Habitus - Beate Krais - E-Book

Habitus E-Book

Beate Krais

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das von Pierre Bourdieu entwickelte Konzept des Habitus richtet sich auf eine zentrale soziologische Problematik: Wie kann man den Menschen als vergesellschaftetes Subjekt denken? Anders als das ältere Konzept der sozialen Rolle funktioniert der Habitus wie ein lebendes System: flexibel und hoch anpassungsfähig, zugleich jedoch die Identität des Subjekts bewahrend. Der Habitus ist zu denken als ein generierendes Prinzip, das jene regelhaften Improvisationen hervorbringt, die man auch gesellschaftliche Praxis nennen kann. Dieses Prinzip, dieser modus operandi ist Produkt der Geschichte eines Individuums, er ist verinnerlichte, inkorporierte soziale Erfahrung. Dabei ist »inkorporiert« hier keineswegs nur metaphorisch gemeint: Der Körper als Speicher sozialer Erfahrung ist wesentlicher Bestandteil des Habitus; der analytische Blick richtet sich damit auch auf das Körperliche und Performative. Das Habituskonzept erschließt der Soziologie neue Dimensionen des sozialen Handelns.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 133

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



BEATE KRAIS

GUNTER GEBAUER

Habitus

Die Deutsche Bibliothek •

CIP-Einheitsaufnahme

Krais, Beate:

Habitus / Beate Krais ; Gunter Gebauer. -

Bielefeld : transcript Verlag., 2002

(Einsichten)

© 2002 transcript Verlag, Bielefeld

7., unveränderte Auflage 2017

Print-ISBN 3-933127-17-3

PDF-ISBN 978-3-8394-0017-3

ePUB-ISBN 978-3-7328-0017-9

Inhalt

Einleitung

Über Bourdieus Werk

Zur Entstehung des Habitus-Konzepts

Exkurs über die philosophischen Wurzeln des Habitus-Konzepts

Wie funktioniert der Habitus?

Der Habitus als generative Grammatik

Der Habitus und die soziologischen Strukturkategorien Klasse, Geschlecht und soziales Feld

Habitus und Klasse

Habitus und Geschlecht

Habitus und soziales Feld

Lernprozesse

Der systematische Ort des Habitus-Konzepts in der Soziologie

Die Einheit der Person und die Reflexivität des Individuums

Soziale Akteure und ihr Körper

Das Individuum und seine Gesellschaft

Zweck-Mittel-Rationalität und das Spiel des Sozialen

Biographische Notiz

Anmerkungen

Literatur

Einleitung

Das Konzept des Habitus gehört mit den Vorstellungen vom sozialen Raum, vom sozialen Feld, vom kulturellen Kapital und von der symbolischen Gewalt zu den zentralen Erkenntnisinstrumenten, die Pierre Bourdieu den Sozialwissenschaften hinterlassen hat. Der Begriff selbst ist nicht neu; er findet sich in der Philosophie, aber auch in der Soziologie, etwa bei Émile Durkheim, bei Max Weber, Marcel Mauss und Norbert Elias. Doch erst Bourdieu hat ihm eine spezifische, systematische Bedeutung im Rahmen seiner Theorie von der sozialen Welt gegeben. Wenn man Bourdieus Soziologie als eine Soziologie der sozialen Praxis kennzeichnen kann, so ist die Kategorie des Habitus deren Kernstück. Sie bedeutet nichts anderes als einen Paradigmenwechsel im sozialwissenschaftlichen Denken, nämlich die Abkehr von einer Vorstellung vom sozialen Handeln, die dieses als Resultat bewusster Entscheidungen bzw. als das Befolgen von Regeln begreift.

Die Formulierungen, mit denen Bourdieu den Habitus beschreibt, finden sich in ähnlicher Form in seinen Arbeiten immer wieder. So schreibt er im »Sozialen Sinn«: Der Habitus ist zu verstehen als »System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen«, die als »Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen« fungieren (Bourdieu 1987: 98), und zwar im Sinne einer »Spontaneität ohne Wissen und Bewußtsein« (ebd.: 105). Und weiter: »Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat« (ebd.). In der ein gutes Jahrzehnt später entstandenen »Reflexiven Anthropologie« heißt es: Der Habitus ist »ein sozial konstituiertes System von strukturierten und strukturierenden Dispositionen, das durch Praxis erworben wird und konstant auf praktische Funktionen ausgerichtet ist« (Bourdieu/Wacquant 1996b: 154).

In den Habitus sind die Denk- und Sichtweisen, die Wahrnehmungsschemata, die Prinzipien des Urteilens und Bewertens eingegangen, die in einer Gesellschaft am Werk sind; er ist das »Körper gewordene Soziale« (ebd.: 161). Als Habitus bezeichnet Bourdieu ein generierendes Prinzip, einen Operator oder modus operandi (eine Art des Vorgehens oder Handelns), der jene regelhaften Improvisationen hervorbringt, die man auch gesellschaftliche Praxis nennen kann. Dabei ist der Habitus kreativ, erfindungsreich; er ist in der Lage, in neuen Situationen neue Verhaltensweisen hervorzubringen; er hat das Potential einer ars inveniendi, einer Kunst des Erfindens (Kunst im Sinne der praktischen Meisterschaft). Dieser Operator ist Produkt der Geschichte eines Individuums, geronnene Erfahrung und damit nicht nur modus operandi, sondern auch opus operatum (ein Produkt, ein Werk, etwas Hergestelltes); er ist verinnerlichte, inkorporierte Geschichte; in ihm wirkt die ganze Vergangenheit, die ihn hervorgebracht hat, in der Gegenwart fort – allerdings um den Preis des Vergessens. Der Entstehungszusammenhang des Habitus, die sozialen Bedingungen, die ihn hervorbrachten, damit aber auch das Bewusstsein vom Gewordensein dieser ›zweiten Natur‹, sind in der Selbstverständlichkeit der von ihm erzeugten Praxis untergegangen.

Mit diesen Umschreibungen ist nun noch keineswegs klar, was mit dem Konzept des Habitus gemeint ist, wie der Habitus funktioniert, was das Besondere an ihm ist und was er für die soziologische Analyse bedeutet. Im Folgenden soll dies genauer untersucht werden.

Dazu werden wir zunächst, nach einem kurzen Überblick über Bourdieus Werk, nachzeichnen, wie Bourdieu dazu gekommen ist, dieses neue soziologische Konstrukt zu ›erfinden‹. In einem Exkurs werden auch dessen Vorläufer in der Philosophie vorgestellt. Im folgenden Kapitel fragen wir danach, wie der Habitus funktioniert. Wir gehen dabei zunächst auf den Vergleich mit der generativen Grammatik Chomskys ein; diesen Vergleich hat Bourdieu selbst verwendet, um zu verdeutlichen, worum es ihm mit dem Habitus-Konzept geht. Im Zentrum des Kapitels stehen jedoch die soziologischen Strukturkategorien Klasse, Geschlecht und soziales Feld – Kategorien, die Bourdieu mit Hilfe des Habitus-Konzepts analytisch erschlossen hat – mit deren Hilfe die Funktionsweise des Habitus näher erläutert werden soll. Das anschließende Kapitel ist der Ontogenese des Habitus gewidmet, das heißt, es fragt danach, wie die Individuen ihren Habitus erwerben und was man aus der Funktionsweise des Habitus über die Lernprozesse erschließen kann, in denen ein Mensch im Laufe seines Lebens seinen Habitus ausbildet, modifiziert, verfestigt, verändert. Das letzte Kapitel schließlich erörtert die Frage, welches der systematische Ort des Habitus-Konzepts in der Soziologie ist. Zur Erläuterung werden wir das ältere Konzept der sozialen Rolle heranziehen; damit soll verständlicher werden, was mit dem Paradigmenwechsel gemeint ist, den das Habitus-Konzept bedeutet.

Einige kurze Bemerkungen sind an dieser Stelle noch zu den Übersetzungen der Texte Bourdieus zu machen. Die komplexe, durchgearbeitete Schreib- und Argumentationsweise Bourdieus mit ihrem für die lateinischen Sprachen charakteristischen Satzbau und vielfältigen Bezügen auf die philosophische Tradition ist schon im Original nicht einfach zu lesen. Vor allem in den frühen Texten werden auch die Spuren der Anstrengung deutlich, die notwendig ist, um etwas Neues zu entwickeln, etwas Neues, das noch nicht da ist, sondern erst erarbeitet werden muss, und zwar gegen Widerstände, gegen die Widerstände im eigenen Kopf und gegen die Widerstände der soziologischen Zunft – ein eleganter Schreibstil ist angesichts dieser Mühen, dieser immer wieder von neuem ansetzenden Kraftakte nicht zu erwarten. In der deutschen Übersetzung verwandeln sich die Texte leicht zu verschachtelten, schwerfälligen Endlos-Sätzen, in denen die im Französischen oft beeindruckende Kraft und Präzision des sprachlichen Ausdrucks verschwindet. Für den Einstieg ist es daher zu empfehlen, zunächst spätere Texte Bourdieus zu lesen, vor allem die Interviews, die flüssiger formuliert und auch flüssiger übersetzt sind.

Manche Gestelztheiten und Absonderlichkeiten der Sprache kommen auch durch die Übersetzungen zu Stande.1 Problema tisch ist unter anderem der in deutschen Übersetzungen oft verwendete Plural für das lateinische Wort ›Habitus‹, nämlich ›Habitusformen‹. Damit wird suggeriert, es gebe verschiedene Formen des Habitus, gemeint ist jedoch nichts anderes als die Mehrzahl von Habitus, wenn beispielsweise von mehreren Menschen und ihren Habitus die Rede ist. ›Habitus‹ ist ein lateinisches Wort, für das es keinen deutschen Plural gibt. Im Folgenden wird daher durchgängig der lateinische Plural verwendet: die ›Habitus‹, gesprochen mit einem langen ›u‹.

Über Bourdieus Werk

Bourdieu war ein außerordentlich produktiver Soziologe. Er hat zu einer Fülle von Themen gearbeitet und viele Bücher, Aufsätze und Interviews veröffentlicht; die heute in Papierform und im Internet zugänglichen Bibliographien sind kaum überschaubar. Er hat dennoch sein Werk nicht vollendet: Sein Nachlass umfasst immer noch viele Aufsätze, die in überarbeiteter Form als Buchpublikationen erscheinen sollten (zum Beispiel in einem Werk zu den verschiedenen sozialen Feldern), wozu er jedoch nicht mehr kam, und eine ganze Reihe von unveröffentlichten Schriften. Viele Arbeiten sind ins Deutsche übersetzt worden, allerdings oft mit erheblicher Verspätung.

Die frühesten veröffentlichten Arbeiten Bourdieus sind Untersuchungen über Algerien. Bourdieu kam Mitte der Fünfzigerjahre nach Abschluss seines Studiums an der Ecole Nationale Supérieure, wo er eine gründliche philosophische Ausbildung genossen hatte,2 als Wehrpflichtiger nach Algerien, in ein Land, das sich im Befreiungskrieg gegen Frankreich befand. Diese Zeit und die Jahre danach, in denen er Assistent an der Universität Algier war, nutzte er für intensive Feldforschung: Er fotografierte, machte viele Interviews, Expertengespräche, statistische Erhebungen, teilnehmende Beobachtungen (vgl. dazu Schultheis 2000). Hier schrieb er seine ersten Bücher »Sociologie de l’Algérie« (1958), »Travail et travailleurs en Algérie« (zusammen mit A. Darbel, J. Rivet und C. Seibel, 1963); später kam »Algérie 60« (1977, dt. »Die zwei Gesichter der Arbeit«, 2000a) hinzu. Und hier schon, in der viel beachteten ethnologischen Studie über das kabylische Haus (Bourdieu 1969), beschäftigte sich Bourdieu mit dem Geschlechterverhältnis, einem Thema, das er in späteren Arbeiten wieder aufgenommen hat (Bourdieu 1962a, 1982b, 1998b). Geschlechtsblindheit ist den Arbeiten Bourdieus nicht vorzuwerfen; er gehört vielmehr zu den ganz wenigen Soziologen, die nicht nur in ihren empirischen Arbeiten immer berücksichtigt haben, dass die sozialen Akteure als Frauen und als Männer existieren, sondern die auch das Geschlechterverhältnis als zentralen Gegenstand der Soziologie thematisiert haben.

In der Praxis der empirischen Forschung, in einem Prozess des learning by doing und weitgehend autodidaktisch, bildete er einen scharfen analytischen Blick für die gesellschaftlichen Verhältnisse aus. Der Kontrast zwischen den ihm vertrauten Lebensverhältnissen und Denkweisen der modernen Gesellschaft im Frankreich der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre und den traditionellen agrarischen Lebensweisen mit ihren eigenen Ritualen und der besonderen Bedeutung des Ethos der Ehre, die er in Algerien vorfand, insbesondere bei den kabylischen Bauern, war hierfür von entscheidender Bedeutung.

Zurück im eigenen Land, richtete Bourdieu den Blick auf die französische Gesellschaft. Auch im heimatlichen Béarn fand er vormoderne Lebensverhältnisse, Denk- und Verhaltensweisen, die ähnlich wie in der Kabylei einer anderen Logik als jener der Industriegesellschaft folgten. In seine soziologische Untersuchung der eigenen Gesellschaft integrierte er Methoden der Ethnologie (Bourdieu 1962b). Das moderne Frankreich, auf das sich die Aufmerksamkeit des Soziologen Bourdieu von nun an richtete, ist durch eine Sozialstruktur von hoher Ungleichheit gekennzeichnet, in der die sozialen Positionen auf Grund des Besitzes von ökonomischem Kapital und von kulturellen Kompetenzen, Fähigkeiten und Kenntnissen zugeteilt werden. Von besonderem Interesse für ihn war die Rolle der Schule – und wenn Bourdieu von der Schule spricht, so schließt dies, dem französischen Sprachgebrauch entsprechend, die Hochschule immer mit ein – bei der Reproduktion der Klassenstruktur: Zusammen mit Jean-Claude Passeron arbeitete er über das ungleiche »kulturelle Erbe«, das auf Grund ungleicher sozialer Herkunft entsteht und das den Kindern aus den oberen sozialen Klassen im Gegensatz zu den Schülern aus den unteren Klassen den Schulerfolg sichert (Bourdieu/Passeron 1964b, 1970). Diese Thematik beschäftigte ihn sein ganzes Leben hindurch (vgl. Bourdieu 1989a). Sie findet sich auch in der großen Untersuchung über die Klassenstruktur Frankreichs, die in Deutschland unter dem Titel »Die feinen Unterschiede« erschienen ist (1982a, frz. 1979 unter dem Titel »La distinction«) und oft als sein Hauptwerk bezeichnet wird.3 Hier stellt er, in kritischer Anknüpfung an Marx, sein Konzept vom sozialen Raum vor. Zugleich greift er Überlegungen von Max Weber zur Bedeutung der Lebensführung auf, indem er detailliert auf die unterschiedlichen Lebensstile der verschiedenen Klassen eingeht, insbesondere auf deren soziale Praxis im Umgang mit Kultur und Bildung. Was vorher »kulturelles Erbe« hieß, wurde nun als eine mit dem ökonomischen Kapital rivalisierende oder, je nach sozialer Klasse, sich mit diesem verbindende Form des Kapitals, als »kulturelles Kapital« gedeutet. Bourdieu zeigt, wie das Vermögen des Geschmacks, ein von Kant übernommener Begriff, für den Gewinn von symbolischen Profiten eingesetzt werden kann, ja noch mehr: dass die Gesellschaft in hohem Maße über Geschmacksurteile funktioniert, insofern Zusammenhalt und Differenzierung sozialer Klassen mit Hilfe geschmacklicher Zustimmung und Ablehnung zu Stande kommen.

Soziale Ungleichheit und Herrschaft stehen im Zentrum von Bourdieus Soziologie. Nicht erst »Die feinen Unterschiede«, sondern schon seine frühesten Arbeiten machen jedoch deutlich, dass es ihm vor allem um jene Form der Herrschaft (und der Gewalt) geht, die er »symbolische Herrschaft« bzw. »symbolische Gewalt« nennt. Als solche bezeichnet er Formen und Modi der Herrschaft, die über Kultur, über die Sichtweisen der Welt, über die Selbstverständlichkeiten unseres Denkens und damit über jene gesellschaftlichen Institutionen vermittelt sind, die Kultur produzieren, als deren gesellschaftliche Wächter und Interpreten fungieren. Das sind in der modernen Gesellschaft zunächst das öffentliche Bildungswesen, nach wie vor auch die Kirchen als die Hüter von Grundwerten, Moral und Sitte, die Parlamente als Institutionen der Gesetzgebung und die Institutionen der Rechtsprechung, vor allem aber der inzwischen weit aufgefächerte, bunte, wachsende Bereich der Medien, des Literatur- und Kunstbetriebs, der Wissenschaft, der ›Denkfabriken‹, der Theater, der Konzertagenturen und Musikproduzenten, der Filmproduktion und so weiter. Bourdieu hat sich daher intensiv mit den sozialen Feldern der Kultur beschäftigt. Neben den bereits erwähnten Studien zur Reproduktion sozialer Ungleichheit über das Bildungswesen sind hier die Untersuchungen über die Photographie (Bourdieu u. a. 1965), über die Museen (Bourdieu/Darbel/Schnapper 1966b), über das religiöse Feld (Bourdieu 1971a), über die akademische Welt (Bourdieu 1984), über die Justiz (Bourdieu 1986c) und schließlich über die Entstehung des Feldes der Literatur (Bourdieu 1992) zu nennen. Besondere Aufmerksamkeit widmete er auch der Sprache, einem mächtigen Medium symbolischer Herrschaft: Auch die Wörter leisten einen »Beitrag zur Konstruktion des Sozialen« (Bourdieu 1990b: 71), zur Etablierung und Aufrechterhaltung von Herrschaft; in der legitimen Sprache wird ebenso wie in der sprachlichen Interaktion immer auch die soziale Ordnung wirksam.

Der weite und vielfältige Bereich der Kultur war für Bourdieu nicht nur deshalb von Interesse, weil er der symbolischen Herrschaft als einer unsichtbaren, verschleierten, im Selbstverständlichen aufgehenden Form der Herrschaft besondere Bedeutung für die moderne Gesellschaft beimaß. Sich mit den kulturellen Werken und den sozialen Bedingungen ihrer Produktion auseinander zu setzen, war auch eine wissenschaftliche Herausforderung. Keine Tätigkeit in der Gesellschaft wird so sehr davor geschützt, in soziale Zusammenhänge eingeordnet zu werden, wie die Tätigkeiten, die im Zeichen des Ästhetischen stehen. Höchster Ausdruck dieser Auffassung ist die ›reine Ästhetik‹ und die Ideologie des einsamen Schöpfers. Die Aufgabe, die Bourdieu sich stellte, war, zwei einander unversöhnlich gegenüberstehende Positionen zu versöhnen: einmal die Position, dass kulturelle Objekte eine eigene innere Logik und Dynamik entfalten, und zum anderen die Position, dass sie gleichwohl angebunden sind an die soziale Welt und daher auch mit den Mitteln der Soziologie begreifbar sein müssen. Seine Lösung war der Begriff des sozialen Feldes, also etwa eines Feldes der Kunst, der Literatur und so weiter. Mit seiner Theorie der sozialen Felder entwickelt Bourdieu eine Vorstellung von der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die zum einen die Akteure der jeweiligen sozialen Felder in den Blick nimmt und zum anderen anerkennt, dass die verschiedenen Felder nach unterschiedlichen, nicht aufeinander reduzierbaren ›Grundgesetzen‹ funktionieren, also auch nicht aufgehen in der Logik des ökonomischen Feldes oder, lapidar gesagt, allein durch Bezug auf die ›Macht des Geldes‹ erklärt werden können. Mit der Vorstellung von sozialen Feldern als Kräftefeldern, die geprägt sind von der Konkurrenz der Akteure um Macht und Einfluss im jeweiligen Feld, trägt Bourdieu nicht nur der relativen Autonomie der einzelnen sozialen Felder Rechnung, sondern begreift sie auch als sozialen Kontext, als jeweils eigene soziale Welten.

In seiner Abschiedsvorlesung am Collège de France im Jahre 2001 spricht Bourdieu von seinem Eintritt in das Feld der Soziologie Frankreichs zu Beginn der Sechzigerjahre (Bourdieu 2001: 187ff.). Er beschreibt dieses Feld als ein fest gefügtes soziales Universum mit ebenso fest gefügten Aufteilungen des Fachs in verschiedene, säuberlich voneinander getrennte Schubladen und Spezialisierungen, zwischen denen es keine Brücken gab. Bourdieu kam in dieses Universum mit seiner Erfahrung der ethnologischen Feldforschung und der autodidaktischen Aneignung der soziologischen Theorie und Methode, aber auch als gelernter Philosoph, und zwar als ein Philosoph, dessen Wissenschaftsverständnis an der von Gaston Bachelard entwickelten modernen Epistemologie der »Polemik gegen den Irrtum«, des notwendigen »Bruchs mit den vorwissenschaftlichen Denkkategorien« und der »Konstruktion des wissenschaftlichen Objekts« ausgebildet worden war (vgl. Bachelard 1978). Die Frage: Wie kann der Soziologe sicherstellen, dass er sein Objekt wissenschaftlich erfasst? stellte für Bourdieu eines der wichtigsten wissenschaftstheoretischen Probleme seines Faches dar. Was eine Antwort so notwendig macht, ist die Offenheit der Soziologie für Alltagserfahrungen. Jeder Soziologe, jede Soziologin handelt auch im Alltag, kennt viele der von ihm oder ihr erforschten Gegenstände aus eigener vorwissenschaftlicher Erfahrung, kann die untersuchten Personen spontan verstehen. Gewiss ist diese Nähe zu den wissenschaftlichen Gegenständen von Vorteil; sie birgt jedoch die Gefahr, dass wissenschaftliches und alltägliches Begreifen ineinander übergehen und die Vorannahmen, Parteilichkeiten, unbedachten Gesichtspunkte, Standardannahmen aus dem Alltag ungehemmt in die soziologische Arbeit einfließen. Im Unterschied zur Physik oder Chemie ist die Soziologie ein wissenschaftliches Feld mit »schwacher Autonomie«, »eingetaucht in soziale Beziehungen« und mit niedrigen Hürden beim Zugang zum Studium (Bourdieu 2001: 169).