Hammer + Veilchen Nr. 12 -  - E-Book

Hammer + Veilchen Nr. 12 E-Book

0,0
0,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Hammer + Veilchen erscheint vierteljährlich und veröffentlicht Kurzprosa von deutschen Gegenwartsautoren

Das E-Book Hammer + Veilchen Nr. 12 wird angeboten von Emig, Günther und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Kurzprosa, Gegenwartsliteratur, Kurzgeschichten

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 36

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hammer + Veilchen

Flugschriften für neue Kurzprosa

Herausgegeben von Günther Emig und Peter Engel

Ausgabe 12 · 2017

Mit Beiträgen von Joachim Frank · Maike Frie · Betty Kolodzy · Christine Langer · Louise Lunghard · Niels Parthey · Peter Salomon · Mona Ullrich

Inhaltsverzeichnis
Hammer + Veilchen 12
Christine Langer
Über die Melancholie der Musik hinaus
Joachim Frank
Ansichten eines Gemäldes
Betty Kolodzy
Sonnenblumenkerne
Niels Parthey
Zustand
Eskorte
Maike Frie
Mein, sein, nicht unser
Tjark findet was
Ansichtssache
Louise Lunghard
Leben ohne Frank
Fluchtpunkt
Peter Salomon
Dööfi
Mona Ullrich
Wandern in Berlin
Die Autoren
Impressum

Christine Langer

Über die Melancholie der Musik hinaus

Man muß die Stille tanzen. Und die Violinen. 
Auch wenn keine da sind.

(Gerardo Portalea)

Marie warf ihren Zopf über die rechte Schulter. Ein Traktor fuhr krachend an ihr vorbei, Augen funkelten durch die verschmutzte Fensterscheibe aus drei Meter Höhe. Sie war gerade dabei, ihren Hengst zu bürsten, sein schwarzbraunes Fell, bis es glänzte, und strich mit der weichen Kardätsche langsam über seinen Kopf, unter die Augen, über die Nüstern, und mit der Hand kraulte sie ihn zwischen den Ohren, fühlte den knöchernen Widerstand als obersten Punkt, drückte sanft und beobachtete währenddessen seinen Blick. Der sanfte Riese. Hielt für Sekunden still, und sie schenkte ihm das Verweilen ihrer Handfläche, während die Abgase des Traktors eine dunkle Spur über den von Pferdemist übersäten Pflastersteinen hinterließen. Die häßlichen Laute des Traktors zerschnitten die Luft. Während sie den Hengst in seine Box führte, tanzte er an ihrer Hand, blies durch die Nüstern, trug seinen Kopf mit erhabener Haltung. Für solche Augenblicke lohnte sich für Marie der tägliche Schweißgeruch unter den Achseln, der Staub in ihrem Haar, der Dreck, den sie abends unter ihren Fingernägeln löste.

Am Abend gab es das Sommerfest in der Scheune des Pferdestalls. Der zur Tanzfläche freigeräumte Holzboden speicherte die Hitze des Tages. Marie stellte sich an einen Standventilator in der Ecke und suchte in ihrer Tasche nach einem Tuch, um sich das verschwitzte Gesicht abzuwischen. Tangorhythmen füllten die stickige Luft, ein paar Absätze klackten auf dem Holzboden. In der Scheune gab es ein kleines Fenster, und in der Ecke über dem Fenstersims sammelten sich Spinnweben in mehreren Schichten.

Thomas, mit dem sie vor Jahren ihren ersten Tangokurs gemacht hatte, kam die Treppe hoch. Etwa zehn Jahre älter als sie, war er umgänglich, charmant und zuvorkommend, und seit seiner Scheidung vor ein paar Jahren lebte er in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im östlichen Teil der Stadt. Er hatte sie einmal zum Kaffee zu sich nach Hause eingeladen und ihr Fotos von seinen inzwischen erwachsenen Kindern gezeigt. Auf dem Balkon standen auf der rechten Seite verdorrte Pflanzen, auf der linken blühende Geranien. Das war ihr damals aufgefallen, die uneinheitliche Gestaltung seines Balkons, und sie fragte sich, ob die Kaffeeeinladung nach einer der ersten Tanzstunden spontan war und er nur noch nicht dazu gekommen war, seinen Balkon herzurichten, oder ob er sich von den dürren Pflanzen einfach nicht trennen konnte. Bestimmt war er ein zärtlicher Liebhaber mit endlosen Sehnsüchten, das erkannte sie in seinen Augen, vor deren Tiefe sie zuweilen erschrak.

Mit Thomas auf der Tanzfläche, legte Marie langsam ihre linke Hand auf sein Schulterblatt. Sie spürte seinen warmen Körper, der die Hitze des Tages in ihrer Handfläche sammelte. Das dunkle Blau durch das kleine Fenster schräg hinter ihm erinnerte sie plötzlich an den Nachmittag, als sie ihrem Hengst über den Kopf strich: Der Hof um die Pupillen seiner Augen schimmerte manchmal in demselben unergründlichen Blau.

Für einen Moment schloß sie die Augen, um die Stimme des Sängers eines ihr bis dahin unbekannten Tangostücks in sich aufzunehmen. Bei besonders berührenden Stücken machte sie sich ab und zu die Mühe, später die Liedtexte ausfindig zu machen, um sie mit Hilfe eines Spanischlexikons zu übersetzen. Zumindest ein paar Zeilen, bis ihre Phantasie den Inhalt des Liedtextes weiterspinnen konnte. Meistens handelten die Lieder von Liebe, Tod und Leidenschaft, und sie ließ die Protagonisten an der Liebe zugrunde gehen. Sie starben immer andere Tode, starben als Helden oder manchmal als Mörder. Es gab keine andere Möglichkeit für sie, als die wahre Liebe mit dem Tod zu beenden.

Ein Liedtext jedoch inspirierte sie zu einem Gedicht in der Jetztzeit. Sie ließ den Protagonisten am Leben, verwandelte ihn in einen Baum. Immer wenn sie an diesen Baum dachte, bewegten sich ihre Füße fast wie von selbst und als würden sie kaum den Boden berühren, doch sie empfand die Tanzfläche bei jedem Takt als Anlaufstelle ihrer eigenen Kraft, als Rotationsquelle geistigen Vermögens und Verwandlungsorgan unausgesprochener Worte zugleich.