Handbuch des therapeutischen Erzählens (Leben Lernen, Bd. 221) - Stefan Hammel - E-Book

Handbuch des therapeutischen Erzählens (Leben Lernen, Bd. 221) E-Book

Stefan Hammel

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Beschreibung

Jetzt nur für kurze Zeit: Preiswerte Jubiläumsedition! Geschichten und Metaphern wirken auf die Seele, denn sie sprechen unbewusste Instanzen in uns an. Die Lösung eines Problems wird dem Unbewussten überlassen, dessen Suchmöglichkeiten nachweislich reicher sind als das rationale Denken. Das »Handbuch des therapeutischen Erzählens« ist die erste umfassende Veröffentlichung zu dieser kreativen Interventionsform. Sie bietet zweierlei: - eine Fülle vom Autor selbst erdachter therapeutischer Metaphern und Geschichten, aufgeschlüsselt nach Problemstellungen und therapeutischen Zielen. Sie lassen sich wie Bausteine in die eigene therapeutische Arbeit integrieren. - einen Methodenteil, der z. B. Aufschluss darüber gibt, wie Suggestion funktioniert, welche Erzähltypen wie wirken und wie Geschichten dialogisch entwickelt werden. Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten aller Schulen und in Beratung Tätige erwartet ein Fundus an Texten, die nach individuellem Bedarf abgewandelt werden können und die therapeutische Arbeit elegant ergänzen.

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Stefan Hammel

Handbuch des therapeutischen Erzählens

Geschichten und Metaphern in Psychotherapie, Kinder- und Familientherapie, Heilkunde, Coaching und Supervision

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2009 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag Roland Sazinger

Unter Verwendung eines Fotos von © LeitnerR / fotolia.com

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89245-1

E-Book: ISBN 978-3-608-10513-1

PDF-Book: ISBN 978-3-608-10393-9

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

EINLEITUNG

1. Was Geschichten hervorrufen

1.1Zugang

1.2Tradition

1.3Einsatz

1.4Nutzen

1.5Trance, Rapport und Suggestionen

1.6Die Welt der Träume

1.7Struktur und Inhalt

1.8Therapeutische Grundsätze

1.9Philosophische Verortung

1.10Gebrauchshinweise

ERSTER HAUPTTEIL: DIE GESCHICHTEN

2. Verstehen hervorrufen

2.1Sinngebung

2.2Wahrnehmung und Deutung

2.3Verstehen und Missverstehen

3. Gesundheit hervorrufen

3.1Herz, Kreislauf, Blutungen und Durchblutung

3.2Infekte, Allergien, Autoimmunerkrankungen

3.3Haut und Haare

3.4Muskelspannung und -entspannung

3.5Körpergefühl und Schmerzempfinden

3.6Gesichtssinn

3.7Gehör

3.8Gleichgewichtssinn

3.9Sprechen

3.10Gedächtnis und Zugriff auf Fähigkeiten

3.11Ausscheidung

3.12Schlaf

3.13Sexualität

3.14Essverhalten und Sucht

4. Wohlbefinden hervorrufen

4.1Ressourcenorientierung und positives Denken

4.2Angriff und Verteidigung

4.3Angst

4.4Zwang

4.5Depression

4.6Manie

4.7Traumwelt, Wahn und Halluzination

4.8Suizidalität

4.9Verlust und Abschied

5. Gelingende Beziehungen hervorrufen

5.1Partnerschaft

5.2Familie

5.3Erziehung und Ablösung vom Elternhaus

5.4Die mittlere und ältere Generation

5.5Freunde

6. Entwicklung hervorrufen

6.1Entwicklung und Reife

6.2Lernen

6.3Wunsch, Wille und Vision

6.4Ökonomie, Ordnung, Effizienz und Qualität

ZWEITER HAUPTTEIL: DIE METHODEN

7. Therapeutische Geschichten auffinden

7.1Die Intuition nutzen

7.2Schriftliche Quellen nutzen

7.3Mündliche Quellen nutzen

7.4Das eigene Leben als Quelle nutzen

7.5Filme und andere Medien als Quellen nutzen

7.6Andere Quellen der Kommunikation nutzen

8. Therapeutische Geschichten dialogisch entwickeln

8.1Mit systemischen Fragen Geschichten entwickeln

8.2Problemmetaphern in Lösungsmetaphern umwandeln

8.2.1Regellogik: Der Regel der Metapher folgen

8.2.2Ausnahmelogik: Die Ausnahme der Metapher finden

8.2.3Trickfilmlogik: Die Metapher flexibel gestalten

8.2.4Gestaltungsvarianten

8.3Gemeinsam mit Kindern Geschichten entwickeln

9. Therapeutische Geschichten erfinden

9.1Erzähltypen therapeutischer Geschichten

9.1.1Beispiel- und Metapherngeschichten

9.1.2Positivmodelle, Negativmodelle und Suchmodelle

9.1.3Klassifizierungsmodell therapeutischer Erzähltypen

9.2Grundformen der Suggestion

9.2.1Suggestion per Deklaration

9.2.2Suggestion per Direktive

9.2.3Suggestion per Implikation

9.2.4Suggestion per Frage

9.3Grundinterventionen des therapeutischen Erzählens

9.3.1Reales und irreales Reframing

9.3.2Destabilisieren und Stabilisieren

9.3.3Aufmerksamkeitsfokus umkehren oder verschieben

9.3.4Trennen und Neukonditionieren

9.3.5Lebensgeschichten neu interpunktieren

9.3.6Erhöhen und Reduzieren von Komplexität

9.3.7Utilisation

9.3.8Externalisieren und Visualisieren

9.3.9Intervention durch Positiv- und Negativmodelle

9.3.10Erzeugen von Erwartungs-, Such- und Lernhaltungen

9.3.11Rapportbasierte Interventionen

9.3.12Interventionen auf Basis von Lohn und Strafe

9.4Erzählstrukturen

9.4.1Der klassische Aufbau

9.4.2Regel-, Ausnahme-, Trickfilm- und paradoxe Logik

9.4.3Kompetente und inkompetente Berufsausübung

9.4.4Die Zeiten des Gelingens

9.4.5Die Orte des Gelingens

9.4.6Das innere Parlament und der Teetisch

9.4.7Die Ambivalenz externalisieren als Dialog

9.4.8Die Ambivalenz externalisieren als zwei Orte

9.4.9Die Ambivalenz externalisieren als zwei Bewegungsarten

9.5Genres

9.5.1Biografische Erzählungen und Anekdoten

9.5.2Fallbeispiele

9.5.3Fabeln, Märchen, Schwänke und Legenden

9.5.4Novellen und Abenteuergenres

9.5.5Naturkundliche Berichte und Studienergebnisse

9.5.6Aufzählungen und Beschreibungen

9.5.7Zitate und Aphorismen

9.5.8Poesie

10. Therapeutische Geschichten erzählen

10.1Vor dem Erzählen

10.2Mit dem Erzählen beginnen

10.3Der Kraft der Geschichte vertrauen

10.3.1Reduktion auf Wesentliches

10.3.2Reduktion auf Anschauliches

10.4Trance und Trancephänomene

10.4.1Trance nutzen

10.4.2Trance fördernde Inhalte

10.4.3Trance fördernde Sprachmuster

10.4.4Trance fördernde Sprechweise und Bewegung

10.4.5Trancephänomene nutzen

10.5Therapeutische Detailinterventionen

10.5.1Zielklärung und Auftragsklärung

10.5.2Anamnesefragen

10.5.3Themen vorbereiten und nachbereiten

10.5.4Erzählinhalte individualisieren

10.5.5Erzählinhalte priorisieren

10.5.6Themen einstreuen

10.5.7Mehrdeutigkeit und Konnotationen nutzen

10.5.8Anklänge nutzen

10.5.9Widerstand vermeiden

10.6Geschichten aneinanderreihen und ineinanderfügen

10.7Nach dem Erzählen

11. Therapeutische Geschichten wortlos erleben

11.1Gemalte und geformte Geschichten

11.2Pantomimische Geschichten

11.3Gegenständliche und vollzogene Geschichten

ANHANG

12. Verzeichnisse

12.1Geschichtenverzeichnis

12.2Stichwortverzeichnis

12.3Literaturverzeichnis

Vorwort

Als wir Kinder waren, hatten meine Schwester und ich eine bestimmte Gewohnheit. Wenn wir bei Großelternbesuchen morgens erwachten, meistens zwischen fünf und sechs Uhr, stiegen wir zu meinem Großvater ins Bett und drückten mit dem Finger auf einen Knopf seines Schlafanzugs. Dort befand sich nämlich der Schalter für die Geschichten. Einige dieser Geschichten hatte er gehört und einige gelesen, manche waren selbst erlebt und andere frisch erfunden. Eine Erzählung gab es, die ich wieder und wieder von ihm hören wollte. Das war die Geschichte vom verlorenen und wiedergefundenen Schaf aus dem fünfzehnten Kapitel des Lukasevangeliums. Mein Großvater mochte sich fragen, warum er mir diese Geschichte so oft erzählen musste, aber er tat es immer wieder für mich. Ich brauchte diese Geschichte. Es war meine Geschichte. Zwei wichtige Passagen gab es in seiner Erzählung, die jedes Mal wiederkehrten: Wie der Hirte nach langem Suchen und Rufen die erste Antwort seines Schafs erhielt und sich das Rufen des Hirten und das »Mäh« des Schafes abwechselten, bis er sein Schaf gefunden hatte – und wie er es fand: Das Schaf war tief in einen Dornbusch verstrickt. Es konnte nicht mehr vorwärts und nicht mehr rückwärts gehen. Vorsichtig befreite der Hirte das Tier …

Diese Geschichte hat mich durch die Kindheit begleitet. Als ich erwachsen war, hat sie mir als Erste deutlich gemacht, dass Geschichten eine therapeutische Kraft haben, in einem Maß, das wir vermutlich noch oft unterschätzen. Diese Geschichte ist zweitausend Jahre alt. Sie wurde aufgeschrieben, weil sie ihren Zuhörern geholfen hat, und beeinflusst noch heute das Denken und Erleben von Menschen.

Geschichten schaffen Wirklichkeit. Die verändernde Kraft der Geschichten freizusetzen und die Therapie für eine lebendige Sprache zu gewinnen, ist das Anliegen dieses Buches.

Ich danke euch, die ihr eure Geschichte mit der Geschichte dieses Buches verflochten habt. Ihr wisst, wer ihr seid.

EINLEITUNG

1. Was Geschichten hervorrufen

1.1 Zugang

Es müsste doch gehen … Nach diesem Motto begann ich, meinem Körper Geschichten zu erzählen – den Hautzellen, dem Immunsystem und auch dem Heuschnupfen, der mich plagte. Ich erzählte ihnen Metaphern für das, was ich mir von ihnen wünschte. Ich lobte die Immunabwehr und verhandelte mit ihr. Schon nach kurzer Zeit ließen die allergischen Symptome nach, und schließlich verschwanden sie ganz. Einer befreundeten Ärztin erzählte ich von meinem Heilungserfolg. Sie lachte. »Es werden gerade keine Pollen fliegen! Bei Heuschnupfen musst du langfristig denken. Da gibt es Schwankungen über Jahre hinweg.« Am nächsten Tag hatte ich meinen Heuschnupfen wieder. Sehr ärgerlich! »Lieber Heuschnupfen«, sagte ich. »Geh zur Kollegin nach Mainz, die kann dich brauchen. Bei mir wirst du nicht benötigt.« Die Symptome verschwanden in Sekunden. Andere haben mich für das Vorgehen gerügt – indes sagte die Kollegin, der Heuschnupfen sei dort nie angekommen …

Solche Botschaften an andere und an sich selbst haben ihre Wirkung – ob sie nun gezielt oder absichtslos verwendet werden. Freilich wird bei Weitem nicht alles, was ein Mensch in seinem Leben zu hören bekommt, vom Unbewussten tatsächlich umgesetzt. Es gibt Kriterien, nach denen das Unbewusste die auf uns einströmende Flut suggestiver Äußerungen ordnet. Das Unbewusste unterscheidet zwischen vor- und nachrangigen Anweisungen und setzt die einen um, während es andere weitgehend ignoriert.

Im oben geschilderten Fall wurde eine Botschaft offenbar als vorrangig umgesetzt, weil sie von einer Person mit fachlicher Autorität stammte. Die Nachricht »Deine Heilung ist ein Irrtum« wird aus dem Mund einer Ärztin anders aufgenommen, als wenn ein fachlicher Laie dasselbe sagte. Ein weiteres Kriterium dafür, ob eine solche Botschaft umgesetzt wird, ist, ob sie beim Gegenüber Annahme oder Widerstand provoziert. Wenn ich einem frustrierten Menschen Ratschläge erteile, dann werde ich ihn womöglich noch mehr frustrieren. Erzähle ich derselben Person von einem Menschen, vor dem das Glück sich stets verborgen hielt und der sich darum auf eine Suche machte nach dem Glück und der viel erlebte, bis ihn das Glück schließlich fand – dann ist die Chance, dass die Suggestion ihr Ziel erreicht, schon größer.

Geschichten haben die Tendenz, die »Ja-aber«-Struktur kognitiv operierender Beratungsgespräche zu umgehen. Auf eine Erzählung lässt sich weitaus schwerer antworten: »Das hab ich alles schon versucht«, als auf einen Ratschlag oder auf die Frage nach möglichen Lösungen. Suggestive Geschichten wenden sich an unbewusste Lösungsinstanzen unter Umgehung des bewussten Denkens mit seiner Tendenz, sich vom Gewohnten und Befürchteten lähmen zu lassen. Erzählungen geben der Beratung daher eine Leichtigkeit, die in kognitiv orientierten Gesprächen oft fehlt. Die Lösung wird dem Unbewussten überlassen, dessen Suchmöglichkeiten reicher sind als die des rationalen Denkens. Humor, Neugier und Optimismus finden so ihren Platz in der Beratung – weil die Aufmerksamkeit der Gesprächspartner vordergründig mit etwas weitaus Angenehmerem beschäftigt ist als mit den Lasten unbewältigter Probleme. Tatsächlich werden die Probleme beim Zuhören oft unbemerkt und nebenbei gelöst. Zu ersehen ist dies zunächst aus den erleichterten Kommentaren der Klienten nach der Therapie, aus dem häufigen Fehlen weiterer Nachfragen zur Lösung des »eigentlichen« Problems und vor allem aus rasch veränderten Denk- und Verhaltensweisen in der Folge der Beratung.

Aus dem Gesagten wird deutlich, dass die inhaltlichen Botschaften therapeutischer Geschichten oft einen offenen Charakter haben: Angeboten wird nicht eine klar definierte Antwort, sondern eine Lösungsrichtung oder eine Suchhaltung, die zu verschiedenen Lösungen führen kann. Konkrete Vorschläge werden etwa als Informationen über die Erfahrung anderer Menschen angeboten, die als Modell für das eigene Experimentieren geprüft werden. Grundsätzlich soll die Beratung offen bleiben für vielfältige Lösungen und vor allem für die Lösungen der Beratenen selbst.

1.2 Tradition

Der hier geschilderten Arbeitsweise liegen unter anderem Erkenntnisse aus der systemischen Beratung zugrunde. Hier greife ich zurück auf die Heidelberger Tradition, auf die Arbeiten der Mailänder Gruppe um Mara Selvini Palazzoli und auf den Kommunikationsforscher Paul Watzlawick.

Noch stärker sind die Vorgehensweisen geprägt von der Methodik des amerikanischen Psychiaters Milton Erickson. Er gilt als der Pionier der modernen Hypnotherapie. Erstaunlicherweise hat er in seinen späteren Jahren nur noch selten formale Hypnosestrategien angewendet, sondern für seine Klienten und Seminarteilnehmer vor allem Geschichten erzählt und inszeniert.

Des Weiteren ist in das hier beschriebene Vorgehen die jüdischchristliche und altorientalische Tradition des Erzählens eingeflossen. Die Prophetentexte des Alten Testamentes, die Gleichnisse Jesu und die Geschichten der Rabbiner verknüpfen Unterhaltung mit spirituellen, pädagogischen und sozialtherapeutischen Anliegen. Durch die gesamte christliche, jüdische und muslimische Geschichte hinweg wurden Metaphern zielgerichtet verwendet, um effektive Impulse zum Lösen von Problemen zu geben.

Für eine Zeit lang schienen die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten das Erzählen von Geschichten fast vergessen zu haben, mit Ausnahme biografischer Erlebnisse der Klienten. Das ist überraschend, da die Methodik sich seit Jahrtausenden über die Kulturgrenzen hinweg bewährt hat: In Zeiten, als es noch keine Therapeuten gab, gab es Weise, die um Rat gebeten wurden. Rabbiner und Propheten, Pfarrer und Einsiedler konnten befragt werden. Hodschas, Gurus, Zenmeister, heilkundige Frauen, Seherinnen, Lehrer und Philosophen, Medizinmänner, Schamanen und Druiden wurden zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Kulturen befragt. Heute haben vielfach Therapeuten und Sozialarbeiterinnen, Ärztinnen und Heilpraktiker diese Funktion übernommen.

»Ratschläge sind Schläge«, sagt nun ein Sprichwort, und so haben sich schon früher viele Berater dem Wunsch nach einer eindeutigen Antwort versagt. Sie antworteten mit Gegenfragen, mit Rätselsprüchen oder mit einer Geschichte. Erzählt wird etwa, wie jemand einen jüdischen Gelehrten fragte: »Warum antwortet ihr auf jede Frage mit einer Gegenfrage?«, und er erwiderte: »Warum nicht?«1 Ein junger Mönch fragte: »Was ist das Geheimnis der Erleuchtung?« Der Meister antwortete: »Wenn du hungrig bist, iss, wenn du müde bist, schlafe.«2 Einer, der gehört hat, man solle seinen Nächsten lieben, fragte Jesus: »Wer ist denn mein Nächster?«, und Jesus antwortete: »Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber, die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen …« Und er erzählte, wie zwei angesehene Leute an dem Verletzten vorübergingen und ein Verachteter den Mann fand, seine Wunden versorgte und ihn an einen sicheren Ort brachte3.

So ist es von den Propheten des Alten Testamentes, von jüdischen Rabbinern, von den Weisen des alten Orients wie auch des antiken Griechenland überliefert. Das Anliegen, reale Probleme anhand erdachter Geschichten zu lösen, verfolgen die Märchen- und Weisheitstraditionen des Orients wie auch die entsprechenden Überlieferungen der westlichen Welt. Geschichten sind Therapeutika. Psychotherapie und Heilkunst werden durch sie bereichert und manches Mal vollendet. Einiges von der Kunst, Geschichten in Therapie und Heilkunde einzusetzen, ist allerdings in Vergessenheit geraten und bedarf der Wiederentdeckung.

1.3 Einsatz

Die Einsatzmöglichkeiten therapeutischer Geschichten sind weit gefächert: In der Hypnotherapie werden sie etwa eingesetzt zur Schmerzreduzierung, zur Stillung von Blutungen, zur Reduktion von Neurodermitis und gegen Warzen, zur Überwindung von Autoimmunerkrankungen, bei Tinnitus, zur Regulierung des Blutdrucks und zur Behandlung zahlloser anderer Störungen. Mit Geschichten kann auf Angst- und Zwangsprobleme, auf Tics und Stottern Einfluss genommen werden. Metapherngeschichten können bei der Arbeit mit süchtigen Menschen hilfreich sein, in der Paartherapie und im Gespräch mit Jugendlichen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Sie können in Coaching- und Teamgespräche eingestreut werden, und schließlich können sie in Ausbildung und Supervision zur Illustration von Haltungen und Techniken und zur Anregung kreativer neuer Ideen eingesetzt werden. Viele Interventionen sind in der Pädagogik mit Kindern und Erwachsenen, in der Seelsorge sowie zum Selbstcoaching verwendbar.

Ein Wort zum Einsatz von Geschichten in medizinischen und pflegerischen Handlungsfeldern: Bei somatischen Beschwerden besteht zuweilen die Schwierigkeit, dass der Körper seine Selbstheilung nicht bestmöglich vorantreibt, etwa aufgrund von Überzeugungen, die die Heilung behindern, durch eine ungünstige Prioritätensetzung (also eine zweitbeste Verteilung von Aufmerksamkeit, Energie und anderen Ressourcen) und durch die stets unvollständige Entdeckung der Möglichkeiten von Selbstheilung. Die Optimierung der Selbstheilungsmöglichkeiten mit Mitteln aus Mentaltraining und Psychotherapie kann die Möglichkeiten der Heilung mit spezifisch medizinischen Mitteln hier ergänzen.

Ein Kollege äußerte, das Buch könne den Eindruck erwecken, als ob eine Geschichte von drei Zeilen Probleme beheben könne, an denen sich die Schulmedizin die Zähne ausbeiße oder für deren Behandlung Psychotherapeuten andernorts dreihundert Stunden ansetzten. Die Möglichkeiten therapeutischer Arbeit mit Geschichten müssen differenziert gesehen werden. Bei bestimmten Problemstellungen können solche Wirkungen erreicht werden, allerdings meist mit einem Geflecht von Geschichten, für das sich Therapeut und Klient einige Stunden Zeit nehmen sollten.

An mehreren Stellen des Buches sind vollständige Kurztherapien skizziert. Die drei Geschichten »Die Verfolgte I«, »Die Verfolgte II« und »Das Zölibat« dokumentieren zusammen eine Therapie von vier Stunden. »Problemlose Therapie« und »Wenn einer ›Stefan Hammel‹ ruft« geben eine zweistündige Therapie wieder, ebenso die Geschichten »Annas U-Boot« und »Fräulein Gehirn« oder auch die Erzählung »Der Blasenwecker«.

Nach meiner Erfahrung ist das zielorientierte Arbeiten mit Geschichten ebenso effektiv wie das Verwenden formaler Hypnosetechniken. Die Mehrzahl der Therapien dauert bei beiden Vorgehensweisen zwischen zwei und acht Stunden. Ein naheliegender Grund ist, dass es sich bei beiden Verfahren im Kern um dasselbe handelt, nämlich um eine kombinierte Nutzung von Trance, Rapport und Suggestionen. Ein Hauptunterschied besteht darin, dass beim Geschichtenerzählen eine informelle (nach allgemeinem Verständnis nicht als »Hypnose« betrachtete) Tranceinduktion stattfindet. So können auch Menschen erreicht werden, die gegenüber Hypnose und anderen geläufigen Psychotherapieverfahren skeptisch eingestellt sind. Wichtig ist es, Suggestivverfahren und erzählende Interventionen jeder Art nicht alternativ, sondern komplementär zu anderen Behandlungsformen zu sehen und sie mit diesen zu kombinieren.

Im Hintergrund der Geschichten steht das Konzept einer hypnosystemischen Kurzzeittherapiearbeit. Ziel dieser Arbeit ist die Veränderung des Geflechts von Wirkungen, das die jeweiligen Symptome und Probleme hervorgebracht hat. Dies geschieht an exemplarischen Stellen unter der Annahme, dass das Unbewusste das, was sich bewährt, beibehält und in angrenzenden Lebensbereichen reproduziert. Unter der Maßgabe eines solchermaßen exemplarischen Arbeitens dauern die meisten Therapien etwa zwei bis sechs Wochen. Die Therapie verfolgt von Anbeginn das Ziel, mit dem Klienten auf möglichst sichere, nachhaltige Weise in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Veränderung hervorzubringen, die Leid vermindert, Glück vermehrt und den Klienten darin unterstützt, notwendige Lasten zu tragen. Der Beginn der Therapie besteht darin, Ziel und Auftrag der therapeutischen Arbeit sowie den biografischen und aktuellen Hintergrund der geschilderten Anliegen abzuklären. Aus dem Gespräch entwickelt der Therapeut mit dem Klienten ein Geflecht von Interventionen, die die Zielrichtung des genannten Auftrags verfolgen. Erfragt und überprüft wird, ob die Auftragserfüllung mit unerwünschten Nebenwirkungen verbunden sein kann und wie diese vermieden werden. Der Therapeut nimmt sich das Recht, Ziele, die in seinen Augen unerreichbar, unethisch oder für den Klienten schädlich sind, nicht zu verfolgen. Er ist interventionsfreudig und zugleich wachsam im Hinblick auf eine fortlaufende Qualitätskontrolle bei den erreichten Ergebnissen.

1.4 Nutzen

Erzählen hilft, Blockaden zu überwinden. Das Reden über Probleme holt oftmals die Lähmung und Verstrickung, die dort erlebt wird, mit ins Gespräch. Das Befassen mit Problemen und traumatischen Erlebnissen wird hier ersetzt durch die Beschäftigung mit einer stellvertretenden Geschichte, innerhalb der eine Lösung leichter zu finden ist, weil hier ein unbelastetes Gespräch möglich ist. Das Reden in Geschichten, die die reale Situation stellvertreten, bewahrt dem therapeutischen Gespräch Leichtigkeit und Humor. Das Reden über Metaphern, Beispielgeschichten und Beschreibungen von Lösungsstrukturen in anderen als den belastenden Bereichen verleiht der Kreativität der Gesprächspartner Flügel. Die belastenden Situationen können oft lange außen vor gelassen werden. Manchmal werden sie erst am Ende, wenn bereits wirksame Lösungen gefunden sind, wieder ins therapeutische Gespräch mit einbezogen, und manchmal versinken die realen Probleme in einem gelösten Schweigen. Viele Klienten beenden die Therapie nach einer metaphorischen Problembehandlung zügig und zufrieden, nur ohne sich so recht erklären zu können, wie es denn zur Auflösung ihrer Probleme kam.

Ein solches narratives Vorgehen bedeutet natürlich mehr Annehmlichkeit für die Klienten, denen die Therapie häufig Spaß macht und die sich auf die jeweils nächste Stunde freuen – was insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, die von den Eltern in die Therapie geschleppt werden, entscheidend für den Therapieerfolg sein kann.

Wenn wir davon ausgehen, dass Geschichtenerzählen sich unterscheidet von dem, was andere Berater vor uns den Klienten angeboten haben, steht zudem von Anbeginn das Argument auf unserer Seite: Wer etwas anderes tut als seine Vorgänger, eröffnet auch andere Möglichkeiten als diese.

Ein empathischer Therapeut wird sich wahrscheinlich oft mit dem Erleben der Klienten von Ohnmacht, Angst, Wut und Leere identifizieren und dabei die entsprechenden Erfahrungen in sich selbst in Resonanz bringen. Neben Gefahren für den therapeutischen Prozess besteht für den Berater dabei das Risiko eines emotional bedingten Burnout durch langfristige Identifikation mit belastendem Erleben. Das Arbeiten mit Geschichten ist für die Therapeuten eine wirksame Burnout-Prävention. Sie befassen und identifizieren sich vergleichsweise wenig mit dem Leiden der Klienten, sondern wenden sich Inhalten zu, die im Hinblick auf ihren Energiehaushalt unkritisch sind oder sich auch für sie stärkend auswirken. Tatsächlich ist es häufig so, dass der Therapeut bei einer vom Geschichtenerzählen geprägten Therapiestunde häufig an Energie und Arbeitsmotivation gewinnt und unwillkürlich beim Arbeiten nebenher eigene Fragen löst.

1.5 Trance, Rapport und Suggestionen

Die in diesem Handbuch dargestellten Interventionen sind entstanden aus dem Bemühen um die Optimierung therapeutischer Arbeit. Mich beschäftigt die Frage, wie die Ergebnisse der Hypnotherapie ohne formale Hypnose erreicht werden können. Trance, Rapport und Suggestionen sind ja nicht nur Merkmale der hypnotischen Arbeit, sondern stellen alltägliche, allgegenwärtige Phänomene dar. Also sollten auch die Früchte der Hypnotherapie ohne das Ritual einer Hypnoseinduktion zu gewinnen sein. Die Geschichten aus diesem Buch integrieren hypnotherapeutisch entwickelte Methoden ohne Hypnose in vielfältige therapeutische Situationen. Für Hypnotherapeuten lassen sich die meisten Geschichten abgewandelt auch als Trancegeschichten in hypnotischen Settings einsetzen.

Wenn wir von einer Übertragung hypnotherapeutischer Erkenntnisse in eine Therapie ohne Hypnose sprechen, ist es sinnvoll, uns zu vergegenwärtigen, welche Rolle die Grundkoordinaten der Hypnose, Trance, Rapport und suggestive Kommunikation, im normalen therapeutischen Dialog spielen.

Mit Trance bezeichne ich körperlich-seelische Zustände, die gekennzeichnet sind durch die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf wenige Reizquellen unter weitgehender Ausblendung aller anderen Reize. Von Trance ist insbesondere die Rede bei einer weitgehenden Aufmerksamkeitsfokussierung nach innen, das heißt auf erinnerte oder imaginativ konstruierte Wahrnehmungen. Trance ist alltäglich zu beobachten beim Autofahren, Spielen, Arbeiten, Fernsehen, beim konzentrierten Zuhören oder Zusehen. In der Therapie tritt Trance ganz natürlich auf in verschiedenen Formen und Intensitäten. Tatsächlich handelt es sich um eine Vielzahl von Zuständen mit veränderter Wachheit und Aufmerksamkeit gegenüber dem persönlichen oder auch dem gesellschaftlich üblichen Normalmaß. Der Begriff »Trance« ist nicht scharf definierbar, sondern ein Vergleichsbegriff. Methodisch relevant für die Therapie sind hauptsächlich Entspannungstrancen. Charakteristisch für diese Trancezustände sind eine höhere Lernbereitschaft und Lernfähigkeit, eine Verminderung von körperlichem und seelischem Stress in jeder Form, eine Herabsetzung von Hemmungen und eine Intensivierung des imaginativen Erlebens (Tagträumen). Das Erzählen von Geschichten ist in besonderem Maß Trance induzierend, da es vom Hörer eine Fokussierung auf die erzählten Inhalte und auf innere Bilder erfordert. Deutlich ist wohl auch, dass Trance einen festen Platz in jeder Therapie hat und nicht erst durch eine formale Hypnose herbeigeführt wird.

Unter Rapport verstehe ich die intensive Identifikation mit einem Gegenüber. Rapport heißt in einen Gleichklang kommen, bei dem man sich miteinander identifiziert, sodass die jeweiligen persönlichen Realitäten gewissermaßen verschmelzen und als eine gemeinsame Wirklichkeit erlebt werden. Rapport heißt miteinander eine Wellenlänge finden, verbal wie nonverbal. Zum Rapportverhalten gehören unbewusste Verhaltensweisen wie symmetrische Körperhaltungen, gleichzeitige und gleichartige Bewegungen, gleichzeitiges Atmen, Übernahme des Verhaltens eines Gegenübers (ansteckendes Gähnen), Übernahme von Vokabular, Tonfall und Redeweise des Gesprächspartners und ähnliche Phänomene. Verhaltensbiologisch hat Rapport den Sinn, in einem Rudel das Verhalten aller Mitglieder aufeinander und ggf. auf ein Leittier abzustimmen (gemeinsamer Angriff oder gemeinsame Flucht), das Paarungsverhalten zu koordinieren sowie das Verhalten von unerfahrenen Jungtieren an dasjenige der erfahrenen Mutter- bzw. Elterntiere anzupassen. Beim Erzählen von Geschichten wird ein gemeinsames Erleben geschaffen, bei dem die Identitäten von Erzähler und Zuhörer verschmelzen. Das Erzählen von Geschichten, die Übereinstimmung ausdrücken oder die emotional gemeinsam durchlebt werden, verstärkt den Rapport in besonderer Weise. Die unwillkürliche gegenseitige Angleichung von Körperverhalten und unbewusstem Sprechverhalten (z.B. symmetrische Körperhaltungen, gleiche Wortwahl) stellt einen Vorgang dar, der alltäglich zwischen Klienten und Therapeuten abläuft.

Unter suggestiver Kommunikation verstehe ich die Umfokussierung der Aufmerksamkeit eines Gesprächspartners mit dem Potenzial veränderten Denkens und Verhaltens. Dazu gehört insbesondere die Veränderung von Überzeugungen. Eine Suggestion ist demnach eine verbale oder nonverbale Botschaft, die darauf abzielt, Sicht- und Verhaltensweisen zu verändern. Suggestionen können verbal oder nonverbal, bewusst oder unbewusst geäußert werden. Ihrer Form nach können sie behauptend (Suggestion per Deklaration), befehlend (Suggestion per Direktive) oder indirekt (Suggestion per Implikation) ausgedrückt werden. Weithin bekannt sind das Phänomen der selbsterfüllenden Prophezeiungen (Autosuggestion) und der Placeboeffekt. Wie wir nicht nicht kommunizieren können, so können wir auch nicht nichts suggerieren. Suggestionen wirken auch ohne hypnotischen Kontext. Therapeutische Geschichten enthalten suggestive Implikationen, die sich aus dem Abgleich der erzählten Inhalte mit dem biografischen Erleben des Klienten ergeben. In der Therapie sind unbewusste Suggestionen und Autosuggestionen allgegenwärtig, auch ohne Hypnose.

Es zeigt sich, dass die Grundelemente Trance, Rapport und Suggestion auch ohne Hypnose alltägliche Phänomene sind, die im Auftrag der Klienten für deren Ziele genutzt werden können. Deutlich ist sicher auch, dass das Erzählen von Geschichten schon unwillkürlich Trance vertiefend, Rapport verstärkend und per Implikation suggestiv wirkt und dass diese Wirkungen bei Bedarf durch geeignete Erzählweisen intensiviert werden können.

Das vorliegende Konzept nutzt alltägliche Formen von Trance, wie sie beim Hören von Geschichten unwillkürlich auftreten, um therapeutische Effekte zu erzielen. Aus diesem Grund möchte ich einige Worte zu den Kennzeichen dieser Trance sagen. Charakteristisch für den Trancezustand sind vegetative Veränderungen von:

Atem (in einer Entspannungstrance langsamer und flacher)

Muskelspannung (geringer oder höher)

Herzschlag (langsamer) und Blutdruck (niedriger)

Bewegungen (seltener, geringer, zeitverzögert, ruckartig)

Sprechen (seltener, langsamer, leiser, zeitverzögert).

Im Verlauf einer Trance können unterschiedliche Phänomene auftreten. Diese Phänomene sind aus der Hypnosearbeit bekannt. Sie treten jedoch auch im alltäglichen Tranceerleben auf und können durch geeignete Erzähltechniken verstärkt und therapeutisch genutzt werden. Um diese Phänomene in den Dienst der Therapie zu nehmen, ist es nützlich, sie auch in ihren oft unscheinbaren alltäglichen Formen wahrzunehmen. Klassische Trancephänomene sind:

Zeitverzerrung (veränderte Zeitwahrnehmung)

erhöhte Suggestibilität und Lernfähigkeit

Aufhebung gedanklicher Beschränkungen

vernetztes Denken (gleichzeitige Verarbeitung von Inhalten auf mehreren Ebenen)

positive und negative Halluzination (nicht Vorhandenes wahrnehmen oder Vorhandenes nicht wahrnehmen)

Amnesie und Hypermnesie (Fehlendes und erhöhtes Erinnerungsvermögen)

Altersregression und -progression (Wiedererleben eines früheren Lebensalters und Imagination eines zukünftigen Zustands)

veränderte Körperwahrnehmung in Form von Analgesie, Anästhesie, Hyper- oder Hyposensitivität (Schmerzfreiheit, Gefühllosigkeit, verringerte oder erhöhte Empfindlichkeit)

ideomotorische Bewegungen (unwillkürliches Zucken, Armlevitation, automatisches Schreiben u.a.m.)

Katalepsie (Körperstarre) bzw. Hyperoder Hypotonie (erhöhte oder verringerte Muskelspannung)

Dissoziation (Abkoppelung) und Assoziation (Neuverknüpfen, Ankern) von Sinneswahrnehmungen, Emotionen, Wissens- und Vorstellungsinhalten, Erinnerungen sowie einzelnen körperlichen und seelischen Funktionen.

Zu unterscheiden sind eine teilweise Dissoziation, bei der das abgekoppelte körperliche bzw. geistig-seelische Erleben als fremd wahrgenommen wird, und eine völlige Dissoziation, bei der es nicht mehr wahrgenommen bzw. erinnert wird (Amnesie, Zahlenblock, Anästhesie, Induktion vorübergehender Unfähigkeit von Sehen, Hören, Sichbewegen etc.).

Alltäglich auftretende Trancephänomene werden in vielen der Geschichten therapeutisch genutzt.

1.6 Die Welt der Träume

Die Urform aller therapeutischen Geschichten ist der Traum. Träume sind älter als die Menschheit. Träume sind die urtümlichste Art, wie wir unser psychisches und soziales Erleben ordnen. Das Kino in unserem Kopf hilft uns, Eindrücke zu verarbeiten, Belastungen zu reduzieren, Ziele zu klären, mögliche Wege zu prüfen und Impulse zu setzen für den Weg, den wir dann schließlich wählen.

Dem Handbuch liegt der Gedanke zugrunde, dass unser Erleben in einer grundlegenden Weise von unseren nächtlichen und täglichen Träumen gesteuert wird und dass erzählte Geschichten nichts anderes sind als laut gewordene, gelenkte und lenkende Träume. Die Wirkungsweise therapeutischer Geschichten ist dieselbe wie die der nächtlichen und täglichen Träume. Wenn wir auf Haltungen und Regungen Einfluss nehmen möchten, die dem Unbewussten entspringen, empfiehlt es sich, dies in der Weise zu tun, wie das Unbewusste arbeitet. Therapeutische Geschichten sind gelenkte Träume mit dem Ziel, auf Körper, Geist, Spiritualität und Sozialsystem heilsam einzuwirken.

Um eine Metapher zu gebrauchen: Spreche ich einen einheimischen Kenianer auf Suaheli an, wird er mich wahrscheinlich besser verstehen, als wenn ich deutsch oder englisch mit ihm rede. Er wird mit Interesse, Sympathie und Entgegenkommen auf eine Ansprache in seiner Muttersprache reagieren. Er wird sich länger konzentrieren können, wird in einen lebendigen Dialog treten und viele eigene Ideen zum Ausdruck bringen. Wenn ich mit dem Unbewussten eines Menschen in seiner Muttersprache »Traum« spreche, wird es stärker reagieren, als wenn ich mit ihm auf »Psychologisch« spreche. Der Traum ist die Muttersprache des Unbewussten. Das Kognitive und Analytische sind für das Unbewusste Fremdsprachen. Therapeutische Geschichten sprechen das Unbewusste in seiner eigenen Sprache an und wirken dadurch so effektiv. Sie sind geeignet, das bewusste Denken mit seiner kleinen Arbeitskapazität, seiner Skepsis gegenüber Neuem, seiner Verhaftung im Gewohnten zu umgehen und direkt auf das Unbewusste mit seinen ungeheuren Gestaltungsmöglichkeiten Einfluss zu nehmen.

Die Träume der Menschen lassen sich in verschiedene Grundtypen mit verschiedenen Funktionen einteilen. Es gibt Beispielträume und Metaphernträume. Es gibt in beiden Gruppen Träume, die überwiegend einer Suchhaltung entspringen und um Lösungen ringen, dann Albträume, die vor Gefahren warnen, und schließlich Träume, die Gelungenes stärken und nach »mehr desselben« rufen. Manche Träume dienen mehr der Vorbereitung auf ein Ereignis, andere eher der Nachverarbeitung oder der Begleitung chronischer Probleme. Viele Träume lassen sich deutlich einer Kategorie zuordnen. Der Traum vieler Menschen, nackt oder in Unterwäsche in der Öffentlichkeit zu stehen, ist eine metaphorische Warnung und dient als aversive Autosuggestion gegen das Aufgeben von Schutz. Der Traum vieler Prüflinge, im Examen keine Frage beantworten zu können, ist eine beispielhafte Warnung. Der Traum, fliegen zu können, ist ein metaphorisches Positivmodell, der Traum, in einen Krieg zu geraten, ein metaphorisches Negativmodell, und der Traum, in einer fremden Stadt eine Straße zu suchen, ein metaphorisches Suchmodell. Alle realistischen Träume, ob positiv oder negativ, sind Beispiele, die die Funktion haben, Gelingendes zu unterstützen und vor einem Misserfolg zu warnen oder vergangene Misserfolge auszuwerten. Es gibt Mischformen dieser Grundtypen in allen Varianten, aber die Grundformen scheinen mir deutlich unterscheidbar.

Träume und Geschichten sind eins. So lassen sich auch Geschichten in Metaphern und Beispielgeschichten einteilen, wobei beide Gruppen sich in Positivmodelle, Negativmodelle und Suchmodelle untergliedern lassen. Diese unterschiedlichen Grundformen lassen sich in unterschiedlicher Weise therapeutisch nutzen. Sie repräsentieren die Zielrichtungen, Stärkendes zu verstärken, vor Schädlichem zu warnen und sich auf die Suche nach neuen Lebensmöglichkeiten zu begeben.

In unserer westlich geprägten Kultur mag es scheinen, als sei eine kognitiv orientierte Sprache zu unserer Grundsprache geworden und die Geschichten seien unsere Fremdsprache. So verlässt sich auch die Therapiearbeit oft auf das bewusste, wissenschaftlich-rational verantwortete Denken und fordert Reflexion und Analyse. Meine Beobachtung ist, dass nach einiger Beschäftigung mit dem Erzählen zunehmend das Unbewusste die Geschichten aussucht und therapeutisch ausgestaltet, sodass viele Methoden dem Therapeuten kaum noch bewusst werden, so wie wir uns beim Schreiben nur noch selten der Buchstaben bewusst sind, die wir verwenden. Das heilende Gespräch wird zu einer Kommunikation vom Unbewussten des Therapeuten zum Unbewussten des Klienten.

Worte sind nicht Schall und Rauch. Was sie ausrufen, rufen sie hervor – wenn keine größeren inneren und äußeren Widerstände die Umsetzung des Gesagten verhindern. Worte rufen Reaktionen hervor aus der Welt der bloßen Möglichkeit in die Welt der Handlungen. Sie rufen sie hervor aus der Tiefe der Seele, aus dem Heilungspotenzial des Körpers, aus dem unbewussten kommunikativen Geflecht einer Gruppe und, wenn im Glauben Wahrheit liegt, auch aus spirituellen Sphären.

Geschichten wiederum sind keine bloße Aneinanderreihung von Worten, sondern ein komplexes Gewebe sprachlicher (und im Erzählprozess auch nonverbaler) Elemente. Ihr Sinngeflecht erzeugt ein Geflecht von körperlich-seelischen und sozialen Reaktionen, das in seinen Implikationen für das bewusste, kognitiv orientierte Denken nicht zu überblicken ist. Geschichten schaffen in komplex ambivalenten (polyvalenten) Systemen neue Prioritäten, die das System in neue Gleichgewichte (Homöostasen) führen. Sie verändern den Aufmerksamkeitsfokus des organischen, psychischen und sozialen Systems und ermöglichen damit eine neue Balance und Ökonomie der Ressourcen. Die Geschichten, die wir erzählen, richten sich zu einem großen Teil an das Unbewusste des Klienten, dessen Muster des Wahrnehmens, Denkens und Verhaltens sie verändern. Sie entspringen aber auch zu einem großen Teil dem Unbewussten: dem Unbewussten des Therapeuten. Er wird sich in der Dichte der Kommunikation und in der Kürze der Zeit auf sein Körpergefühl und seine Intuition verlassen – die ihn wahrscheinlich besser beraten können als alle kognitiv erzeugten »Analysen«. Wie schon gesagt, ist Therapie in Geschichten zu einem großen Teil eine Kommunikation des Unbewussten mit dem Unbewussten des Gegenübers. Sie gleicht auch hierin der Kommunikation der Träume – nur geht es hier um gemeinsame Träume, die absichtsvoll in der Kommunikation zwischen Menschen eingesetzt werden, um die Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensweisen von Einzelpersonen und Gruppen zu lenken.

1.7 Struktur und Inhalt

Therapeutische Arbeit versucht üblicherweise nicht, vereinzelt auftretende und täglich wechselnde Denkinhalte und Verhaltensweisen zu beeinflussen. Sie zielt darauf, regelmäßig wiederkehrende Denk-, Verhaltens- und Beziehungsstrukturen zu verändern. Gesucht sind also Geschichten, die strukturelle Analogien zum tatsächlichen Leben der Klienten haben und aufzeigen, wie eine bestimmte Struktur (das Muster) sich im Leben des Klienten auswirkt und, gegebenenfalls, wie sie sinnvoll verändert werden können. Um solche Geschichten zu finden, ist es (wie ohnehin in der therapeutischen Arbeit) wichtig, eine Grundhaltung einzunehmen, die sich hauptsächlich für die Muster im Denken, Handeln und Erleben der Klienten interessiert und den einzelnen Inhalten vergleichsweise weniger Interesse widmet.

Ich möchte den Unterschied zwischen dem Befassen mit Strukturen und mit Inhalten durch einige Beispiele verdeutlichen. Wenn etwa Jesus im Neuen Testament sagt: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, benennt er damit ein Muster für Glück bringendes Verhalten. Würde er stattdessen sagen: »Schenke deinem Nachbarn Levi zehn Denare«, wäre das ein Inhalt. Sagt er: »Dein Glaube hat dir geholfen«, benennt er ein Muster. Würde er sagen: »Weil du eben gedacht hast: ›Jesus heilt mich vom Aussatz‹, bist du gesund geworden«, dann spräche er in Inhalten. Inhaltlich redet er, wenn er sagt: »Gehe in das Dorf Betfage. Am ersten Haus ist ein Esel angebunden. Binde ihn los und bring ihn her.« Von einem Muster spricht er dagegen, wenn er sagt: »Sie werden euch verfolgen, wie sie mich verfolgt haben.«

Während die Denk- und Verhaltensmuster eines Menschen und auch eines sozialen Systems üblicherweise sehr stabil sind und regelmäßig wiederkehren, wechseln die Inhalte immerzu: Die Konfliktstoffe sind beispielsweise täglich verschieden, aber die Konfliktstile sind immer wieder gleich. Wer seine Umgebung gestalten will, muss die Wechselwirkungen betrachten, die Beziehungen, die statischen und dynamischen Gleichgewichte, die sich überall zwischen Menschen und Dingen eingependelt haben. Er muss anstelle der wechselnden Inhalte die beständigen Muster beachten und gestalten.

Um den Blick auf Strukturen hinzuwenden, ist es nicht unbedingt notwendig, ein Thema analytisch orientiert zu betrachten und es kognitiv zu bearbeiten. Der Blick auf die Muster kann durchaus intuitiv erfolgen. Wir können uns für einen Moment in einen tagträumerischen Zustand versetzen, können erspüren, was das Feststehende und Wiederkehrende an den uns erzählten Geschichten sein mag, und schon fällt uns ein, wo im Universum sich Menschen, Dinge, Pflanzen oder Tiere merkwürdig ähnlich verhalten – mit ähnlichen oder anderen Ergebnissen. So beginnen wir, mit den Klienten in anschaulichen Bildern über die ansonsten unanschaulichen Strukturen zu plaudern, und sind bereits mit ihnen auf dem Weg zur Lösung.

1.8 Therapeutische Grundsätze

Die therapeutische Haltung hinter den Geschichten ist von mehreren Grundsätzen geprägt, die teils aus der systemischen Beratung und der Therapiearbeit nach Milton Erickson, teils aus eigener Beobachtung stammen:

Die Beratung ist ressourcenorientiert. In den Vordergrund treten in aller Regel die Chancen und Möglichkeiten von Menschen. Ihre Fähigkeiten werden hervorgehoben und gestärkt. Defizite werden nicht in den Mittelpunkt gerückt. »Schwächen« werden als subjektive Wahrnehmungen angesehen, die möglicherweise vorläufigen Charakter besitzen. Sie hängen nämlich von den Deutungen und Verhaltensweisen der Gruppenmitglieder und vom Selbstbild des Einzelnen ab. Die Sicht- und Verhaltensweisen, die die Wahrnehmung von Schwächen hervorbringen, können sich jederzeit verändern, mithin auch die wahrgenommenen Schwächen.

Die Beratung ist zukunfts-, ziel- und lösungsorientiert. Es geht um die Suche nach erreichbaren Zielen und Lösungen für eine größere Lebenszufriedenheit und um den Beginn einer Umsetzung von Veränderungen im gegenseitigen Wahrnehmen und Verhalten. »Zielorientierung« kann man auch als »Auftragsorientierung« beschreiben: Der Therapeut ermittelt zunächst, was durch das Gespräch erreicht werden soll und was dabei sein Auftrag ist. Dann verfolgt er diesen konsequent, bis die Gesprächspartner zu dem Ergebnis kommen, dass das gesetzte Ziel erreicht ist.

Nutze alles. Die Therapie utilisiert die Eigenarten und Fähigkeiten des Klienten, seines Problems, seiner Umgebung sowie der aktuellen Situation, um die Ziele des Klienten zu erreichen.

Prüfe alles. Der Therapeut legt sich auf keine therapeutische Theorie fest, der seine Praxis zu folgen hätte, sondern orientiert seine Arbeit an der konkret vorgefundenen Situation. Jeder Klient ist individuell, darum ist jede Therapie individuell.

Erwarte alles. Mit Blick auf psychotherapeutische, psychosomatische und psychosoziale Theorien, die definieren, was in der Psychotherapie wirklich und was möglich sei, hält sich der Therapeut skeptisch zurück. Auch Theorien der Klienten, ihrer Umgebung und der psychotherapeutischen Literatur zum Symptom betrachtet der Therapeut skeptisch, wenn ihre Wirklichkeitskonstruktionen die Therapie eher erschweren als begünstigen. Im Hinblick auf Modelle, die vorgeben, wie die menschliche Psyche und wie Psychotherapie funktioniert, stellt sich der Therapeut die Fragen: »Wirklich?« und »Warum nicht?« In Bezug auf die Möglichkeiten der Heilung und Linderung pflegt der Therapeut eine maximale positive Erwartungshaltung. Er vermittelt diese Haltung überwiegend nonverbal und über Implikationen, ohne verbale Erfolgsversprechen zu geben. Der Therapeut hält die Möglichkeit des Scheiterns so weit im Blick, als es zur Prävention von Schaden für Klient und Therapeut notwendig ist.

Alles psychische Erleben beruht auf der Imagination und Erinnerung körperlich wahrnehmbarer Prozesse. Es beruht auf dem Sehen imaginierter Bilder, auf dem Hören innerer Stimmen und auf vorgestellten Körpergefühlen. Die psychischen und körperlich-vegetativen Prozesse sind beim Imaginieren dieselben wie beim aktuellen Erleben, nur meist in abgeschwächter Form. Eine Therapie, die sich am Erzählen orientiert, simuliert imaginativ körperlich-seelische Prozesse, um gezielt neue Reaktionsmuster zu konditionieren, die dann in der Realität Gültigkeit haben.

Körperliches und psychisches Erleben sind zwei Seiten derselben Sache. Psychische Veränderungen ziehen spezifische vegetative Veränderungen nach sich und umgekehrt. Wer zum Beispiel den Atem, das Schwitzen und vorgestellte innere Bilder verändert, beeinflusst alle damit verkoppelten Parameter, also beispielsweise den Puls, die Schmerzen, die Weite der Gefäße, den Muskeltonus und die Angst. Jede körperliche und seelische Reaktion kann verändert werden über eine Veränderung der damit verknüpften körperlichen und seelischen Reaktionen. Jeder vorstellbare körperliche und seelische Stress- oder Entspannungszustand lässt sich erreichen durch das Erzählen von Geschichten, die eine Veränderung einzelner solcher Parameter implizieren.

»Alles menschliche Erleben ist das Ergebnis von Aufmerksamkeitsfokussierung«.

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Dieses Erleben folgt Regeln. Viele dieser Regeln gelten für körperliche und seelische Prozesse gleichermaßen. Analoge Vorgehensweisen können für die Auflösung von Schmerzen und von Angstzuständen funktionieren, für Allergien und Phobien, für Tinnitus und Zwangsgedanken, für Krämpfe und Konflikte. Grundfunktionen dieser Aufmerksamkeitsfokussierung sind Assoziation und Dissoziation. Das heißt, die Aufmerksamkeit des Klienten wird gelenkt durch das Einblenden und Verknüpfen von Inhalten sowie durch das Ausblenden und Trennen derselben. Mit Geschichten werden neue Reiz-Reaktions-Schemata geschaffen. Durch Sprache hervorgerufen werden neue Assoziationsketten, neue Deutungen, neue Verhaltensweisen, neue Körperreaktionen und natürlich auch neue emotionale Reaktionen. Sinnliche Wahrnehmungen wie auch Erinnerungen, die bisher zu kritischen Reaktionen führten, werden verknüpft mit ressourcenhaltigen Konnotationen, Deutungen und Verhaltensweisen. Kritische Reiz-Reaktions-Schemata wie belastende Assoziationen werden abgeschwächt oder getrennt. Die Konzepte von Verknüpfung und Trennung von Reaktionsmustern können daraufhin angelegt werden, vorübergehend oder dauerhaft aufzutreten oder sich, wie bei einer Konditionierung, regelmäßig zu wiederholen. Alle körperlichen und psychischen Inhalte menschlichen Erlebens können grundsätzlich miteinander verknüpft oder voneinander getrennt werden.

Therapeutische Veränderungen, die von größerer Tragweite sein können, werden zunächst probeweise eingeführt. Sie werden beispielsweise verbunden mit der Aufforderung an den Klienten, alles Vorgeschlagene in praktischer Erprobung daraufhin zu überprüfen, ob es sich als nützlich erweist. Die Klienten werden aufgefordert, alles Gelernte fortzuführen, soweit es sich für das Unbewusste bewährt, und es so lange zu verstärken und zu vermehren, wie seine Ausweitung nützlich ist, dagegen alles zu verwerfen, was sich nicht bewährt. Die Therapie vermeidet durch dieses Vorgehen sowohl Widerstand aufseiten des Klienten als auch unerwünschte Nebenwirkungen. Das Sicherheits- und Autonomiebedürfnis des Klienten wird respektiert.

Verhaltensweisen, bei denen sich der Vorteil der beratenen Person mit Vorteilen für andere, mitbetroffene Personen verbinden lässt, sind vorzuziehen gegenüber Verhaltensweisen, bei denen der Vorteil einer Person zu Lasten anderer betroffener Personen geht. Der zuletzt genannte Typ von Verhaltensweisen (Wettbewerb, Non-Kooperation, Nullsummenspiele) ist jeweils dann zu unterstützen, wenn Lösungen im Sinne des erstgenannten Typs (Freundschaft, Kooperation, Nicht-Nullsummenspiele) nicht erreichbar sind.

Ein allgemeines Ziel der Therapie ist es, den Möglichkeitsspielraum des Klienten zu erweitern. Der Therapeut ist bestrebt, dem Wahrnehmen, Denken und Verhalten des Klienten Möglichkeiten hinzuzufügen und keine hinwegzunehmen.

Mehr noch als eine positive Gestimmtheit des Klienten ist alles zu erstreben, was ihn in eine Position der Kraft versetzt. Als kraftvoll wird hier verstanden, was sich verbindet mit dem Erleben von körperlicher und sozialer Handlungsfähigkeit und von emotionaler Präsenz. Als belastend und schwächend ist zu verstehen, was sich verbindet mit einem Erleben von Lähmung, Beklemmung, Nervosität oder diffuser Aggression. Als Beleg dafür, was für den Organismus stärkend und stressend wirkt, dient für den Therapeuten der Abgleich des eigenen Körperempfindens mit den gerade besprochenen Inhalten. Zusätzlich gleicht der Therapeut optisch und akustisch ab, ob er die Mimik, Haltung, Gestik und Stimme des Klienten während des jeweiligen Gesprächsinhaltes als kraftvoll oder als gestresst erlebt, und fragt den Klienten gegebenenfalls nach seiner Einschätzung.

1.9 Philosophische Verortung

Sind wir in der Welt oder ist die Welt in uns? Alles, was wir über die Welt um uns wissen, ist in uns. In unserem Geist aufbewahrt sind die Ergebnisse unserer Wahrnehmung, die Verknüpfungen zwischen wiederholten Wahrnehmungen als zusammengehörig und gleichbedeutend oder als differenzierbar und unterschiedlich, die Verknüpfungen zwischen gleichzeitigen Wahrnehmungen als zusammengehörig oder nur zufällig nebeneinanderliegend und all die Erinnerungen, Erwartungen, Deutungen und erschlossenen Regeln, die wir mit diesen Wahrnehmungen verbinden.

Wenn unser Geist alle aktuelle, erinnerte und fiktive (als zukünftig erlebte) Wahrnehmung grundlegend gestaltet, kann er sie auch umgestalten. Erinnerung, Gegenwartserleben und Erwartung können unwillkürlich und willkürlich modelliert werden. Das heißt, dass wir die Welt, in der wir leben, verändern können, insofern nicht wir in ihr sind, sondern sie in uns ist und darum in uns gestaltbar ist.

Wir können zusammenfassen, dass alles, was wir über das »Außen« wissen, »innen« stattfindet. Der menschliche Geist gestaltet unsere Wahrnehmung äußerst variabel in der Auswahl und Intensität der Eindrücke. Erst recht sind Erinnerungen ungenau und veränderlich, und noch freier gestaltet der Geist die Deutungen (Glaubenssätze) und Erwartungen, die wir an die uns umgebende Welt richten.

Hinzu kommt, dass die Unterschiede zwischen Wahrnehmung und Imagination gering sind: Alles, was Sekundenbruchteile nach einer Wahrnehmung und fortan in Bezug auf diese geschieht, ist schon Erinnerung und damit Imagination. Doch auch die Zeit bis zur Tausendstelsekunde vor einer Wahrnehmung ist bloße Erwartung. Wenn also das meiste, was wir als Wahrnehmung empfinden, Imagination ist, dann sind innen und außen, Vorstellung und Realität, wenn überhaupt, nur vage zu unterscheiden.

Selbst was wir über das Gehirn und seine Wahrnehmung wissen, ist ja eine Wahrnehmung des Gehirns oder unseres Geistes. Wir können sagen: Unser Geist behauptet, es gebe ein Gehirn, das den Geist erzeugt, wodurch wir behaupten, es gebe ein Gehirn, das den Geist erzeugt … und wir befinden uns in einem Zirkelschluss, aus dem uns allenfalls Sätze wie das sokratische »Ich weiß, dass ich nichts weiß« und das cartesianische »Ich denke, also bin ich« heraushelfen. Was ist wirklich wirklich? Die Übergänge von Realität und Imagination sind fließend und ungewiss. Gleiches gilt für unsere Konzeption der Zeit. Wenn wir von der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sprechen, verweisen wir auf unsere individuelle und kollektiv konstruierte Erfahrung von Erinnerung, Augenblickserleben und Erwartung. Tatsächlich finden sich diese drei Aspekte unseres Erlebens zeitgleich nebeneinander in unserem Gehirn. Sie sind nicht nur zwischen verschiedenen Menschen höchst unterschiedlich gestaltet, sondern verändern sich auch im Verlauf eines Lebens und manchmal innerhalb weniger Augenblicke. Die Erinnerungen bestimmen die Erwartungen eines Menschen, sind aber ihrerseits von Glaubenshaltungen geprägt, sind formbar und veränderlich.

Erinnerung, Augenblickserleben und Erwartung sind weithin das Ergebnis der Geschichten, die wir uns selbst über unser Leben erzählen. Nochmals sind die Übergänge zwischen Realität und Imagination fließend.

So scheint es mir berechtigt zu sagen, dass unser Erleben nicht nur Geschichten hervorbringt, sondern dass es im Innersten aus den Geschichten besteht, die wir uns selbst und anderen erzählen. Unsere Erzählungen über unsere Welt werden sicher von einer dahinter liegenden Realität gespeist, sodass wir nicht nur konstruieren, sondern gleichzeitig auch analysieren. Nur ist uns zwischen der Konstruktion und der Analyse von Wirklichkeit keine Unterscheidung möglich.

Die Frage kann gestellt werden, ob es dann nicht völlig beliebig sei, welche Geschichten wir einander erzählen und ob es dann auch keinen Unterschied zwischen Lüge und Wahrheit oder auch zwischen Irrtum und zutreffender Beschreibung gäbe.

Mir scheint, dass sich der Realitätsgehalt einer Geschichte am sichersten daran bemisst, ob sie den Organismus eines Menschen – von diesem selbst erlebt als Körper und Psyche – stärkt und die Beziehungen in einer Gruppe – nach Meinung ihrer Mitglieder – fördert. Lüge und Wahrheit sind dann eine Frage von Authentizität. Sie hängen davon ab, ob jemand sagt, was seiner Überzeugung entspricht. Ebenso wie Definitionen von Lüge und Wahrheit nur kontextuell zu verstehen sind, sind auch Aussagen über Irrtum und Richtigkeit eingebettet in Geschichten darüber, welches Denken sich für einen Menschen oder eine Gruppe bewährt hat und welches nicht. Wem es gelingt, sich auf andere Glaubenshaltungen einzulassen, der stellt fest, dass auch deren Regelwerk der Irrtümer und Richtigkeiten konsistente Denk- und Handlungsmodelle nach sich ziehen.

Um die Möglichkeiten therapeutischer Arbeit zu erweitern, scheint es mir gut, wenn wir uns unserer Wirklichkeit nicht gar zu sicher sind. Für die meisten Menschen in unserem Kulturkreis ist es selbstverständlich, dass der Geist eine körperliche Funktion ist. Ungewohnt, aber für den therapeutischen Erfolg ertragreich, mag es sein, den Körper als eine geistige Funktion zu betrachten. An die Stelle einer einlinigen Kausalität vom Körper zum Geist kann versuchsweise das Modell einer Wechselresonanz treten. Die psychische Dimension des Geistes kann in Verbindung gesehen werden mit der Vorstellung eines psychoanalytisch oder spirituell verstandenen kollektiven Geistes.

Heilung und Heil sind verwandte Begriffe. Für Jesus von Nazaret und für die Rabbiner, für Ordensschwestern und ebenso für die Schamanen, Druiden und heilkundigen Frauen aller Zeiten ist eine spirituelle Dimension von Heilung selbstverständlich gewesen. Der Dialog zwischen Medizin, Psychotherapie und religiösen Traditionen könnte unseren Blick erweitern für Sichtweisen des Menschen, die neue Möglichkeiten körperlicher, seelischer, sozialer und spiritueller Heilung eröffnen.

Die Geschichten, die wir uns und einander erzählen, gestalten unsere Welt. Da die Strukturen von Heilung bzw. Problemlösung einander immer wieder gleichen, kann es lohnend sein, therapeutisch wirksame Strukturen auf gesellschaftliche und globale Zielsetzungen anzuwenden. Neu zu erproben sind Sichtweisen aller Lebewesen auf der Welt als einem Organismus, dessen Zellen wir sind. In eine Fabel gefasst: Die Pilze eines Hexenringes erzählen einander, dass sie Individuen sind, und in gewisser Hinsicht haben sie damit auch recht. Ihr Myzel weiß, dass sie ein Lebewesen sind, aber es schweigt darüber. Die Pilze mögen es nicht bemerken, aber wir wissen, dass sie verbunden sind durch ein Geflecht, das sie hervorgebracht hat und das sie überdauern wird. Der Kollektivismus des alten Stammesdenkens ist ebenso wahr wie der Individualismus des modernen westlichen Denkens. Die Sichtweise, dass alles Leben ein einziges Lebewesen ist, ist logisch zulässig und ist, wenn wir uns darauf einlassen, der Heilung des globalen Gemeinwesens zuträglich.

Unsere vermeintliche Sicherheit über das, was wirklich und möglich ist, schafft Grenzen des Möglichen, die vielleicht gar nicht nötig wären. Das Buch lädt darum dazu ein, bisherige Gewissheiten nochmals zu überprüfen. Die Geschichten dieses Buches laden ein zum Ausweiten therapeutischer Möglichkeiten. Viele von ihnen beruhen auf langer Erfahrung, manche sind experimentell. Einige Geschichten werden Widerspruch provozieren. Dieser Widerspruch ist willkommen. Dieses Buch lädt ein zum Diskutieren, vor allem aber zum Ausprobieren neuer therapeutischer Arbeitsweisen.

Eine gewisse Ungewissheit über unsere vermeintliche Realität und über die fließenden Übergänge zwischen schierer Vision und sich anbahnender Wirklichkeit scheint mir wichtig, um den Geschichten die verändernde Kraft zuzutrauen, die ihnen nach meiner Erfahrung zukommt. Das »Handbuch des therapeutischen Erzählens« regt dazu an, selbst mit dem Erzählen zu beginnen und mit den Wirkungen von Beispiel- und Metapherngeschichten in der Beratung und im eigenen Leben zu experimentieren.

1.10 Gebrauchshinweise

Um einen schnellen Überblick über die Einsatzmöglichkeiten der Geschichten zu vermitteln, sind in diesem Buch jeder Geschichte Stichworte beigefügt. Diese Stichworte beziehen sich auf therapeutische Themen (T), zu denen die Geschichte passt, und auf die in ihr enthaltenen therapeutischen Interventionen (I). Im Methodenteil wird beispielhaft auf verschiedene Themen und ausführlich auf die therapeutischen Interventionen eingegangen. Das Stichwortregister im Anhang berücksichtigt die Schlagworte zu den Geschichten.

Unter den Lesern des Manuskriptes gab es eine Diskussion, ob nicht der Methodenteil dem Geschichtenteil voranzustellen wäre. Andererseits benötigen auch die Methoden die Geschichten als Grundlage, um anschaulich und verständlich zu sein. Das Buch erschließt sich also in einem hermeneutischen Zirkel: Gleichermaßen erklärt der Methodenteil die Geschichten und der Geschichtenteil die Methoden des Buches. Dem Leser ist es unbenommen, die Lektüre der Methoden den Geschichten voranzustellen oder zwischen beiden Abschnitten flexibel zu wechseln.

Die therapeutischen Stichworte bei den Geschichten und im Register sind überwiegend symptombezogen, das heißt, sie sind meist problemorientiert und defizitorientiert formuliert. In Bezug auf die Zielsetzung, eine Verschiebung des Aufmerksamkeitsfokus von Defiziten hin zu Ressourcen zu erreichen, mag dies inkonsequent erscheinen. Hätte unsere Sprache ebenso viele Worte für Gesundheiten wie für Krankheiten, wäre eine Registererstellung in Ressourcenbegriffen möglicherweise sinnvoll. Positiv betrachtet, entspricht die problemorientierte Stichwortsuche jedoch dem Prinzip von Pacing und Leading, wonach Therapeuten (Autoren, Ausbilder, Supervisoren) zunächst beim aktuellen Erleben des Fragenden anknüpfen (oft ein Problemerleben) und dieses in Richtung auf die Optimierung von Ressourcen (also in Richtung Lösungserleben) verändern.

Mit Sicherheit sind viele der Geschichten in weiteren, noch gar nicht genannten Zusammenhängen einsetzbar. Oft wäre es möglich, weitere Symptombegriffe und Erklärungen zur Anwendung einzufügen. Willkommen sind dem Autor Ergänzungsvorschläge der Leserinnen und Leser und Rückmeldungen zu den Erfahrungen, die sie mit den Geschichten gemacht haben. Ein solcher Austausch, etwa per E-Mail, kann dazu beitragen, dass das Buch als Nachschlagewerk künftig noch besser zu nutzen sein wird.

ERSTER HAUPTTEIL: DIE GESCHICHTEN

2. Verstehen hervorrufen

2.1 Sinngebung

Welchen Sinn sieht ein Mensch in seinem Leben? Jeder Mensch braucht Ziele, in deren Rahmen er sein Leben als sinnvoll erlebt. Die grundlegenden Ziele können sich im Verlauf eines Lebens wandeln, sie können eher dynamisch als Veränderung (Erfolg) oder eher statisch als Zufriedenheit (Gesundheit, Frieden) beschrieben werden. So unterschiedlich die Lebensziele jedes Einzelnen sind – Menschen können in jedem Fall benennen, was ihr Leben lohnend macht – oder sie empfinden es nicht als lohnend und wären lieber gar nicht da.

Die Geschichte »Lebensziel« stellt einen möglichen Absolutheitsanspruch bestehender Lebensziele infrage und fordert zum Formulieren eigener Werte auf.

Lebensziel

T: Gesundheit, Sinn

I: Externalisieren einer Ambivalenz als Dialog, Zielklärung, Suchhaltung erzeugen (Beispiel, Suchmodell)

»Mein Lebensziel ist es, eine möglichst breite Spur von Heilung und Glück hinter mir her zu ziehen«, sagte ich zu einem Freund. »Da hast du ja einen großen Anspruch«, sagte er. »Ich bin schon froh, wenn ich nicht allzu viel Unglück anrichte.«

*

Die Geschichte »Das doppelte Leben« macht deutlich, dass Glück, Gesundheit und Lebenserwartung davon abhängig sind, ob jemand Perspektiven und Ziele für sein Leben erkennen kann.

Das doppelte Leben

T: Gesundheit, Lebenserwartung, Sinn

I: Positive Erwartung erzeugen, Suchhaltung erzeugen, Zielklärung (Metapher, Positivmodell)

Einige Forscher wollten gerne wissen, warum die Lachse nach dem Laichen sterben. Sie fischten eine Anzahl der Tiere aus dem Fluss, versahen sie mit einem Sender und setzten sie zurück ins Meer. Siehe da: Die Tiere lebten weiter.

*

Die Erzählung »Göggöck im Glück« erinnert daran, dass wir das Glück nicht immer erkennen und annehmen können, dass mancher seine Gründe hat, seine Situation nicht zu verbessern, dass wir Ziele brauchen, für die wir kämpfen, und dass unerwarteter Erfolg auch eine Überforderung darstellen kann.

Im Gespräch mit Eltern kann die Geschichte etwa eingesetzt werden, um zu verdeutlichen, dass Kinder und Jugendliche nicht an Wohlstand als etwas selbstverständlich Vorhandenes gewöhnt werden dürfen, und dass Kinder die Erfahrung brauchen, Erfolg und Besitz durch persönlichen Einsatz zu erringen.

Die Geschichte kann auch eingesetzt werden, um Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass sie Fähigkeiten als selbstverständlich nehmen und Handlungsmöglichkeiten übersehen, obwohl oder gerade weil sie reichlich vorhanden sind.

Göggöck im Glück

T: Erfolg, Erziehung, Erwachsen werden, Sinn

I: Ressourcen finden, Suchhaltung erzeugen, Zielklärung (Metapher, Suchmodell)

Jemand erzählte mir: »Als ich ein Kind war, hatten wir Hühner und einen Hahn, der hieß Göggöck. Hahn und Hühner liefen im Hof umher, scharrten und pickten nach Körnern. Einmal wollten wir Göggöck eine besondere Freude machen. Wir setzten ihn mitten in die Kiste, in der das Getreide aufbewahrt wurde. Das musste für Hühner der Himmel sein! Da stand nun Göggöck, auf Abertausenden von leckeren Körnern. Er schaute uns verwundert an und tat nichts. Er fraß kein einziges Korn. Schließlich brachten wir ihn wieder nach draußen, wo er wieder, wie früher, scharrte und nach Körnern suchte.«

»Der Frevler« illustriert, dass es einen Wert darstellt, für seine Werte einzustehen. Wo den eigenen Werten die Interessen anderer entgegenstehen, ist es oft nötig, eine Balance zu finden zwischen einem öffentlichen und einem unauffälligen Eintreten für die eigenen Ideale. Die Geschichte kann auch eingesetzt werden, um Klienten dazu aufzufordern, ihr Licht nicht unter den Scheffel zu stellen und sich selbstbewusst vor anderen zu präsentieren.

Der Frevler

T: Glauben, Identität, Selbstsicherheit

I: Musterunterbrechung durch den Klienten, Ressourcen finden (Beispiel, Positivmodell)

Als ich die große Taufkapelle am Dom zu Pisa besuchte, dachte ich: Was haben sie für einen Kommerztempel daraus gemacht. Mir widerstrebte es, am Eingang einer Kirche Eintritt zu bezahlen und mich dann unter Hunderten von unruhig alles fotografierenden Touristen wiederzufinden. Einige schauten auf die Uhr, denn einmal in der Stunde demonstrierte ein bezahlter Sänger die wunderbare Akustik. Sollte eine Kirche nicht zur Andacht dienen? Oben auf der Empore angekommen, dachte ich: Es wird doch gewiss erlaubt sein, den Tempel des Mammon wieder einmal in ein Gotteshaus umzuwidmen. Es kostete mich etwas Mut, dann war ich so weit: Laut und klar sang ich in den offenen Raum hinein: »Laudate omnes gentes, laudate dominum«. Die Akustik war wirklich ausgezeichnet. In der Kirche wurde es still. Die Menschen schauten, woher der Gesang käme, aber der Hall machte es schwierig, die Herkunft des Gesanges auszumachen. So ging es auch dem Aufsichtspersonal, das umherlief, um den Übeltäter zu suchen. Als die Strophe zu Ende war, hatte mich einer entdeckt. Er wartete, bis ich wieder anfangen würde, um mich auf frischer Tat zu ertappen – sonst hätte ich leicht meinen Frevel verleugnen können. Versonnen schaute ich in den Raum. »Danke«, sagte eine Frau neben mir, »das war wunderbar.« Auch mir hatte der Gesang gutgetan. Als der letzte Hall verklungen war, verließ ich das Gotteshaus. Dem Wächter, der mich noch immer fixierte, schenkte ich mein freundlichstes, bösestes Lächeln.

2.2 Wahrnehmung und Deutung

»Wie wirklich ist die Wirklichkeit?«, hat der Kommunikationsforscher Paul Watzlawick gefragt5 und hat darauf hingewiesen, dass Wirklichkeit von jedem Menschen anders konstruiert wird. Wer von Wirklichkeit spricht, muss hinzufügen, wessen Wirklichkeit er meint, und genau genommen auch, zu welchem Zeitpunkt. Wirklichkeit wird immer wieder neu konstruiert, auch innerhalb ein und desselben Lebens. Die folgenden Beispielgeschichten sind daraufhin ausgerichtet, unsere Weise, die Welt zu deuten, grundsätzlich infrage zu stellen und neue Deutungen vorzubereiten.

»Die Erschaffung der Welt« verdeutlicht, dass alle gedanklichen Systeme und damit alle menschlichen Weisen, die Welt zu interpretieren, von Menschen ersonnen sind. Wir bekommen oft die Welt, die wir erdenken und erglauben. Oder, auf die Person bezogen: Wir werden zu dem, was wir glauben; wir werden zu dem, was wir denken, was wir hoffen und was wir fürchten.

Diese Regel hat eine weitreichende Gültigkeit auf den Ebenen der Gesundheit, der psychischen, materiellen, finanziellen und sozialen Gegebenheiten. Natürlich können wir unsere jeweilige Welt teilen mit anderen Menschen, indem wir sie verbal und nonverbal kommunizieren. Zu einem gewissen Grad machen wir also auch unsere Umgebung zu dem, was wir von ihr glauben. Alle Wirklichkeit ist geschaffen aus einer kommunizierten und solchermaßen gemeinsamen Welt.

Die Erschaffung der Welt

T: Depression, Wirklichkeit

I: Destabilisieren durch Gegenthesen, Ressourcen finden, Suchhaltung erzeugen, Tranceinduktion durch Fragen und durch Stereotypie (Beispiel, Suchmodell)

Mohammed hat eine Welt erschaffen. Freud hat eine Welt erschaffen. Tolkien hat eine Welt erschaffen. McKinsey hat eine Welt erschaffen. Die ALDI-Brüder haben eine Welt erschaffen. Bill Gates hat eine Welt erschaffen. Kann ich das auch?

»Jede Woche eine neue Welt« sagt ein Werbeslogan. Jede Woche werden neue Welten geschaffen. Die meisten davon sind wenig originell. Sie schwimmen im Kielwasser etablierter Welten und setzen sich nicht durch.

Was für eine Welt haben Sie erschaffen? Eine philosophische? Eine spirituelle? Eine kommerzielle? Eine mathematische? Eine soziale? Eine ästhetische? Eine materielle? Eine kommunikative? Eine Spaßwelt? Eine ethische Welt?

Sie meinen: Gar keine? Das glaube ich nicht. Sie müssen nur irgendwohin gucken. Sobald Sie dabei aus Versehen etwas Neues denken, beginnt schon die Erschaffung der Welt.

*

Die Geschichte der »Höhlenbewohner« illustriert, dass unsere Wahrnehmung mehr von unserer Biologie und Biografie als von objektiven Gegebenheiten her bestimmt wird und dass die Rückkoppelungseffekte sowohl unserer Sinneswahrnehmung als auch unserer Deutungen das mutmaßlich Eigentliche dieser Welt weitgehend übertönen.

Höhlenbewohner

T: Depression, Wirklichkeit

I: Destabilisieren durch unlösbare Fragen, Suchhaltung erzeugen (Metapher, Suchmodell)

Sie fragte ihre Mama: »Mama, Mama,

was ist wirklich wirklich wirklich?«

»Was meinst du, wirklich wirklich wirklich?«

»Ich meine, ohne dieses Echo Echo Echo.«

»Welches Echo Echo Echo?

Das hier ist wirklich wirklich wirklich.«

»Ach so ach so ach so.«

Da wusste sie Bescheid Bescheid Bescheid.

*

»Die Brille« ist die Niederschrift eines Traums und weist darauf hin, dass wir oft Zeit und Energie darauf verwenden, belastende Sicht- und Erlebensweisen aufrechtzuerhalten. Lösungen, die darin bestehen, die Grundvoraussetzungen unseres Denkens zu verändern, liegen möglicherweise so nahe, dass wir sie nicht finden.

Die Brille

T: Wirklichkeit

I: Destabilisieren durch unlösbare Fragen, Metaphorisches Reframing, Ressourcen finden, Zielklärung (Metapher, Suchmodell)

Heute Nacht hatte ich einen Traum. Mein linker Brillenbügel war verbogen und ich wollte ihn reparieren, damit die Brille wieder gut sitzt. Ich habe ihn zweimal hin und her gebogen – und dann war er ab. Ich habe ihn an die Brille gehalten. Er war am Scharnier abgebrochen. Reparieren ließ sich das nicht mehr. Was tun?

Ich habe die Brille angezogen in der Hoffnung, dass sie noch einigermaßen sitzt. Aber sie hing mir schräg auf dem Gesicht. Der Blick durch die Gläser war verzerrt, und ungemütlich war es auch. Man musste sie ständig festhalten. Der Optiker hat sonntags zu. Was ist in einem solchen Fall die beste Lösung? Ich dachte nach. Da fiel mir ein: Ich habe mir vor über einem halben Jahr die Augen gegen Kurzsichtigkeit lasern lassen. Warum trage ich denn diese doofe Brille überhaupt noch? Und ging ohne Brille weiter.

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Die Geschichte »Von Punkt zu Punkt« verweist darauf, dass wir unsere Wirklichkeit konstruieren und dass verschiedene Wirklichkeitskonstruktionen möglich und zulässig sind. Sie kann eingesetzt werden, um Klienten zu mehr Toleranz zu ermuntern, um bisherige Sichtweisen infrage zu stellen und um Klienten dazu anzuleiten, neue Sichtweisen zu prüfen. Sie verdeutlicht auch, dass die Kinder-Weltbilder und Wahnvorstellungen (etwa bei Demenz) durch fehlende Informationen und das Ausmalen der Lücken mit Fantasie und Emotion entstehen.

Von Punkt zu Punkt

T: Demenz, Erwachsen werden, Glauben, Wahn, Wirklichkeit, Zwang

I: Destabilisieren durch unlösbare Fragen, Ressourcen finden, Rhetorische Frage, Suchhaltung erzeugen, Tranceinduktion durch Altersregression und durch Fragen (Metapher, Suchmodell)

Als Kind hatte ich ein Malbuch, in dem sich Bilder befanden, die aus lauter unverbundenen Punkten bestanden. Neben jedem Punkt befand sich eine Zahl, und wer die Zahlen in der richtigen Reihenfolge verband, entdeckte das Bild, das hinter den Punkten versteckt war.

Ich frage mich – wenn bei einem solchen Bild aus irgendeinem Grund die Zahlen verloren gingen – wie viele Bilder wohl in dieser Ansammlung von Punkten versteckt sein mögen? Und wenn ein Mensch nie eine Sternkarte gesehen hätte, welche Sterne würde er wohl zu Sternzeichen verbinden? Wie viele verschiedene Sternenhimmel könnte es geben? Und wenn uns andere die Welt erklärt hätten als die, die uns großgezogen haben, in welcher Welt könnten wir dann leben?

Auf wie viele Weisen können wir die Dinge der Welt als zusammenhängend oder unverbunden sehen? Wie viele Begriffe können wir bilden für Dinge, die nicht dinglich sind, für Frieden, Gerechtigkeit, Identität? Auf wie viele Arten können wir das Gerüst unserer Wertbegriffe miteinander verbinden oder unverbunden nebeneinander stehen lassen? Auf wie viele Arten können wir einen Menschen sehen, auf wie viele Arten sein Verhalten deuten?

Und immer male ich von Punkt zu Punkt.

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Die Geschichte »Wer ist wie?« ist dafür gedacht, einen Anstoß zum Nachdenken über die Relativität angeblicher Eigenschaften eines Menschen zu geben. Sie kann verwendet werden, um zu verdeutlichen, wie sehr die Zuschreibung von Eigenschaften von den Deutungen der Umgebung abhängt. Rückschlüsse vom Verhalten eines Menschen auf sein So-Sein sind nicht zulässig. Selbst aus dem wiederholten Verhalten eines Menschen kann ich keine Eigenschaften ableiten: Denn erstens unterstelle ich damit, dass er nicht regelmäßig anders handeln kann (sonst hätte er mit dem neuen Verhalten plötzlich andere Eigenschaften, wäre also ein anderer Mensch), zweitens hängen die zugeschriebenen Eigenschaften von den Werten des Beobachters ab: Je nach dessen Maßstäben ist ein Mensch genügsam oder geizig, berechnend oder geschäftstüchtig, heldenhaft oder dumm, stur oder charakterstark.

Wer ist wie?

T: Identität, Vorurteil, Wirklichkeit

I: Destabilisieren durch unlösbare Fragen, Reales Reframing, Ressourcen finden (Beispiel, Suchmodell)

Gestern war ich in einem Geschäft in der Stadt einkaufen. Die Verkäuferin war allein im Laden, und das Wechselgeld ging ihr aus. Wir kannten uns nicht, hatten aber vor dem Bezahlen eine Zeit lang geplaudert. Nun drückte sie mir einen 50-Euro-Schein in die Hand und sagte: »Darf ich Sie bitten, den gerade im Elektrogeschäft nebenan für mich zu wechseln?«

Ich fragte mich: Ist die Frau verantwortungslos, unachtsam, naiv, ist sie menschenkundig, vertrauensvoll oder herzlich und unkonventionell, dass sie einen fremden Mann mit 50 Euro aus ihrer Kasse auf die Straße schickt? Ich hätte den Laden auf Nimmerwiedersehen mit dem Schein verlassen können. Stattdessen drückte ich der Verkäuferin meinen Geldbeutel in die Hand und sagte: »Als Pfand.« Darin befanden sich 200 Euro, mein Personalausweis, mein Führerschein und die Kreditkarte.

Wer bin ich, dass ich so handle? Für hundert Menschen, die dies lesen, bin ich hundert verschiedene Leute mit mehr als hundert Eigenschaften. Mit mir aber hat das alles nichts zu tun.

2.3 Verstehen und Missverstehen