 heiratete er Martha Helen Mathews und ließ sich irgendwann von ihr scheiden, um 1903 erneut zu heiraten. Im Laufe seines Lebens scheint Edwin allen möglichen Tätigkeiten nachgegangen zu sein, darunter Handelsvertreter, Immobilienmakler, Kreditvermittler, Mieteintreiber, Notar und Münzhändler,51 um schließlich Anfang der 1910er Jahre die Edwin E. Phillips Refrigeration Company zu gründen. Er wird nur ein einziges Mal im Leben von Lovecraft und seiner Mutter eine bedeutsame Rolle spielen, allerdings keine positive.

Annie Emeline Phillips, Lovecrafts jüngere Tante, war neun Jahre jünger als seine Mutter. Lovecraft berichtet, dass sie »zu der Zeit, als ich begann, die Dinge um mich herum wahrzunehmen, noch eine sehr junge Dame war. Sie war in den Kreisen der städtischen Jugend sehr beliebt & brachte einen Grundton von Fröhlichkeit in einen sonst eher konservativen Haushalt.«52 Über ihre schulische Laufbahn ist nichts in Erfahrung zu bringen.53

Lovecrafts Mutter, Sarah Susan Phillips, wurde am 17. Oktober 1857 im Haus der Familie Place in Foster geboren. Leider ist über ihre Kindheit wenig bekannt. Ein Notizbuch, das sie in ihrer Jugend zu führen begann, enthält – neben Schulaufgaben, genealogischen Aufzeichnungen und anderem – einen rührenden Nachruf auf ihre Schwester Emeline, die 1865, noch vor ihrem sechsten Geburtstag, an Diphterie starb:

Die kleine Emma war ein Kind, das zu den schönsten Hoffnungen Anlass gab. Ihr knospender Geist erweckte bei ihren Freunden bereits zärtliche Erwartungen, während die natürliche Schlichtheit ihrer Umgangsformen und ihr sanftes Gemüt sie nicht nur ihren Eltern doppelt lieb machten, sondern ihr die Herzen aller, die sie kannten, zufliegen ließen.

Ihre Krankheit ertrug sie mit großer Geduld, obwohl sie sehr unter Atemnot litt und einmal in ihrer kindlichen Art zu ihrer Mutter sagte: »Ich wünschte, ich könnte einen kleinen Moment aufhören zu atmen, nur um mich auszuruhen.« Ein anderes Mal richtete sie sich auf und sagte: »Mutter, die Bibel ist ein Führer der Jugend.«54

Lovecraft berichtet, dass Sarah Susan ebenso wie Lillian das Wheaton Female Seminary besuchte, ihr Schulbesuch ist jedoch nur für das Schuljahr 1871/72 dokumentiert.55 Zwischen dieser Zeit und ihrer Heirat im Jahr 1889 wissen wir nichts über Lovecrafts Mutter, außer dass die Volkszählung von 1880 sie als wohnhaft bei ihrem Vater unter der Adresse Broadway 276 verzeichnet. Von Clara Hess, einer Freundin der Familie Lovecraft, haben wir eine Beschreibung von Susie, die sie vielleicht in den späten 1890er Jahren schildert: »Sie war sehr hübsch und attraktiv, mit einem wunderschönen und außergewöhnlich weißen Teint, den sie, wie man sagte, dadurch erhielt, dass sie Arsen aß, obwohl ich nicht weiß, ob an dieser Geschichte etwas Wahres ist. Sie war eine überaus nervöse Person.«56 In einem späteren Text fügt Hess hinzu: »Sie hatte eine eigenartig geformte Nase, von der ich ziemlich beeindruckt war, da sie ihr einen sehr forschenden Ausdruck verlieh. Howard sah ihr sehr ähnlich.«57

Das Wenige, was wir über das Leben von Lovecrafts Vater Winfield Scott Lovecraft vor seiner Heirat wissen, verdanken wir den Forschungen von Richard D. Squires von der Wallace Library am Rochester Institute of Technology.58 Winfield wurde am 26. Oktober 1853 geboren. Der Ort seiner Geburt war wahrscheinlich das Haus von George und Helen Lovecraft in der Marshall Street 42 in Rochester. Benannt wurde er nach General Winfield Scott, und es ist vielleicht kein Zufall, dass seine Eltern diesen Namen fast genau ein Jahr nach einem Besuch Scotts, der damals der Präsidentschaftskandidat der Whigs war, in Rochester auswählten. George Lovecraft war zu dieser Zeit »reisender Handelsvertreter« für die Großgärtnerei Ellwanger & Barry, eines der größten Unternehmen von Rochester. Die Familie besuchte den Gottesdienst in der Grace (heute St. Paul’s) Episcopal Church.59

Im Jahr 1859 wird ihre Adresse mit Griffith Street 26 in Rochester angegeben, einer Parallelstraße der Marshall Street. Es gibt keine Anhaltspunkte, wo Winfield als Kind die Schule besuchte, aber vermutlich ging er in eine der Grundschulen in Rochester. Um 1863 begann George Lovecraft, die Möglichkeit einer Übersiedlung der Familie nach New York City zu sondieren. Ungefähr ein Jahr lang lebte Winfield mit seiner Mutter, seinen Schwestern und seinem Onkel Joseph, Jr. in der Allen Street 106. Die Familie zog dann auch tatsächlich um 1870 nach New York, Winfield blieb jedoch in Rochester zurück. Von 1871–1873 arbeitete er als Schmied in der Kutschenfabrik James Cunningham & Son, die lange Zeit Rochesters größter Arbeitgeber war. Während dieser Zeit lebte Winfield im Haus eines anderen Bruders seines Vaters, John Full Lovecraft, in der Marshall Street. Von 1874 an findet sich keine Spur mehr von Winfield Scott Lovecraft in Rochester.

Lovecraft erwähnte 1915, dass sein Vater »sowohl privat wie auch in einer Militärakademie unterrichtet worden war und die modernen Sprachen zu seinem Hauptfach gemacht hatte«.60 Keine zwei Jahre später jedoch schrieb er, dass Winfield »alles Militärische liebte und … in seiner Jugend die Möglichkeit eines Studiums in West Point nur seiner Mutter zuliebe ausgeschlagen hatte«.61 Ob Winfield tatsächlich eine Militärakademie absolviert hat oder um welche Militärakademie es sich dabei gehandelt haben könnte, ist nicht bekannt. Winfield war jedenfalls nicht in West Point, wie eine Überprüfung der Absolventenlisten schnell zeigt. Möglicherweise handelte es sich nicht um eine offizielle Militärakademie, sondern um eine Schule mit Schwerpunkt auf militärischer Ausbildung. In jedem Fall wird es sich wahrscheinlich um eine Schule im Bundesstaat New York, vielleicht in der Gegend von Rochester gehandelt haben.62

Irgendwann muss Winfield nach New York City übergesiedelt sein, da die Stadt in seiner Heiratsurkunde als Wohnort angegeben ist. In den städtischen Adressbüchern von Manhattan und Brooklyn ist er jedoch nicht aufzufinden (für Queens und die Bronx gab es damals noch keine offiziellen Adressbücher). Eine Person, die in unserem Zusammenhang von Interesse ist, findet sich jedoch im Adressbuch von Manhattan: Frederick A. Lovecraft (1850–1893), der Sohn von George Lovecrafts älterem Bruder Aaron und somit Winfields Cousin. Hat sich Winfield vielleicht vor seiner Hochzeit eine Zeit lang mit Frederick eine Wohnung geteilt oder bei ihm zur Untermiete gewohnt? Kostgänger oder Untermieter werden von den städtischen Adressverzeichnissen oft übergangen, und ich kann mir kein wahrscheinlicheres Szenario für Winfields Aufenthalt in New York vorstellen.

Man vermutet, dass Winfield eine Anstellung bei der Silberschmiede Gorham & Co., Silversmith, in Providence fand, einer Firma, die 1813 von Jabez Gorham63 gegründet wurde und viele Jahre eines der größten Unternehmen der Stadt war. Der Hinweis auf diese Anstellung kommt, soweit ich weiß, nicht von Lovecraft selbst, sondern von Lovecrafts Ehefrau Sonia, die 1948 berichtete: »Sein Vater, Winfield Scott Lovecraft, war einmal Handelsreisender für die Firma Gorham, Silberschmiede der Vereinigten Staaten von Amerika, gewesen.«64 Unter welchen Umständen und wann Winfield seine Anstellung bei Gorham antrat, liegt ebenso im Dunkeln wie die Frage, warum er, wenn er als reisender Handelsvertreter arbeitete, zum Zeitpunkt seiner Hochzeit am 12. Juni 1889 in New York City gemeldet war. Vielleicht spielt es in diesem Zusammenhang eine Rolle, dass Frederick A. Lovecraft im Adressbuch von Manhattan für das Jahr 1889/90 als »Juwelier« eingetragen ist: Hat er Winfield möglicherweise dabei geholfen, die Anstellung bei Gorham zu bekommen? Das bleibt natürlich reine Spekulation, aber wir haben keine anderen Anhaltspunkte, auf die wir uns stützen können.

Genauso rätselhaft bleibt, wie er Sarah Susan Phillips kennengelernt hat und wie sich die beiden ineinander verliebt haben. Susie scheint jedenfalls kein society girl wie ihre Schwester Annie gewesen zu sein, und Winfield war kein Hausierer, sodass er Susie kaum bei seiner Arbeit kennengelernt haben wird, und selbst wenn, hätten die gesellschaftlichen Konventionen der Zeit ihnen kaum erlaubt, engere Bekanntschaft zu schließen, schließlich gehörte die Familie Phillips zur Oberschicht von Providence.

Ob die Tatsache, dass die Hochzeit in der St. Paul’s Episcopal Church in Boston stattfand, von Bedeutung ist, ist schwer zu entscheiden. Wie wir bereits wissen, war Winfields Familie episkopal, und obwohl es in Providence viele episkopale Kirchen gab, in denen die Trauung hätte stattfinden können, machte die Tatsache, dass Winfield plante, sich mit seiner Familie in der Gegend von Boston niederzulassen, St. Paul’s zu einem durchaus naheliegenden Ort für die Vermählung. Nicht zuletzt könnte es für eine Angehörige der Familie Phillips, die in Providence als Baptisten bekannt waren, unpassend gewesen sein, in einer der örtlichen episkopalen Kirchen zu heiraten. Für ausgeschlossen halte ich, dass die Hochzeit ohne das Einverständnis von Susies Eltern stattfand, eine Vermutung, für die es keinerlei stichhaltige Anhaltspunkte gibt. Obwohl sie bei der Hochzeit bereits 31 Jahre alt war, war Susie die erste von Whipple Phillips Töchtern, die heiratete. Da sie zu diesem Zeitpunkt immer noch zu Hause wohnte, hätte er wohl kaum zugelassen, dass sie jemanden heiratete, gegen den er ernsthafte Einwände hatte.

Lovecraft, der so versessen auf rassische Reinheit war, liebte es, darauf hinzuweisen, dass er »aus reinblütigem englischem Adel« stammte.65 Wenn man bereit ist, einen Schuss walisisches Blut in seiner väterlichen Ahnenreihe und einen irischen Einfluss mütterlicherseits zu akzeptieren, dann kann diese Aussage als zutreffend durchgehen. Seine mütterlichen Vorfahren sind im Übrigen von deutlich vornehmerer Abstammung als seine Familie väterlicherseits. Unter den Ahnen Susie Lovecrafts und ihres Vaters Whipple van Buren finden sich alte Geschlechter Neuenglands wie die Rathbones, Mathewsons, Whipples, Places, Wilcoxes, Hazards und andere. Was man unter ihnen jedoch vergeblich sucht, sind Zeichen einer besonderen intellektuellen oder künstlerischen Sensibilität oder Phantasie – eine Tatsache, die Lovecraft häufig beklagte. Wenn Lovecraft auch nicht den Geschäftssinn seines Großvaters Whipple Phillips erbte, so entwickelte er doch irgendwie jene literarischen Talente, um derentwillen wir uns überhaupt mit seiner Familiengeschichte beschäftigen.

Anmerkungen

1 HPL an FBL, [November 1927] (SLII.179).

2 Ebd. (SL II.182).

3 Kenneth W. Faig, Jr.: »Quae Amamus Tuemur: Ancestors in Lovecraft’s Life and Fiction«, in: Faig,The Unknown Lovecraft, S. 20.

4 Ebd., S. 20f.

5 HPL an RHB, [19. März 1934] (SLIV.392).

6 Diese Informationen verdanke ich Suzanne Juta und Oliver Watson, Kurator für Keramik und Glas am Victoria and Albert Museum.

7 1834 wurde sie von Ludwig Uhland in der Ballade »Das Glück von Edenhall« aufgegriffen, die wiederum von Henry Wadsworth Longfellow ins Englische übersetzt wurde. Henry Wadsworth Longfellow, »The Luck of Edenhall«, in: The Poems of Longfellow (New York: Illustrated Modern Library, 1944), S. 438ff.

8 Vgl.Dictionary of National Biography,Bd. VI, S. 1270f.

9 HPL an AD, 5. Juni 1936 (SLV.263).

10 HPL an MWM, 5. April 1931 (SLIII.360).

11 HPL an MWM, 1. Januar 1915 (SLI.7).

12 Faig, »Quae Amamus Tuemur«,The Unknown Lovecraft, S. 22.

13 Kenneth W. Faig, Jr.,MOSHASSUCK REVIEW(May Eve 1992), S. 29.

14 Kenneth W. Faig, Jr.,MOSHASSUCK REVIEW(Halloween 1991), S. 14.

15Ebd., S. 28.

16 Faig, »Quae Amamus Tuemur«,The Unknown Lovecraft, S. 30.

17 HPL an MWM, 1. Januar 1915 (SLI.5).

18 Diese Information verdanke ich Kenneth W. Faig, Jr. und A. Langley Searles. Weitere Daten zu Lovecrafts Vorfahren väterlicherseits finden sich in: Docherty, Searles, Faig,Devonshire Ancestry of Howard Phillips Lovecraft(Glenview, IL: Moshassuck Press, 2003).

19 HPL an MWM, 1. Januar 1915 (SLI.7).

20HPL an Edwin Baird, 3. Februar 1924 (SLI.296).

21 HPL an MWM, 1. Januar 1915 (SLI.6).

22 Nachruf auf Whipple V. Phillips,PROVIDENCE JOURNAL(31. März 1904).

23 HPL an MWM, 1. Januar 1915 (SLI.6).

24 HPL schreibt den ersten Vornamen seiner Großmutter mütterlicherseits »Rhoby«, auf der Stele der Familiengrabstätte auf dem Swan Point Cemetery in Providence findet sich jedoch die Schreibweise »Robie«.

25 HPL an Helen Sully, 26. Juli 1936 (Manuskript, JHL).

26Casey B. Tyler, »Historical Reminiscences of Foster, Rhode Island«, erstmals um 1884 imPAWTUXET VALLEY GLEANERveröffentlicht, nachgedruckt in: Kenneth W. Faig, Jr. (Hrsg.),Early Historical Accounts of Foster, Rhode Island(Glenview, IL: Moshassuck Press, 1993), S. 100f.

27 In einem Brief an FBL vom 26. Oktober 1926 (SLII.88) schreibt Lovecraft, dass die letzten beiden Kinder von Whipple Phillips in Greene geboren wurden, was bedeutet, dass sein Umzug dorthin um das Jahr 1864 stattgefunden haben müsste. Die Volkszählung von 1860 verzeichnet die Familie jedoch bereits als in Greene ansässig.

28 HPL an FBL, 26. Oktober 1926 (SLII.88).

29 Henry W. Rugg,History of Freemasonry in Rhode Island(Providence: E. L. Freeman & Son, 1895), S. 553. Den Hinweis auf dieses Werk verdanke ich Kenneth W. Faig, Jr.

30 Ebd., S. 554.

31 HPL an MWM, 5. April 1931 (SLIII.363).

32 HPL an FBL, 26. Oktober 1926 (SLII.83).

33 Tyler, »Historical Reminiscences«, in: Kenneth W. Faig, Jr. (Hrsg.),Early Historical Accounts of Foster, Rhode Island(Glenview, IL: Moshassuck Press, 1993), S. 101. Faig berichtet, dass der Name in dem im Besitz der Rhode Island Historical Society befindlichen Manuskript »Hugog« lautet. Die veröffentlichte Version des Werks gibt ihn jedoch als »Hugag« wieder.

34 Ebd., S. 112.

35HPL an FBL, 26. Oktober 1926 (SLII.88).

36 HPL datiert den Umzug auf das Jahr 1873 (HPL an MWM, 1. Januar 1915,SLI.6), aber in Whipple Phillips Nachruf wird eindeutig 1874 genannt. Darüber hinaus erscheint Whipple erstmals 1875 im städtischen Adressbuch von Providence, was ebenfalls dafür spricht, dass er sich 1874 dort niedergelassen hat. Diese Information verdanke ich, ebenso wie viele andere über Whipple Phillips, den Arbeiten von Kenneth W. Faig, Jr., vgl. zuletzt: Faig,Some of the Descendants of Asaph Phillips and Ester Whipple of Foster, Rhode Island.

37 Whipple scheint wenig Glück mit der Schreibweise seines Namens gehabt zu haben: Im offiziellen Bericht von der Ausstellung erscheint er als »Phillips (M. D.) & Co., Providence, R. I.« Vgl.Reports of the United States Commissioners to the Paris Universal Exposition 1878(Washington, DC: Governement Printing Office, 1880), Bd. I, S. 341.

38 HPL an RK, 16. November 1916 (SLI.33).

39 HPL an F. Lee Baldwin, 13. Januar 1934 (SLI.33). Kenneth W. Faig, Jr. hat ein kleines historiographisches Meisterstück vollbracht, indem er die Einzelheiten dieses Unternehmens zusammentrug, und mir bleibt im Folgenden nicht mehr zu tun, als die Ergebnisse seiner Arbeit zusammenzufassen. Vgl. Kenneth W. Faig, Jr., »Whipple V. Phillips and the Owyhee Land an Irrigation Company«, in:OWYHEE OUTPOST, Mai 1988 (nachgedruckt in: Faig,The Unknown Lovecraft, S. 50–55).

40 HPL an F. Lee Baldwin, 31. Januar 1934 (SLIV.350). 1892 wurde der Hauptsitz des Unternehmens nach Rhode Island verlegt.

41 Vgl. HPL an F. Lee Baldwin, 13 Januar 1934, (SLIV.344). Seltsamerweise wurde der erste erhaltene Brief Whipples an Lovecraft (vom 19. Juni 1894) in Omaha, Nebraska aufgegeben. Ein Brief vom 20. Februar 1899 trägt den Poststempel von Grand View, während ein weiterer vom 27. Oktober 1899 in Scranton, Pennsylvania abgeschickt wurde. Alle drei Briefe befinden sich in der John Hay Library. Im Besitz von Ethel Phillips Morrish befand sich ein weiterer Brief von Whipple Phillips, von dem mir jedoch nicht bekannt ist, wann und wo er abgeschickt wurde.

42 HPL an F. Lee Baldwin, 31. Januar 1934 (SLIV.351).

43 Koki,H. P. Lovecraft: An Introduction to His Life and Wirtings, S. 3.

44 HPL an LDC, 17.–18. November 1924 (Manuskript JHL).

45 H. Smith, »Growth of Public Education«, Field,State of Rhode Island and Providence Plantations at the End of the Century, Bd. II, S 368f.

46 Faig,The Parents of Howard Phillips Lovecraft, S. 23, 25.

47 HPL an RK, 16. November 1916 (SLI.33).

48 Faig,The Parents, S. 40.

49 HPL an MWM, 1. Januar 1915 (SLI.6).

50 HPL an RK, 16. November 1916 (SLI.29).

51 Faig,Some of the Descendants, S. 134.

52 HPL an RK, 16. November 1916 (SLI.33f.).

53 R. Alain Everts vermutet, dass sie die Wheeler School in Providence besucht hat.

54 Sarah Susan Lovecraft,Commonplace Book, Manuskript, JHL.

55 Faig,The Parents, S. 40.

56 PROVIDENCE JOURNAL vom 19. September 1948, zitiert in Faig, The Parents, S. 32. Was von der Geschichte mit dem Arsen zu halten ist und ob sie irgendetwas mit Susies späteren körperlichen und geistigen Krankheiten zu tun hat, kann ich nicht sagen.

57 August Derleth, »Lovecraft’s Sensitivity« (1949), zitiert in Faig,The Parents, S. 33.

58 Vgl. Squires,Stern Fathers ’neath the Mould.

59 Diese Fakten haben unter Umständen eine gewisse Bedeutung in Bezug auf Winfield, der ebenfalls den Beruf des Handelsvertreters ausübte und in der St. Paul’s Episcopal Church in Boston heiratete, obwohl seine Braut Baptistin war.

60HPL an MWM, 1. Januar 1915 (SLI.5).

61 HPL an RK, 16. November 1916,Letters to Rheinhart Kleiner, S. 65.

62 Obwohl es Squires zufolge dort keine solche Schule mit militärischem Schwerpunkt gibt. Winfields Besuch dieser Schule (wenn er tatsächlich stattgefunden hat) könnte seiner Anstellung als Schmied vorangegangen sein, und die sogenannte Militärakademie war vielleicht vergleichbar mit einer High School.

63 McLoughlin,Rhode Island: A Bicentennial History, S. 123.

64 Davis,The Private Life of H. P. Lovecraft, S. 7. Es liegt allerdings nahe, dass sie diese Information von Lovecraft hatte. Arthur S. Koki, der der Frage in den frühen 1960er Jahren nachging, schrieb: »Da die Personalakten der Gorham Company nur 40 Jahre lang aufbewahrt werden, ist es schwierig festzustellen, wann er in die Firma eintrat.« Vgl. Koki,An Introduction, S. 4. Dies ist möglicherweise nicht ganz zutreffend, da die Firmenakten über die Handelsvertreter im New Yorker Büro der Firma Gorham aufbewahrt wurden. Diesen Hinweis verdanke ich John H. Stanley von der John Hay Library der Brown University. Die Unterlagen der Providencer Niederlassung der Gorham Company befinden sich heute in dieser Bibliothek, nicht jedoch die Akten der New Yorker Niederlassung.

65SLI.296, Fn. 20.

2. Ein waschechter Heide

Im April 1636 verließRoger Williams mit einigen Gefährten die puritanische Kolonie in der Massachusetts Bay und brach in Richtung Süden auf. Er ließ sich zunächst am Ostufer des Seekonk-Flusses nieder und wechselte später, als Massachusetts territoriale Ansprüche auf die Region erhob, ans Westufer über. Die Siedlung, die er dort gründete, nannte er Providence. Der unmittelbare Grund, warum Williams aufgebrochen war, um neues Siedlungsland zu erschließen, war religiöser Natur: Sein eigener baptistischer Glaube vertrug sich schlecht mit der puritanischen Theokratie der Massachusetts Bay. Wenig später verschlug es zwei weitere religiöse Dissidenten aus Massachusetts nach Rhode Island:Samuel Gorton, der 1640 in Providence eintraf, und die AntinomistinAnne Hutchinson, eine entfernte Vorfahrin Lovecrafts mütterlicherseits, die 1638 am Nordende von Aquidneck Island in der Narragansett Bay eine Siedlung mit Namen Pocasset gründete. Der religiöse Separatismus, der schon bei der Besiedlung Rhode Islands eine wichtige Rolle spielte, prägte den Bundesstaat nachhaltig und brachte eine dauerhafte Neigung zu politischem, wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Separatismus mit sich.1

Zwar hatte Roger Williams das Land, auf dem er Providence gründete, von den Indianern auf dem Verhandlungsweg erworben, doch nichtsdestotrotz erwartete die indigene Bevölkerung von Rhode Island in der Folgezeit ein düsteres Schicksal. Der als »King Philip’s War« in die Geschichte eingegangene Aufstand der Indianer in den Jahren 1675–76 war für beide Seiten verheerend, besonders jedoch für die unterlegenen Narragansett-, Wampanoag-, Sakonnet- und Niantick-Indianer. Sie wurden beinahe ausgelöscht, und die wenigen Überlebenden pferchte man in eine Art Reservat in der Nähe von Charlestown. Der Wiederaufbau der weißen Siedlungen, die zerstört worden waren, unter ihnen Providence, ging langsam aber stetig vonstatten. Von nun an standen für die weißen Kolonisten nicht mehr der Kampf um religiöse Freiheit oder Auseinandersetzungen mit den Indianern im Vordergrund, sondern die wirtschaftliche Entwicklung. Es bleibt jedoch ein dunkler Punkt in der Geschichte Rhode Islands, dass es bis nach der Revolution einer der Bundesstaaten blieb, die am stärksten in den Sklavenhandel verwickelt waren. Seine zahlreichen Handelsschiffe – unter denen auch einige Freibeuter waren – brachten Hunderttausende von Sklaven aus Afrika an die Ostküste. Der Großteil wurde jedoch weitertransportiert, und nur einige wenige blieben in Rhode Island selbst, wo sie auf großen Plantagen im Süden des Bundesstaates arbeiteten.2

Sehr zum Kummer des überzeugten Torys Lovecraft war Rhode Island eine der Speerspitzen der Revolution. Die Bevölkerung unterstützte die Forderung nach Unabhängigkeit hier geschlossener als in den anderen Kolonien. Stephen Hopkins, der zwischen 1755 und 1768 mehrfach Provinzgouverneur von Rhode Island war – und dessen Haus (1707) an der Ecke Benefit und Hopkins Street zu Lovecrafts architektonischen Favoriten zählte –, gehörte zu den Unterzeichnern der Unabhängigkeitserklärung. Konsequent separatistisch weigerte sich Rhode Island jedoch, Delegierte zum Verfassungskonvent zu entsenden, und war auch die letzte der dreizehn Kolonien, die die Verfassung ratifizierte.

Roger Williams hatte die Baptistenkirche in Rhode Island – die erste in Amerika – 1638 gegründet. Mehr als zwei Jahrhunderte lang blieb der Bundesstaat überwiegend baptistisch – die Brown University wurde 1764 (als King’s College) unter baptistischem Patronat gegründet –, doch mit der Zeit ließen sich auch andere dissidente Glaubensgemeinschaften in Rhode Island nieder. Es gab Quäker, Kongregationalisten, Unitarier, Episkopale, Methodisten und verschiedene kleinere Gemeinschaften. Seit dem 17. Jahrhundert hatte sich auch eine jüdische Kolonie gebildet, doch sie war klein, und ihre Angehörigen achteten darauf, sich zu assimilieren. Katholiken gab es erst von der Mitte des 19. Jahrhunderts an in nennenswerter Größenordnung. Ihre Zahl schwoll durch mehrere Einwanderungswellen an: Während des Bürgerkriegs kamen Frankokanadier (die sich vor allem in der Stadt Woonsocket im äußersten Nordosten des Bundesstaates niederließen), ab 1890 Italiener (die sich in der Gegend des Federal Hill auf der West Side von Providence ansiedelten) und kurz nach ihnen die Portugiesen. Es ist bedrückend, die zunehmende Tendenz zu Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit zu beobachten, die im Laufe des 19. Jahrhunderts unter den alteingesessenen Yankees um sich griff. Politisch wurde der Bundesstaat während der 1850er Jahre von der fremdenfeindlichen und antikatholischen »Know-Nothing-Party« dominiert. Bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts blieb Rhode Island politisch konservativ, und Lovecrafts gesamte Familie wählte zeit ihres Lebens republikanisch. Wenn Lovecraft sich überhaupt an Wahlen beteiligte, dann wählte auch er bis 1932 konsequent die Republikaner. Bis heute ist die führende Zeitung des Bundesstaates, das PROVIDENCE JOURNAL, konservativ, obwohl Rhode Island selbst seit den 1930er Jahren weitgehend demokratisch geworden ist.

Das am Südende der Aquidneck-Insel gelegene Newport erlangte früh eine Vormachtstellung in der Region und wurde darin erst nach dem Unabhängigkeitskrieg von Providence abgelöst. Um 1890 war Providence die einzige einigermaßen bedeutende Stadt des Bundesstaates: Die Einwohnerzahl lag bei 132.146, womit es unter den Großstädten der USA den 23. Rang einnahm. Die hervorstechenden topographischen Charakteristika der Stadt sind ihre sieben Hügel und der Providence River, der sich am Fox Point in den nach Osten fließenden Seekonk River und den Moshassuck River, der sich in westliche Richtung zieht, teilt. Zwischen diesen beiden Flüssen liegt die East Side von Providence, der älteste und vornehmste Teil der Stadt mit dem hoch aufragenden College Hill, der sich steil am Ostufer des Moshassuck erhebt. Main, Benefit, Prospect und Hope Street führen die Anhöhe hinauf und bilden die Hauptdurchgangsstraßen in nord-südlicher Richtung, während Angell und Waterman Street die East Side in Ost-West-Richtung durchschneiden. Am Westufer des Moshassuck River liegt die West Side, wo sich das Stadtzentrum und ein später errichteter Wohnbezirk befinden. Im Norden liegt die Vorstadt Pawtucket, im Nordosten North Providence, im Südwesten Cranston und in östlicher Richtung – am anderen Ufer des Seekonk – die Vorstädte Seekonk und East Providence.

Die Brown University thront auf der Spitze des College Hill über der Stadt und hat sich in den letzten Jahren immer größere Teile des sie umgebenden, noch vom Kolonialstil geprägten Viertels einverleibt. In diesem Teil der Stadt finden sich die ältesten noch erhaltenen Bauwerke, obwohl kein Gebäude vor der Mitte des 18. Jahrhunderts datiert. Lovecraft, der mit seinem – berechtigten – Stolz auf die aus der Kolonialzeit stammenden architektonischen Schätze seiner Heimatstadt nicht hinter dem Berge hielt, hatte seine Freude daran, Briefpartner, die sich mit weniger spektakulären Wohnorten begnügen mussten, mit ihren Namen zu bombardieren:

Colony House 1761, College Edifice 1770, Brick Schoolhouse 1769, Market House 1773, die First Baptist Church von 1775 mit dem bedeutendsten klassizistischen Kirchturm Amerikas, unzählige Privathäuser und -villen, die ab 1750 erbaut wurden, die Kirchen St. John und Round-Top von ca. 1810, das Golden Ball Inn von 1783, alte Lagerhäuser entlang des Great Salt River von 1816, usw., usw., usw.3

Das Golden Ball Inn (in dem schon Washington übernachtete) existiert heute nicht mehr, und Lovecraft beklagte bitter den 1929 erfolgten Abriss der Lagerhäuser von 1816. Die übrigen genannten Gebäude stehen jedoch bis heute. Und in der Tat hätte sich Lovecraft wohl über die umfassende Restaurierung der Kolonialzeithäuser auf dem College Hill gefreut, die seit den 1950er Jahren unter der Ägide der Providence Preservation Society stattgefunden hat. Diese Restaurierungsmaßnahmen haben dazu geführt, dass insbesondere die Benefit Street mittlerweile als die schönste Straße mit kolonialer Architektur in ganz Nordamerika gilt.4

Östlich des College Hill erstreckt sich ein weitläufiges Areal mit Häusern, die zwar nicht vor Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut wurden, jedoch imposante Dimensionen haben und von gepflegten Grundstücken und Gärten umgeben sind. Weit mehr als im in der Kolonialzeit errichteten Teil von College Hill sind hier die Aristokratie und der Geldadel von Providence zu Hause. Den östlichen Rand dieser Gegend bildet der Blackstone Boulevard, der am Ufer des Seekonk verläuft und dessen luxuriöse Häuser noch immer alten Yankee-Geldadel beherbergen. Am Nordende des Blackstone Boulevard liegt das Butler Hospital für Geisteskranke, dass 1847 mithilfe einer Stiftung von Nicholas Brown – einem Spross der berühmten Unternehmerfamilie, nach der auch die 1804 gegründete Brown University benannt ist – und seines Namenspatrons Cyrus Butler eröffnet wurde.5 Gegenüber dem Butler Hospital erstreckt sich im Norden der weitläufige Swan Point Cemetery, der vielleicht nicht so großzügig angelegt ist wie Mount Auburn in Boston, aber als einer der landschaftlich schönsten Friedhöfe der USA gilt.

Howard Phillips Lovecraft wurde am 20. August 1890 um neun Uhr morgens6