Hafni sagt - Helle Helle - E-Book

Hafni sagt E-Book

Helle Helle

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Beschreibung

Ich will nicht ich sein.
Ich will mich selbst neu erfinden.
Und ich weiß nicht, wie ich mich neu erfinden soll.


Hafni Jørgensen, 48 Jahre alt, hat beschlossen, sich von ihrem Mann zu trennen und einen lang gehegten Traum zu verwirklichen: eine kulinarische Smørrebrød-Reise durch ganz Dänemark, deren Höhepunkt die berühmte südjütländische Kaffeetafel mit einundzwanzig verschiedenen Kuchensorten sein soll. Andere wagen einen radikalen Neuanfang, Hafni aber träumt von rustikalen Landgasthöfen und Heringssymphonien mit Aquavit. Während sie sich immer weiter von ihrem früheren Leben entfernt, muss Hafni sich fragen: Was bleibt, wenn die Kinder erwachsen sind, die Ehe gescheitert ist, der Karrierezug längst abgefahren? Und wenn man noch dazu keine Vorstellung davon hat, was einen glücklich machen könnte?

Niemand schreibt so scharf, präzise und höchst unterhaltsam wie Helle Helle über das weibliche Selbst im 21. Jahrhundert. Eine literarische Roadnovel, die kleine Dramen, große Themen, Tragik und Komik, Trauer und Trost fulminant vereint.

»Ein Meisterwerk der dänischen Gegenwartsliteratur!« Jury Nordic Council Literary Prize

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Seitenzahl: 155

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zum Buch

Hafni Jørgensen, 48 Jahre alt, hat beschlossen, sich von ihrem Mann zu trennen und einen lang gehegten Traum zu verwirklichen: eine kulinarische Smørrebrød-Reise durch ganz Dänemark, deren Höhepunkt die berühmte südjütländische Kaffeetafel mit einundzwanzig verschiedenen Kuchensorten sein soll. Andere wagen einen radikalen Neuanfang, Hafni aber träumt von rustikalen Landgasthöfen und Heringssymphonien mit Aquavit. Während sie sich immer weiter von ihrem früheren Leben entfernt, muss Hafni sich fragen: Was bleibt, wenn die Kinder erwachsen sind, die Ehe gescheitert ist, der Karrierezug längst abgefahren? Und wenn man noch dazu keine Vorstellung davon hat, was einen glücklich machen könnte?

Niemand schreibt so scharf, präzise und höchst unterhaltsam wie Helle Helle über das weibliche Selbst im 21. Jahrhundert. Eine literarische Roadnovel, die kleine Dramen und große Themen, Tragik und Komik, Trauer und Trost fulminant vereint.

Zur Autorin

Helle Helle, geboren 1965, gilt als eine der originellsten Schriftstellerinnen Skandinaviens und als Grande Dame der dänischen Gegenwartsliteratur. In ihrem Heimatland hat sie die höchsten literarischen Auszeichnungen erhalten, u. a. den Dänischen Kritikerpreis für ihren Roman »Rødby – Puttgarden«, den Per-Olov-Enquist-Preis, den Großen Preis der Dänischen Akademie und die Holberg-Medaille. Für ihre Romane »Hafni sagt« und »SIE« wurde sie für den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert. Ihre Bücher wurden in vierundzwanzig Sprachen übersetzt. Helle Helle lebt mit ihrer Familie in Sorø.

www.penguin-verlag.de

HELLE HELLE

HAFNI SAGT

ROMAN

Aus dem Dänischen von Flora Fink

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Hafni fortæller« bei Gutkind Forlag A/S, Kopenhagen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © Hafni fortæller, Gutkind 2023

Author: Helle Helle

Published by agreement with Winje Agency A/S, Norway

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Lektorat: Tatjana Michaelis

Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka

Umschlagabbildung: © Maja Thomasen, MaTho Art

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-33463-5V001

www.penguin-verlag.de

dass sie sich scheiden lässt. Sie hält an einem Rastplatz in der Nähe von Ringe. Da ist Acker auf der einen Seite der Straße, ein Grabhügel. Vielleicht wird sie dem Grabhügel einen Besuch abstatten, sollte der Acker nicht zu matschig sein. Die Buche ist schon weit für jetzt, grün ist der junge Lenz. Wann haben wir uns zuletzt gesprochen?, fragt sie, das muss dreizehn Jahre her sein. Kurz vor der Jahrtausendwende. Damit ist das also geklärt.

Sie trägt Satinjacke und Wildlederhose, Slipper. Alles aus Sønderborg, wie auch der Fransenschal. Weit entfernt von dem gewohnten Hundeoverall aus Fleece. Ein dünner Pferdeschwanz und inzwischen ziemlich schlaffe Augenlider. Sie ist keine neunzehn mehr, niemand ist mehr neunzehn. Jahrzehntelang war sie neunzehn gewesen, hat sich erinnert an Zimmer mit eigener Küche und Bad, Fußabstreifer, Rührschüsseln, vieleckige schwarze Teller. Ein Leiterregal, von ihr selbst auf halbe Höhe gesägt. Bücher zum Befüllen gekauft, am Samstagvormittag zu Irma, englische Muffins besorgen. Hinter einer Bambusjalousie fernsehen, verborgen vor dem Funkmesswagen. Richtige Butter zu den Muffins. Sie konnte vor dem Spiegel stehen und ihre Schlüsselbeine betrachten und ihre dünnen Oberschenkel, der Hängebauch kam später. Sie sagt: Das ist bei dir sicher anders.

Ein Raubvogel im Sturzflug. Raubvögel machen ihr Angst, sie schaffte es, tief drinnen in einem Wald umzukehren. Man kann Augen auf eine Schirmmütze malen und sie verkehrt herum aufsetzen, das gehört zum Allgemeinwissen. Sie entschuldigt sich, hat vergessen, nach unten ins Telefon zu sprechen.

Setz nicht alles auf das erstbeste gemeinsame Zuhause, sagt Hafni, schon gar nicht eines mit ungünstigem Grundriss. Sie erinnert sich daran, wie sie die ganze Nacht mit weit aufgerissenen Augen wach lag, vor Fälligkeit der Kaution. Ein langes Nein hätte ihr da entschlüpfen sollen, auch beim Heiratsantrag. Welcher auf dem Gehsteig vor dem Imperial-Kino geschah. Sie schauten versehentlich Alien 3, so viel Schleim. Den gesamten Film hindurch saß sie da mit ihrem Ja, das doch eher ein Hmja war.

Normalerweise legt sie vor jeder Fahrt eine Hand auf die Kühlerhaube, auch wenn es nur zwei Kilometer sind, spricht ein kleines Gebet. Aber in den letzten circa vier Wochen hat sie es vergessen. Da war an anderes zu denken. Ihre abgehackten Sätze tun ihr leid, von nun an will sie anders klingen.

Nun verhält es sich jedenfalls so, dass sie, ungefähr so lange sie sich zurückerinnern kann, in jedem Fall seit sie ein Auto besitzt, davon geträumt hat, diese, wie soll man es nennen, Smørrebrød-Reise anzutreten, von Frederikssund über Roskilde, Ringsted, Korsør, Nyborg, Svendborg, Faaborg und Bøjden-Fynshav, und als Finale zur großen südjütländischen Kaffeetafel in Gråsten mit den dreimal sieben verschiedenen Sorten Kuchen. Alles war geplant, Restaurants zum Mittagessen und Übernachtungen, unterwegs eine Reihe von Sehenswürdigkeiten. Hagbards Høj, Trelleborg, Broholm, Svanninge Bakker. Lange Abende mit Dänemarkkarte und Notizbuch, wenn sie nicht auf dem Sofa bei Big Brother einschlief. Sie erinnert sich deutlich an zwei Bewohner, Jill und Pil. Herman Bangs Geburtshaus in Asserballe.

Sie sagt: Entschuldige, ich quassele dich voll. Sie sieht eine Frau, die mit einer Gießkanne ein Stück weiter vorne an der Landstraße geht, in einen Vorgarten abbiegt und mit leeren Händen wieder herauskommt. Hafni denkt an ihre schwarzen und roten Johannisbeeren, kann man Obststräucher mitnehmen? Einen Ableger vom Zierapfelbaum. Ihre Kniestrümpfe spannen an den Waden, sie musste sie jeden Abend als Erstes ausziehen, sie hinterlassen rote Streifen, darüber wölbt sich die Haut.

Ein Traktor kommt auf den Acker gefahren. Da sind auch viele Möwen.

Hafni sagt: Ich will nicht ich sein.

Ich will mich selbst neu erfinden.

Und ich weiß nicht, wie ich mich neu erfinden soll.

An einem Dienstagvormittag fuhr sie von zuhause fort. Die Reisetasche hatte gut sichtbar auf dem Esstisch gestanden, jetzt wo sie keinem eine Erklärung schuldete. Sie hatte dennoch einen Zettel geschrieben: »Bin länger weg.« Bei Hagerup sanken die Schultern, und ein Lächeln wuchs heran. Es kam von allein, war nicht dem Versuch geschuldet, die mehr und mehr nach unten weisenden Mundwinkel nach oben zu ziehen. Zahn der Zeit, Altersflecken der Arme. Wenn sie sich als Teenager doch nur ein wenig für Sonnencreme interessiert hätte, sich nicht auf jedem noch so winzigen freien Fleckchen hätte brutzeln lassen.

Sie glitt über kleine Landstraßen an Bauernhäusern, Höfen, Dorfteichen vorbei. Hielt bei einem kleinen Platz und aß ein Brötchen. Eine Fahrt ohne Beschränkungen. Die bessere Hälfte flöten gegangen. Sie sagt: Ich muss gestehen, dass ich viele Male, wenn er losradelte in Richtung Sillebro Ådal, am Küchenfenster stehen und mir wünschen konnte, dass hinfort er zöge.

Die Fahrt führte über Østrup Holme, Nybølle, Ågerup. In Roskilde war es möglich, in der Sankt Ols Gade zu parken, unmittelbar hinter dem Hotel Prindsen. Sie wechselte von Turnschuhen zu Pumps, tippelte ins Hotel. Der Mann an der Rezeption gab ihr ein Zimmer mit, wie er sagte, Aussicht auf den frisch renovierten Parkplatz, aber sie könne erst um zwei Uhr einchecken. Sie blieb stehen und schwang ihre Reisetasche, und vielleicht war es wegen ihres anhaltenden Lächelns, dass er meinte, er wolle sehen, was er tun könne. Dadurch landete sie im zweiten Stock mit Blick zur Hauptstraße, konnte hinunterschauen auf das Getümmel an all den Kleiderständern, genau wie sie es sich erhofft hatte. Sie trat ihre Schuhe von den Füßen, quetschte sich auf die Fensterbank. So saß sie eine Weile. In Vorbereitung auf den Mangel an Minibar mit Weißwein ausgestattet, obwohl sonst schon auch ein lauwarmes Glas ging. Chipstüte, Salzmandeln. Sie schaltete den Fernseher an, schon sterbenshungrig. Bis zu ihrer Tischreservierung waren es aber noch eineinviertel Stunden.

Sie ging hinaus und schnell zu Matas. Kaufte zwei Puderlidschatten und ein Körperöl mit Lavendel. Wieder im Zimmer, duschte sie lange – allein der Umstand, dass sie nicht hinter sich trocken wischen musste. Gut geölt wollte sie in ihre Hose schlüpfen, was aber vollkommen unmöglich war. Stattdessen wählte sie einen Wickelrock.

Und dann breitete sich draußen doch ein Dunkel über ihr aus. Sie stieg auf, dorthinein, die Steinplatten des Stændertorvet verschwanden unter ihren Füßen. Die Luft wurde aus ihren Lungen herausgesaugt und hinterließ die kleinen Muskeln zwischen den Rippen empfindlich und gespannt. Sie musste sich mit zitternden Händen auf eine Bank setzen und schlucken, wie sie es sich antrainiert hat. Glockenläuten von der Domkirche, nach und nach fanden die Füße heim zu den Schuhen. Sie zwang das Lächeln zurück, und schließlich blieb es. Es waren noch neun Minuten bis zu ihrer Reservierung im Restaurant Raadhuskælderen, und so spazierte sie zur Kirche. Der Eintritt allerdings kostete Geld, das würde sich kaum lohnen.

Hafni kann nicht sagen, dass ihr die Situation mit dem Dunkel unbekannt wäre. Auch weiß sie sehr wohl, warum es entsteht. Aber das zu erklären, ist zu mühselig. Sie ging zu einer Ecke der Roskilde Domkirke und legte ihre Arme herum. Eiskalter Backstein, selbst im direkten Sonnenlicht. Sie sagt: Bitte glaub nicht, dass ich vollkommen den Verstand verliere. Noch nie hatte sie sich so sehr auf einen Schnaps gefreut, und es sollte Linie Aquavit sein.

Sie bestellte je ein Smørrebrød mit Curryhering und mit Kartoffeln. Das frisch gezapfte Bier spülte kühl durch die Speiseröhre, sie konnte es fast bis in den Magen verfolgen. Der Hering hatte einen Beigeschmack, vielleicht von Kurkuma. Sie schaute aus dem Fenster. Eine Pause musste eingelegt, das Brot sollte nicht hinuntergeschlungen werden. Sie bestellte noch einen Schnaps und trank ihn in kleinen Schlucken. Auf dem Boden ein Stück Speckkruste, oder wie heißt das noch? Sie machte sich an ihr Kartoffelbrot. An einem Tisch weiter hinten hob ein glatzköpfiger Mann sein Glas und nickte ihr zu. Sie nickte zurück. Draußen schrie ein Kind.

Petits Fours und eine Tasse Kaffee. Sie freute sich über den Wickelrock. Mit zwanzig hatte sie oft ihre Bluse über die Schulter heruntergezogen. Eigentlich auch mit dreißig und vierzig. Eigentlich auch noch im vorigen Jahr. Aber sie ist ja noch immer recht jung, erst achtundvierzig. Sie kann die Plankenposition ohne Probleme für mehr als eine Minute halten.

Sie will nur kurz die Autotür öffnen. Sie sieht die Frau ohne Gießkanne durch die Rabatte vor dem Haus gehen. Es hat ein Blechdach, und die Sonne scheint darauf. Die kleinen flaumigen Blätter der Bäume. Ihre Erinnerungen melden sich immer zum Wechsel der Jahreszeiten, sie sagt: Das ist wohl ganz gewöhnlich. Ein neues Licht, Kälte durch die Maschen eines Pullovers. Sie bekam damals ja keinen Platz für Medizin. Verbrachte vier Monate damit, Rødovre zu erforschen. Dort hatte sie auch ihr erstes Zimmer, mit einem Einbaubett. Ein älterer Mann hatte zuvor darin gewohnt, einen fettigen Abdruck am Kopfende hinterlassen. Mit ihren Freundinnen vom Bildungszentrum Nakskov wanderte sie die Købmagergade ab, sie kauften gebrannte Mandeln, trennten sich, als nach und nach neue Freundschaften entstanden.

Kannst du dich an meinen Korb erinnern, im Gymnasium?, fragt Hafni. Den habe ich zuallererst entsorgt nach meinem Schulwechsel. Du kennst das ja, man will das Lächeln einer anderen lächeln, den Pferdeschwanz einer anderen schwingen. Einmal wünschte ich mir deine Skisocken. Später kleidete ich mich in Strickjacken, briet Filetsteaks. Brachte Eier mit zu Form & Figur, Kaffee und Butter im Angebot. Zehn Jahre älter in nur einem halben Tag, entschuldige den abgenutzten Witz. Ich führte Sülze ein. Gerbera auf einer Anrichte aus Teakholz. Wir waren gerade mal vierundzwanzig, Pellkartoffeln ohne Wasser gekocht.

Zurück im Hotel, sank sie in tiefen Schlaf und wachte mit Lesebrille auf der Nase auf. Sie blieb liegen und plante, Brot zu kaufen und einen spannenden Roquefort, aber der Käseladen hatte geschlossen. Und so wurde es ein Würstchen im Teigmantel von 7-Eleven. Doch im Zimmer wuchs das Teigwürstchen in ihrem Mund, und sie öffnete stattdessen ihren Weißwein und aß ein paar Salzmandeln. Dachte an eine Situation mit einem früheren Chef. Sie hatte in der Mittagspause heimlich ein ganzes Kochbuch kopiert, und ihr Chef war vorbeigeschritten und hatte gesagt: Hm, hm. Im Hotelbett liegend, schüttelte sie kräftig den Kopf, um die Peinlichkeit passieren zu lassen, es glückte beinahe. Auch ein weiteres Glas Wein half. Im Fernsehen lief eine Antiquitätensendung, die sie eine Weile sehr in Beschlag genommen hatte, sodass sie nun ausschaltete.

Ewige Peinlichkeit verfolgt sie. Oder wahrscheinlich ist es Scham. Welche sie versucht mit Kopfschütteln und einem schnellen Dumm-dumm abzuwehren. Doch unzählige Episoden tauchen wieder und wieder auf, es ist ihr unerträglich, darüber zu sprechen. Zum Beispiel hatte sie eine Zeit lang einen Kollegen, Fotograf bei der Wochenzeitung, er hieß Benny. Man hatte ihr dort eine Stelle als Rezeptionistin vermittelt, und sie hatten viel Spaß zusammen. Lachten im Verborgenen über Rechtschreibfehler, eine Annonce mit dem Wortlaut »Ich trauere um meinen geliesten Mann«. Hafni sagt: Es ist ja nicht mal sonderlich lustig. Benny lud sie zu seiner Geburtstagsfeier ein, sie fand in einem Kulturzentrum statt, und wohl aufgrund ihres gemeinsamen Humors schenkte sie ihm ein Exemplar der nächsten Wochenzeitung. Dieses packte sie in eine Tüte, welche sie in eine Schachtel legte und diese wiederum in eine Schachtel. Darüber feines Seidenpapier und Geschenkband. Sie stellte die Schachtel auf den Gabentisch und nahm sich ein Glas Cava. Bei Morgengrauen wachte sie in Panik auf.

Die Scham kommt hoch bei Spaziergängen, in der Nacht, auf dem Sofa, beim Zahnarzt. Nichts hilft. Sie verbittet sich alle guten Ratschläge.

Am Morgen schien ihr die Sonne direkt ins Gesicht. Sie öffnete das Fenster und flüsterte: Bist du da, Roskilde? Ein Mann mit einer Einkaufstasche kam die Straße heruntergelaufen. Wenn sie selbst einkaufen geht, ist der Einkaufszettel in der Reihenfolge geschrieben, wie die Waren im Netto ausliegen. Spitzkohl, Schwarzbrot, Magermilch, Mehl, Küchenrolle. Ritter Sport aus bitterer Erfahrung. Aber von nun an gibt es für sie Lakritze, Klopapier, Kaffee, Tomaten.

Sie wusch sich und schlüpfte in ihre Klamotten, legte Make-up auf und richtete ihre Haare. Wechselte von Pumps zu Turnschuhen und wieder zurück. Das Zimmer versank im Chaos, und sie ging hinunter zum Frühstück.

Sie hat schon im Callcenter gearbeitet, als Verkäuferin, Aushilfe im Kindergarten, im Arbeitsintegrationsprogramm und so weiter. Sogar Dänisch studiert. Finanzierte sich vor Ewigkeiten eigenständig eine Viertel-Ausbildung zur Kosmetikerin. Mit Blick auf die Rosenørns Allé legte sie Sauerstoff-basierte Masken auf, litt inmitten von Rosazea und Topcoat. Diese weißen Clogs. Sie wandelte an den Seen entlang nachhause, wandelte im Geruch von Hopfen. Rübenzeit in Enghave. In kleinen Zimmern wohnend, allerlei Taschen auf Betten werfend. An Telefonen wartend, die sie nicht besaß, an Briefschlitzen. Ihre langen Haare auf einem karierten Friseurfußboden, das erstarrte Gesicht im Spiegel. Sie sagte: Prima. Rumkugeln hinter einer Hecke. Sie wünscht sich nichts davon zurück, und doch tut sie es, und dann wieder nicht.

Sie hatte eben von einem Brötchen abgebissen, als sie den glatzköpfigen Mann aus dem Restaurant vom Vortag an einem der Tische sitzen sah. Er hatte auch sie entdeckt und hob seine Kaffeetasse zum Gruß. Hafni sagt: Du kannst dir garantiert vorstellen, was dann geschah. Und tatsächlich stand er auch gleich auf und kam zu ihrem Tisch. Er sagte: Das ist ja nett. Hafni wischte sich Mohn von der Oberlippe und sagte: Äh, ja. Er sagte: Aber jetzt darf es auch bald schon losgehen, ich wünsche einen schönen Tag. Sie nickte, und er nickte zurück, und dann stolperte er über eine Teppichecke, und sie musste ihre untere Gesichtshälfte schnell hinter der Serviette verstecken. Ein glucksender Kehllaut entschlüpfte ihr aber doch, und sie glaubt, dass er ihn gehört hat. Er schien unangenehm berührt, trat den Teppich zurecht.

Und stand an der Rezeption, als sie auschecken wollte. Sie verschwand schnell wieder nach oben in ihr Zimmer, suchte im Schrank und unter dem Bett nach Vergessenem. Dann nahm sie sich zusammen und ging hinunter, und er war, Gott sei Dank, weg.

Der Plan war, das Wikingerschiffmuseum von außen zu besichtigen. Daher bog sie nach dem Kreisverkehr ab in Richtung Strandengen und parkte. Blickte hinaus über das Wasser. Also nicht Wasser, wie wir es kennen, sagt sie, mit richtigen Wellen und Wind. Am Roskilde Fjord bewegen sich die Haare keinen Zoll, selbst wenn sie frisch gewaschen sind. Sie hat auch schon an der Nordsee gestanden und hyperventiliert, bis es in den Fingern gebritzelt hat. Sie musste hinter einem Bunker Schutz suchen und in den Gefrierbeutel atmen, in welchen sie ihre Brotzeit gepackt hatte. Es half nicht, der Beutel war wohl undicht. Jeden Tag dachte sie an das, was sie wollte – und was sie nicht konnte. Die Uhr tickte, dabei trug sie gar keine Uhr.

Apropos, sie weiß übrigens durchaus, dass der Zeitpunkt nicht optimal ist für einen Anruf. Sie sagt: Du hast an einem Sonntagnachmittag natürlich anderes zu tun. Irgendwo schnattern ein paar Gänse, oder vielleicht sind es Schwäne. Sie hat am Hafen zuhause einen schwarzen Schwan gesehen, geht oft dorthin, in ihrer alten Jacke von Only. Am Tag vor ihrer Abreise brachte sie diese zum Secondhandladen, bereute es dann und holte sie eine Stunde später wieder ab. Sie sagte, die Jacke gehöre ihrer Schwester, und ihre Schwester habe geweint.

Der Traktor fährt hinter dem Grabhügel hin und her. Sie pflügen und pflügen überall. Macht man das denn im April? Man macht es jedenfalls jetzt.

Als sie die Ringstraße entlangfuhr, um aus Roskilde hinaus und in Richtung Ringsted zu kommen – auf dem Weg dorthin wollte sie das Straßenbahnmuseum besuchen –, sah sie an einer Bushaltestelle auf der gegenüberliegenden Seite den glatzköpfigen Mann sitzen. Sie konnte nicht anders, als ihn anzustarren, und er sah offensichtlich auch sie, denn mit beiden Händen gab er ihr Zeichen, sie möge anhalten. Sie fuhr halb auf den Radweg, und während er die Straße querte, öffnete sie das Fenster. Hafni sagt: Jetzt kommt sein Text. Ich übe mich beständig darin, um Hilfe zu bitten, sagte er, und dieser Satz weckte eine große Müdigkeit in ihr. Sie sah sich selbst flüchtig vor Spaghetti-beschlagenen Scheiben.

Er war unterwegs zu seiner Frau im Hospiz in Trekroner, und ihm war der Bus davongefahren. Er wollte fragen, ob Hafni ihn eventuell hinbringen könne, es sei nicht weit. Sich an ihr unpassendes Glucksen neulich erinnernd, sagte sie Ja. Er setzte sich auf den Beifahrersitz, und ihr glückte eine Dreipunktwendung. Die Ringstraße in Roskilde ist gar nicht so breit, nur zur Information.