Handbuch Ambulante Einzelbetreuung - Ute Reichmann - E-Book

Handbuch Ambulante Einzelbetreuung E-Book

Ute Reichmann

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Beschreibung

Das Handbuch präsentiert im Arbeitsbereich der einzelfallbezogenen Jugendhilfeangebote erstmalig eine umfassende arbeitsfeldspezifische und methodische Information für Betreuer/ innen, Koordinations- und Leitungskräfte, Berufsum- und einsteiger/ innen und Studierende Sozialer Arbeit. Es behandelt die Geschichte, den gesetzlichen Hintergrund und die gegenwärtige Situation und bietet in einem ausführlichen Methodenteil authentische Fallbeispiele, konkrete Anregungen für die Anwendung sowie Arbeitshilfen und Handreichungen für den praktischen Gebrauch.

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[1]

[2]Ute Reichmann

Handbuch Ambulante Einzelbetreuung

[3]Ute Reichmann

HandbuchAmbulante Einzelbetreuung

Methoden und Organisationeinzelfallbezogener Jugendhilfe

2., überarbeitete Auflage

Verlag Barbara Budrich

Opladen • Berlin • Toronto 2017

[4]Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

© 2017 Verlag Barbara Budrich, Opladen, Berlin & Toronto

www.budrich-verlag.de

ISBN

978-3-8474-2059-0 (Paperback)

eISBN

978-3-8474-1073-7 (eBook)

eISBN

978-3-8474-1169-7 (ePUB)

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Satz: Judith Henning, Hamburg – www.buchfinken.com

Umschlaggestaltung: Walburga Fichtner, Köln

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim – www.brocom.de

[5]Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur 2. Auflage

Einleitung

Geschichte der ambulanten Einzelbetreuung

Mary Richmonds Konzept sozialer Fallarbeit

Vom Reichsjugendwohlfahrtsgesetz bis zur Nachkriegszeit

Die Schutzaufsicht

Jugendhilfe in der sowjetisch besetzten Zone und DDR

Vom Jugendwohlfahrtsgesetz bis zum Kinder- und Jugendhilfegesetz

Erziehungsbeistandschaft und Betreuungsweisung

Die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung

Die Ambulante Einzelbetreuung

Datenbasis und statistische Quellen

Wen erreicht die Hilfe?

Ambulante Einzelbetreuung – Stiefkind der Jugendhilfe

Merkmale des Angebots

Persönliche Eigenschaften, Haltungen und Kompetenzen, die Einzelbetreuerinnen und Einzelbetreuer brauchen

Partner und Akteur: der junge Mensch

Hilfe am Limit

Handlungsorientierungen

Case Work oder Case Management?

Alltags-, Lebenswelt- und Adressatenorientierung

Förderung von Autonomie oder intermediärer Auftrag?

Partizipation und Inklusion

[6]Praxis gestalten

Individuelle Arbeitsweisen

Reflexion, Kommunikation und gemeinsames Handeln

Phasenmodell des Hilfeverlaufs

Gestaltung des Falleingangs und Hilfeentscheidung

Balance von Nähe und Distanz in der Kennenlernphase

Sozialisationsaufgaben, Beziehungsarbeit und Zielorientierung in der Arbeitsphase

Exkurs: Wie können Abbrüche vermieden werden?

Die Beendigung der Maßnahme: Ablösephase und Nachbetreuung

Der kleine Methodenkoffer

Empathie und Technik

Klientzentrierte Gesprächsführung nach Carl Rogers und gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg

Niederlagenlose Konfliktlösung nach Thomas Gordon

Krisenintervention und Handeln in gefährlichen Situationen nach Everstine & Everstine

Haim Omers Konzept elterlicher Präsenz

Biografiearbeit und narrative Gesprächsführung

Ratschläge geben nach Dominik Petko

Grenzsituationen der Jugendhilfe: Kindeswohlgefährdung

Der „Fall Lydia“

Gesetzliche Grundlagen zum Kinderschutz

Bei Kindeswohlgefährdung intervenieren

Die Gefährdungseinschätzung

Jenseits der Parteilichkeit: Täterarbeit mit jungen Menschen

Einige Vorbemerkungen zum Thema Gewalt

Biografische Ursachen von Gewalt

Interventionsmöglichkeiten bei Gewalt

Waffenbesitz und politische oder religiöse Radikalisierung

Reflektierende Gespräche

Sozialpädagogisches Handeln in akuten Gewaltsituationen

Gewalttäterinnen

Sexuelle Übergriffe

[7]Problemkonstellationen und Interventionen

Unterschiedlichkeit der Fälle

Alltagsstrukturprobleme

Schulvermeidendes Verhalten

Erziehungsprobleme

Konflikte und Gewalt in der Familie

Adoleszenz- und Autonomiekonflikte

Aufmerksamkeitsdefizit- (ADS) bzw. Hyperaktivitätssyndrom (HKS)

Probleme mit Mediennutzung

Verhaltensauffälligkeiten als Folgen psychosozialer Traumata

Wechselnde Lebensorte und Obdachlosigkeit

Fallreflexion

Reflektierte Praxis

Systematisierung von Informationen

Blick auf Ressourcen

Entwicklung von Interventionsstrategien

Kollegiale Beratung, Teamarbeit und Supervision

Moderationsmethoden im Team und bei der kollegialen Beratung

Dokumentation und Datenschutz

Funktionen der Dokumentation

Fallnotizen und Kontaktdokumentation

Visualisierung in der Fallanalyse

Entwicklungsberichte

Datenschutz

Organisation der Hilfe

Strukturelle Qualität in der ambulanten Einzelbetreuung

Hilfeplanung

Koordination, Hintergrunddienste und Qualitätssicherung

Kombinations- und Gruppenangebote

Ausblick

Literatur

Liste der Tabellen und Grafiken

[8][9]Vorwort zur 2. Auflage

In den Text dieses Handbuchs zur Ambulanten Einzelbetreuung in der Jugendhilfe, das hiermit in die zweite Auflage geht, sind vielfältige Informationen und praktische Erfahrungen eingegangen. Dieses Handbuch verdankt neben den Einzelbetreuerinnen und Einzelbetreuern, deren Einsatz ich über viele Jahre hinweg begleitete, und den vielen Autorinnen und Autoren, deren Themen und Ansätze einbezogen wurden, vor allem Maja Heiner und ihren Anregungen unschätzbar viel.

In den Jahren seit Erscheinen der Erstauflage sind die Herausforderungen für die Soziale Arbeit in Mitteleuropa umfassender und anspruchsvoller geworden. Gleichzeitig sind die Beobachtungen, die zur Erstauflage dieses Handbuchs führten, immer noch aktuell: Obwohl die ambulante Einzelbetreuung junger Menschen in Form der Erziehungsbeistandschaft eine der ältesten Jugendhilfemaßnahmen darstellt, ist sie methodisch und professionell immer noch unterbestimmt. Die Notwendigkeit dieses Handbuchs hat also weiterhin Bestand. Das gilt umso mehr, als inzwischen eine weitere Zielgruppe hinzu gekommen ist: Migrantinnen und Migranten, die in den Jahren 2014 bis 2016 nach Deutschland gekommen sind, und von denen ein relevanter Anteil bei der Integration in die hiesige Zielgesellschaft durch ambulante Hilfen begleitet wird. Bei der Ausrichtung der Arbeit mit geflüchteten jungen Menschen sind die methodischen Hinweise in diesem Buch grundsätzlich bezogen auf die individuellen Problemlagen und Hintergründe anwendbar. Ich verweise zur Ergänzung auf spezialisierte Publikationen, insbesondere zur interkulturellen Pädagogik und zu den sich dynamisch verändernden rechtlichen Grundlagen. Die statistischen Angaben im Text wurden aktualisiert. In der Hoffnung, dass die Standards ambulanter Sozialer Arbeit mit Jugendlichen sich inzwischen professionalisiert haben, so dass prekäre Selbstständigkeit kaum noch vorkommt, wurde ein Kapitel zur Selbstständigkeit gestrichen. Ein Kapitel zu Gruppenmaßnahmen wurde ergänzt.

Ute Reichmann, Göttingen, 21.2.2017

[10][11]Einleitung

Meine Annäherung an die ambulante Einzelbetreuung mit jungen Menschen in der Jugendhilfe erfolgte als Sprung ins kalte Wasser: 1992 führte ich im Auftrag des Jugendamtes als Honorarkraft meine erste Erziehungsbeistandschaft mit einem zehnjährigen Jungen durch, dem ältesten Sohn einer vielköpfigen und – wie man heute sagen würde – bildungsfernen Familie. Dass der Junge und seine Familie Unterstützung brauchten, war leicht zu erkennen: Finanzielle Schwierigkeiten, Streit und Erziehungsprobleme prägten den familiären Alltag. Die Kinder wurden in Kindergarten und Schule von den anderen Kindern abgelehnt. Sie hatten Schwierigkeiten, die dortigen Bildungsansprüche zu erfüllen. Wie vermittels der Erziehungsbeistandschaft eine Verbesserung erreicht werden könnte, musste ich im Verlauf der Hilfemaßnahme selbst herausfinden. Weder gab es damals einen unterstützenden Hintergrunddienst des Jugendamtes, noch konnte ich auf Methodenliteratur für diesen speziellen Arbeitsbereich zurückgreifen.

Auf diese erste Erziehungsbeistandschaft, die für mich als unerfahrene Betreuerin wie für die von mir beratene und begleitete Familie nicht immer leicht war, folgten viele weitere Jugendhilfemaßnahmen. Die Jugendhilfe entwickelte sich weiter, ich lernte dazu: In den Jahren bis zur Jahrtausendwende etablierte sich das Hilfeplanverfahren. Bei den öffentlichen und freien Trägern verbesserten sich langsam die Rahmenbedingungen für ambulante Jugendhilfe. Der Schutzauftrag wurde gesetzlich konkretisiert und Qualität in der Jugendhilfe genauer definiert. Von der operativen Ebene wechselte ich in die Position einer Koordinatorin für ambulante Einzelbetreuung und Jugendhilfeplanerin. Auf diese Weise konnte ich sowohl bei der konkreten Fallarbeit beraten als auch Standards und Konzepte ausarbeiten. Doch auch in der Koordinierungs-, Leitungs- und Planungsrolle war die Arbeit dadurch geprägt, dass keine tätigkeitsbezogene, aktuelle Fachliteratur zur Verfügung stand. Bei der Umsetzung von Qualitätsstandards gab es kaum Vergleichsmöglichkeiten.

Bei der ambulanten Einzelbetreuung – das sind Erziehungsbeistandschaften, Betreuungshilfen auf gerichtliche Weisung und intensive sozialpädagogische Einzelbetreuungen – handelt es sich um ein Standardangebot der Jugendämter nach § 30 und § 35 SGB VIII, das entweder durch diese selbst oder durch freie Träger der Jugendhilfe durchgeführt wird. Dieses Tätigkeitsfeld dient häufig zum Einstieg in die Soziale Arbeit: Sei es schon während oder nach Beendigung eines Studiums der Sozialarbeit, sei es in Form eines Wechsels vor dem Hintergrund einer vorausgehenden anderen Ausbildung oder Berufsausübung.

Die Tätigkeit erfordert Selbstständigkeit, Verantwortung und methodische Flexibilität. Nicht immer sind die Rahmenbedingungen und die persönlichen Voraussetzungen den Anforderungen der Hilfeart angemessen. So ist die Unsicherheit von unerfahrenen Einzelbetreuerinnen und Einzelbetreuern groß und ihr Informationsbedarf vielfältig. Sie haben viele Fragen, zum konkreten Handeln im Einzelfall, zu den örtlichen Rahmenbedingungen und dem eigenen, manchmal schwierigen und bedrohten ökonomischen[12] Status. Doch auch für langjährig Tätige gibt es immer wieder Klärungsbedarf. Teamgespräche und Supervision sind häufig nicht genügend spezialisiert, um wirksame methodische Unterstützung zu leisten. Nicht zuletzt stehen Leitungskräfte und Träger vor der Herausforderung, einen in starkem Maße selbstorganisierten und eigenverantwortlichen Arbeitsbereich effektiv so zu gestalten, dass der Schutz der betreuten Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen und die Umsetzung qualitativ hochwertiger und wirksamer Hilfen garantiert sind.

Im vorliegenden „Handbuch ambulante Einzelbetreuung“ sind wesentliche Informationen zusammengeführt, die man in der ambulanten einzelfallbezogenen Jugendhilfe braucht. Es bietet Praktikerinnen und Praktikern – Betreuungskräften wie Leitungspersonen – und Lehrenden wie Studierenden der Sozialen Arbeit die Möglichkeit, sich über die Rahmenbedingungen und methodischen Möglichkeiten der ambulanten Erziehungshilfen, die direkt beim jungen Menschen ansetzen, eingehend zu informieren. Gerade in der Jugendhilfe ist die Fachliteratur teilweise zu unspezifisch, die Ansätze und Handlungsvorschläge sind nicht ausreichend auf die Hilfearten zugeschnitten und beziehen die Bedingungen des alltäglichen Berufshandelns nur ungenügend ein. Kurzfristig oder langfristig angelegte Maßnahmen, beziehungsorientierte oder zielbezogene Hilfen, Jugendhilfeangebote im strukturierten Setting – wie Tagesgruppen und stationäre Einrichtungen – oder im ambulanten, alltagsnahen Setting erfordern sehr unterschiedliche Herangehensweisen und setzen den jeweiligen Fachkräften unterschiedliche Vorgaben und Grenzen. Das Studium der Sozialen Arbeit bereitet nicht überall ausreichend auf die Arbeit in einzelnen Tätigkeitsfeldern vor. Für Berufsumsteigerinnen und -umsteiger gilt, dass sie sich an keiner zentralen Stelle eingehend über die Hilfeart ambulante Einzelbetreuung – Erziehungsbeistandschaft und Betreuungshelfer – informieren und vorbereiten können.

Die Auswahl und Anordnung der Themen des Handbuchs erfolgte nach praktischen Gesichtspunkten. Der Band richtet sich an Leitungs- und Betreuungskräfte sowie an Studierende und Lehrende der Sozialen Arbeit mit Interesse an den spezifischen Methoden und Rahmenbedingungen der ambulanten Jugendhilfe.

Nach einem historischen Kapitel, in dem die Entwicklung der ambulanten Einzelbetreuung auf der Basis von Mary Richmonds Konzept der Case Work dargestellt wird, erfolgt ein Überblick über den aktuellen empirischen Wissensstand und den Status quo der Hilfeart. Anschließend werden die wesentlichen Spezialformen der Hilfe, die sich in Folge des Kinder- und Jugendhilfegesetzes entwickelten, vorgestellt. In den Kapiteln „Handlungsorientierungen“ und „Praxis gestalten“ werden theoretische Hintergründe, Diskussionslinien und Kontroversen mit ihren Folgen für die ambulante Einzelbetreuung dargestellt und diskutiert. Die darauf folgenden Kapitel „Phasenmodell des Hilfeverlaufs“ und „Der kleine Methodenkoffer“ liefern praktische Vorschläge zur Umsetzung. Daran schließen zwei Kapitel an, die die Begegnung mit Gewalt in der Jugendhilfe in den Fokus stellen: „Grenzsituationen der Jugendhilfe: Kindeswohlgefährdung“ und „Jenseits der Parteilichkeit: Täterarbeit mit jungen Menschen“. Das darauf folgende Kapitel zeigt auf typische Problemkonstellationen und passende Interventionsstrategien. Der Band schließt ab mit drei Kapiteln, die mit detaillierten Vorschlägen auf Möglichkeiten der Fallreflexion, auf Dokumentation und Datenschutz und die Organisation der Hilfe eingehen.

Das Handbuch verbindet jeweils theoretische Ansätze mit konkreten Handlungsvorschlägen, bietet eine Vielzahl von in der Praxis erprobten Instrumenten, Handreichungen, Formularen und Checklisten und liefert methodische Empfehlungen wie auch Hinweise zur Gestaltung der Rahmenbedingungen. Auch die Grenzen der Hilfeart werden[13] dargestellt. Anhand authentischer Fälle werden Reflexions- und Handlungsmöglichkeiten diskutiert und beispielhaft vorgeführt. Das Handbuch verfolgt einen individualisierenden Ansatz, den man nach Wahl als adressatenorientiert, Diversity-, inklusiven oder als Capability-Ansatz1 bezeichnen könnte. Unabhängig von der jeweiligen, der Mode unterworfenen Bezeichnung orientiert er sich an den individuellen Voraussetzungen, Fähigkeiten, Interessen und Perspektiven der Adressatinnen und Adressaten. Dass Minderjährige einen anderen Rechtsstatus haben als Erwachsene – der sich je nach Alter und Entwicklungsstand verändert – bestimmt notwendig die Rahmenbedingungen des professionellen Handelns in der ambulanten Einzelbetreuung. Da die Partizipation der jungen Menschen in der Jugendhilfe und im Hilfeplanverfahren leider immer noch nicht mit ausreichender Ernsthaftigkeit umgesetzt wird (vgl. Pluto 2005), ist die Verbesserung der Partizipation ein wichtiges Anliegen der vorgeschlagenen methodischen Hinweise.

Verwendete Abkürzungen:

AIB

Ambulante Intensive Begleitung

ASD

Allgemeiner Sozialdienst

BKiSchG

Bundeskinderschutzgesetz

BW

Betreutes Wohnen

ISE

Intensive Sozialpädagogische Einzelbetreuung

JWG

Jugendwohlfahrtsgesetz

KICK

Kinder- und Jugendhilfeerweiterungsgesetz

KJHG

Kinder- und Jugendhilfegesetz (Sozialgesetzbuch VIII)

RJWG

Reichsjugendwohlfahrtsgesetz

SGB

Sozialgesetzbuch

1 Zum adressatenorientierten Ansatz s. Kap. „Handlungsorientierungen“. Der Diversity-Ansatz geht davon aus, dass Menschen unterschiedliche Voraussetzungen haben, an denen man sich in der Weiterentwicklung ihrer Fähigkeiten orientieren sollte. Der inklusive Ansatz sieht die gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen als Ziel, insbesondere die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen. Der Capability-Ansatz, der auf Amartya Sen und Martha Nussbaum zurück geht, strebt ein auf individuelle Autonomie und Befähigung ausgerichtetes sozialprofessionelles, politisches und ökonomisches Handeln an.

[14][15]Geschichte der ambulanten Einzelbetreuung

Mary Richmonds Konzept sozialer Fallarbeit

1922, in dem Jahr, in dem im Deutschen Reich mit dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz die Grundlage zur Entstehung der Jugendämter gelegt wurde, veröffentlichte Mary Ellen Richmond ein Buch mit dem Titel: „What is social case work?“.2 Richmond war seit 1893 Generalsekretärin der Wohlfahrtsorganisation „Charity Organisation Society“ (COS) in Baltimore (USA) gewesen und seit 1911 Abteilungsleiterin für Wohlfahrtsorganisationen der Russell Sage Foundation in New York (vgl. auch zum Folgenden Braches-Chyrek 2013). Die COS, die sowohl Hauptamtliche als auch Laienhelferinnen beschäftigte, hatte unter Richmonds Leitung Qualifizierungs- und Professionalisierungskonzepte für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter entwickelt, auf die sich viele später entwickelte Leitprinzipien der Sozialarbeit wie „Hilfe zur Selbsthilfe“, Alltags- und Lebensweltorientierung, Beziehungs- und Adressatenorientierung usw. zurückführen lassen (Müller 20064: 23, Neuffer, 1990: 24ff.). In ihrem Buch stellte sie Fallgeschichten vor, die ihr in der Arbeit der COS begegnet waren und die beispielhaft dafür sein sollten, was Mary Richmond unter sozialer Fallarbeit – „Social Case Work“ – verstand (vgl. Riemann, Schütze 2012). Darunter findet sich auch die Geschichte der jungen, polnischstämmigen Maria Bielowski:

„Maria Bielowski went to work in a factory, when she was only fifteen. After many disagreements with her stepmother about the share of their wages to be turned over to the family and also about her habit of staying out late at night, she left home and began to live in lodging houses and cheap hotels. From one of these the girl was brought into court for stealing a few dollars from a fellow- boarder. To those who saw her just after her arrest she was a very unprepossessing sight. Her features were dark and heavy, her clothing ragged, dirty and badly stained; her head was crowned with three strands of false hair, later found to be infested with vermin. […] From two places of employment her record was that of an irregular worker. One hospital asked to examine her reported that she had good intellectual capacity but a psychopathic personality. As regards her family, the Bielowskis had come from Poland five years earlier – the father, his second wife, and four children. But the father had died three years after his arrival, and the stepmother, who could speak not a dozen English words, appeared, although a good woman, to have lost all control over the children. The two grown sons were away from home; the younger boy was in a reformatory.“3

[16]Die COS bot Maria ein Unterstützungsangebot, das heutigen ambulanten Jugendhilfemaßnahmen ähnelt. Eine Alternative für sie wäre die Besserungsanstalt gewesen, in der ihr jüngerer Bruder untergebracht war. Doch weil Maria vor ihrem Auszug Zuhause keinerlei Auffälligkeiten gezeigt hatte, sie nach den wenigen Jahren in Amerika schon gut Englisch sprach und in der Schule gute Leistungen gezeigt hatte, übernahm die COS die Betreuung, weil, wie Mary Richmond schreibt, der Versuch einer persönlichen Betreuung „unter Bedingungen, die ein Maximum an individualisierter Fürsorge bieten, guten Erfolg verspricht.“4

Maria Bielowski wurde eine professionelle Betreuerin an die Seite gestellt, die sie alle zwei Wochen besuchte und ihr half, ihre Lebensbedingungen schrittweise zu verbessern. Die Betreuung dauerte insgesamt vier Jahre. Marias Neigung zu unrealistischen Zukunftsplänen und ihre Bereitschaft, die Schulausbildung aufgrund plötzlicher und aussichtsloser Ideen in Frage zu stellen, gefährdeten dabei mehr als einmal den Erfolg der Hilfe. Mary Richmond beschreibt die feinfühligen und originellen pädagogischen Strategien der Betreuerin, wodurch sie die Störungen, Rückfälle und Schwierigkeiten ihrer Adressatin in Chancen zur persönlichen Weiterentwicklung verwandelte:

„One day Maria received a circular from a distant city offering, through a course of lessons by mail, to give her a perfect speaking and singing voice. The fee was $ 50. She applied at once to her guardian for the loan of the money, and was told that the next time they were both in the city they could consult some one whose knowledge of music would make him a good judge of the value of the offer. A teacher of a good music school was asked to test her voice and give an opinion of the plan. When Maria heard the small, wavering sounds that she made in trying to sing to the master, even she was convinced that the correspondence course was not worth considering.“5

Doch die Betreuerin sieht ihre Aufgabe nicht darin, ihre Adressatin zu desillusionieren. Sie hilft ihr vielmehr, eine realistische und lebenspraktisch brauchbare Vorstellung ihrer eigenen Stärken und Schwächen auszubilden. So wird an anderer Stelle geschildert,[17] dass sie einem Aufsatz ihrer Adressatin zur Veröffentlichung verhilft (Richmond 1922: 40).

Wie es Marias Betreuerin gelang, alltägliche Herausforderungen für ihre Adressatin in Lernerfahrungen zu verwandeln, war aus Sicht Mary Richmonds der entscheidende Wirkfaktor des Hilfeerfolgs. Dabei war die Betreuerin grundsätzlich für alle Lebensbereiche zuständig: Sie achtete auf Marias körperliches Wohlbefinden und ihre Gesundheit. Sie half ihr, Hygiene und Selbstsorge zu lernen und aufrecht zu erhalten. Sie führte sie zu einem sorgsamen, ehrlichen und vorausschauenden Umgang mit Geld und Eigentum. Sie unterstützte sie bei ihrem schulischen Werdegang, bei der Suche nach Unterkünften und Ausbildungsstellen und verhalf ihr mithilfe ihrer Hintergrundorganisation zu Bildungserfolg und wirtschaftlicher Autonomie. Dank all dieser Unterstützungsaktivitäten gelang es Maria Bielowski schließlich, selbstständig die Lebensanforderungen der amerikanischen Gesellschaft zu bewältigen – trotz ungünstiger biografischer Voraussetzungen, trotz Migrationshintergrund, trotz problematischer Lebenserfahrungen und Delinquenz.

Was Mary Richmond an diesem Fall beschreibt, eine durch eine professionelle Sozialarbeiterin niedrigschwellig, alltagsnah, über eine längere Zeit und advokatorisch durchgeführte ambulante Betreuung eines jungen Menschen, dessen Lebensweg durch familiäre Probleme, Desintegration und Delinquenz gefährdet ist, wurde als Konzept in einer Zeit wirtschaftlicher Rezession in Amerika entwickelt.

Die COS war von den Ideen des schottischen Sozial- und Kirchenreformers Thomas Chalmers beeinflusst, der in Kilmany und Glasgow Anfang des 19. Jahrhunderts kirchliche Sozialarbeit mit einem aufsuchenden und gewissermaßen ressourcen- und netzwerkorientierten Ansatz erfolgreich durchgeführt hatte (Müller 20 064: 28, Neuffer 1990: 23), und durch das deutsche „Elberfelder Modell“, ein ab 1853 in Elberfeld praktiziertes Konzept ehrenamtlicher, individueller, dezentraler und zeitlich begrenzter Armenhilfe und Fürsorgeerziehung (Müller 20 064: 19f., Braches-Chyrek 2013: 171f.). Die COS übernahm die Aufteilung nach Bezirken bzw. Distrikten, eine über Bedürftigkeit entscheidende Diagnostik zu Fallbeginn und das Verfahren der Hausbesuche durch Familienbesucherinnen („friendly visitors“) (vgl. Richmond 1899, 1917, 1922).

Im Amerika des beginnenden 20. Jahrhunderts waren solche unaufwändigen, kostengünstigen Modelle ideologisch anschlussfähig und boten eher eine Lösung für die sozialen Schwierigkeiten in den nordamerikanischen Industriestädten als die klassischen fürsorgerischen oder sanktionierenden Angebote der Sozialpädagogik und Armenhilfe. Die COS grenzte sich gegenüber kirchlichen Wohlfahrtsorganisationen ab und verweigerte die reine Vergabe von Almosen strikt. Richmond forderte professionelle, am Einzelfall ausgerichtete sozialpädagogische Intervention statt „relief only“6 und legte damit den Grundstein für spätere ambulante Hilfeangebote für junge Menschen und Erwachsene. Sie entwarf partnerschaftliche Maßnahmen, die direkt beim realen Lebenskontext und den eigenen Lebenszielen der Adressatinnen und Adressaten ansetzten, individuelle Möglichkeiten ausloteten und diese in der dialogischen Auseinandersetzung prozessual und pragmatisch bei der Umsetzung begleiteten. Fallarbeit musste sich aus Richmonds Sicht dynamisch zwischen den Polen Selbsthilfe und professionelle Unterstützung ausrichten und zwischen der Verwirklichung individueller Lebensziele und gesellschaftlicher Einbettung vermitteln. Die angewendete Methodik musste entsprechend flexibel und umfangreich sein und umfasste die in ihren Fallgeschichten [18] im Einzelnen nachweisbaren Handlungsmodi Beobachten, Zeigen, dialogisches Reflektieren, Begleiten und aktiv Unterstützen, mit denen spezifisch auf die Erfordernisse der Personen und ihrer Lebensumwelten reagiert werden konnte. Diese methodische Vielfalt ist typisch für Richmonds Konzept der Fallarbeit. Sie sah das Ziel ihrer Arbeit in der persönlichen Weiterentwicklung der Personen, die sie unterstützte, und stand damit in der Tradition eines aufgeklärten Bildungsbürgertums des späten 18. und des 19. Jahrhunderts. Ihr Konzept der Fallarbeit, das in seiner Tragweite und seinem Anregungspotenzial in Deutschland bis heute unterschätzt und selten direkt und genau rezipiert wurde, bietet viele Anschlüsse für die gegenwärtige Diskussion um eine Integration der Ziele und Angebote der Bereiche Sozialisation, Erziehung und Bildung.

Vom Reichsjugendwohlfahrtsgesetz bis zur Nachkriegszeit7

In Deutschland wurden im 19. Jahrhundert wesentliche Meilensteine zum späteren deutschen Sozialstaat gesetzt. So bildeten sich große Wohlfahrtsverbände aus kirchlichen und gewerkschaftlichen Einrichtungen: 1848 war die „Innere Mission“ der evangelischen Kirche gegründet worden, 1897 der Caritasverband durch die katholische Kirche. 1868 gründeten sich der deutsche Gewerkschaftsbund wie auch die Arbeiterwohlfahrt (AWO) als großer Verband der Arbeiterbewegung. Charakteristisch für die deutsche Situation war das bismarcksche System der Sozialgesetzgebung und der Sozialversicherungen, die 1878–1889 formuliert und verabschiedet wurden. Auf diese Weise wurden nebeneinander starke verbandliche Wohlfahrtsstrukturen und ein weit entwickeltes, gesetzlich verankertes Sozialversicherungssystem geschaffen. Bis 1900 hatte sich die Jugendhilfe von der reinen Waisenpflege weiterentwickelt und auf straffällig gewordene und „verwahrloste“ Jugendliche und uneheliche Kinder ausgedehnt. Jugendhilfe und Armenhilfe differenzierten sich stärker aus und wurden zunehmend als unabhängige und unterschiedliche Aufgaben wahrgenommen. Gegen 1910 entstanden Vorgängerinstitutionen der ersten Jugendämter wie die Mainzer Zentrale und die Hamburgische Behörde für öffentliche Jugendfürsorge.

In der Weimarer Republik wurde das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) als erstes deutsches Jugendhilfegesetz 1922 verabschiedet. Es trat am 1.4.1924 in Kraft. Auf seiner Basis konnten flächendeckend in den Kommunen Jugendämter als staatliche Institutionen zur Unterstützung und Überwachung familiärer Sozialisation und des Aufwachsens junger Menschen eingerichtet werden. Damit folgte man den Forderungen der Sozialreformer nach einer Vereinheitlichung und Bündelung aller Einrichtungen und Maßnahmen der Jugendfürsorge.

Das RJWG bezog sich auf verschiedene Aufgaben: die Amtsvormundschaft für uneheliche Kinder, die Durchführung der Fürsorgeerziehung, die Subventionierung und Organisation der Jugendpflege und der Jugendgerichtshilfe und die Koordinierung der staatlichen und privaten Leistungen. In § 1 RJWG wurde auch das Recht eines jeden deutschen Kindes „auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit“[19]aufgenommen. Der Grundsatz der Subsidiarität, der bis in das heutige Kinder- und Jugendhilfegesetz Bestand hat, wurde kodifiziert. Er legt eine Nachrangigkeit der staatlichen Hilfen und Eingriffe gegenüber der familiären Erziehung und der nichtstaatlichen, d.h. verbandlichen oder freien Unterstützungsangebote fest. Dies bedeutet, dass das Jugendamt nur bei nachweislichem und schwerwiegendem Versagen der Eltern in familiäre Erziehung eingreifen darf und dass es nur dann selbst Hilfeangebote durchführen darf, wenn es keine freien oder verbandlichen Träger gibt, die diese Hilfen durchführen könnten.

Beide Aspekte von Subsidiarität werden immer wieder in Frage gestellt. So kollidiert auch heute bei Kindeswohlgefährdung und mangelnder Förderung von Kindern durch ihre eigenen Eltern der Wunsch nach mehr staatlicher Kontrolle und besseren Eingriffsmöglichkeiten mit dem verfassungsmäßigen Recht von Eltern, die Erziehung ihrer Kinder selbstbestimmt durchführen zu können. Die Subsidiarität der staatlichen Hilfen gegenüber den Angeboten der freien Träger wird ab und an als Interessenschutz für die starken Wohlfahrtsverbände kritisiert.

Nach Einführung des RJWG begann eine vorsichtige Ausdifferenzierung der Fürsorgeangebote nach Klientel und Problemintensität und ab 1928 nahmen niedrigschwellige Angebote wie die Schutzaufsicht an Anzahl zu (s.u.).

Parallel zum RJWG wurde das Reichsjugendgerichtsgesetz (RJGG) verabschiedet, das die bis heute grundsätzlich gültige Differenzierung zwischen Erwachsenen- und Jugendstrafrecht vornahm. Damit waren für straffällige Jugendliche gleichzeitig die Jugendämter (Jugendgerichtshilfe) und die Strafgerichte zuständig mit ihren jeweiligen Gesetzen, die unterschiedlichen Prinzipien folgten. Auch diese Dichotomie von sanktionsorientierter Strafjustiz und unterstützungsorientierter Jugendhilfe ist heute noch im Kinder- und Jugendhilfegesetz und Jugendgerichtsgesetz repräsentiert.

Durch Wirtschaftskrise und Inflation wurden die öffentlichen Ausgaben eingeschränkt und dies führte zu einer verzögerten Umsetzung des RJWG. Auch die organisatorische Abgrenzung von Jugendfürsorge und allgemeiner Wohlfahrt verlief schleppend. 1928 hatten von den 1251 bis dahin gegründeten Jugendämtern nur ein Drittel ihre Selbstständigkeit gegenüber den allgemeinen Wohlfahrtsämtern erreicht.

1931 gründete sich die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) und entwickelte sich nach 1933 zu einer der größten Massenorganisationen der Nationalsozialisten. Sie erhielt die Leitfunktion über die gesamte nichtstaatliche Wohlfahrtspflege. Die Jugendämter wurden durch Besetzung mit Funktionären der NS-Jugendverbände gleich geschaltet und für die nationalsozialistische Ideologie funktionalisiert. Diese NS-Organisationen übernahmen die sozialpädagogischen Aufgaben der Jugendämter. Junge Menschen integrierte man möglichst weitgehend in Hitlerjugend und Bund deutscher Mädels. Die neu geschaffenen Gesundheitsämter führten ab 1934 die Aufgaben der traditionellen Familienfürsorge und der Mütter- und Säuglingsberatung aus und unterstellten sie einer rassistischen Ausrichtung. Alle potenziellen Adressatinnen und Adressaten der Fürsorge, die sich in diese vereinheitlichende, totalitäre Linie nicht einordnen ließen und sich nachhaltig widerständig, nicht kontrollierbar und verhaltensauffällig zeigten, wurden ausgesondert, in konzentrationslagerähnlichen Einrichtungen wie dem Jugendschutzlager Moringen (für Jungen) oder dem Jugendschutzlager Uckermarck (für Mädchen) interniert und sogar als „lebensunwert“ ermordet. So wurde 1934 durch das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über das Maßregeln der Sicherung und Besserung“ die Möglichkeit eröffnet, sozial unangepasste Menschen einer „Vernichtung unwerten Lebens“ zu unterziehen (Rätz-Heinisch, Schröer, Wolff 2009: 23).

[20]In den 20er Jahren hatten Alice Salomon, die Gründerin der ersten sozialen Frauenfachschule in Deutschland, und der Fürsorgewissenschaftler Hans Scherpner die amerikanische Tradition der Case Work nach Deutschland gebracht (Müller 20064: 52f., Neuffer 1990: 67ff.). Andere, wie z.B. die jüdische Sozialarbeiterin und Fachschulgründerin Sidonie Wronsky, vertraten eine eher tiefenpsychologisch-therapeutische Ausrichtung der Sozialen Arbeit. Diese Traditionslinien waren durch den Nationalsozialismus in Deutschland zunächst unterbrochen. Doch nach Ende des 2. Weltkriegs führten die Amerikaner ein aufwändiges Austauschprogramm zur Umerziehung der Westdeutschen durch, bei dem auch erzieherische und sozialpädagogische Themen bearbeitet wurden. Auf diese Weise gelangten amerikanische Konzepte sozialpädagogischer Einzelfall- und Gruppenarbeit in der Nachkriegszeit nach Westdeutschland, z.B. durch Dr. Hertha Kraus, Professorin für Sozialforschung am Havenford College und deutsche Exilantin, die 1946 und 1948 als geladene Expertin für Soziale Arbeit Westdeutschland besuchte (Müller 20064: 165ff., Neuffer 1990: 67ff.). Sie veröffentlichte 1950 eine Übersetzung des Sammelbands „Casework in den USA. Theorie und Praxis der Einzelhilfe“. Im gleichen Jahr fand die V. Internationale Konferenz für Soziale Arbeit in Paris statt, zu der auch der Vorsitzende des deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge eingeladen wurde.

In den 50er Jahren etablierte sich Einzelfallhilfe neben Gruppenpädagogik und Gemeinwesenarbeit als wesentliche Methode Sozialer Arbeit und wurde in die sich langsam professionalisierende Ausbildung der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in Fachschulen für Sozialarbeit aufgenommen.

Der „Import“ Einzelfallarbeit war als Methode allerdings nicht unumstritten. So wurde hinterfragt, ob sich die amerikanischen Konzepte auf die deutschen Verhältnisse übertragen ließen. Auch die instrumentelle Missbrauchbarkeit des Beziehungsansatzes in der Einzelfallarbeit wurde kritisiert – eine vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Erfahrungen nachvollziehbare Ansicht (Müller 20064: 171ff.). Später, in den 70er Jahren, wurde der individuelle, auf die Entwicklung der Einzelperson und nicht die gesellschaftlichen Bedingungen gerichtete Ansatz der Einzelfallarbeit verurteilt (Schone, Schrapper 1988: 43, Heiner 2007: 19, Heiner, Meinhold, Staub-Bernasconi 19984: 3 62). Die Heimerziehungsbewegung richtete sich hauptsächlich auf die Abschaffung der Erziehungsheime als Teil des Klassenkampfes (Trede 20053 : 792). Im Gegensatz zur auf kollektive Entwicklungen gerichteten Gruppenarbeit oder zur Gemeinwesenarbeit, die als Stadtteilarbeit in die politische Bewegung integriert werden konnte, erschien die Einzelfallarbeit nicht als akzeptables Konzept einer sich politisch verstehenden Sozialarbeit.

Die Schutzaufsicht8

Der heutigen Erziehungsbeistandschaft und Betreuungsweisung als Hilfen zur Erziehung nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1991 ging die Schutzaufsicht voraus: Ab 1900 bürgerte sich der Ausdruck für Resozialisierungsangebote an delinquente und „verwahrloste“ Jugendliche ein. Diese Maßnahmen verbanden fürsorgerische und pädagogische Aufgaben mit Überwachung und Kontrolle, wogegen die sogenannte „Polizeiaufsicht“ auf reine Kontrollfunktion beschränkt blieb. Ab 1921 wurde eine [21]Aufnahme der Schutzaufsicht in das geplante Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) diskutiert, zum Zeitpunkt der Verabschiedung 1922 aber zunächst nicht umgesetzt. Erst 1923 fand die Maßnahme nachträglich Aufnahme in den Gesetzestext und wurde ab 1924 umgesetzt.

Unter Schutzaufsicht verstand man die Aussetzung einer strafrechtlichen Sanktion gegenüber einem jungen Menschen zugunsten eines ambulanten, auf soziale Integration, Normalisierung und Persönlichkeitsentwicklung ausgerichteten sozialpädagogischen Angebots. Damit ähnelte die Schutzaufsicht heutigen gerichtlichen Auflagen wie der Betreuungsweisung. Es gab schon in der Weimarer Republik die Möglichkeit, solche ambulanten Maßnahmen auch ohne vorausgehende strafrechtliche Verurteilung und ohne gerichtliche Weisung als gänzlich erzieherische oder erziehungsunterstützende Hilfe durchzuführen, denn nach § 60 Abs. III RJWG konnte die Schutzaufsicht auf Antrag der Sorgeberechtigten gewährt werden. So rückte diese Maßnahme in die Nähe der Fürsorgeerziehung und bot eine Alternative zur Unterbringung in einem Fürsorgeheim. Damit gerieten allerdings automatisch nicht nur der betroffene Minderjährige, sondern auch seine beantragenden Eltern und ihre Erziehung potenziell in den Kontroll- und Eingriffsbereich staatlicher Überwachung.

Die Umsetzung der Schutzaufsicht erfolgte über Fürsorgevereine und -verbände und wurde hauptsächlich durch ehrenamtliche Laien durchgeführt. Diese waren berechtigt den Arbeitsverdienst – wenn vorhanden – der Jugendlichen zu kontrollieren, ihnen war Zutritt zur Wohnung zu gewähren und die Sorgeberechtigten waren ihnen gegenüber auskunftspflichtig. Als Betreuer eine Schutzaufsicht durchzuführen beinhaltete die Verpflichtung zur Anzeige von Gefährdungen und Delinquenz beim Vormundschaftsgericht. Da die Schutzaufsicht eine kostengünstige Alternative zur Fürsorgeerziehung bot, nahmen diese Maßnahmen in den 20er Jahren stark zu.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 erfolgte eine völlige Neuorientierung der gesamten Jugendfürsorge und Jugendgerichtsbarkeit. Delinquente und auffällige Jugendliche wurden entweder über die Organisationen der Nationalsozialisten integriert oder, wenn das nicht möglich war, in „polizeilichen Jugendschutzlagern“, die Konzentrationslagern ähnelten, dauerhaft untergebracht (s.o.).

Die Schutzaufsicht blieb 1953 in der ersten Novellierung des Jugendwohlfahrtsgesetzes (JWG) Teil des Gesetzestextes und wurde 1962 durch die Erziehungsbeistandschaft abgelöst.

Jugendhilfe in der sowjetisch besetzten Zone und DDR9

Nach dem zweiten Weltkrieg trat in der sowjetisch besetzten Zone zunächst das RJWG wieder in Kraft und blieb grundsätzlich bis zur Einsetzung des Familiengesetzbuches und der Jugendverordnung 1965/66 gültig. In der DDR dienten Jugendhilfe und Jugendarbeit dem allgemeinen Erziehungsziel einer „Eingliederung in die Gemeinschaft des schaffenden Volkes“. Schon 1946 wurde in enger Anbindung an die „Freie Deutsche Jugend“ (FDJ) die Organisation „Werk der Jugend“ gegründet, die in der Nachkriegszeit als Träger Jugendwohnheime führte. Bald kamen Forderungen nach der Gründung von Jugendwerkhöfen auf, in denen das Ideal einer Arbeitserziehung im [22]Sinne von Makarenkos Kollektiverziehung verwirklicht werden sollte. In diesen Einrichtungen wurden Jugendstrafvollzugmaßnahmen wie auch Jugendhilfemaßnahmen umgesetzt.

Die Jugendhilfe der DDR wurde nach und nach der Volksbildung eingegliedert und verlor als eigenständiger Bereich an Bedeutung. Bereits das erste Jugendgesetz reduzierte 1949 die Aufgaben der Jugendhilfe und überantwortete sie der FDJ. Hierdurch wurden die Wohlfahrtsverbände aus der Jugendhilfe vollständig verdrängt. Die Verordnung über die Mitarbeit der Bevölkerung auf dem Gebiet der Jugendhilfe unterstützte ab 1953 den Ausbau ehrenamtlicher Strukturen durch die Gründung lokaler Jugendausschüsse und die Umsetzung von Jugendhilfe durch befähigte Laien (vgl. Hering, Münchmeier 20052). Mit dem Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem (Bildungsgesetz) wurde 1965 die Einordnung der Jugendhilfe in den Bereich des Ministeriums für Volksbildung vollzogen. Familiengesetzbuch und Jugendverordnung 1965/66 konsolidierten den Vorrang der Familienerziehung vor staatlichen Sozialisationsinstanzen (vgl. Hering, Münchmeier 20052).

In den 60er Jahren ließen sich Unterstützungs- und Sanktionsstrukturen gegen Jugenddelinquenz und -verwahrlosung und politische Sanktionen gegen die zunehmende Orientierung von Jugendlichen an westlichen Subkulturen immer weniger voneinander unterscheiden. So wurde die zwangsweise Unterbringung in Jugendwerkhöfen auch als Sanktionsinstrument für politisch Missliebige genutzt.

Nach dem Fall der Mauer 1989/90 unterschieden sich die Jugendhilfestrukturen in den westlichen und östlichen Bundesländern erheblich. Während im Westen als Folge der Kritik der Heimerziehung Alternativen zu familienersetzenden Maßnahmen gesucht und die familienunterstützenden und -ergänzenden Hilfen ausgebaut wurden, existierten im östlichen Teil Deutschlands weiterhin rigide, rein anpassungsorientierte Formen der Heimerziehung. Die Ausrichtung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes auf wohlfahrtsstaatliche Elternunterstützung zugunsten der Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen hatte im östlichen Teil Deutschlands kein Vorbild. Allerdings führte die Traditionslosigkeit in den östlichen Bundesländern teilweise zu neuen und flexibleren Lösungen, die im Westen aufgrund der vorgegebenen Organisationsstrukturen so selbstverständlich nicht möglich waren.

Vom Jugendwohlfahrtsgesetz bis zum Kinder- und Jugendhilfegesetz

Auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland wurde in der ersten Novelle des Gesetzes für Jugendwohlfahrt (JWG) 1953 das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz ähnlich wie in der sowjetisch besetzten Zone und späteren DDR zunächst praktisch reinstalliert.10 Erst mit der zweiten Novelle 1962 wurde ein ausdifferenziertes Spektrum an Jugendhilfeangeboten angelegt. Der Begriff Fürsorge wurde beibehalten. Das JWG von 1962 unterschied Jugendhilfe mit Anordnungscharakter (Fürsorgeerziehung – FE) von Jugendhilfe als freiwillige Erziehungshilfe (Freiwillige Erziehungshilfe – FEH). Die Erziehungsbeistandschaft löste die Schutzaufsicht ab. Nach § 6 und § 7 JWG hatten [23] hierbei Minderjährige einen eigenen, von den Eltern oder Erziehungsberechtigten unabhängigen Rechtsanspruch auf Jugendhilfe. Für seelisch behinderte junge Menschen waren keine eigenen Rechtsansprüche enthalten und die Hilfen für junge Volljährige waren im Vergleich zum späteren Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) eingeschränkt.

Das Kinder- und Jugendhilfegesetz wurde 1990 verabschiedet und im ehemaligen Staatsgebiet der DDR schon ab 1990 umgesetzt, in den alten Bundesländern erst ab dem 1.1.1991.

Im Unterschied zum JWG bezieht sich das KJHG auf Kinder und Jugendliche, also junge Menschen jeden Alters. Seiner Formulierung und Verabschiedung gingen sehr grundsätzliche juristische, fachliche und ethische Diskussionen voraus, die mit der parallel stattfindenden sogenannten Professionalisierungsdebatte eng verwoben waren. Die Professionalisierungsdebatte wurde um eine eigenständige professionelle Identität Sozialer Arbeit in Abgrenzung zu den klassischen Professionen geführt. Sie thematisierte das Verhältnis zwischen den Adressatinnen und Adressaten und den Fachkräften, die gesellschaftlichen Aufgaben des Berufs, seine wissenschaftliche Fundierung, die professionellen Methoden und den Wahrheits- und Wirkungsbegriff Sozialer Arbeit (vgl. Schone, Schrapper 1988, Urban 2004). Das KJHG sollte die Forderungen an den Sozialstaat nach mehr Demokratie, Partizipation und Autonomie der Individuen manifestieren und gleichzeitig die methodischen Antworten einer sich als eigenständige Profession verstehenden Sozialen Arbeit abbilden. Diese programmatische Haltung wurde über die Jugendhilfe hinaus für andere Arbeitsfelder prägend. Das wird an folgenden Elementen des KJHG deutlich:

■ Ein Rechtsanspruch auf Unterstützung, der die Kontroll- und Eingriffsorientierung des JWG vollständig ablöst: Die im KJHG angebotenen sozialen Dienstleistungen sollen soziale Härten kompensieren und damit staatliche Eingriffe weitgehend verzichtbar machen.

■ Das Wunsch- und Wahlrecht der Adressatinnen und Adressaten bei Jugendhilfeleistungen und die Hilfeplanung als gemeinsame Planungsinstanz von Jugendamt, Leistungsträgern und Adressatinnen und Adressaten: Dem KJHG gelten gemeinsam gefundene und geplante Hilfeleistungen als besonders wirksam und nachhaltig. Dies beinhaltet eine klare Absage an das Wahrheits- und Wirkungsmodell der klassischen Professionen (vor allem der Medizin), die als expertokratisch und bevormundend kritisiert werden (Urban 2005: 27ff.).

■ Die vorrangige Ausrichtung der Jugendhilfeangebote an den Bedarfen der Adressatinnen und Adressaten sowohl auf der Ebene der individuellen Hilfen als auch auf der Ebene der Regionalplanung: Das KJHG bietet eine Liste ausformulierter Angebote. Gleichzeitig wird bei den Jugendämtern und Jugendhilfeträgern eine freie Entwicklung und Kombination neuer Angebote angeregt. Ziel des KJHG ist eine flexiblere Verzahnung der einzelnen Hilfeangebote und eine bessere Ausrichtung an den individuellen Bedarfen (Schone, Schrapper 1988: 39).

■ Eine an Kommunikation und Aushandlung orientierte institutionelle Fachlichkeit: Grundlage des KJHG ist ein diskursiver Wahrheits- und Wirkungsbegriff im Sinne von Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“ (Habermas 1981). Nicht individuelle Expertenurteile bestimmen damit die Güte des professionellen Handelns, sondern die gemeinsame fachliche Erarbeitung von Entscheidungen. Dies gilt für die Fachberatungen in Teams und bei der kollegialen Beratung wie für die[24] anschließende Entscheidung über die richtige Hilfe gemeinsam mit den Adressatinnen und Adressaten im Hilfeplangespräch.

Diese radikale Umorientierung wurde teilweise mit dem Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK), das zum 1.10.2005 verabschiedet wurde, zurückgenommen, teilweise weiter verfolgt.11 So wurden mit dem § 8a des KICK die Ermittlungsbefugnisse des Jugendamts und die Rechte und Pflichten zur Datenerhebung und -weitergabe von freien Trägern bei Kindeswohlgefährdung ausgeweitet. Dies geschah auch als Folge einer Reihe von Kindeswohlgefährdungsfällen mit tödlichem Ausgang in den Vorjahren (vgl. Münder, Mutke, Schone 2000). Gleichzeitig wurden die Verfahren kollegialer Beratung stärker etabliert und genauer beschrieben.

Der im KICK etablierte Kinderschutz wurde mit dem Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG), das nach jahrelangen Diskussionen in den Ausschüssen endlich am 1.1.2012 in Kraft treten konnte, weiter ausgebaut und konkretisiert. Das BKiSchG etabliert sogenannte „Frühe Hilfen“, Beratungs- und Unterstützungsangebote für Schwangere und Mütter und Väter von kleinen Kindern unter Einbeziehung von Familienhebammen. Darüber hinaus schreibt es einen Ausbau der Kooperation aller mit Kindern und Jugendlichen befassten Institutionen im Kinderschutzbereich vor und erleichtert die Weitergabe von Informationen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung. Der öffentliche Jugendhilfeträger wird in seiner Funktion als Qualitätsaufsicht über freie Träger der Jugendhilfe gestärkt. Das BKiSchG bezieht sich auf einen Qualitätsbegriff, der Kinderschutz und Partizipation gleichermaßen beinhaltet. Entsprechend wurde die Beteiligung von Erziehungsberechtigten und jungen Menschen an zahlreichen Stellen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes neu eingefügt.

Im Gegensatz zum JWG bietet das KJHG eine breite Palette an Hilfen zur Erziehung:

■ die Erziehungsberatung nach § 28 SGB VIII12

■ die Soziale Gruppe für Jugendliche nach § 29 SGB VIII,

■ Erziehungsbeistandschaft und Betreuungsweisung nach § 30 SGB VIII (s.u.),

■ die Sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB VIII,

■ die Tagesgruppe nach § 32 SGB VIII,

■ die Pflegefamilie nach § 33 SGB VIII,

■ stationäre Jugendhilfeangebote nach § 34 SGB VIII,

■ die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung nach § 35 SGB VIII (s.u.).

Alle diese Hilfen zur Erziehung wie auch individuell angepasste Konzepte können auch nach § 35a als Eingliederungshilfen für seelische behinderte junge Menschen installiert werden und nach § 41 als Hilfen für junge Erwachsene.

Der Reihung im KJHG entsprach ursprünglich der Gedanke einer zunehmenden Intensivierung der Hilfeangebote. Dementsprechend gilt die Erziehungsberatung nach § 28 als die niedrigschwelligste und die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung nach § 35 als die intensivste Hilfeform.

Alternativ zur Heimerziehung als familienersetzende Maßnahme stehen verschiedene beratende, ambulante und teilstationäre Angebote zur Verfügung, die familienunterstützend und -ergänzend eingesetzt werden können und dazu dienen sollen, Eltern in [25] ihrer Erziehungskompetenz zu stärken und junge Menschen in ihrer Entwicklung zu fördern. Die Hilfearten gelten grundsätzlich als gleichrangig und nach § 27 sind auch individuell zugeschnittene Maßnahmen, die im Katalog des KJHG nicht vorkommen, oder Kombinationen von Hilfen zur Erziehung möglich.

Voraussetzung für die Durchführung eines Hilfeangebots nach dem KJHG ist das Vorliegen eines erzieherischen Bedarfs, der Nachweis der Geeignetheit und Notwendigkeit der Hilfe und ein Jugendhilfeantrag durch die Erziehungsberechtigten. Der Rechtsanspruch auf Jugendhilfe besteht also nur für Erziehungsberechtigte und nicht für Minderjährige. Erziehungsberechtigt sind in der Regel die Eltern (Urban 2004: 30) Jedoch besitzen Minderjährige das unabhängige Recht, sich beim Jugendamt beraten und in Obhut nehmen zu lassen (nach § 42 SGB VIII). Soll Jugendhilfe gegen den Willen der Eltern installiert werden, so bedarf es der Ersetzung des elterlichen Antragsrechts über das Familiengericht. Dies wird bei ambulanten Hilfen nur selten der Fall sein, weil die erwartbar stark ablehnende Haltung der Eltern nach dem gerichtlichen Eingriff die ambulante Jugendhilfemaßnahme konterkarieren würde.

Junge Erwachsene ab 18 Jahren besitzen ein eigenes Recht, Jugendhilfe zu beantragen (Hilfen für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII). Viele Jugendhilfemaßnahmen, wie z.B. stationäre Erziehungshilfe, werden aber in diesem fortgeschrittenen Alter in der Regel nicht mehr für sinnvoll gehalten.

Jugendhilfeleistungen sind kostenlos. Allerdings werden bei stationären Maßnahmen, bei denen der junge Mensch vollständig anderweitig untergebracht ist, das Kindergeld und gegebenenfalls weitere Unterhaltsleistungen der Eltern innerhalb der Leistungsgrenzen einbehalten bzw. zurückgefordert.

Erziehungsbeistandschaft und Betreuungsweisung

Mit der Ablösung der Schutzaufsicht durch die Erziehungsbeistandschaft erfolgte rein begrifflich eine zweimalige Schwerpunktverschiebung: von der staatlichen Beaufsichtigung zur Erziehungshilfe und vom jungen Menschen auf die erziehenden Eltern als direkte Adressaten der Hilfe. Die Erziehungsbeistandschaft wurde als Unterstützungsangebot konzipiert, um die erziehungsberechtigten Eltern zu entlasten und in ihrer Erziehungsverantwortung zu stärken.

Der Einsatz einer Erziehungsbeistandschaft beinhaltet die Unterstützung eines jungen Menschen durch einen ihm zugeordneten Erwachsenen, der ihm hilft, soziale Probleme zu lösen und Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Damit ähnelt diese Form der Einzelfallarbeit dem Case-Work-Konzept von Mary Richmond (s.o.). Die Arbeit ist niedrigschwellig, basiert auf einer persönlichen Beziehung, wird aufsuchend geleistet und bezieht das Umfeld und seine Ressourcen in die Arbeit ein. Ziel ist die Kompensation von Erziehungsdefiziten, individuelle Förderung, Persönlichkeitsentwicklung und soziale Integration bzw. Resozialisierung (bei gerichtlicher Weisung). Die Erziehungsbeistandschaft kann wie die Schutzaufsicht durch gerichtliche Anordnung alternativ zu einer strafrechtlichen Sanktion angeordnet wie auch freiwillig auf Antrag der Eltern bei den Jugendämtern gewährt werden.

Zum Ende des 20. Jahrhunderts nahm der Anteil der Betreuungsweisungen an den Erziehungsbeistandschaften deutlich ab. So stellten die Betreuungsweisungen 1970 knapp die Hälfte der Erziehungsbeistandschaften, aber 1990 nur noch 5,8 %. Dies[26] zeigt schon vor der Einführung des KJHG einen Trend der Jugendhilfe weg vom staatlichen Eingriffshandeln und hin zu freiwilligen Unterstützungsangeboten.

Die Rechte und Pflichten der Erziehungsbeistände im JWG unterschieden sich unwesentlich von denen der früheren Schutzaufseher. Um 1960 arbeiteten Erziehungsbeistände nach wie vor weitgehend ehrenamtlich. Diese Praxis kritisierte der 3. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung 1972 und regte die Einstellung hauptamtlicher professionell gebildeter Erziehungsbeistände an. Hinzu kam eine Berichtspflicht auf Anforderung der Jugendämter und Vormundschaftsgerichte (vgl. Münder 2006).

In der Formulierung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes von 1990/91 wurde die Bezeichnung Erziehungsbeistandschaft für die Hilfe nach § 30 SGB VIII beibehalten, aber als primärer Adressat des Angebots steht eindeutig der junge Mensch im Mittelpunkt:

„Der Erziehungsbeistand und der Betreuungshelfer sollen das Kind oder den Jugendlichen bei der Bewältigung von Entwicklungsproblemen möglichst unter Einbeziehung des sozialen Umfelds unterstützen und unter Erhaltung des Lebensbezugs zur Familie seine Verselbstständigung fördern.“

Die Erziehungsbeistandschaft ist ein unspezifisches Jugendhilfeangebot und wird methodisch wie auch hinsichtlich der Rahmenbedingungen örtlich sehr unterschiedlich umgesetzt (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2003). Die Abgrenzung gegenüber den Flexiblen Hilfen nach § 27, die nach Einführung des KJHG außerhalb des vorgegebenen Hilfekatalogs möglich wurden, und der intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung (ISE) nach § 35 SGB VIII ist nicht trennscharf und auch die Indikation ist uneindeutig (s.u.). Anders als die ISE ist die Erziehungsbeistandschaft auf die Integration junger Menschen in das jeweils bestehende Sozialisationsumfeld gerichtet.

Die „Ambulantisierung der Jugendhilfe“ (vgl. Krüger 1985, Fröhlich-Gildhoff 2002: 25) nach der Einführung des KJHG hat bis heute zu einer starken Zunahme der Erziehungsbeistandschaften geführt (s.u.).

Die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung

Die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung nach § 35 SGB VIII (ISE) ist seit der Verabschiedung des KJHG Teil der Erziehungshilfen. Das Konzept beruht u.a. auf den Ergebnissen eines Modellversuchs zur „Heilpädagogischen Intensivbetreuung“ in den 1980er Jahren in Hessen, in dem als Alternative zur geschlossenen Unterbringung schwieriger Jugendlicher mit Eins-zu-eins-Betreuung experimentiert wurde (Fröhlich-Gildhoff 2003).

Im KJHG werden Inhalte und Aufgaben des Angebots folgendermaßen beschrieben:

„Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung soll Jugendlichen gewährt werden, die einer intensiven Unterstützung zur sozialen Integration und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung bedürfen. Die Hilfe ist in der Regel auf längere Zeit angelegt und soll den individuellen Bedürfnissen des Jugendlichen Rechnung tragen.“

Von der Erziehungsbeistandschaft unterscheidet sich die ISE ursprünglich durch eine wesentlich höhere Betreuungsintensität. Die Zielgruppe dieser Hilfeform sind Jugendliche,[27] die eine Jugendhilfekarriere – häufig mehrere Pflegefamilien und Heimaufenthalte – hinter sich haben und durch herkömmliche Angebote nicht mehr erreicht werden können. Die angebotenen Unterstützungsmöglichkeiten sollen möglichst individuell auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten werden. Der Betreuungsschlüssel kann sehr hoch sein – bis zur Eins-zu-eins-Betreuung. Diese Form intensivster persönlicher Betreuung und Begleitung wurde und wird nur selten umgesetzt.

Anders als die Erziehungsbeistandschaft entstammt die ISE einer durch Psychologie, Tiefenpsychologie und Therapie beeinflussten methodischen Richtung Sozialer Arbeit. Ihr liegt die Idee zugrunde, dass junge Menschen, die unter stark belastenden Sozialisationsbedingungen aufgewachsen sind, durch eine nachsorgende, persönliche, enge Beziehung zu einer einzelnen Betreuungsperson konstruktive Bindungsmuster und Beziehungsformen lernen können. Ihr Grundmisstrauen, das sie in früheren defizitären Beziehungen erworben haben, soll durch die Erfahrung einer Vertrauensbeziehung grundsätzlich korrigiert werden. Das auf eine enge und ausschließliche Betreuungsbeziehung angelegte Setting der ISE ist inzwischen gerade für traumatisierte und/oder bindungsgestörte junge Menschen umstritten. Die hohe persönliche Intensität begünstigt emotionale Eskalationen und unabgegrenzte und damit belastende Arbeitsbeziehungen zwischen Betreuungsperson und betreutem jungen Menschen. Daher werden diese im KJHG intendierten sehr intensiven Hilfen inzwischen kaum noch realisiert. Fröhlich-Gildhoff (2003) stellt in seiner Studie zur ambulanten Einzelbetreuung gerade bei sehr intensiven Maßnahmen krisenhafte Entwicklungen fest, die er in den psychischen Vorbelastungen der betreuten jungen Menschen verursacht sieht. Tatsächlich ist es ebenso denkbar, dass die Struktur der Eins-zu-eins-Betreuung mit zu diesen destruktiven Dynamiken beiträgt.

Auch weil im Rahmen von ISE Auslandsreisen mit jungen Menschen durchgeführt wurden, die trotz hoher Kosten nicht die erhofften Wirkungen zeigten, wurde die Möglichkeit zu Auslandsaufenthalten als Jugendhilfemaßnahmen durch das Kinder- und Jugendhilfeerweiterungsgesetz 2005 eingeschränkt (vgl. Münder 2006):

„Die Hilfe ist in der Regel im Inland zu erbringen; sie darf nur dann im Ausland erbracht werden, wenn dies nach Maßgabe der Hilfeplanung zur Erreichung des Hilfezieles im Einzelfall erforderlich ist.“ (§ 27, Abschn. 2, SGB VIII).

Insgesamt lässt sich sagen, dass sich die Hoffnungen, die mit der ISE als Alternative zur Heimerziehung verbunden waren, so nicht erfüllt haben. Real stellt sie meist eine vom Stundenaufwand und der Frequenz her etwas intensivere Form der Erziehungsbeistandschaft dar, die durch ihre Ausrichtung auf Verselbstständigung vor allem bei älteren Minderjährigen und jungen Menschen zum Einsatz kommt – zum Beispiel als Betreutes Wohnen bei jungen Erwachsenen (s.u.).

Vor allem aus der ISE heraus wurden verschiedene Spezialformen der ambulanten Einzelbetreuung entwickelt:

■ Flexible ambulante Begleitung/Flexible Hilfen (vgl. Wolff 2000): Damit werden u.a. sozialräumlich orientierte, hilfeartübergreifende Konzepte auf dem Gebiet der ehemaligen DDR nach der Wiedervereinigung bezeichnet. In diesem Sinne bedeutet „Flexible Hilfen“ eine Bereitstellung ambulanter, teilstationärer und stationärer Angebote „unter einem Dach“ oder „aus einer Hand“ z.B. in sogenannten Jugendhilfestationen oder Jugendhilfezentren (Rätz-Heinisch, Schröer, Wolff 2009: 146ff.). Die Kombination verschiedener Angebote bei einem Träger ermöglicht grundsätzlich eine bessere Anpassung des Hilfesettings an die individuellen Fallbedürfnisse[28] und -aufgaben, kann aber auch eine einseitige Ausrichtung an ökonomischen Notwendigkeiten beinhalten.

■ Ambulante Einzelbetreuung zur Verselbstständigung nach stationärer Unterbringung: Hierbei besteht eine konzeptionelle Nähe zum Betreuten Wohnen (s.u.). Nachbetreuung durch ambulante Einzelbetreuung wird häufig durch Bezugserzieher der Einrichtung durchgeführt, in der der junge Mensch untergebracht war. Problematisch an dieser eigentlich positiven Konstellation ist, dass das ambulante Setting sich grundsätzlich vom stationären unterscheidet und von der durchführenden Fachkraft spezifische Methodenkenntnisse erfordert, die bei reinen Heimerzieherinnen und -erziehern nicht automatisch vorhanden sind. Die riskante Schwelle zwischen dem eng geführten stationären Setting und der Selbstständigkeit wird oft durch Stufenpläne begleitet, durch die ein kontinuierlicher Übergang mit langsam steigenden Freiheitsgraden geschaffen wird.

■ Ambulante Einzelbetreuung nach stationärer Unterbringung zur Reintegration in die Herkunftsfamilie: Eine Fremdunterbringung erfolgt nicht in jedem Fall mit dem Ziel der endgültigen Herauslösung aus der Herkunftsfamilie. Deshalb kann Einzelbetreuung auch eine Rückführung in die Herkunftsfamilie begleiten. Aktive Rückführungen sind durch den Kostendruck in den letzten Jahren stärker in das Bewusstsein der Jugendämter gerückt. Allerdings können dabei aufkommende Zielkonflikte zwischen Heimeinrichtungen und Jugendämtern den Rückführungsprozess belasten. Eine Rückführung in die Herkunftsfamilie ist immer eine riskante und schwer in ihrem Erfolg prognostizierbare Testsituation. Daher sollte sie mit allen Beteiligten gut überlegt, geplant, mehrfach erprobt, intensiv begleitet und möglichst mit einem graduellen Übergang von der Einrichtung in die Familie umgesetzt werden. Die ambulante Einzelbetreuung zur Reintegration ähnelt mit ihrem bi- bzw. multilateralen Aufgabenprofil der Familienhilfe.

■ Ambulante intensive Begleitung (AIB)13: Dabei handelt es sich um ein niederländisches, nach Deutschland übertragenes Konzept – das Modell INSTAP, das für algerische Jugendliche in Amsterdam entwickelt wurde. Es wurde über etwa zweieinhalb Jahre um die Jahrtausendwende herum in vier deutschen Städten – Dortmund, Leipzig, Magdeburg, Nürnberg – und dem Landkreis Harburg als Bundes-Modellprojekt erprobt und wissenschaftlich begleitet und stellt heute an den betreffenden Standorten einen Teil des Regelangebots dar. Der Ansatz ist mit anderen ambulanten Hilfen, die zur gleichen Zeit aus den USA über die Niederlande nach Mitteleuropa kamen, inhaltlich verwandt – Families First, hierzulande als FAKT (Familienaktivierende Maßnahme) oder FAM (Familie im Mittelpunkt) bekannt und eingeführt (vgl. Gehrmann, Müller 20012). Diese Kurzzeit-Modelle stehen in einem kritischen Verhältnis zum Beziehungsansatz der klassischen Case Work, orientieren sich eher am distanzierteren Case Management-Ansatz (s.u.) und fokussieren auf Aktivierung der informellen sozialen Netzwerke. Die verblüffende Kürze der Interventionen – bei FAM und FAKT sechs Wochen, bei der AIB drei Monate – verbunden mit einer hohen Intensität und dem Versprechen weitreichender Verbesserungen widersprechen allen Erkenntnissen der empirischen Sozialforschung, wonach Beziehungsorientierung und längere Dauer von Maßnahmen eher als Garant für Erfolg gelten. Für finanzschwache, an Effektivierung ihrer Dienstleistungen interessierte Kommunen sind solche kurzen Angebote attraktiv. Deshalb wurden wurden sie vielerorts als [29]Zusatzangebot eingeführt, konnten aber die traditionellen, beziehungsorientierten Hilfen nicht ersetzen. Als Konzept für besonders schwierige Jugendliche und junge Erwachsene, die eine Jugendhilfekarriere hinter sich haben, von Obdachlosigkeit bedroht sind und sich nicht an andere Jugendhilfemaßnahmen anbinden lassen, hat sich AIB nicht bewährt. Diese hochanspruchsvolle Zielgruppe verfügt weder über ausreichend soziale Ressourcen, noch spricht sie auf die typische vertragsförmige und rein zielorientierte Methodik an.

■ Betreutes Wohnen bzw. Betreutes Einzelwohnen (BW/BEW): Zur Zielgruppe dieses Angebots gehören ältere Jugendliche oder junge Erwachsene. Träger, die Betreutes Wohnen anbieten, setzen meist ein Mindestalter von 16 Jahren für diese Betreuungsform voraus. Sie besteht in einer Kombination aus der finanziellen Sicherung des Lebensunterhalts durch das Jugendamt mit den Inhalten und der Form eines ambulanten Betreuungssettings. Der Maßnahmetyp gleicht formal stationären Angeboten nach § 34 SGB VIII, wodurch auch die Eltern zur Kostenerstattung herangezogen werden können. Freie Träger des Betreuten Wohnens stellen manchmal ambulant betreute Wohngemeinschaftswohnungen zur Verfügung, so dass die jungen Menschen nicht sofort in eine Einzelwohnung umziehen müssen. Bei Überschreiten der Volljährigkeitsschwelle, spätestens mit dem Erreichen des 21. oder bei Maßnahmen nach § 35a SGB VIII des 27. Lebensjahrs muss ein Übergang an andere Kostenträgern – gegebenenfalls nach SGB II, III oder XII – gestaltet werden, wenn sich ein autonomes Leben – das Ziel der Hilfe – nicht als umsetzbar erweist.

2 Mary Ellen Richmond (1922): What is social case work? An introductory description [Was ist soziale Fallarbeit? Eine einführende Beschreibung], New York: Russell Sage Foundation.

3 „Maria Bielowski ging in einer Fabrik arbeiten, seit sie fünfzehn war. Nach vielen Auseinandersetzungen mit ihrer Stiefmutter darüber, dass sie ihren Arbeitslohn mit der Familie teilen sollte, und über ihre Gewohnheit, nachts lange fort zu bleiben, verließ sie ihr Zuhause und lebte in billigen Unterkünften und Hotels. Von dort wurde das Mädchen angeklagt, ein paar Dollars von einem Mitbewohner gestohlen zu haben. Für diejenigen, die ihr begegneten, war sie ein unattraktiver Anblick. Ihre Gesichtszüge waren dunkel und schwer, ihre Kleidung abgerissen, schmutzig und sehr fleckig; ihr Kopf wurde von drei Strähnen künstlichen Haares gekrönt, das, wie man später feststellte, von Ungeziefer befallen war. […] Zwei ihrer Arbeitsstellen schilderten sie als unregelmäßige Arbeiterin. Die klinische Untersuchung ergab, sie habe gute intellektuelle Fähigkeiten, aber eine psychopathische Persönlichkeit. Ihre Familie war fünf Jahre zuvor aus Polen eingewandert – ihr Vater, seine zweite Frau und vier Kinder. Aber der Vater war drei Jahre nach seiner Ankunft gestorben und die Stiefmutter, die nicht ein Dutzend englische Wörter kannte, hatte, obwohl sie eine gute Frau war, anscheinend jede Kontrolle über die Kinder verloren. Die beiden erwachsenen Söhne waren weg gezogen; der jüngere Sohn war in einer Besserungsanstalt untergebracht.“ (Richmond 1922: 32 f., Übers.: U.R.).

4 „These facts suggested that probations under conditions which would assure a maximum of individualized care might bring good results“ (Richmond 1922: 34).

5 „Eines Tages erhielt Maria ein Anschreiben aus einer entfernten Stadt, in dem ein Fernlehrangebot für eine Sprech- und Singausbildung offeriert wurde. Die Gebühr war 50 Dollar. Sie wand sich sofort an ihre Betreuerin mit der Bitte, ihr das Geld zu leihen, und diese antwortete ihr, das nächste Mal, wenn sie beide in der Stadt wären, könnten sie jemanden konsultieren, der sich gut genug mit Musik auskannte, dass er den Wert des Angebots beurteilen könnte. Ein Lehrer an einer guten Musikschule wurde angefragt Marias Stimme zu testen und seine Meinung zu ihrem Plan abzugeben. Als Maria die schwachen, schwankenden Klänge hörte, die sie von sich gab, als sie dem Meister vorsang, wurde sogar sie überzeugt, dass der Fernlehrkurs das Nachdenken nicht lohnte.“ (Richmond 1922: 39f.).

6 „Nur Entlastung“ (Richmond 1922: 167).

7 Historische Informationen aus: Müller 20064, Hering, Münchmeier 20053, Rätz-Heinisch, Schröer, Wolff 2009.

8 Informationen weitgehend aus: Iben 1967.

9 Informationen weitgehend aus: Korzilius 2005.

10 Historische Informationen aus: Müller 20064, Hering, Münchmeier 20053, Rätz-Heinisch, Schröer, Wolff 2009, Birtsch, Münstermann, Trede 2005.

11 Informationen zum Kinder- und Jugendhilfegesetz aus: Münder 2006.

12 Das Kinder- und Jugendhilfegesetz ist als 8. Buch im Sozialgesetzbuch verortet, entspricht also dem SGB VIII.

13 Die Informationen zur Ambulanten Intensiven Begleitung entstammen weitgehend dem ausführlichen Band von Möbius und Klawe 2003.

[30][31]Die Ambulante Einzelbetreuung

Datenbasis und statistische Quellen

Schon das Jugendwohlfahrtsgesetz verpflichtete zum Sammeln statistischer Daten zur Jugendhilfe, die vom Statistischen Bundesamt direkt bei den Jugendämtern und den Jugendhilfeträgern erhoben und in die amtliche Kinder- und Jugendhilfestatistik eingepflegt wurden14. Mit der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, mit dem Kinder- und Jugendhilfeerweiterungsgesetz (KICK) 2005 und dem Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) 2012 wurde diese schrittweise ausgebaut.

Die Jugendämter exportieren den Beginn und die Beendigung der Hilfen zur Erziehung direkt und in anonymisierter Form aus ihren elektronischen Datenverarbeitungssystemen an die statistischen Landesämter. Durch Publikationen und auf einer Internetseite (www.destatis.de) macht das Statistische Bundesamt diese Daten der Öffentlichkeit zugänglich. Thematisch aufbereitete Statistiken werden dreimal jährlich und kostenlos über die Zeitschrift KomDat des Informationsdienstes Kinder- und Jugendhilfe (AKJStat) publiziert (www.akjstat.uni-dortmund.de).15

Kurze Zeit nach Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes wurde die sogenannte JULE-Studie – „Leistungen und Grenzen der Heimerziehung“ von Thiersch und anderen (1998) – durchgeführt. Sie bezog sich nur auf stationäre und teilstationäre Jugendhilfeangebote. Die sogenannte JES-Studie – „Effekte erzieherischer Hilfen und ihre Hintergründe“ von Schmidt und anderen (2002) – bezog erstmalig alle Jugendhilfemaßnahmen nach dem Hilfekatalog des KJHG ein und befasste sich damit auch mit der Erziehungsbeistandschaft. Die Datenlage zur Hilfeform ambulante Einzelbetreuung ist insgesamt gering. Einzig eine Untersuchung von Fröhlich-Gildhoff von 2003 bezieht sich genauer auf diese Hilfeform. Regina Rätz-Heinisch untersuchte im Rahmen ihrer qualitativen Studie „Gelingende Jugendhilfe bei aussichtslosen Fällen“ (2005), bei der sie biografische Bezüge von Jugendhilfeverläufen betrachtete, auch flexible und ambulante Angebote.

Sämtliche verfügbaren Daten belegen, dass seit der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes die Anzahl der ambulanten Einzelbetreuungen erheblich angewachsen ist16. 2014 betrugen die am 31.12. des Jahres laufenden Hilfen knapp das Doppelte des entsprechenden Wertes von 1995, obwohl seit 2010 demografische Rückgänge bei den Jugendlichen sichtbar werden (s. Tabelle 1).

[32]Tabelle 1: Zunahme der ambulanten Einzelbetreuungen (1995–2014)

 

§ 30 (Erziehungsbeistandschaft, Betreuungshelfer) (laufende Fälle am 31.12.)

1995

16.231 (100 %)

2000

22.024

2005

25.847

2010

35.400

2014

29.896 (+ 84 %)

Quelle: Stat. Bundesamt.

Erhöhte Fallzahlen in den Hilfen zur Erziehung können als Indiz für sich ausweitende gesellschaftliche Problematiken interpretiert werden, insbesondere als Effekt der Erosion traditioneller Familienstrukturen, eines zunehmenden Anpassungsdrucks im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt, der Individualisierung der Lebensläufe und der globalen Wanderungsbewegungen und damit einem problematisch erhöhten Migrationsanteil in der Bevölkerung (vgl. Beck 1986, Vester, Oertzen, Geiling, Hermann, Müller 2001). Vor allem in ländlichen Gebieten und in den neuen Bundesländern könnte sich der Infrastrukturabbau infolge der demografischen Entwicklung verschärfend auswirken.

Andere Erklärungsansätze sehen in einem erhöhten Normalitätsdruck in den Sozialisations- und Bildungsinstitutionen – Familien, Betreuungseinrichtungen und Schulen – die Ursache für anwachsende Fallzahlen in der Jugendhilfe. Dieser Erklärung entsprechend haben sich nicht primär die Kinder und Jugendlichen und ihre Lebenskontexte zum Negativen verändert, sondern die Sozialisations- und Bildungsinstitutionen sind normativer, rigider und exklusiver geworden, wodurch Minderjährige häufiger und schneller als früher aus dem normalen Bildungsgang heraus segregiert werden und sich in der Folge nur schwer in das Erwerbsleben integrieren können.

Aber nicht für alle Jugendhilfemaßnahmen ist in den letzten Jahren eine gleichmäßiger Anstieg erkennbar. So stagnierten die stationären Maßnahmen oder nahmen sogar zahlenmäßig ab, wogegen die ambulanten Hilfen und die Unterbringungen in Pflegefamilien zunahmen.

Diese Umverteilung ist auch ein Ergebnis der Strategie von Jugendämtern, kostenintensive stationäre Maßnahmen durch kostengünstigere ambulante Hilfen zu ersetzen17. Das KJHG setzte auf eine eindeutige familienunterstützende Orientierung und ordnete die Fremdunterbringung als nachrangig in der Hilfepalette ein. Zunehmende Fallzahlen in der ambulanten Jugendhilfe signalisieren, dass die gewünschte Neuausrichtung der Jugendhilfe hin zu mehr ambulanten und familienunterstützenden und -ergänzenden Hilfen im Wesentlichen gelungen ist.

Die ambulanten Jugendhilfen gingen aus einem hauptsächlich ehrenamtlich organisierten Bereich der Jugendhilfe hervor. Dies wirkt sich bis heute auf die Trägerlandschaft für diese Hilfearten aus. Insgesamt ist das Geschehen bei den ambulanten Einzelbetreuungen deutlich marktförmiger und zersplitterter strukturiert als bei den anderen Hilfen zur Erziehung. Die öffentlichen Träger und großen Wohlfahrtsverbände sind [33] weniger präsent. Dagegen sind privatwirtschaftliche Unternehmen doppelt so häufig aktiv. Vereinzelt werden Ambulante Einzelbetreuungen immer noch von Honorarkräften durchgeführt. Die Wahl der Hilfeart und die Organisation der Hilfe hat Einfluss auf die Kosten, die den Jugendämtern entstehen. Zurzeit liegen die Kosten, die ein freier Träger der Jugendhilfe einem Jugendamt für eine durchgeführte Fachleistungsstunde ambulanter Jugendhilfe (Sozialpädagogische Familienhilfe oder Erziehungsbeistandschaft) in Rechnung stellt, bei ca. 45–55 €. Ein fest angestellter Sozialpädagoge verursacht dem anstellenden öffentlichen oder freien Träger Kosten von ca. 45 €.18 Unter reinen Kostengesichtspunkten beinhaltet die Beschäftigung von Honorarkräften für die kommunalen Auftraggeber ein erhebliches Einsparpotenzial, vor allem wenn zusätzlich Maßnahmen zur Qualitätssicherung und -entwicklung eingespart werden.

Im Gesetzestext des Kinder- und Jugendhilfegesetzes war die Erziehungsbeistandschaft ursprünglich als eher niedrigschwellige familienunterstützende Hilfe angedacht, wogegen die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung nach § 35 SGB VIII zu den Maßnahmen höchster Intensität gehörte noch jenseits der aufwändigen und kostenintensiven stationären Maßnahmen. Diese Spannbreite hat sich mit mittleren Stundenzahlen zwischen fünf und sieben Stunden in der Woche angeglichen. Hinsichtlich der Dauer lagen sie bei durchschnittlich etwa einem Jahr.

Wen erreicht die Hilfe?

Die amtliche Kinder- und Jugendhilfestatistik bildet auch ab, bei welchen Zielgruppen die ambulante Einzelbetreuung bevorzugt eingesetzt wird.

Männliche junge Menschen sind in der ambulanten Einzelbetreuung dauerhaft überrepräsentiert. Bei den Hilfen zur Erziehung lag der Anteil der Jungen 2009 bei 60 % und bei den am 31.12.2015 laufenden ambulanten Hilfen nach §§ 30 und 35 SGB VIII lag der Anteil mit 61,3 % leicht darüber.

Der deutliche und anhaltende Überhang männlicher junger Menschen in der Jugendhilfe ist eine viel diskutierte Tatsache, die sich bislang kaum in die eine oder andere Richtung verändert. Heranwachsende Jungen zeigen mehr Verhaltensauffälligkeiten und sind häufiger delinquent. Bei den psychischen Störungen zeigen Jungen mehr Aggression und mehr Verhaltensauffälligkeiten, wogegen Mädchen unauffälliger bleiben. Das Leistungsversagen vieler Jungen in der Schule und ihre Schwierigkeiten sich sozial zu integrieren ist häufig Thema der Medien, wobei unterschiedliche Ursachen kontrovers diskutiert werden. Betrachtet man die geschlechtsspezifische schulische Leistungsfähigkeit im Verhältnis zu den anschließenden beruflichen Karrierechancen, zeigen Mädchen und Jungen dauerhaft stabile Diskrepanzen: Mädchen zeigen traditionell bessere Schulleistungen und kommen durchschnittlich mit den schulischen Verhaltensanforderungen besser zurecht. Dagegen sind weiterhin trotz durchschnittlich deutlich [34] größerer Anpassungsprobleme in der Schule die meisten Jungen bei der Durchsetzung beruflicher Karrieren im Vorteil. Gleichzeitig ist unter den Jugendlichen ohne Schulabschluss die Gruppe der männlichen Jugendlichen wesentlich größer. Die Situation dieser Gruppe lässt sich nur schwer durch außerschulische Hilfen im Übergangssystem verbessern.

In der Jugendhilfe werden nicht nur deutlich mehr Hilfen bei Jungen und männlichen jungen Erwachsenen eingesetzt, diese sind auch intensiver und dauern länger. Ähnlich wie in der Schulpädagogik ergibt sich die Situation, dass der höhere Förderbedarf der Jungen überwiegend durch weibliches Personal umgesetzt wird. Diese „Feminisierung“ der Pädagogik wird im öffentlichen Diskurs zum Teil für die diskrepanten geschlechtsspezifischen Ergebnisse verantwortlich gemacht. Doch alle statistischen Hinweise zeigen zumindest bezogen auf die Schulpädagogik das Gegenteil: In der Grundschule, wo der Anteil von Frauen am größten ist, ist das Gender-Gap in der Leistungsbeurteilung am geringsten, am Gymnasium mit dem größten Anteil männlicher Lehrer am größten. Lehrer bewerten Jungen durchschnittlich schlechter und männliche Lehrkräfte sind bei Jungen weniger beliebt. Vor allem im kritischen Diskurs um Jungenarbeit (beispielhaft Cremers 2011) wird die Konstruktion und Kritik von Geschlechtsstereotypen und die Rolle der Pädagogik dabei diskutiert. Während auf der einen Seite jungenbezogene Angebote durch männliche Pädagogen gefordert werden, macht die andere Seite auf Problematiken der Verfestigung traditioneller und wenig hilfreicher Männlichkeitsnormen in Jungengruppen aufmerksam.

Betrachtet man die Alterszusammensetzung, liegt bei allen ambulanten Einzelbetreuungen die Hauptzielgruppe bei den 15–18-Jährigen gefolgt von den 18–21-Jährigen bei den intensiven ambulanten Einzelbetreuungen (§ 35 SGB VIII) mit knapp 29 % und den 12–15-Jährigen bei den Erziehungsbeistandschaften und Betreuungsweisungen (§ 30 SGB VIII). Unter 9-Jährige werden selten betreut.

Etwa 83 % aller ambulanten Einzelbetreuungen werden mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter zwischen 12 und 21 Jahren durchgeführt. Davon etwa die Hälfte sind im Alter zwischen 15 und 18 Jahren.

Die Themen dieser Hilfeart werden durch die Entwicklungsaufgaben der brisanten Lebensphase Jugend bestimmt: Die langsame Ablösung aus der Familie und zunehmende Verselbstständigung, der Übergang zwischen Schule und Beruf bei der Bildungslaufbahn und die sexuelle und soziale Entwicklung. Ambulante Einzelbetreuung wird in vielen Fällen als Maßnahme zur Begleitung dieser Übergänge eingesetzt.

In den letzten Jahren ließ sich häufig feststellen, dass Migrantinnen und Migranten an den wohlfahrtsstaatlichen Unterstützungsangeboten nicht entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil partizipierten. Dies galt auch für die Hilfen zur Erziehung. Für die Ambulanten Einzelbetreuungen lässt sich das nicht nachweisen. Mit einem Anteil von 31 % an den Ambulanten Einzelbetreuungen zum Jahresende 2015 und einem Zuwachs von 29 % gegenüber den Daten des statistischen Bundesamtes von 2008 sind migrantische Jugendliche in den ambulanten einzelfallbezogenen Hilfen teilweise sogar überrepräsentiert.

Es gibt einen ausgeprägten Zusammenhang zwischen Sozialleistungsbezug und der Nutzung der Hilfen zur Erziehung. Der Anteil der Sozialleistungsempfänger bei den Hilfen zur Erziehung insgesamt liegt bei 43 % (2009).

Der Alleinerziehendenstatus, der ein erhebliches Armutsrisiko beinhaltet, erhöht die Wahrscheinlichkeit, Hilfen zur Erziehung in Anspruch zu nehmen, ebenfalls. 2007 hatten Alleinerziehende gegenüber nicht Alleinerziehenden eine fünffach erhöhte Erziehungshilfequote. Für diese Bevölkerungsgruppe lag der Anteil der Sozialleistungsempfänger[35] bei 70 %. Dabei waren es vor allem die familienergänzenden Hilfen, darunter die ambulante Einzelbetreuung und die Familienhilfe, die von diesem Klientel in Anspruch genommen wurde, weniger die Erziehungsberatung und die Hilfen bei seelischer Behinderung (§ 35a SBG VIII).

Nicht nur die Hilfen zur Erziehung insgesamt werden sozial selektiv genutzt, sondern bei den ambulanten Erziehungshilfeangeboten ist die soziale Selektivität noch einmal erhöht. Deren Klientel ist in weiten Teilen durch eine ungünstige finanzielle Lage verbunden mit großen sozialen Problemen gekennzeichnet. Beim Jugendamt des Landkreises Göttingen zeigte ein Vergleich von 383 Maßnahmen der ambulanten Einzelbetreuung mit 444 Maßnahmen der Sozialpädagogischen Familienhilfe aus den Jahren 2004–2008, dass die ökonomische Lage bei der ambulanten Einzelbetreuung sogar noch bedrückender war als in der sozialpädagogischen Familienhilfe. Ökonomische Probleme wurden um die Hälfte häufiger genannt, Delinquenz und Inhaftierung von Eltern war häufiger Hilfeanlass und die Beziehungen der jungen Menschen zum sozialen Umfeld waren deutlich schlechter.

Ambulante Einzelbetreuung setzt also als Hilfeangebot am unteren sozialen Spektrum an. Es werden oft mehrfach benachteiligte junge Menschen betreut, bei denen kaum finanzielle, soziale und bildungsbezogene Ressourcen vorhanden sind. Sozialpolitisch besonders problematisch ist der Umstand, dass ausgerechnet bei einem extrem benachteiligten Klientel die Qualitätsstandards nicht gesichert sind und die Kostenaspekte eine große Rolle spielen.

Ambulante Einzelbetreuung – Stiefkind der Jugendhilfe