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Dort leben, wo andere Urlaub machen, wer wünscht sich das nicht …
Für viele ein Traum, der niemals in Erfüllung gehen wird, für einige ein Traum, der in Erfüllung geht, die Erwartungen und Hoffnungen jedoch enttäuscht werden und für sehr wenige ein Traum, der zum Albtraum wird und manchmal sogar mit dem Tod endet.
Vielleicht treibt gerade in dem Moment, da Sie bei einem wunderschönen Sonnenuntergang in einem Hamburger Biergarten sitzen und den Abend genießen, im Hafenbecken eine Frauenleiche, die eindeutig ermordet wurde. Vielleicht sitzen Sie auf einer der zahlreichen Fähren, die im Hafen ihre Runden drehen, schauen zufällig zum großen Fenster der Elbphilharmonie hinauf und erblicken dort eine Gestalt, die in der Luft zu schweben scheint, sich aber wenig später als Leiche entpuppt …
In diesem Band sind folgende Hamburg-Krimis enthalten:
› TOD ÜBER DER ELBE von Hans-Jürgen Raben
› DIE TOTE IM HAFENBECKEN von Wolfgang Menge.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Hans-Jürgen Raben / Wolfgang Menge
Regionale Morde:
Hamburg und die Tote im Hafenbecken
Zwei Hamburg-Krimis
Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv
Cover: © by Kerstin Peschel nach Motiven mit Kathrin Peschel, 2022
Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang
Die Handlungen dieser Geschichten sind frei erfunden sowie die Namen der Protagonisten. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht gewollt.
Alle Rechte vorbehalten
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Tod über der Elbe
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
Im Netz des Verbrechens – Die Tote im Hafenbecken
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
Über die Autoren
Dort leben, wo andere Urlaub machen, wer wünscht sich das nicht …
Für viele ein Traum, der niemals in Erfüllung gehen wird, für einige ein Traum, der in Erfüllung geht, die Erwartungen und Hoffnungen jedoch enttäuscht werden und für sehr wenige ein Traum, der zum Albtraum wird und manchmal sogar mit dem Tod endet.
Vielleicht treibt gerade in dem Moment, da Sie bei einem wunderschönen Sonnenuntergang in einem Hamburger Biergarten sitzen und den Abend genießen, im Hafenbecken eine Frauenleiche, die eindeutig ermordet wurde. Vielleicht sitzen Sie auf einer der zahlreichen Fähren, die im Hafen ihre Runden drehen, schauen zufällig zum großen Fenster der Elbphilharmonie hinauf und erblicken dort eine Gestalt, die in der Luft zu schweben scheint, sich aber wenig später als Leiche entpuppt …
***
- Ein Fall für Brock -
von Hans-Jürgen Raben
Es klingelte.
Hauptkommissar Cornelius Brock tastete schlaftrunken nach dem Wecker, ohne die Augen zu öffnen. Missmutig drückte er auf die Oberseite des Störenfrieds, um ihn auszustellen.
Es klingelte weiter.
Er verdrängte die letzten Traumfetzen aus seinen Gedanken und bemühte sich, die Augen aufzukriegen. Er hasste es, früh aufstehen zu müssen, besonders am Sonntag.
Sonntag?
Da sollte der Wecker überhaupt nicht klingeln!
Brock stemmte sich hoch und blickte zum Nachttisch. Das Telefon klingelte. Das konnte um diese Zeit nur eines bedeuten: Er wurde gebraucht. Und das wiederum hieß, dass es sich um etwas sehr Unerfreuliches handelte.
Er nahm den Hörer auf und meldete sich.
Eine hektische Stimme erklang am anderen Ende. »Hauptkommissar! Sie werden dringend in der Elbphilharmonie erwartet.«
»In der Elbphilharmonie?«, blaffte Brock. »Da wollte ich zwar immer schon mal hin, aber nicht am Sonntagmorgen. Was gibt es denn?«
»Das müssen Sie selber gesehen haben«, antwortete Horst Spengler, Brocks Assistent im Dienstrang eines Kommissaranwärters. »Ich habe Ihnen einen Streifenwagen geschickt. Der müsste in Kürze bei Ihnen sein.«
Brock wohnte in einem Mehrfamilienhaus in der Alsterdorfer Straße. Eine helle und freundliche Dreizimmerwohnung in der ersten Etage mit einem Balkon. Das ältere Ehepaar, dem das Haus gehörte, wohnte im Erdgeschoss. Ihr Mieter durfte den Garten mitbenutzen, eine Möglichkeit, die Brock noch nie wahrgenommen hatte. Eine Garage gab es nicht, nur einen Stellplatz auf dem Grundstück. Von Brocks Wohnung war es nicht weit bis zu seinem Arbeitsplatz bei der Mordkommission im Polizeipräsidium.
Er warf einen Blick auf die andere Seite des Bettes. Doch dort war niemand. Sie hatten am Vorabend den Geburtstag eines Kollegen gefeiert, und Brock war sich nicht sicher, wie das Ganze geendet hatte. Glücklicherweise nicht mit einem unerwarteten Besucher in seinem Bett. Er dachte kurz darüber nach, wann ein solches Ereignis zum letzten Mal stattgefunden hatte.
Ist lange her, schoss es ihm durch den Kopf.
»Ich komme«, krächzte er in den Hörer und schwang die Füße auf den Boden. Ein leichter Schwindel erfasste ihn, und er überlegte, ob das bei seinem Alter von vierzig Jahren normal war.
Er brauchte zehn Minuten im Bad und warf sich anschließend in seine Freizeitklamotten. Zuletzt steckte er die Brieftasche mit seinem Ausweis ein. Erst kurz vor der Tür bemerkte er, dass er die Schuhe vergessen hatte.
Eigentlich hatte er sich darauf gefreut, nach dem Frühstück zu joggen und anschließend eine Jazz-Aufnahme aus seiner umfangreichen Sammlung von Vinyl-Platten auf den Plattenteller zu legen und entspannt die Musik zu genießen.
Als er aus der Haustür trat, wartete der Streifenwagen schon. Er durchquerte die paar Meter durch den Vorgarten und warf sich wortlos auf den Rücksitz. Die uniformierten Kollegen waren so rücksichtsvoll, ihn während der Fahrt nicht zu behelligen, und Brock verlor sich wieder in seinem so abrupt unterbrochenen Traum, in dem es wie so oft um seine geschiedene Frau ging.
Sie hatten die hübsche Wohnung in der Alsterdorfer Straße vor vier Jahren zusammen angemietet. Es dauerte nur zwei Jahre, bis sie feststellten, dass sie nicht zueinander passten. Das heißt, seine Frau hatte das festgestellt. Sie hatten sich freundschaftlich voneinander getrennt und sahen sich immer noch gelegentlich. Nach dem Auszug seiner Frau hatte Brock die Wohnung behalten. Er empfand sie eine Zeit lang kalt und leer, doch inzwischen fühlte er sich dort wieder wohl. Die Wohnung war zu seinem Rückzugsort geworden, und auch die Vermieter im Erdgeschoss waren so rücksichtsvoll, ihn nicht zu belästigen.
Dennoch empfand er einen gewissen Schmerz, wenn er an die gemeinsame Zeit dachte, und er fragte sich, ob es jemals wieder so werden könnte.
»Wir sind da, Herr Hauptkommissar«, riss ihn die Stimme des Fahrers aus seinen Gedanken.
Der Streifenwagen stoppte auf dem kleinen Platz direkt vor dem riesigen Bau der Elbphilharmonie. Brock erkannte einige Polizeifahrzeuge. Auch der Gerichtsmediziner war bereits eingetroffen.
Jetzt, Mitte Juni, war es trotz der frühen Stunde bereits taghell. Der Himmel strahlte in einem sanften Blau, und nur wenige faserige Cirruswölkchen waren zu sehen. Es würde ein schöner Tag werden, und in wenigen Stunden würde es hier vor Touristen wimmeln.
Die während der Bauphase so geschmähte Philharmonie war zu einem absoluten Anziehungspunkt für Touristen geworden und hatte schon Millionen von Besuchern angezogen.
Der Blick von der Besuchergalerie über die Stadt und den Hafen war allerdings auch spektakulär.
Brock starrte an der Fassade hoch. Er hatte sich ursprünglich auch nicht für den Bau begeistern können, doch jetzt empfand er einen gewissen Stolz darauf, dass seine Heimatstadt ein neues Wahrzeichen besaß.
»Guten Morgen, Herr Hauptkommissar!«
Sein Assistent stand vor ihm, zwei Becher Kaffee in der Hand. Brock nahm einen davon dankend entgegen. Schließlich hatte er noch nicht gefrühstückt. Dunkel erinnerte er sich, dass Spengler in der letzten Nacht Bereitschaftsdienst gehabt hatte. Das erklärte sein frühes Erscheinen.
Er trug über seinen dunkelblauen Jeans ein offenes Hemd und eine beige Popeline Jacke. Rentnerjacken nannte Brock sie insgeheim.
»Was haben wir?«, fragte er mit rauer Stimme.
»Kommen Sie hoch, ich zeige es Ihnen. Sie werden es nicht glauben.«
Der Hauptkommissar nahm einen Schluck aus dem Kaffeebecher. Das Getränk war lauwarm und besaß einen leichten Geschmack von Spülwasser. Angewidert verzog er das Gesicht. Er legte Wert auf einen guten Kaffee zum Frühstück. In seiner Abteilung hatte er auf eigene Kosten einen teuren Kaffeeautomaten angeschafft. Doch erst als er auch den Kaffee dazu besorgte, schmeckte er, wie er ihn mochte.
Sie identifizierten sich bei dem uniformierten Polizisten, der den Eingang bewachte. Er trug ihre Namen sorgfältig auf einer Liste ein.
Brock warf einen Blick auf die Liste. »Erstaunlich, dass unser Doktor schon anwesend ist. Normalerweise kommt er doch als Letzter.«
Spengler beugte sich zu ihm herüber und raunte: »Er kommt direkt vom Fischmarkt. Hat wohl mit seinen Freunden durchgemacht. Stellen Sie ihm keine Fragen. Er ist ziemlich angesäuert.«
Brock sah seinen Assistenten misstrauisch an, doch der meinte es offenbar ernst.
Auf dem Vorplatz hatten einige Uniformierte inzwischen Flatterband gespannt. Brock deutete auf die Garageneinfahrt. »Da darf auch keiner rein oder raus, bis wir hier fertig sind!«
Spengler zupfte an seinem Ärmel, und sie gingen zu der endlos langen Rolltreppe, die nach oben führte.
Brock war schon einmal hier gewesen. Mit einer kurzfristigen Freundin, wie er sich erinnerte. Einer sehr kurzfristigen, eigentlich nur für eine Nacht und den folgenden Tag, einen Sonntag. Er hatte sie bei einem Abendessen mit Kollegen aus verschiedenen Städten kennengelernt. Sie stammte aus Köln und wollte unbedingt die Elbphilharmonie sehen.
Damals waren viele Menschen hier gewesen, die den gleichen Wunsch verspürten. Sie waren auf der Außengalerie herumspaziert und hatten Hamburg von oben betrachtet.
Ihr Abschied war unspektakulär gewesen. Sie hatten beide gewusst, dass sich die gemeinsamen Stunden nicht wiederholen würden.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, ganz allein auf dieser Rolltreppe zu fahren.
»Es ist das große Fenster unterhalb der Plaza«, meldete sich Spengler zu Wort. »Es befindet sich im ursprünglichen Speicherbau, auf dem das moderne Konstrukt errichtet ist. Wir sind gleich da.«
»Ich weiß, wo das ist«, knurrte Brock. Die Müdigkeit hing ihm immer noch in den Knochen, und für einen Augenblick verspürte er das dringende Bedürfnis nach seinem Bett oder nach einem vernünftigen Frühstück.
Sie hatten das Ende der Rolltreppe erreicht. Dort stand ein weiterer Uniformierter und reichte ihnen Plastikbeutel, die sie über die Schuhe streifen konnten, um den Tatort nicht zu verunreinigen.
Spengler schritt eilig vor ihm her. Dann standen sie wenige Meter vor dem besagten Fenster, und Brock wurde schlagartig wach.
So etwas hatte er in der Tat noch nicht gesehen!
Mit dem Fenster hatten sich die Architekten einen besonderen Effekt einfallen lassen. Es war so in die große Öffnung eingepasst worden, dass es direkt mit der umgebenden Mauer abschloss. Dadurch war das Glas kaum zu erkennen, und man hatte den Eindruck, man könnte mit einem weiteren Schritt ins Freie treten und in die Tiefe stürzen. Viele Besucher hielten deshalb respektvollen Abstand von der Scheibe. Die Illusion war ziemlich überzeugend.
Insofern schien es, als würde der Mann in der Luft schweben, Arme und Beine weit ausgebreitet. Sein Kopf war schräg an die Scheibe gesunken.
Brock trat ein paar Schritte näher, um sich zu überzeugen, dass es real war, was er da sah.
Der Mann war offensichtlich tot. Seine Hände und Füße waren an merkwürdige Geräte gefesselt, die Brock erst aus der Nähe identifizieren konnte.
»Das sind industrielle Saugheber, mit denen Glasscheiben transportiert werden«, erklärte Doktor Fischer, der neben dem Toten stand und breit grinste.
Brock musterte den Pathologen. Er war Mitte fünfzig und machte diesen Job schon sehr lange. Er war außerordentlich gewissenhaft und übersah selten etwas. Vor Gericht war er für jeden Staatsanwalt ein Geschenk. Er ließ sich von keinem Verteidiger aus der Ruhe bringen.
Fischer war heute nicht wie üblich in einen weißen Overall gekleidet, sondern trug ein zerknittertes Sakko über verbeulten Jeans. Sein Hemd war mit Rotweinflecken verschmutzt, und die Krawatte hing auf Halbmast. Ein seltener Anblick!
Brock wandte sich wieder dem Mann an der Scheibe zu. »Die Dinger können einen Mann tragen?«
»Jeder einzelne von diesen Saughebern kann das«, sekundierte Spengler.
Brock betrachtete den Mann von allen Seiten.
»Er ist doch wirklich tot, oder?«, erkundigte er sich vorsichtshalber.
»Vermutlich schon seit gestern«, beruhigte ihn Doktor Fischer.
»Also wurde er an einer anderen Stelle umgebracht. Todesursache?«
»Er hat ein Hämatom an der rechten Kopfseite und eine Stichwunde im Nacken. Woran er genau gestorben ist, wird die Autopsie ergeben.«
Brock betrachtete einen der Saugheber. Die Hände und Füße des Toten waren an die breiten Tragegriffe gefesselt.
»Ist das ein Bergsteigerseil?«
Fischer schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Das wird die Spurensicherung klären können. Die sollten übrigens bald hier sein.«
Aus der Nähe sah Brock, dass der Kopf des Mannes mit durchsichtigem Paketband an der Scheibe fixiert war. Er ging seitlich dicht an ihn heran. Die Augen des Toten waren geöffnet und schimmerten milchig.
»Was sieht er sich dort unten an?«, fragte er wie zu sich selbst. »Hat jemand zufällig einen Laserpointer dabei?«
»Ich habe einen im Auto«, sagte Spengler. »Bin gleich zurück!«
Brock winkte den Streifenpolizisten heran, der ein paar Schritte näher gekommen war und die Szene neugierig betrachtete.
»Wer hat den Toten so früh am Morgen eigentlich entdeckt?«, fragte Brock.
»Das waren die Kollegen von der Wasserschutzpolizei«, erklärte der Uniformierte. »Na, ja, eigentlich war es ein Mann in einem Privatboot, der den Kollegen aufgefallen war, weil er die Elbphilharmonie durch ein Fernglas betrachtete. Dann haben sie es auch gesehen.«
Er deutete auf den Toten. »Also … das hier.«
»Sehr interessant«, murmelte Brock. »Was macht denn ein Mann in einem Boot um diese Zeit auf der Elbe?«
»Das haben sich die Kollegen von der Wasserschutzpolizei auch gefragt. Doch als sie dann den Gekreuzigten entdeckten …«
»… hatten sie Wichtigeres zu tun«, ergänzte Brock den Satz.
Außer Atem war Spengler inzwischen wieder zurück. Er reichte Brock einen Laserpointer, wie man ihn zur Feststellung von Schussbahnen benutzte.
Der Hauptkommissar schaltete das Gerät ein und hielt es neben den Kopf des Mordopfers, sodass der Laserstrahl in die Richtung zeigte, in der die Augen des Toten blickten. Der dünne Strahl verlor sich rasch im hellen Licht des Morgens.
»Da ist nur Wasser«, stellte Brock verblüfft fest.
»Die Elbe«, fügte Spengler eifrig hinzu.
Der vernichtende Blick, der ihn traf, ließ den Kommissaranwärter förmlich zusammenschrumpfen.
Brock gab seinem Assistenten den Laserpointer zurück. »Dann schauen Sie mal, ob Sie mehr erkennen.«
Spengler versuchte ebenfalls sein Glück. »Mitten auf die Elbe. Ein Stück weiter liegt die Cap San Diego.«
Der Streifenpolizist hatte sich indessen ebenfalls an die Scheibe bewegt. Sein Blick folgte dem dünnen Laserstrahl.
»Das ist auch ungefähr die Stelle, an der die Wasserschutzpolizei den Mann auf dem Boot angetroffen hat.«
»Ich würde nachher gern mit dem Mann sprechen«, sagte Brock.
Niemand antwortete. Brock starrte von einem zum anderen.
»Er ist wohl nicht mehr da«, bequemte sich der Uniformierte schließlich zu einer Antwort.
»Was heißt denn das?«
»Na, ja, die Kollegen haben sich nicht weiter um ihn gekümmert. Sie haben bei uns angerufen, und wir waren als Erste am Tatort. Wir mussten zunächst jemanden finden, der uns Zutritt verschaffte. Als wir bei diesem Fenster waren, haben wir das besagte Boot nicht mehr gesehen.«
Brock wandte sich an seinen Assistenten. »Machen Sie unseren Freunden bei der Wasserschutzpolizei die Hölle heiß. Ich will alles wissen, was es über diesen geheimnisvollen Fremden zu erfahren gibt. Und wenn wir schon dabei sind, finden Sie heraus, ob an dieser Stelle der Elbe irgendetwas vorgefallen ist. Es gibt bestimmt einen Grund, weshalb der Mann dorthin sieht.«
Er drehte sich zu Doktor Fischer um. »Wissen wir, wer der Tote ist?«
»Nein. Niemand hat ihn bisher angefasst. Ich selbst habe nur kurz den Zustand der Leiche geprüft, um sicher zu gehen, dass der Mann wirklich tot ist.«
Brock zupfte dünne weiße Handschuhe aus seiner Tasche, streifte sie über und tastete die Kleidung des Mannes ab. Er trug schwarze Hosen, ein graues Sakko über einem hellblauen Hemd mit offenem Kragen – keine Schuhe. In der Brusttasche steckte eine Ledermappe, die der Hauptkommissar vorsichtig herauszog. Alle anderen Taschen waren leer.
Brock schlug die Mappe auf. Sie war ebenfalls leer – bis auf einen Personalausweis.
»Markus Holler«, las er vor. »Zweiunddreißig Jahre alt, wohnhaft in Hamburg. Da wollte jemand, dass wir erfahren, wer der Tote ist. Alles andere wurde entfernt.«
Der Streifenpolizist verzog sich wieder auf seinen Posten, als von der Rolltreppe her Stimmen zu hören waren.«
»Die Spurensicherung ist angekommen«, erklärte Spengler unnötigerweise.
Brock trat einen Schritt von der Leiche zurück. »Ich frage mich, ob ein einzelner Täter unseren Toten auf diese Weise an der Glasscheibe befestigen konnte.«
»Ich schätze, dass Holler zwischen siebzig und fünfundsiebzig Kilo wiegt«, sagte Doktor Fischer. »Ein großer und kräftiger Mann schafft das durchaus. Die Saugheber waren sicher schon vorher am Körper befestigt. Sehen Sie, er hängt etwas schräg. Der Täter hat zuerst seinen rechten Arm hochgezogen und den Heber aktiviert, dann den linken. Er brauchte dazu noch nicht mal eine Leiter.«
»Wie hat er den Toten hergeschafft?«, murmelte Brock. »Das Gebäude ist nachts doch sicher geschlossen. Es gibt Kameras, nehme ich an.«
»So ganz geschlossen ist es nicht«, entgegnete Spengler. »Über uns gibt es ein Hotel und außerdem Privatwohnungen. Der Zugang zu den Musiksälen ist natürlich gesperrt, doch für jemanden, der sich auskennt, dürfte es kein Problem sein, sich beispielsweise über die Garage Zutritt zu verschaffen.«
Brock spürte plötzlich, wie sein Magen knurrte. Er hoffte, dass es außer ihm niemand hörte. Das wäre an diesem Ort etwas peinlich gewesen.
»Setzen Sie unsere Kollegen an, die Möglichkeiten zu überprüfen, wie man ungesehen zu diesem Fenster kommen kann und zu welcher Zeit das möglich wäre. Sie sollen alles eventuelle Bildmaterial sichten und alle Leute befragen, die heute Nacht im Gebäude waren, einschließlich des Hotelpersonals.«
»Die Gäste auch?«
»Der Nachtportier wird wissen, wer zu ungewöhnlicher Stunde gekommen oder gegangen ist. Deren Namen will ich auch!«
Spengler entfernte sich in Richtung Rolltreppe. »Wird alles erledigt!«
Brock drehte sich zu Doktor Fischer um, der immer noch die Leiche anstarrte und dabei den Kopf schüttelte.
»Das ist wirklich ungewöhnlich«, murmelte er. »Da glaubt man, man hat alles gesehen, und dann das …«
Brock war neben ihn getreten. Er sah gedankenverloren auf die Elbe hinunter. Die nur leicht gekräuselte Wasserfläche glitzerte im Sonnenlicht.
»Was willst du uns dort unten zeigen?«, fragte er leise.
Die Leute von der Spurensicherung hatten sich hinter ihm versammelt und betrachteten verblüfft den Toten. So etwas war auch für sie neu.
»Können wir anfangen?«
Brock drehte sich zu der jungen Frau um, die in ihrem weißen Overall vor ihm stand. Er nickte.
»Sie bekommen die Ergebnisse der Obduktion so schnell wie möglich«, sagte der Mediziner.
»Ihr Schlusswort könnten Sie auch mal ändern«, knurrte der Hauptkommissar und verließ den Tatort.
*
Kommissaranwärter Horst Spengler sah den jungen Wasserschutzpolizisten, der sich als Detlef Schwenke vorgestellt hatte, streng an. »Erzählen Sie alles noch mal von vorn.«
Sie befanden sich in einem hässlichen Büro, das mit ziemlich alten Möbeln ausgestattet war. Der Beamte war nervös und knetete seine Finger ununterbrochen. Nachdem Spengler sich vorgestellt hatte, stand er vor ihm und sah auf ihn herunter.
»Unsere Schicht hatte gerade begonnen. Wir hatten unseren Liegeplatz verlassen und waren mit dem leichten Hafenstreifenboot auf Patrouille.«
»Das ist mir soweit klar«, unterbrach Spengler mit einem Versuch, die sarkastischen Bemerkungen seines Chefs zu imitieren, was ihm jedoch nicht vollständig gelang.
»Na, ja, wir wollten als Erstes das Kreuzfahrtterminal kontrollieren und standen querab zur Elbphilharmonie …«
»Querab? Was heißt das?«
Der junge Beamte sah Spengler entschuldigend an. »Das bedeutet rechtwinklig zur Längsrichtung des Schiffes.«
»Aha«, nickte Spengler, doch man sah ihm an, dass er die Definition nicht ganz begriffen hatte.
»Dann entdeckten wir das Boot. Das heißt, gesehen haben wir es schon vorher. Doch ich bemerkte, dass es bewegungslos im Strom lag. Ein Mann stand hinter dem offenen liegenden Steuerpult und hatte ein Fernglas auf die Elbphilharmonie gerichtet. Ich habe unserem Bootsführer ein Zeichen gegeben, doch er hatte ebenfalls alles gesehen und hielt bereits auf das fremde Boot zu. Es war noch sehr früh am Morgen, und private Boote sind da eher selten zu sehen.«
»Was geschah dann?«
»Mit bloßen Augen konnte ich nicht erkennen, worauf der Mann blickte. Also nahm ich auch ein Glas und entdeckte ziemlich schnell, dass an dem großen Fenster der Elbphilharmonie eine Person klebte. Inzwischen hatte uns der Mann auf dem Boot gesehen. Wir gingen längsseits, und unser Polizeiobermeister fragte ihn, was er da mache. Er sagte, dass er zufällig die Person am Fenster bemerkt habe, als er auf dem Rückweg zu seinem Liegeplatz war. Wir haben sofort die Zentrale informiert und Kurs auf die Philharmonie genommen.«
Auf Spenglers Stirn erschien eine tiefe Falte. »Um den Mann auf dem Boot haben Sie sich nicht weiter gekümmert?«
Der junge Beamte hob die Schultern. »Er konnte kaum etwas mit der Sache zu tun haben. Also ließen wir ihn dort zurück.«
»Großer Fehler!«, knurrte Spengler. »Wir glauben, dass der Unbekannte durchaus etwas mit dem Mord zu tun haben könnte, doch dank Ihrer mangelnden Weitsicht wissen wir nicht, wer er ist.«
»Mord?«
»Glauben Sie, da hat sich einer freiwillig an die Scheibe geklebt?«
Schwenke schwieg und senkte den Kopf.
»Wir können das Boot bestimmt finden«, sagte er schließlich. »Ich weiß, wie es aussieht. Auf dem Fluss ist es schwer, ein Schiff zu verstecken. Es war nach einer Frau benannt.«
»Nach einer Frau?«, wiederholte Spengler überrascht. »Welche Frau?«
»Ich meine einen weiblichen Vornamen, es war irgendwas mit A. Anja oder Anna. Vielleicht auch Alina oder Anke.«
»Das ist doch ein Anfang. Es wird doch ein Schiffsregister geben, in dem die Namen aller Boote verzeichnet sind.«
Schwenke nickte. »Ja, das gibt es. Wir werden das überprüfen.«
Spengler richtete sich zu seiner vollen Größe von ein Meter siebzig auf. Er war der festen Überzeugung, dass damit auch seine Autorität wuchs. Dann wurde ihm bewusst, dass seine Freizeitkleidung – Jeans, leichte Jacke, Sneakers – diesem Anspruch nicht gerecht wurde. Er schätzte korrekte Kleidung sehr, doch für den nächtlichen Bereitschaftsdient hatte er sich nicht die Zeit für eine entsprechende Auswahl genommen.
»Außerdem sollten Sie sofort damit beginnen, das Boot zu suchen. Wir müssen es unbedingt finden, es hängt mit unserem Fall zusammen.«
»Jawohl, Herr Spengler. Ich werde meinen Vorgesetzten informieren.«
»Kommissaranwärter Spengler, wenn ich bitten darf.«
»Jawohl, Herr Kommissaranwärter!«
Er drehte sich um und marschierte zur Tür. Dann fuhr er plötzlich wieder herum, als ihm einfiel, worüber sein Chef gegrübelt hatte.
»Sagen Sie, diese Stelle in der Elbe, an der Sie das Boot angetroffen haben, ist da mal irgendetwas passiert?«
Der junge Beamte zog seine Stirn in Falten und dachte offensichtlich nach. Dann hellte sich sein Gesicht auf.
»Ja, jetzt, wo Sie danach fragen … Da war wirklich mal was. Letztes Jahr beim Hafengeburtstag hat es etwa an dieser Stelle einen Unfall gegeben. Eine kleine Privatjacht hat ein Motorboot gerammt. Dabei ist jemand ums Leben gekommen. Ein Mann, glaube ich.«
»Wo sind die Unterlagen darüber?«, fragte Spengler scharf und freute sich schon auf Brocks Gesicht, wenn er ihm die Neuigkeit mitteilte.
»Die müssten auf unserem Revier sein.«
»Sorgen Sie für Kopien. Aber heute noch!«
Der junge Beamte nickte nur müde. Seinen Sonntagsdienst hatte er sich anders vorgestellt.
Das prachtvolle Haus an der Elbchaussee war gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts gebaut worden und hatte die wechselvollen Stürme der Zeit nahezu unbeschadet überstanden. Es lag an einem Abhang zur Flussseite und besaß dadurch einen unverbaubaren Blick über die Elbe und den Hafen.
Die Elbchaussee war eine der berühmtesten Straßen der Hansestadt. Sie verband Altona mit Blankenese und galt als bevorzugte Wohnlage. Es gab schöne alte Villen, Parks und Nobelrestaurants. Von manchen Stellen aus hatte man einen herrlichen Blick über den Fluss und den Hafen.
Die Villa war zur Straße durch dichte Hecken und einen jahrzehntealten Baumbestand abgeschirmt und damit neugierigen Blicken entzogen. Zusätzlich gab es eine etwa mannshohe Mauer, unterbrochen von einem Gittertor aus Schmiedeeisen. Vom Tor führte ein gepflasterter Weg zu den abseits liegenden Garagen. Davor waren einige zusätzliche Stellplätze angelegt. Der Weg endete an einem breiteren Platz vor dem Haupteingang.
Eine leicht geschwungene Freitreppe führte zu einem säulengeschmückten Vorbau. Von dort ging es in die große Empfangshalle, die das Zentrum des Gebäudes bildete.
Aus dem Speiseraum auf der rechten Seite drang das Gewirr mehrerer Stimmen unterschiedlichen Geschlechts. Geschirr klapperte, Besteck klirrte.
Am Kopfende einer langen Tafel saß Anton Holler, der Patriarch der Familie und gleichzeitig ihr unangefochtenes Oberhaupt. An einem Sonntag im Monat pflegte er die Familie zu einem sogenannten Brunch zu versammeln, einer Mischung aus Frühstück und Mittagessen. Erscheinen war für alle Pflicht, und so waren auch heute alle zusammengekommen.
Anton Holler betrachtete sich selbst als erfolgreichen Geschäftsmann, und das war er auch. Er hatte die Reederei, die er von seinem Vater übernommen hatte, zu einem konkurrenzfähigen Unternehmen gemacht. Eine gewisse Eitelkeit konnte man ihm durchaus nachsagen. Aus seinem Alter machte er gegenüber Dritten ein Geheimnis, obwohl jeder wusste, dass er die siebzig bereits überschritten hatte. Zugegeben: Man sah es ihm nicht an. In seiner ganzen Erscheinung wirkte er deutlich jünger.
Anton Holler trug wie immer seinen dreiteiligen Anzug mit Einstecktuch. An der Weste war eine schwere goldene Kette befestigt, an der eine goldene Taschenuhr hing, die er vor vielen Jahren von seinem Vater bekommen hatte, als er in die Geschäftsführung der Firma einstieg.
Eines Tages würde sein Sohn sie bekommen. Wieso war er heute eigentlich nicht hier? Der Platz zu Hollers Linken war leer. Nun, er wird sicher gleich erscheinen. Markus verpasste das monatliche Treffen der Familie fast nie.
Anton Holler musterte die Gäste an seiner Tafel. Rechts von ihm saß seine Frau Elisabeth, die aufmerksam den Tisch überprüfte, ob alles in Ordnung war. Sie war jünger als er, was man ihr deutlich ansah. Sie war nicht seine erste große Liebe gewesen, aber die glücklichste, und das hatte sich in den vielen Jahren, seit sie verheiratet waren, nicht geändert.
Seine erste Ehe war ihm wie ein Rausch vorgekommen, aber das Glück hatte nicht lange angehalten. Sie hatten sich nach zwei Jahren wieder getrennt. Aus seiner jetzigen Ehe mit Elisabeth waren drei Kinder hervorgegangen, und sie waren das Wichtigste in seinem Leben.
Neben seine Frau hatte Tim Platz genommen, der einzige Sohn seines Bruders und damit sein Neffe. Sein Bruder war vor einigen Jahren gestorben, und sie hatten seinen Sohn bei sich aufgenommen, als er noch ein Teenager war. Inzwischen war er ein breitschultriger und groß gewachsener junger Mann mit fast schwarzen Haaren und hellen wachen Augen. Er trug ein buntes Oberhemd mit offenem Kragen, ein Outfit, das Anton Holler gerade noch durchgehen ließ. Tim arbeitete in seiner Reederei in der Lagerverwaltung.
Dieses Lager im Hafen war ein Relikt aus der Vergangenheit. Es wurde im Prinzip nicht mehr gebraucht, und es gab dort nur wenige Angestellte. Doch Tim erzählte ihm immer, dass der alte Bau immer noch wichtig war, um dort bestimmte Güter der Frachtschiffe zwischenzulagern. Nun, Tim schien seine Sache gut zu machen, also ließ er ihn gewähren. Manchmal allerdings hatte er den Verdacht, dass sein Neffe die Bedeutung dieses Lagerhauses etwas übertrieb.
Anton Hollers Blick schweifte zur anderen Seite des Tisches. Dort saß seine Tochter Maria mit ihrem Ehemann. Zwischen ihnen ihr dreijähriger Sohn Erik, dessen Kopf gerade eben über die Tischkante ragte. Sie unterhielten sich mit ihrem Sprössling, dem irgendetwas nicht passte. Holler war von der Hochzeit Marias mit einem Anwalt nicht unbedingt begeistert gewesen, doch seinen einzigen Enkel liebte er abgöttisch.
Dann war da noch sein jüngster Sohn Daniel, der gerade achtzehn geworden war. Er hatte mit Mühe und Not und der Hilfe einiger Nachhilfelehrer die Mittlere Reife geschafft. Seitdem jobbte er gelegentlich in der Reederei des Vaters. Arbeit konnte man es kaum nennen. Er starrte angestrengt auf sein Smartphone, das an seiner Hand festgewachsen schien.
Anton Holler fehlte jedes Verständnis für den unwiderstehlichen Drang der jungen Leute, sich pausenlos mit einem solchen Gerät zu beschäftigen. Zu seiner Zeit hatte es so etwas zum Glück noch nicht gegeben. Wie auch immer man die Bedeutung der modernen Technik einschätzte – Daniel war sein Sorgenkind. Der Junge hatte bisher noch keine Vorliebe für irgendeinen Beruf erkennen lassen. Vielleicht musste man ihm noch Zeit lassen!
Der Platz am anderen Ende der Tafel war frei geblieben. Niemand aus der Familie hatte es je gewagt, ihn einzunehmen und sich dem Patriarchen der Familie damit genau gegenüberzusetzen.
Es klingelte!
Anton Holler sah erstaunt hoch. Wer wagte es, die Familie während dieser nahezu heiligen Handlung zu stören?
Elena, die griechische Haushaltshilfe, erschien in der Tür und blickte zum Hausherrn hinüber. »Da ist ein Herr von der Polizei, der Sie sprechen möchte.«
Anton hob die Hand. »Ich mache das schon. Alle bleiben sitzen.«
Er ging zur Tür hinaus, ließ sie aber geöffnet. In der Empfangshalle stand ein Mann in Freizeitkleidung. Er hielt ein Lederetui mit einem Ausweis hoch.
»Hauptkommissar Cornelius Brock«, stellte er sich vor.
»Ich nehme an, es geht um meinen Sohn. Was hat er ausgefressen?«
»Können wir irgendwo ungestört reden?«
Anton Holler stutzte. Ein Schatten zog über sein Gesicht. »Folgen Sie mir.«
Sie betraten das Esszimmer, und Brock ließ seinen Blick über die an einer langen Tafel Versammelten gleiten, wobei er ihre Gesichter registrierte. Er besaß ein ungewöhnlich gutes Gedächtnis für Personen und würde sie von nun an jederzeit wiedererkennen. Nach wenigen Schritten bemerkte Brock eine Berührung an seinem Bein. Er sah nach unten und entdeckte einen vielleicht dreijährigen Knirps, der vor ihm stand.
»Hast du eine Schtole?«, nuschelte er.
Brock ging in die Knie, um auf Augenhöhe zu kommen. »Was soll ich haben?«
Ein jüngerer Mann war vom Tisch aufgestanden und kam dazu, wohl der Vater des Kleinen. Er grinste. »Das ist mein Sohn Erik. Er will wissen, ob Sie eine Pistole haben.«
Brock stand auf, hob seine leichte Jacke an und drehte sich um seine Achse. »Keine Schtole!«
Der Hauptkommissar trug selten seine Dienstwaffe. Sie ruhte in einem abgeschlossenen Fach seines Schreibtisches und wurde praktisch nur herausgenommen, wenn er zu einer der vorgeschriebenen Schießübungen musste. Er besaß noch eine private Waffe, die in einem kleinen Tresor in seiner Wohnung lag. Er hatte sie am Anfang seiner Laufbahn erworben, als er es noch notwendig fand, sich seinem Beruf entsprechend auszustatten. Inzwischen war er kein Freund von Schusswaffen mehr, und er hoffte, nie eine benutzen zu müssen.
Allerdings wunderte er sich, wieso der kleine Stöpsel wusste, was eine Pistole war, bevor er ihren Namen aussprechen konnte.
»Kommen Sie!«, drängte Holler und ging voran. Brock folgte ihm in ein Arbeitszimmer mit holzgetäfelten Wänden und schweren Eichenmöbeln, die aussahen, als würden sie noch zur Erstausstattung des Hauses gehören. In der Luft hing ein Geruch von Tabak.
Brock bemerkte, dass an den Wänden einige merkwürdig aussehende Waffen hingen: Bögen, eine Lanze, Keulen. Hinter der Glasfront eines schmalen Schrankes befanden sich zwei teuer aussehende Gewehre. Fein ziselierte Metallteile, poliertes Holz, eindeutig eine hervorragende Handwerksleistung.
»Das sind englische Jagdgewehre. Sie stammen von meinem Vater, der ein begeisterter Jäger war. Eine Purdey und eine Holland & Holland. Soweit ich weiß, sind das so ziemlich die teuersten Jagdwaffen, die man kaufen kann. Ich konnte der Jagd nie etwas abgewinnen und habe daher noch nie einen Schuss daraus abgegeben. Ich lasse sie nur regelmäßig bei einem Büchsenmacher warten und reinigen.«
In einer Vitrine, wie man sie aus Museen kannte, lagen Dolche von teilweise seltsamer Gestalt. Einer hatte eine blitzende Klinge in Wellenform.
Anton Holler lehnte an seinem Schreibtisch und folgte Brocks Blick. »Das ist ein malaiischer Kris«, erläuterte er. »Eine gefährliche Waffe. Das Ding daneben mit der gebogenen Klinge ist ein Gurkha Dolch aus dem neunzehnten Jahrhundert. Er wird heute noch unverändert hergestellt.«
Brock sah fragend hoch.
»In meiner Jugend bin ich einige Jahre zur See gefahren. Damals haben mich exotische und antike Waffen fasziniert, und wenn ich welche kriegen konnte, habe ich sie mitgebracht.«
»Interessantes Hobby«, murmelte Brock.
»Also, was gibt es?«, knurrte Anton Holler. »Sie sind ja nicht gekommen, um meine Waffen zu bewundern.«
»Sie sollten sich lieber setzen«, sagte Brock und ließ sich selbst in einem der englischen Ledersessel nieder. Holler folgte seinem Beispiel. »Jetzt reden Sie schon!«
Brock hasste diese Aufgabe. Seine Chefin hatte ihn ermahnt, den Hinterbliebenen eines Mordopfers die Nachricht schonend beizubringen. Wie sollte man einem Vater schonend beibringen, dass sein Sohn tot war? Eine solche Mitteilung traf immer brutal ins Herz, gleichgültig, wie sorgsam man sie überbrachte.
»Wir haben Ihren Sohn Markus in der Elbphilharmonie aufgefunden«, begann Brock.
»Was hat er denn da gemacht?«, wunderte sich sein Vater. »Für Musik hatte er noch nie viel übrig. Fußball, ja, das war seine Welt! Aber Musik …«
»Er ist nicht freiwillig dort gewesen«, fuhr Brock fort und ermahnte sich dabei selber, nicht länger um den heißen Brei herumzureden. »Man hat ihn ermordet und dann dort abgelegt.«
Holler saß stocksteif in seinem Sessel, die Hände um die Lehnen gekrampft. Seine Kiefer mahlten leicht.
»Wie?«, fragte er schließlich mit dumpfer Stimme.
Brock hatte schon vorher beschlossen, ihm nicht die ganze Wahrheit zu erzählen. »Er befand sich hinter einem Fenster mit Blick auf die Elbe. Die genaue Todesursache wird noch ermittelt.«
Schweigen breitete sich im Raum aus. Nur eine alte Standuhr tickte. Aus dem Esszimmer drang der gedämpfte Lärm von Geschirr und Gesprächsfetzen.
»Wer hat das getan?«
»Das wissen wir noch nicht. Doch wir werden es herausfinden, das verspreche ich Ihnen.«
Holler war in seinem Sessel zusammengesunken. Jetzt schimmerte eine Träne in seinem Auge.
»Soll ich …?«, fragte Brock und deutete auf die Tür zum Esszimmer.
Holler schüttelte den Kopf. »Das werde ich selbst übernehmen. Gehen Sie jetzt.«
»Sie müssen morgen Ihren Sohn identifizieren. Oder jemand anders aus Ihrer Familie. Kommen Sie bitte am Nachmittag in die Rechtsmedizin. Die befindet sich im UKE, im Universitäts-Klinikum Eppendorf.«
Ein langsames Nicken. »Ich werde dort sein.«
*
Horst Spengler machte an diesem Tag seinen zweiten Besuch bei der Wasserschutzpolizei, nachdem er noch einmal in der Elbphilharmonie gewesen war, um die Überwachungsaufnahmen abzuholen und den Abtransport der Leiche zu beaufsichtigen. Die Spurensicherung hatte den Tatort noch nicht freigegeben, was einen mittlerweile eingetroffenen Manager des Hauses ziemlich missmutig stimmte.
Spengler hatte sich außerdem in der Garage umgesehen. Gleich hinter dem Eingang zum Foyer hatte er eine Sackkarre entdeckt, die dort bestimmt nicht hingehörte. Er vermutete sofort, welchem Zweck sie gedient haben mochte. Er ließ die Karre von der Spurensicherung einsammeln und bat um eine gründliche Überprüfung.
Die Garage war zu dieser Stunde noch weitgehend leer. Nur einige Fahrzeuge befanden sich auf den Stellplätzen. Spengler notierte sich vorsichtshalber sämtliche Kennzeichen. Möglicherweise war der Tote mit einem dieser Fahrzeuge transportiert worden. Doch bevor sie sich damit näher befassen konnten, mussten sie zunächst die Besitzer ermitteln. Vielleicht ergab sich hierbei bereits eine Spur.
Im Revier der Wasserschutzpolizei wurde er von Detlef Schwenke schon erwartet. Der junge Beamte hatte vor Eifer leicht gerötete Wangen. Die Vorstellung, an der Aufklärung eines wichtigen Mordfalles mitzuarbeiten, hatte seine Fantasie offenbar stark beflügelt.
Spengler indessen spürte nur, dass er in seinem Magen ein deutliches Hungergefühl verspürte. Er hatte außer dem Frühstück im Stehen nichts weiter gegessen, und er hoffte, dass es hier in der Nähe eine geöffnete Imbissbude gab.
»Was haben Sie ermittelt?«, fragte er.
»Ich habe mit meinen Kollegen gesprochen, und wir waren uns einig, dass es sich bei dem fraglichen Boot heute Morgen um ein etwa fünf Meter langes Motorboot der Firma Quicksilver handelte. Es mochte sich aber niemand festlegen, welches Modell genau es war. Es waren sich alle einig, dass die Lackierung blau-weiß gewesen ist. Jedenfalls kommen laut dem Register drei Boote mit dieser Lackierung infrage. Eines – Anika – gehört einem Barkassenbesitzer im Hafen, ein anderes – Antje – hat einen Liegeplatz in Moorfleet. Das dritte Boot mit dem Namen Anna gehört einem Anwalt und liegt im Jachthafen bei Wedel.
Schwenke reichte ihm ein Blatt Papier. »Hier habe ich die genauen Angaben aufgeschrieben.«
Spengler nahm das Blatt gnädig entgegen. »Haben Sie sonst noch etwas herausgefunden?«
Der Beamte nickte eifrig und deutete auf einen Aktenordner, der vor ihm auf dem Tisch lag. »Hier sind die Unterlagen von dem Unfall auf der Elbe im letzten Jahr. Es gibt sogar Videomaterial davon. Die Kollision der Boote wurde zufällig von einer Fernsehkamera aufgenommen.