Therapie zwischen den Zeilen (Leben Lernen, Bd. 273) - Stefan Hammel - E-Book

Therapie zwischen den Zeilen (Leben Lernen, Bd. 273) E-Book

Stefan Hammel

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Beschreibung

Der Begründer der modernen Hypnosetherapie, Milton Erickson, wusste bereits, dass bei Klienten oft das besonders nachhaltig wirkt, was in der Kommunikation nur »mitschwingt«, aber nicht ausgesprochen wird. Viele seiner originellen Interventionen bauen darauf auf. Doch wie funktioniert »Therapie zwischen den Zeilen«? Wie geht Mehrebenenkommunikation in der Praxis? Das ebenso anschauliche wie detailreiche Buch von Stefan Hammel gibt darüber gründlich Auskunft. Zugleich vermittelt es die Kunst, die Dinge mitzuhören, die ein Klient sagt, ohne sie ausdrücklich zu formulieren – zum Beispiel durch Sprachbilder, Mehrdeutigkeiten oder mit seiner Körpersprache und vieles anderes. Diese Kompetenzen zu beherrschen kann aber auch ein Schlüssel zum Erfolg der Therapie sein.

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Seitenzahl: 502

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Stefan Hammel

Therapie zwischen den Zeilen

Das ungesagt Gesagte in Psychotherapie, Beratung und Heilkunde

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2014 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Hemm & Mader, Stuttgart

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89153-9

E-Book: ISBN 978-3-608-10741-8

PDF-E-Book: 978-3-608-20250-2

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2014 der Printausgabe

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1 Vielschichtige Begegnung – Implikation und Mehrebenen-Kommunikation als therapeutische Kunst

Teil I: Die Seiten, die wir beschriften – Ethische Grundlagen

2 Worum geht’s? – Werte

2.1 Liebe und Respekt – Was steht im Mittelpunkt?

2.2 Integrität – Wo beginnt Manipulation?

2.3 Hoffnung – Sind Placebos ehrlich?

Teil II: Die Zeilen, die wir ziehen – Methodische Grundlagen

3 Landkarten der Seele – Versuche der Kartierung einer unsichtbaren Welt

3.1 Persönlichkeitsanteile oder Seinsmöglichkeiten? – Räumliche und zeitliche Differenzierung von Identität

3.2 Dimensionen des Erlebens – Das Koordinatensystem des Denkens neu nutzen

3.3 Probleme trennen, Lösungen verknüpfen! – Das Ich, das Schlimme und das Schöne neu in Beziehung setzen

3.4 Wartezimmergespräche – Erlebtes trennen

3.5 Im Zahnarztstuhl und anderswo – Erlebtes verknüpfen

3.6 Das Leben als Trickfilm – Erlebtes formen

3.7 Was macht mein Problem nur ohne mich? Stufen der Dissoziation – »Ich« und das Problem

4 Wie man mehrere Gespräche gleichzeitig führt – Therapeutische Mehrebenen-Kommunikation

4.1 Einer für alle, alle für einen – Mehrebenen-Kommunikation als Ausdruck von Rapport

4.2 Sprechen zwei, so sprechen viele – Mehrebenen-Kommunikation als Netz von Implikationen

4.3 Mit vielen Ohren hören, mit vielen Stimmen sprechen – Therapeutische Mehrebenen-Kommunikation lernen

Teil III: Begegnung zwischen den Zeilen – Fallbeispiele

5 Zwischen den Zeilen von Unterscheidung und Verknüpfung – Wie man Verbundenes trennt und Getrenntes verbindet

5.1 Folien – Unterscheidung zum Zweck der Orientierung

5.2 Der Aktenschrank – Unterscheidung zum Zweck der Diversifikation

5.3 Betäubung durch Malen und Bogenschießen – Unterscheidung und Verknüpfung zum Zweck der Anästhesie

5.4 Allergien zerlegen, Gesundheit zusammensetzen – Unterscheidung und Verknüpfung zum Zweck der Heilung

5.5 Zauberbrause – Verknüpfungen zur Neu-Konditionierung von Verhalten

5.6 Ungeschoren – Verknüpfungen zur Überwindung negativer Erwartungen

5.7 Das Spiel gegen die Langeweile – Funktionierendes als neue Grundlage für Nicht-Funktionierendes

6 Zwischen den Zeilen der Zeiten – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Dialog

6.1 Der gute Anfang und das gute Ende – Den Bildausschnitt von Lebensgeschichten neu wählen

6.2 Als Sie Ihren Sohn umarmten – Das gute Ende der früheren Vergangenheit in der späteren

6.3 Fortsetzung im Himmel – Das gute Ende im ewigen Leben

6.4 Die Welt der Träume – Das gute Ende in der Zukunft

6.5 Die Ahnen aus der Steinzeit – Das gute Ende mithilfe der Vorzeit

6.6 Die Delfine des nie Dagewesenen – Das gute Ende ohne guten Anfang

6.7 Der Korb, der durch die Zeiten geht – Das gute Ende der Gegenwart in der Vergangenheit

6.8 Große Schwester, kleine Schwester – Das gute Ende der Vergangenheit in der Gegenwart

6.9 Auftauen – Das gute Ende auf dem Weg zur Zukunft

7 Zwischen den Zeilen sprachlicher Bilder – Vorhang auf für das Leben!

7.1 Ritzen – Mehrdeutiges zur Anknüpfung für Metaphern nutzen

7.2 Der Stilleaufzug – Den Widerspruch des Klienten vermeiden

7.3 Das Leben entschlammen – Innerpsychische Prozesse und Zeiterleben räumlich anordnen

7.4 Gottes Garderobe – Die radikale Wirkung von Bildern und Ritualen erkennen

7.5 Die Ekelleute – Die Ambivalenzen des Klienten respektieren

7.6 Die Laserpointerscheibe – Unerwünschte Implikationen des Therapeuten entkräften

7.7 Die Hölle! – Unerwünschte Implikationen des Klienten entkräften

8 Zwischen den Zeilen von Wirklichkeit und Unwirklichkeit – Mach aus dem Leben einen Film und aus einem Film das Leben!

8.1 Einmal angenommen … – Vermeintlich Unwirkliches wirklich werden lassen

8.2 Wer war schon in der Zukunft … – Vermeintlich Wirkliches unwirklich werden lassen

8.3 Grüßen Sie Ihr Traum-Ich! – Der Weg vom Wahn zur Wirklichkeit

9 Zwischen den Zeilen des Körpers – Den Körper auf neue Arten hören und mit ihm reden

9.1 Torticollis – Das Verhältnis von Körpersprache und verbaler Sprache

9.2 Die Sache mit dem Daumen – Der Umgang mit Sucht- und Gewohnheitsstörungen

9.3 Augenreiben – Körpersprache als Körpererinnerung

9.4 Trichotillomanie – Körpersprache als Ausdruck von Protest und Kooperation

10 Zwischen den Zeilen von Bedeutung und Bewertung – Wie wir Bedeutung schaffen und verändern

10.1 Lass dich nicht verbaren! – Implikationen bei der Vermischung von Subjekt und Objekt

10.2 Der doppelte Geburtstag – Implikationen bei der Interpunktion von Ereignissen

10.3 Spinnenphobie – Implikationen beim Gebrauch von Trickfilmtechniken

11 Zwischen den Zeilen des Paradoxen – Das Unvereinbare vereinbaren, neue Wirklichkeiten erfinden

11.1 Was ist nichts? – Nichts als etwas – paradoxer Umgang mit dem Sein

11.2 Der Schachspieler – Stille hören, Töne sehen – paradoxe Formen der Wahrnehmung

11.3 Blinder Alarm am Blinddarm – Du und dein Körper – paradoxe Unterscheidungen

11.4 Die hochsensible Frau – Es stört ja nicht, wenn’s stört – paradoxer Umgang mit Emotionen

11.5 Das Ende des Lateins – Wissen, was man nicht weiß – paradoxer Umgang mit Gedanken

Teil IV: Botschaften zwischen den Zeilen – Ebenen der Implikation

12 Das ungesagt Gesagte der sichtbaren und hörbaren Welt – Alles Wahrnehmbare nutzen!

12.1 Ein gutes Lied braucht mehr als Worte – Implikationen des Nonverbalen in der Sprache

12.2 Das Auge isst immer mit – Implikationen von Handlungen und Gesten

12.3 Die Glocken freuen sich mit – Implikationen der Dinge um uns

13 Das ungesagt Gesagte in der Welt der Fragen – Wie Schloss und Schlüssel – Antworten und ihre Fragen

13.1 Was wir sagen, wenn wir fragen – Implikationen verschiedener Fragen

13.2 Tut’s schon weh? – Implikationen von Fragen nach Symptomen

13.3 Kopfschmerzen – Implikationen von Fragenserien

13.4 Waren Sie schon in Hypnose? – Fragenserien als Tranceinduktion

13.5 So ist es, oder nicht? – Implikationen von Fragen, die mit Aussagen verschmelzen

14 Das ungesagt Gesagte bei der Interpretation des Problems – Unlösbare Probleme deuten und als lösbar neu erfinden

14.1 Geht’s Ihnen nur schlecht oder wirklich nicht gut? – Implikationen bei der unmerklichen Veränderung von Information

14.2 Was bin ich? – Implikationen von Diagnosen und Prognosen

14.3 Keine Angst vor Haifischzähnen! – Implikationen des Negativen

14.4 Momentan geht’s gut – Implikationen von Einwänden gegen die Besserung

14.5 Bei mir ist das so – Implikationen von Erinnerung, Erfahrung und Erwartung

14.6 Die schöne Welt der Grüße – Implikationen in der Wahl der angesprochenen Person

15 Das ungesagt Gesagte im Ablauf der Therapie – Die Reihenfolge zählt!

15.1 Merken Sie’s schon? Gleich geht’s los! – Implikationen der therapeutischen Dramaturgie

15.2 Das Gute zuerst! Oder besser am Schluss? – Implikationen der Satzkonstruktion

16 Wozu die Goldwaage? – Schlussgedanken

Anhang

17 Verzeichnisse

17.1 Stichwortverzeichnis

17.2 Literaturverzeichnis

Vorwort

»Kannst du uns ein Handout machen mit den Regeln, wie man Sätze formuliert, um Probleme von Klienten zu verändern?« – »Darüber müsste man ein ganzes Buch schreiben, und ich weiß nicht, ob das reichen würde.« Seit diesem Dialog mit einer Seminarteilnehmerin fragte ich mich, wie man das Wichtigste zur Mehrebenen-Kommunikation und zu Implikationen in der Therapie in Regeln fassen könnte, um es lern- und lehrbar zu machen. Ich dachte an ein »Handbuch der therapeutischen Implikation«, aber das Gebiet (einschließlich Körpersprache und Metaphorik) ist so komplex, dass eine Darstellung in Fallbeispielen und Themenschwerpunkten realistischer ist.

Mehrebenen-Kommunikation ist die gleichzeitige Kommunikation auf mehreren Ebenen, wenn verschiedene Instanzen des Erlebens mit unterschiedlichen Botschaften gleichzeitig angesprochen werden. Bei dieser Art der Kommunikation spielt der Gebrauch von Andeutungen und Mehrdeutigem, von bildhafter Sprache und Körpersprache eine Rolle. Indirekte, implizit vermittelte Botschaften rücken verstärkt in den Blick.

Mitausgedrücktes wirkt in der Therapie oft stärker als das direkt Gesagte. Das liegt wohl daran, dass das direkt Gesagte vom Bewussten mit seinen Restriktionen (geht nicht, darf nicht, kann nicht, will nicht) bearbeitet wird. Indirekt Gesagtes wird eher vom Unbewussten mit seinen umfassenderen Möglichkeiten bearbeitet. Um eine therapeutische Strategie zu erarbeiten, ist es nützlich, unbewusste Botschaften der Klienten mitzuhören und unbeabsichtigt schädliche Implikationen des Therapeuten zu entschärfen.

Bei »Therapie zwischen den Zeilen« geht es darum, Dinge wahrzunehmen, die ein Klient äußert, ohne sie ausdrücklich zu formulieren, und die oft den Stand der Therapie genauer widerspiegeln als alle ausdrücklichen Worte – und darum, eine solche Sprache auch aktiv zu gebrauchen, um die Ziele des Klienten möglichst schnell, sicher und nachhaltig zu erreichen.

Eine Klientin, die von dem Vorhaben dieses Buches hörte, schrieb: »Lesen zwischen den Zeilen gefällt mir. Die Zeilen sind Kopf und Verstand, Wissen und Bekanntes. Die Leere zwischen den Zeilen ist Stille, Herz und Seele. Stille, aus der alles entstehen kann. Als Sie mir erzählt haben, dass Sie sich für das interessieren, was zwischen den Zeilen steht, ist mir ›Der kleine Prinz‹ von Antoine de Saint-Exupéry eingefallen: ›Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar!‹«1

Einleitung

1 Vielschichtige Begegnung – Implikation und Mehrebenen-Kommunikation als therapeutische Kunst

»Ich steh’ mir selbst im Weg.«

»Dann treten Sie doch ein wenig zur Seite!«

»Wenn es so einfach wäre!«

»Entschuldigen Sie, ich habe mich ungenau ausgedrückt. Ich meine natürlich, dass der, der Ihnen im Weg steht, zur Seite treten soll, damit der andere von Ihnen, dem er im Weg war, weitergehen kann.«

»Das wäre schön …«

»Könnten Sie Ihrer Seele denn einen schönen Gruß ausrichten, dass sie den Verkehr da drinnen neu regelt – also dass der, der im Weg steht, zur Seite rückt, und ansonsten der, dem Sie im Weg stehen, einen kleinen Umweg drumherum macht?«

»Ich weiß nicht … ich richte es ihr aus.«

»Das braucht gar kein großer Umweg sein, wenn einem jemand im Weg steht und der nicht von selbst weggeht. Manchmal hat er sogar einen Grund, warum er da steht. Sehen Sie, da, wo wir heute Ampeln verwenden, gab es früher einen Schutzmann, der hat die Autos, Radfahrer und Fußgänger angehalten und durchgewinkt, immer, wie es gerade benötigt wird. So stell ich mir das vor. Sagen Sie Ihrer Seele, dass sie das so macht?«

»Das mache ich!«

Was geschieht in diesem Therapiegespräch? Warum gibt der Klient den anfänglichen Widerstand gegen die merkwürdigen Ideen seines Therapeuten so bald auf? Wie kommt es, dass er am Schluss froh und erleichtert wirkt, obwohl über sein Problem als solches gar nicht gesprochen wurde?

Um zu verstehen, wie therapeutische Kommunikation (und womöglich Kommunikation überhaupt) funktioniert, brauchen wir ein Verständnis dessen, was zwischen den Zeilen gesagt und gehört wird. Das ungesagt Gesagte, das Angedeutete und das Erwähnte, was sofort vergessen wird, weil es von anderen Inhalten überholt wird, bestimmt über die Wirkung des Besprochenen.

Allein schon der verbale Teil unserer Kommunikation ist viel zu dicht, als dass wir all die Nuancen des Gesprochenen, die unser Unbewusstes hört, bewusst verstehen und auswerten können. Welchen Unterschied macht es etwa, ob ich sage: »Dann treten Sie doch ein wenig zur Seite!« oder »Und wenn Sie einmal ein wenig zur Seite treten würden …?« oder »Jetzt treten Sie doch einmal zur Seite!«? Es macht einen Unterschied! Der Klient wird unterschiedlich auf jeden der Sätze reagieren, und jeder Klient wird ein wenig anders auf die jeweilige Botschaft reagieren. Obwohl jeder Mensch ein Original ist und unterschiedlich reagiert, gibt es Gemeinsamkeiten in den Interpretationen und Reaktionen auf bestimmte Worte und Sätze – sonst könnten wir ja nicht kommunizieren und dabei auf einen gemeinsamen Nenner kommen!

Zu den gesprochenen Worten mit ihren unterschwellig wirksamen Bedeutungen kommen die nonverbalen Inhalte hinzu. Dazu gehört zum einen der sichtbare Teil der Körpersprache: Mimik und Gestik, der Atem und völlig unwillkürliche Reaktionen wie die Veränderung der Pupillenweite und der Gesichtsfarbe, der Lidschlag oder Magen- und Darmgeräusche.

Zur nonverbalen Kommunikation gehört aber auch der hörbare Teil der Körpersprache, also der Teil des Sprechens, der nicht in Schrift zu fassen ist: Tonhöhe und Satzmelodie, Sprechgeschwindigkeit, Sprechrhythmus und Pausen, Stockungen im Sprachfluss, Stimmklang und -fülle, Lautstärke und Lautstärkeentwicklung (Dynamik). All das wird vom Unbewussten ausgewertet und zum Verständnis mit herangezogen.

Wieder macht es einen Unterschied, wie ich den Satz »Dann treten Sie doch ein wenig zur Seite!« ausspreche:

mit freundlichem Grinsen und einem Augenaufschlag,

mit verschränkten Armen und heruntergezogenen Mundwinkeln,

mit geschürzten Lippen, fragenden Kinderaugen, geneigtem Kopf,

laut und abrupt, mit abfallender Melodie, wie eine Behauptung,

langsam und leise, mit sanftem, warmem, nachdenklichem Klang,

mit langsamem, tiefen »dann« zu Beginn, einer Pause danach und dem Rest des Satzes hoch und schnell ausgesprochen.

Gleiches gilt für die Körpersprache und die Stimme der Klienten. Die nonverbale Kommunikation der Klienten gibt aber nicht nur Aufschluss über die Bedeutung, die sie ihren Worten geben möchten, oder die Art, wie sie die Beziehung zur Therapeutin oder dem Therapeuten gestalten, sie gibt auch beispielsweise ausführliche Auskünfte darüber,

was die Klienten in dem Alter erlebt haben, von dem sie gerade sprechen,

welche Symptome sie haben bei Krankheiten, die sie ansprechen,

was sie unterdrücken, verschweigen oder unterschwellig erleben,

wie die vorangegangene Intervention ihr Befinden verändert und

wie gut sie schon mit Belastungen umgehen können.

Die Körpersprache kann daher gut zur Anamnese und zur Einschätzung des Therapiefortschritts verwendet werden. Berichtet ein Klient Ereignisse von früher, wird er die selben psychovegetativen Reaktionen zeigen, die er in der Situation selbst zeigte. Erzählt ein Klient etwa von seinem Heuschnupfen, beginnt er sich zu kratzen, an den Augen zu reiben, er fängt an zu näseln oder sich zu räuspern. Kommt die therapeutische Arbeit zum Ziel, wird er auch dann, wenn von Pollen die Rede ist, keines dieser Symptome zeigen. Erzählt der Klient von seiner Schlafapnoe, wird er atmen, als ob er Luftnot habe. Nach erfolgreichen Interventionen für einen regelmäßigen Atem wird er bei der Vorstellung zu schlafen ruhig und tief atmen. Erzählt ein Klient von Erlebnissen, die ihn traumatisiert haben, werden die Stockungen in seiner Sprache die Therapeutin früh darauf hinweisen, dass besondere Umsicht gefordert ist. Je näher der Klient sich der Erinnerung des traumatischen Erlebens nähert, desto länger und häufiger werden die Stockungen in seiner Sprache und desto mehr kommen sie an Stellen, wo sie syntaktisch keinen Sinn ergeben. Am Ende einer gelungenen Traumatherapie wird ein Klient, auf das belastende Ereignis oder Trigger-Situationen angesprochen, wenig oder keine Anzeichen von Belastung zeigen. Seine Stimme wird vermutlich klar und deutlich klingen, sein Atem und Sprechfluss werden gleichmäßig sein, seine Motorik wahrscheinlich ruhig, aber beweglich sein. Wir können das Erreichte regelmäßig mit einem »Vorher-Nachher-Test« überprüfen, indem wir die ursprünglich belastenden Situationen ansprechen, die nonverbalen Reaktionen der Klienten darauf beobachten und so die Effektivität der Therapie wesentlich steigern.

Jede Etappe auf dem Weg vom belasteten zum befreiten Erleben ist von sichtbaren und oft auch hörbaren Reaktionen begleitet. Nach hilfreichen Interventionen verändern sich Körperhaltung, Gesichtsausdruck, Atem, Stimmklang, Sprechrhythmus, Beweglichkeit und andere Parameter von Stressanzeichen hin zu Zeichen der Entlastung.

Mehrebenen-Kommunikation, also Kommunikation auf vielen Ebenen gleichzeitig, ist etwas Alltägliches. Für Therapeuten, Erzieher, Seelsorger und andere Helfer kann es nützlich sein, auch bewusst Worte mit heilender Wirkung zu gebrauchen. Wenn wir lernen, Bilder und Worte zu identifizieren, die uns und andere potenziell schwächen und schädigen, können wir auch heilende Formen finden. Eine so geschulte Wahrnehmung können wir zur Anamnese, Diagnostik und Prognostik nutzen. Sie hilft uns zu verstehen, was den Klienten belastet, wie das Problem entstanden sein kann und inwieweit im Verlauf der Therapiestunde eine Veränderung der Symptomatik eintritt.

Das Buch soll dazu beitragen, auf vielen Ebenen die Wahrnehmung für die Implikationen dessen, was Klienten und Therapeuten ausdrücken, zu schärfen. Das Nur-Angedeutete und das Unausgesprochene, das über das Gelingen der therapeutischen Kommunikation entscheidet, soll deutlich wahrnehmbar werden. Dahinter steht die Überzeugung: Gespräche spielen sich vor allem zwischen den Zeilen des ausdrücklich Gesagten ab.

In erster Näherung geht es darum, unwillkürlich ablaufende Kommunikationsprozesse ins Bewusstsein zu heben und uns zu befähigen, diese wahrzunehmen und zu nutzen. Zeitweise werden wir dieses Wahrnehmen und diese Nutzung bewusst praktizieren, dann wieder werden wir, ohne es zu merken, auf mehreren Ebenen gleichzeitig therapeutisch kommunizieren. Wie ein Klavierspieler sein Stück erst dann gut spielen kann, wenn nicht mehr sein bewusstes Denken es bearbeitet, sondern seine Finger es für ihn spielen, so ist es auch hier.

Wie lernt man therapeutische Mehrebenen-Kommunikation? Wie lernt man, auf vielen Ebenen gleichzeitig zu hören und zu sprechen und mit dem Unbewussten des Klienten in einer heilenden Interaktion zu sein? Man lernt es wie das Tanzen – oder auch wie das Autofahren, wobei wir gleichzeitig mit Händen und Füßen, Augen, Ohren und dem Hals, der den Kopf dreht, aktiv sein können, um auch auf überraschende Situationen schnell zu reagieren.

Einen therapeutischen Umgang mit Implikationen und Mehrebenen-Kommunikation lernen wir, indem wir uns die Prozesse, die dabei stattfinden, für Augenblicke ins Bewusstsein rufen. Anschließend können wir sie wieder »vergessen« im Wissen, dass unser unwillkürliches Denken das Gehörte jetzt neu versteht und Entscheidungen trifft, schneller und vielschichtiger als alles, was unser bewusstes Denken zustande bringt.

Um zu beschreiben, was da »zwischen den Zeilen« geschieht, wird oft der Begriff »Dissoziation« gebraucht. Der Begriff, wie er hier verwendet wird, stammt aus der Hypnotherapie. »Dissoziation« bezeichnet demnach nicht speziell unerwünschte oder krankhafte Abspaltungen von bewusstem Erleben. Dysfunktionale Dissoziationen durch Traumatisierung gibt es natürlich auch. Sie werden als Lösungsversuche des Organismus zur Reduktion von Leiden verstanden. Bestehen sie nach einer Krise fort, erzeugen sie oft unangepasstes Verhalten, Entfremdung von anderen Menschen und vom eigenen Erleben. Dieselbe Fähigkeit zur Dissoziation, die hier (trotz der Absicht, Leid zu reduzieren) Belastungen schafft, kann auch positiv genutzt werden, indem das Entkoppeln belastender Inhalte aktiv genutzt wird. So ist auch in unserem Zusammenhang mit »Dissoziation« eine Entknüpfung gemeint: Inhalte des Erlebens werden absichtsvoll voneinander getrennt. Assoziationen, Identifikationen und unwillkürliche Reaktionsmuster werden abgeschwächt, sodass die Inhalte nicht mehr gleichzeitig oder nicht mehr bewusst erlebt werden oder nicht mehr automatisch aufeinander folgen. Entsprechend bedeutet »Assoziation«, dass Inhalte miteinander verknüpft werden. Das heißt, Inhalte werden so präsentiert, dass sie als zusammengehörig erlebt werden. Das kann bedeuten, dass der Klient Dinge miteinander in Verbindung setzt, die vorher für ihn nichts miteinander zu tun hatten, dass er sich mit einem neuen Erleben identifiziert oder dass er neue unwillkürliche Reaktionsmuster erzeugt.

Aufgrund ihrer Indirektheit kann Mehrebenen-Kommunikation als manipulativ-strategisches Geschehen aufgefasst werden. Insofern ist sie der Gefahr des Missbrauchs ausgesetzt. Deshalb möchte ich zunächst einige ethische Leitlinien für diese Form der Gesprächsführung formulieren. Dabei geht es um Fragen der therapeutischen Grundhaltung, um die Ausrichtung und Wirkung von Interventionen aus ethischer Sicht und um den Umgang mit den Wünschen und Wirklichkeitskonzepten der Klienten sowie denen des Therapeuten. Das dritte Kapitel bietet auf der Grundlage einer konstruktivistischen Perspektive ein Kategoriensystem zur Beschreibung von Erleben an. Auf diesem Hintergrund wird das interventionsleitende Prinzip »Probleme trennen, Lösungen verknüpfen« erläutert. In den Kapiteln 5 bis 11 werden dieses Prinzip und andere therapeutische Grundsätze anhand von Fallbeispielen anschaulich dargestellt. Möglichst präzise und vielschichtig wird gezeigt, welche Aussagen in den Formulierungen des Klienten und des Therapeuten sowie in deren Körpersprache verborgen sein können und wie diese sich im therapeutischen Gespräch auswirken. Der darauffolgende Teil verfolgt die Wirkung von Implikationen anhand von Schwerpunktthemen. Register zum leichteren Auffinden einzelner Themen schließen das Buch ab. Das Stichwortverzeichnis setzt einen Schwerpunkt auf verschiedene Interventionsarten sowie auf Problem- und Diagnosenbegriffe. Letzteres widerspricht ein wenig der Lösungsorientierung dieses Ansatzes. Da unsere Sprache aber mehr Namen für Krankheiten und Probleme als für Gesundheiten und Formen des Behagens kennt, ist es so, pragmatisch betrachtet, leichter, die gesuchten Themen zu finden. Des Weiteren findet sich im Register eine Aufschlüsselung, wo die einzelnen Interventionsarten in den Fallbeispielen des Buches zur Anwendung kommen.

Grundlegend geht es bei »Therapie zwischen den Zeilen« um eine Schärfung der Aufmerksamkeit für sprachliche und nicht sprachliche Implikationen in der therapeutischen Kommunikation. Was drücken die Klienten aus und was bringen wir selbst zum Ausdruck, ohne es vielleicht bewusst zu bemerken? Wie können wir die unbewussten Anteile der Kommunikation genauer wahrnehmen und besser nutzen? Wie können wir lernen, mehrere oder viele Ebenen der Kommunikation gleichzeitig wahrzunehmen? Wie können wir Kommunikationsebenen, die meist unbewusst bleiben, nutzen, um die Klienten dabei zu unterstützen, ihre Ziele zu erreichen? Wie können wir dies in einer ethisch verantwortlichen Weise tun? Die dargestellten therapeutischen Interventionen sind so ausgelegt, dass sie entsprechend angepasst wohl in allen Bereichen der Beratung und Therapie angewendet werden können. Je nach Therapieschule oder -stil wird man manche Intervention transparenter oder dialogischer gestalten, sie mit Aspekten von Psychoedukation oder Arbeitsaufträgen verbinden. Obwohl vieles aus der Tradition der Hypnotherapie stammt, wird nur in wenigen Fallbeispielen mit Hypnose gearbeitet. Vielmehr ist die Arbeit von dem Bemühen geleitet, Wirkungen, die aus der Hypnotherapie bekannt sind, in einem nichthypnotischen Arbeitsrahmen verfügbar zu machen. Die Arbeit lässt sich als narrative Hypnosystemik beschreiben, das heißt als wache Form der Hypnotherapie in der Tradition Milton Ericksons mit Elementen systemischer Beratung der »Heidelberger Schule« (Gunther Schmidt, Andrea Ebbecke-Nohlen, Gunthard Weber und andere). Einige Bezüge zu NLP ergeben sich daraus, dass deren Gründer für ihre Arbeit die Strategien Milton Ericksons ausgewertet haben. Haltungen aus der Seelsorge könnten ebenso wie Einflüsse der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg und Carl Rogers’ Arbeit erkennbar sein. Therapeutisches Erzählen stellt einen zentralen Teil des methodischen Repertoires dar. Milton Erickson und Paul Watzlawick haben diese Kunst kultiviert, daneben haben christlich-jüdische und orientalische Erzähltraditionen in dieser Arbeit Spuren hinterlassen. In der systemischen Beratung und der Erickson’schen Hypnotherapie gehöre ich der Generation der »Enkel« an und gebe, ergänzt um meinen Beitrag, ein Vermächtnis weiter, an dem andere vorher gearbeitet haben. Was ist erworben, was der eigene Anteil? Wo endet »Erickson«, wo die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer, wo beginnt »Hammel«? Nicht immer ist das leicht zu sagen. Ich habe mich bemüht, die Quellen so gut als möglich kenntlich zu machen. Wenn jemand eine Angabe vermisst, bitte ich um Nachsicht und gegebenenfalls um Mitteilung!

Die stetige Beobachtung der Reaktionen von Klienten auf bestimmte Schlüsselwörter, auf Metaphern, auf spezielle Themen, auf die Stimme und Körpersprache des Therapeuten ist oftmals aber die einzige Quelle, auf die ich zurückgreifen kann. Dazu gehört der Vergleich der Körperreaktionen eines Klienten beim Ansprechen eines Problems am Anfang und am Ende einer Therapiestunde sowie vor und nach einer Einzelintervention und in den Folgetherapiestunden. Dazu gehört die Feststellung, welche Problemthemen, die vorher von zentraler Bedeutung waren, nach einer therapeutischen Intervention nicht mehr auftauchen. Hinzu kommen Beobachtungen, bei welchen Schlüsselwörtern und Themen symptomatisches Verhalten beginnt oder sich verstärkt. Beobachtungen dazu, mit welchen minimalen Anzeichen Klienten unterschwellig empfundene Traurigkeit, Wut oder Erleichterung ausdrücken, lassen sich machen, indem man vergleicht, auf welche Äußerungen hin die Klienten welche Reaktionen zeigen, und daraufhin nachfragt, welche Emotion die Klienten spüren. Viel kann man lernen, wenn man Klienten zu Beginn der Arbeit die einfache Frage stellt: »Was ist denn Ihre Meinung, woher das Problem kommt?« Eine gewaltige Menge aufschlussreicher Informationen zur Entstehungsgeschichte psychischer und auch körperlicher Probleme erhält man, indem man möglichst viele Klienten fragt: »Seit wann haben Sie dieses Problem? Was ist im halben Jahr davor passiert?« Ebenso kann man viel über die Entstehung psychischer und oftmals auch körperlicher Probleme erfahren, wenn man fragt: »Angenommen, das Symptom wollte Sie vor etwas schützen (vielleicht übertrieben stark oder lang oder aus einem Missverständnis heraus), was wäre dann seine Funktion? Wovor brauchten Sie Schutz in der Zeit, als das Symptom erstmals aufgetreten ist?« Viele Informationen gewinnt man, wenn man nicht nur die erste, bewusste Reaktion (»Keine Ahnung!«) der Klienten als Antwort auf solche Fragen auffasst, sondern in dem, was sie in den nächsten Minuten sagen, relevante unbewusste Antworten erkennt. Wenn man weiterhin die Möglichkeit in Betracht zieht, dass alles, was ein Klient in einem zeitlichen Zusammenhang sagt, einen inhaltlichen Zusammenhang hat, auch wenn es unzusammenhängend klingt, ergibt das ergänzende Informationen. Eine Klientin, die zu verschiedenen Zeiten in einer Stunde berichtet, sie habe eine Laktoseintoleranz, sie sei unehelich gezeugt worden und der Liebhaber ihrer Mutter habe diese zu einer Abtreibung drängen wollen und sie sei als Säugling fast gestorben, weil sie alle Milch sofort erbrochen habe, scheint über drei Probleme zu reden. Aber vielleicht ist es doch nur eines?

Teil I: Die Seiten, die wir beschriften – Ethische Grundlagen

2 Worum geht’s? – Werte

Kann man Therapiearbeit erlernen, indem man nur Techniken und eine Theorie des Menschen und seiner Pathologien kennenlernt? Man wird wahrscheinlich nicht den als guten Tänzer bezeichnen, der viele Schritte kennt und in der Tanztheorie bewandert ist. Rein technisch verstanden braucht Tanzen kein Gefühl, keine Leidenschaft, keine Ergebung und kein Mitgerissensein. Ebenso kann ein Gemälde in einer technisch so perfekten Art erstellt werden, dass es einer Fotografie nahekommt und dennoch leblos wirkt. Ein Konzertgitarrist sagte: »Ich mag es nicht, wenn Leute versuchen, schnelle Stücke möglichst schnell zu spielen. Ich glaube, ihnen geht es nicht um die Musik, ihnen geht es nur darum, zu zeigen, wie gut sie sind.« Solche Musik kann technisch brillant sein und dennoch seelenlos.

Damit Therapie heilend wirken kann, darf ihr Mittelpunkt nicht aus Techniken bestehen. Ein Mensch ist kein Werkstück, an dem man »Werkzeuge« zur Anwendung bringt. Er ist keine Sache, für die man »Sachverstand« bräuchte. Die Seele ist nicht normiert, sodass man sie allein mit psychologischen Fachkenntnissen heilen könnte. Jeder Mensch ist einzigartig. Vor allem aber: Menschen können nur in Beziehung leben, sie werden in Beziehung zu anderen und anderem verwundet und können nur in Beziehung heilen.

Zielgerichtetes Arbeiten mit Implikationen ist, kritisch formuliert, ein Arbeiten mit Manipulationen. Wie können wir so weit als irgend möglich sicherstellen, dass implizite Interventionen wirklich dem Klienten dienen? Wie können wir eine wertvolle, an den Zielen des Klienten ausgerichtete Therapie erreichen?

2.1 Liebe und Respekt – Was steht im Mittelpunkt?

Wenn im Mittelpunkt der Therapie Werthaltungen stehen sollen, wären aus meiner Sicht an erster Stelle Liebe und Respekt zu nennen. Liebe und Respekt für einen Menschen haben heißt, ihn in seiner kulturellen und individuellen Andersartigkeit zu würdigen. Einem Klienten in dieser Haltung zu begegnen bedeutet für mich, auf jede Abwertung zu verzichten und alles, was er zum Ausdruck bringt, unter dem Blickwinkel von Ressourcen, Chancen und Möglichkeiten zu sehen. Es bedeutet, möglichst alles wertzuschätzen, was er mir entgegenbringt, und alles für die Umsetzung seiner Ziele zu nutzen. Es bedeutet, mich für jeden Klienten einzusetzen und mir seine Ziele auf meine Fahnen zu schreiben – wenn ich sie nur irgend ethisch vertreten kann und daran glaube, dass wir sie erreichen können. Liebe bedeutet für mich, hinter jedem Symptom oder Problem eine gute Absicht irgendeines Teils des Klienten zu vermuten – auch dann, wenn diese gute Absicht nicht erreicht wird und sogar das Gegenteil des Erwünschten geschieht. Und Liebe bedeutet, soweit es erreichbar ist, vom Klienten her zu denken: Was wünscht er sich, was sind seine Ziele, was entspricht seinen Werten, worüber ist er glücklich?

»Ich habe Dschinne, die sich auf mich setzen«, sagte ein Mann in der Psychiatrie zu mir. »Aber keiner glaubt mir hier. Die meinen, ich bin verrückt und wollen mir Medikamente geben. Aber das hilft mir nichts. Ich bin nicht verrückt. Sie sind doch Pfarrer. Können Sie etwas tun wegen dieser Dschinne?« – »Was sind denn das für Dschinne? Sprechen die mit Ihnen?« – »Es gibt gute und böse Dschinne. Die guten helfen mir, aber die bösen sind ständig um mich herum, oder sie setzen sich auf mich und machen mich kaputt.« – »Sind sie auch jetzt da?« – »Ja. Sie sind immer da.« – »Wäre es möglich, dass Sie die bösen Dschinne in Gedanken auf die Stühle um diesen Tisch herum setzen?« – »Herr Pfarrer! Das hier ist kein Spiel! Ich meine das ernst! Wenn Sie mir nicht helfen können, dann sagen Sie es! Die anderen hier können mir auch nicht helfen.« – »Ich verstehe, dass das nicht das ist, was Sie brauchen können … Verstehen Sie es als einen gut gemeinten Versuch, der nicht zu dem gepasst hat, was Sie suchen … Ich denke, dass ich nicht die Macht habe, Ihnen zu helfen. Aber der, der über allem steht, den Sie wahrscheinlich Allah nennen, und ich würde Gott zu ihm sagen, aber zuletzt ist es der Gleiche, der Eine, zu dem Sie und ich beten … er hat die Macht über alle Dschinne, er hat sie geschaffen und kann sie senden, wohin er will … ist es Ihnen recht, dass ich zu ihm bete, dass er in seiner Macht die Dschinne von Ihnen nimmt?« – »Ja, das ist gut …«

Jeder Klient hat das Recht, dass ich ihm in seiner Welt begegne. Wenn ich das Weltbild, in dem mir jemand begegnet, nicht ernst nehme, impliziert das zu einem erheblichen Grad, dass ich das, was dieser Mensch mir entgegenbringt – also letztlich ihn selbst –, nicht ernst nehme. Im geschilderten Fall hatte mich der Mann als Pfarrer und nicht als Psychiatriemitarbeiter oder Therapeut angesprochen – eben weil es für ihn nicht um ein therapeutisches, sondern spirituelles Problem ging. Das Konzept von »Schizophrenie« ist schon innerhalb unserer Kultur nicht unbedingt wertschätzend gegenüber dem Erleben der Betroffenen. In der interkulturellen Begegnung vergrößert sich die Entwertung des Gegenübers nochmals, wenn wir, statt eine angemessene Lösung für das Problem der Besessenheit zu suchen, ein Angebot zur Psychotherapie unterbreiten, ohne überhaupt einen Auftrag dazu zu haben.

Aber auch innerhalb unserer Kultur gibt es verschiedene Wirklichkeitswahrnehmungen, und die Wirklichkeit des Therapeuten hat sich zumindest so weit in die Wirklichkeit des Klienten einzupassen, dass ein Gespräch innerhalb von dessen Welt gelingen kann. Wenn mir also jemand mitteilt, sein Essen werde mit unsichtbaren Strahlen vergiftet, interessiere ich mich dafür: »Woran erkennen Sie, wenn das Essen bestrahlt ist? Können Sie das sehen oder schmecken, oder merken Sie es erst hinterher? Was wollen diese Leute, die Ihr Essen bestrahlen? Wissen Sie, warum sie Sie nur teilweise und nicht gleich ganz vergiftet haben?«

Sagt jemand: »Mir kann keiner helfen. Sie können mir auch nicht helfen!«, könnte der Therapeut antworten: »Ich kann Ihnen nicht helfen, und die anderen können es auch nicht. Ich glaube, Sie brauchen gar nicht, dass jemand Ihnen hilft, Sie brauchen etwas anderes.« Auf die Nachfrage: »Was, meinen Sie, brauche ich denn?«, könnte der Therapeut sagen: »Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht zunächst einmal, dass jemand Sie ernst nimmt.« Der erste Satz des Therapeuten nimmt die Bereitschaft des Klienten, ihm zu widersprechen, vorweg und signalisiert, dass der Therapeut nicht beansprucht, mehr zu wissen oder zu können als der Klient. Der zweite Satz scheint zu implizieren, dass der Therapeut bereit ist, etwas anderes zu tun als das, was der Klient »helfen« nennt, auch wenn der Therapeut noch nicht weiß, was genau »helfen« für den Klienten bedeutet. Was immer der Therapeut fortan tut, wird damit unter den positiven Vorbehalt gestellt, etwas anderes als das zu sein, was der Klient unter »helfen« versteht. Die Welt, in der der Klient lebt mit den Regeln, die er formuliert, wird nicht angegriffen, sondern angenommen. Schließlich wird die Welt seiner Hilflosigkeit mit dem impliziten Paradox »Ich helfe dir, indem ich dir nicht ›helfe‹« überwunden.

Die Haltung, dem Klienten in seiner Welt zu begegnen, wurde unter anderem von dem amerikanischen Psychiater Milton Erickson propagiert. Aus Ericksons Sicht ist es für das Gelingen einer Therapie entscheidend, »die vom Patienten gezeigten Verhaltensweisen zu akzeptieren und ihnen zu folgen, wie ungünstig diese in der klinischen Situation auch erscheinen mögen2«. Nach dieser Sicht muss »das, was man mitteilt, auf die persönlichen und subjektiven Bedürfnisse, Erkenntnisse und Erfahrungen des Patienten abgestimmt sein – gleichgültig, ob vernünftig oder unvernünftig, anerkannt oder nicht anerkannt –, damit es zu einer Akzeptanz und einer Reaktion bzw. einem Gefühl der persönlichen Befriedigung kommen kann«.

Bei Erickson verbindet sich diese Haltung mit dem Begriff der »Utilisation«, also mit der »Nutzung der eigenen Reaktionsmuster und Fähigkeiten des Probanden anstelle des Versuchs, ihm durch Suggestion das begrenzte Verständnis des Hypnotiseurs [respektive des Therapeuten, Anmerkung des Autors] aufzunötigen, wie er sich verhalten und was er tun sollte3.«

In der systemischen Arbeit ist diese Arbeitsweise verknüpft mit dem Gedanken, dass Therapeut und Klient auf einer Augenhöhe miteinander kommunizieren. Dahinter steht zum einen die Idee, dass eine größtmögliche Wertschätzung der Welt des anderen die Grundlage gelingender Kommunikation ist, zum anderen das Konzept des Konstruktivismus, wonach es keine allgemein zugängliche Wirklichkeit gibt, sondern jedes Individuum seine eigene Wirklichkeit konstruiert. In der Praxis kann die Sicht, dass die Wirklichkeit des Klienten genauso gültig ist wie die des Therapeuten, zu Gelassenheit, Wertschätzung und Neugier im Umgang mit Sichtweisen von Klienten führen, die uns als »falsch« erscheinen.

Liebe ist etwas anderes als Mitleid. Mitleid kann den Beratenden wie auch die Beratenen schwächen. Die Klienten könnten dadurch in einer passiven, erleidenden Rolle bestärkt werden, anstatt in eine aktive, gestaltende Rolle überzugehen. Sie könnten Opfer ihres Schicksals bleiben, anstatt Täter ihres Lebens zu werden. Viel Mitgefühl ist auch für den Therapeuten riskant: Wer viel mit dem Leiden der Klienten mitschwingt, kann sich dadurch belasten.

Gleich, wie sehr uns ein Mensch als Täter oder auch als Opfer entgegentritt, hat er einen Anspruch auf Achtung und Wertschätzung. Wenn es uns nicht gelingt, ihm diese entgegenzubringen, betrachten wir das als unsere Grenze und nicht als Begrenzung seiner Person.

Einem Menschen Respekt entgegenzubringen, kann bedeuten, zu sehen, welches gute Potenzial in ihm auf Entfaltung wartet, vielleicht noch verschüttet und versteckt, und welche Vision es für seine Entwicklung gibt. Zu aller Liebe muss Respekt vor der Einzigartigkeit des anderen hinzukommen.

Wie aber kann man Menschen respektieren, die sich selbst und einander nicht respektieren? Respekt vor Menschen lässt sich zuweilen gut vereinbaren mit Respektlosigkeit gegenüber Überzeugungen, die sie in ihrer Entwicklung hemmen und sie in der Entfaltung ihrer Möglichkeiten einschränken. Wir können einem Menschen ein hohes Maß an Achtung entgegenbringen und gleichzeitig seine Glaubenssätze hinterfragen. Aussagen eines Menschen, er mache sich »immer alle Erfolge selbst wieder kaputt«, er sei nun mal krank, »habe« eine Depression oder sei eben psychisch labil, können mit Humor und Ironie, mit frechen Fragen und verunsichernden Behauptungen erschüttert werden, um den Platz vorzubereiten für neue Überzeugungen. Opferhaltungen und Vorwürfe können untergraben werden, um eine Haltung der Selbstverantwortung und der Zukunftsorientierung zu erzeugen.

Wenn eine Therapie nicht wie gewünscht vorankommt, könnte Respekt bedeuten, auf defizitorientierte Beschreibungen des Klienten zu verzichten. Erklärungen der Stagnation durch »Verdrängung«, »Übertragung«, »Projektion«, »mangelnde Krankheitseinsicht« oder »Widerstand« können eine Abwertung des Klienten beinhalten. Möglich wäre es, dem Klienten stattdessen mitzuteilen, dass man einen anderen Verlauf vermutet hatte, und mit ihm ins Gespräch darüber zu kommen, was zu einer Verbesserung des Arbeitsprozesses beitragen könnte. Ist ein Klient über irgendein Wort oder Verhalten des Therapeuten gekränkt, wäre es möglich, sich beim Klienten zu entschuldigen und herauszufinden, wie solche Kränkungen künftig vermieden werden können.

Respekt könnte bedeuten, den Klienten als gleichrangigen Gesprächspartner anzusehen, seine Ziele als maßgeblich für die therapeutische Arbeit zu betrachten und seine Werte als ein Heiligtum, das nicht verletzt werden darf. Dann bedeutet »Widerstand«, dass der Therapeut noch nicht gut genug verstanden und berücksichtigt hat, was die Ziele des Klienten sind und welche Wege dorthin für ihn akzeptabel sind. Respekt könnte bedeuten, dass der Therapeut die Klienten als Fachleute für ihr eigenes Leben respektiert, dass er von ihnen lernt, dass er ihre Ziele über die seinen stellt und nicht »für sie« weiß, was gut für sie ist. Es könnte bedeuten, Klienten keine einschränkenden Prognosen zu geben, insbesondere keine von der Art: »Dieses Problem wird Sie immer begleiten, damit werden Sie leben müssen.«

2.2 Integrität – Wo beginnt Manipulation?

Integrität bedeutet im Kern Ehrlichkeit oder Vertrauenswürdigkeit. In der Therapie könnte das heißen, dass der Therapeut stets nach den Interessen des Klienten handelt und für Transparenz sorgt.

Wenn Integrität Ehrlichkeit heißt, kann das als Wahrhaftigkeit im Gebrauch der Worte verstanden werden. Schon hier stellen sich viele Fragen. Ruth Cohn spricht etwa von »selektiver Authentizität«4, also davon, dass alles, was der Beratende äußert, authentisch sein soll, er aber nicht alles äußert, was er authentischerweise mitteilen könnte. Ist das eine »ehrliche« Haltung?

Heißt Integrität, dem Klienten nichts zu suggerieren und ihn insofern nicht zu »manipulieren«? In Anlehnung an Watzlawicks Postulat »Man kann nicht nicht kommunizieren« würde ich entgegnen: »Man kann nicht nichts suggerieren.«5

Integrität könnte dann bedeuten, dass der Therapeut den Klienten nicht zu etwas hin »manipuliert«, was dieser nicht möchte oder was ihm – ohne dass er es rechtzeitig bemerkt – möglicherweise Schaden zufügen könnte. Dabei könnte »Manipulation« ausdrücken, dass Klienten mit intransparenten Interventionen in eine Richtung gedrängt werden, die ihren Interessen oder Werten auf verdeckte Weise widersprechen.

Eine Hypnotherapeutin berichtete mir, dass sie den Klienten in Trance suggeriert, durch die Therapie »Glück und Zufriedenheit« zu erleben und das, was sie glücklich mache, auch anderen zu empfehlen. Eine solche Suggestion halte ich auch dann nicht für integer, wenn sie dem Klienten keinen Schaden zufügt und mit einem Nutzen verbunden wird. Die Suggestion, den Therapeuten zu empfehlen, nutzt dem Klienten nichts, und »Glück und Zufriedenheit« lassen sich auch ohne diese indirekte Aufforderung suggerieren.

Zu fragen ist dann: Besteht »Manipulation« im negativen Sinn schon darin, wenn Klienten in einen Zustand geführt werden, den sie ursprünglich nicht gewollt hätten, nach dem Entdecken aber schätzen? Oder ist die Beeinflussung erst dann abzulehnen, wenn Klienten in einen Zustand geführt werden, dessen Unvereinbarkeit mit ihren Werten sie nicht bemerken? Oder erst dann, wenn ein Schaden für sie entstanden ist?

Zum Beispiel: Eine Klientin sagte, sie sei magersüchtig, wir sollten aber nicht an ihrem Gewicht arbeiten, sondern nur an ihren Essgewohnheiten. Sie wolle regelmäßiger und gesünder essen. Ich sagte, dass ich vermutlich eine andere Sicht ihr Gewicht betreffend habe als sie, dass ich sie aber als diejenige, für deren Anliegen ich zu arbeiten habe, respektieren möchte. Ich bot ihr an, dass wir etwas dafür tun, dass »der Teil Ihres Unbewussten, der am besten weiß, was gesundes Essen und ein gesundes Gewicht bei Ihnen wirklich bedeuten«, ab jetzt ihr Essverhalten steuert. Sie fing an, regelmäßiger und gesünder zu essen, ihre Nahrungsmittel weniger extrem zu kombinieren und zuzunehmen. Die Gewichtszunahme bedauerte sie zwar, andererseits interessierte sie ihr Gewicht zu ihrer eigenen Überraschung nicht mehr sonderlich.

Das Vorgehen kann man als »Manipulation« beschreiben, da das Bewusste der Klientin nicht damit rechnete, dass »der Teil ihres Unbewussten, der am besten über Ihr gesundes Gewicht Bescheid weiß«, mit ihrer bewussten Einschätzung ihres Gewichtes nicht übereinstimmte. Dabei impliziert der Begriff »wirklich«, dass ein Teil die Führung übernimmt, der eine andere Interpretation des gesunden Gewichts hat als das Bewusste der Klientin.

Wenn ein suizidaler Mensch, der keine Therapie in Anspruch nehmen möchte, die sein Vorhaben infrage stellen könnte, durch eine indirekte therapeutische Intervention dennoch von seinem Plan abgebracht wird, soll das als ethisch wertvoll oder verwerflich gelten? Wenn der Klient im Laufe der Arbeit entdeckt, dass er unter den neu gefundenen Umständen leben will, ist dann das Arbeiten mit versteckten Implikationen, die seinem Wunsch entgegenwirken, sich unbehelligt zu suizidieren, gerechtfertigt?

Wie stellt sich dieselbe Frage bei einem Paar mit Trennungsabsicht (eines oder beider Partner), die sich darauf einlassen, ihr Unbewusstes in der Therapie ausprobieren zu lassen, »wie es ist, glücklich zusammen zu leben, obwohl Ihr Bewusstes bisher nicht an diese Möglichkeit glaubt«, sodass die Partner nun an ihrer Beziehung arbeiten und zusammen bleiben wollen und darüber froh sind? Rechtfertigt das spätere »Frohsein« beider Partner das Vorgehen des Therapeuten? Wäre es in Ordnung, wenn der Therapeut das Paar motiviert festzustellen, ob sie eine glückliche Gemeinschaft »probeweise« erleben können, mit dem Angebot, zum ursprünglichen Erleben zurückzukehren, oder aber die eigentlich nicht beabsichtigte neue Erfahrung zu behalten, je nachdem, was beiden besser gefällt?

Wie stellt sich die Frage bei einem Paar, das zunächst (etwa aus finanziellen Bedenken) zu einer Abtreibung entschlossen ist, sich auf eine indirekte Intervention des Therapeuten hin umentscheidet – und sich dann später liebevoll um das Kind kümmert? Und wie indirekt dürfen Interventionen dann sein? Wäre eine Aufstellung der verschiedenen Optionen mit und ohne Kind »rein probeweise« und »sicherheitshalber« noch integer? Wäre es noch in Ordnung, die Eltern auf einer Zeitlinie den Zustand kurz nach der Abtreibung bzw. Nicht-Abtreibung der Geburt bzw. Nicht-Geburt sowie zwei, fünf und zehn Jahre danach erleben zu lassen? Wäre es auch in Ordnung, dem Paar den Rat zu geben, »denken Sie nicht darüber nach, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist, weil Sie sich sonst überlegen, welchen Namen Sie dem Kind geben, wenn es ein Junge ist, und welchen, wenn es ein Mädchen ist, und Sie, je länger Sie darüber nachdenken, desto mehr eine Bindung zu dem Kind bemerken, die dazu führen kann, dass Sie es nicht mehr abtreiben wollen«6?

Auf einer Tagung war ich mit einem hypnotherapeutisch arbeitenden Kollegen im Gespräch. »Dein Vorgehen ist recht direktiv. Ich ziehe es vor, die Lösung stärker im Dialog mit den Klienten zu entwickeln«, sagte er. »Ich finde das auch besser«, antwortete ich nach einigem Nachdenken. »Ich habe dabei drei Probleme. Das eine: Ich glaube, man kann nicht nicht suggestiv sein, also kann man auch nicht nicht direktiv sein. Ich kann höchstens meine Suggestionen und deren Wirkungen nicht bemerken. Wenn ich Leute zum Beispiel bitte, sich einen Stuhl auszusuchen, auf den sie eine Teilpersönlichkeit setzen, weiß ich immer schon im Voraus, welchen sie wählen werden, obwohl sie selbst meinen, ihn frei und selbstbestimmt gewählt zu haben. Sie wählen den Stuhl, bei dem mein Blick oder meine Handbewegung einen Augenblick länger verharrt ist als bei den anderen. Und wenn ich es schaffe, alle Stühle genau gleich lang und intensiv mit nonverbaler Aufmerksamkeit zu bedenken, dann wählen sie den, den ich zuletzt angeschaut habe. Schaue ich ins Leere und frage: ›Möchten Sie den Stuhl links oder rechts?‹, wählen sie den, bei dem die Stimme mehr nach oben geht. Verwende ich aber den gleichen Tonfall, wählen sie den als zweites genannten Stuhl. Was soll ich tun, damit die Leute eine unbeeinflusste Wahl treffen? Ich habe es aufgegeben! Mein zweites Problem ist folgendes: Oft wünschen sich die Menschen nur das, was sie für möglich halten. Wenn ich nun in die Richtung ihrer Wünsche mehr für möglich halte als sie selbst, darf ich dann nur an den Wünschen arbeiten, die sie formulieren? Ich finde das unethisch. Ich kann sie fragen, ob ich versuchen dürfe, mehr mit ihnen zu erreichen, als sie bisher hoffen, wir können uns auch probeweise vortasten, aber ich darf es nicht stillschweigend unterlassen, etwas zu erproben, was sie für wünschenswert, aber nicht möglich halten. Mein drittes Problem: Ich finde Methoden, die versuchen, den Klienten möglichst wenig zu lenken, eleganter und respektvoller. Aber direktive Vorgehensweisen sind oft schneller als nondirektive. Bei begrenzten zeitlichen und finanziellen Ressourcen des Klienten versuche ich, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel für die Klienten zu erreichen. Direktive Methoden funktionieren manchmal auch sicherer als nondirektive: Bei komplexen Problemen möchte man manchmal ein ganzes Geflecht von Reaktionen umwandeln und das Lösungsgeflecht stabilisieren, bevor autosuggestive Effekte es destabilisieren. Manchmal befürchte ich, die Ziele des Klienten nicht zu erreichen, wenn ich versuche, ihn nicht in Richtung auf das tatsächliche Erreichen seiner Ziele zu beeinflussen, also suggestiv und direktiv vorzugehen. Dabei fällt mir nochmals ein, dass es mir ohnehin nicht gelingt, nicht suggestiv zu sein, sondern allenfalls, meine Suggestionen nicht zu bemerken, und ich bin mir dann nicht mehr sicher, ob es einen Sinn hat, den Klienten nicht lenken zu wollen. Verstehe mich bitte: Ich möchte die Autonomie des Klienten respektieren, wirklich, zutiefst! Ich weiß nur im Moment nicht, wie ich es besser tun kann! Verstehst du mein Dilemma?« Der Kollege nickte und ließ es auf sich beruhen7.

2.3 Hoffnung – Sind Placebos ehrlich?

Wenn der Therapeut mehr für seinen Klienten erhofft, als dieser für sich zu hoffen wagt, kann diese Hoffnung ansteckend sein und zur Inspiration für ein neues Leben werden. Hat Hoffnung Grenzen? Sollen wir Menschen in ihrer Hoffnung grundsätzlich unterstützen, oder sollten wir ihre Hoffnungen auch manchmal dämpfen? Wenn ja, wann? Wie gehen wir mit Menschen um, die von ihren Ärzten erfahren haben, sie seien unheilbar krank, und die dennoch probieren möchten, mit unserer Hilfe Gesundheit zu erlangen?

Eine 33-jährige an Krebs erkrankte Frau rief mich an und teilte mir mit, die Ärzte machten ihr praktisch keine Hoffnungen mehr auf ein Überleben. Sie wollte wissen, ob ich ihr noch irgendwie helfen könnte. Ich sagte: »Ich könnte Sie dabei unterstützen, emotional mit der Situation umzugehen, mit Ängsten, Traurigkeit, Ohnmachtsgefühlen oder was Sie sonst erleben mögen. Wir können sehen, was wir gegen Schmerzen, Medikamentennebenwirkungen und andere körperliche Belastungen tun können. Wir können auch schauen, was ich für Ihre Gesundheit tun kann. Wenn ich jetzt zu Ihnen sagen würde: ›Keine Sorge, wir kriegen Sie gesund!‹ – das wäre nicht seriös; bei solchen Versprechungen wären Sie doch skeptisch, oder? Wenn Sie aber sagen: ›Bitte seien Sie für mein Leben da, egal, ob andere glauben, dass ich diese Krankheit bewältige‹, dann ist Ihr Auftrag mein Auftrag. Wenn Sie möchten, dass ich mich mit Ihnen für etwas einsetze, woran die Mediziner nicht mehr glauben, kann ich das machen. Ich möchte nur nicht dastehen wie einer, der Ihnen Versprechungen macht …« Die Frau sagte: »Sie brauchen mir überhaupt nichts zu versprechen, ich weiß, dass Sie das nicht können. Aber ich bin froh, wenn Sie für mein Leben da sind.« Sie klang erleichtert. Wir haben uns noch einmal getroffen. Die weiteren Termine wurden wegen Klinikaufenthalten abgesagt. Einige Wochen danach verstarb die Frau.

Es ließen sich Beispiele mit einem schöneren Verlauf anführen, aber genau darum geht es hier nicht. Wenn eine Klientin mich bittet, sie in ihrer Hoffnung zu unterstützen, sehe ich darin meinen Auftrag. Mein Auftrag ist nicht, ihre Behandler in deren Wahrnehmung der Realität zu unterstützen. Mein Auftrag ist auch nicht, eine objektive Wirklichkeit zu konstruieren, an der die Frau sich dann zu orientieren hätte. Die Zukunft hat keine Realität – und wenn, ist uns diese nicht zugänglich. Allerdings erzeugen wir mit unseren Erwartungen Realität. Was wir hoffen, wird oft Wirklichkeit. Es ist nicht meine Sache, für Klienten zu entscheiden, wann »Grund zur Hoffnung« besteht, denn das Erhoffte wird oft erreicht und das nicht Erhoffte selten. So ist Hoffnung selbst ein Grund zur Hoffnung.

Ein Mann, der Jahre zuvor fremdgegangen war, schrieb mir, nachdem es dem Paar lange nicht geglückt war, das Vertrauen wiederherzustellen: »Meine Frau sagt, dass sie mich liebt. Meine Frau sagt, dass sie auch weiterhin mit mir leben möchte. Meine Frau sagt allerdings auch, dass sie es nicht schafft, die Bilder, die sie von mir hat, zu verdrängen. Wenn diese Bilder sich in ihren Gedanken festsetzen und alles blockieren, geht nichts mehr. In diesen Momenten kann ich sagen oder tun, was ich will – es hat keinen Zweck – ich bin raus. Sehen Sie eine Möglichkeit, uns in diesem sehr konkreten Punkt zu helfen? Ergibt meine Frage überhaupt Sinn für Sie? Ich habe sehr große Angst, dass wir, wenn wir in diesem ›Tempo‹ weitermachen, uns, unsere Ehe, unsere gemeinsame Vergangenheit, unsere gemeinsame Zukunft und unsere gegenseitige Liebe verlieren, und zwar für immer.«

Hoffnung für die Klienten zu haben, ist etwas anderes, als uneinlösbare Versprechungen zu geben. Ob das Gewünschte wahr wird, liegt nicht in der Entscheidung der Therapeutin. Sie braucht nur zu schauen, wie weit sie mit den Klienten am Erreichen dessen arbeiten kann, was sie hoffen (oder was sie hoffen würden, wenn sie zu hoffen wagten).

Ich schrieb zurück: »Da Sie beide beieinanderbleiben möchten, sollten wir meiner Meinung nach daran arbeiten, das erreichbar zu machen. Ich kann Ihnen nicht sagen, was ›möglich ist‹ – meine Haltung ist, immer das Weitestreichende für meine Klienten zu erhoffen und mit ihnen anzustreben und selbst bei manchem Guten, was zunächst unmöglich scheint, zu fragen: ›Warum eigentlich nicht?‹«

Teil II: Die Zeilen, die wir ziehen – Methodische Grundlagen

3 Landkarten der Seele – Versuche der Kartierung einer unsichtbaren Welt

Um etwas über die Psyche eines Menschen zu sagen, brauchen wir Modelle – anders aber als beim Körper können wir keinen anatomischen Atlas der unsichtbaren Innenwelt erstellen. Alle Versuche, die Psyche zu strukturieren, um sie verstehbar zu machen, sind spekulativ. Einige Einteilungen scheinen sich immerhin zu bewähren. Dazu gehört die Unterteilung der psychischen Welt in einen bewussten und einen unbewussten Teil. Dabei ist unter dem Unbewussten sinnvollerweise nicht das zu verstehen, was momentan nicht bewusst ist, weil die Aufmerksamkeit gerade nicht darauf fokussiert ist, sondern das, was auf Dauer unbemerkt wirkt.

Auch die Gliederung des psychischen Bereiches in Persönlichkeitsanteile scheint sich durchzusetzen. Früher wurden Einteilungen in größere Bereiche vorgeschlagen. Bekannt sind die Aufgliederungen in »Ich«, »Es« und »Über-Ich« oder auch »Eltern-Ich«, »Erwachsenen-Ich« und »Kind-Ich«. Die Ego-State-Therapie ermittelt verschiedene Ich-Zustände des Klienten, die sie dann als feststehende Teilpersönlichkeiten auffasst. Nach Beobachtungen aus der Hypnotherapie sind aber beliebige Unterteilungen des Erlebens möglich. Gute therapeutische Wirkungen können erreicht werden, ob man nun Mitglieder einer inneren Familie oder eines inneren Parlamentes miteinander ins Gespräch bringt, das rechte mit dem linken Bein sprechen lässt, ob man das Immunsystem mit dem Darm in einen Dialog eintreten lässt, »diejenige in dir, die eine gute Mutter ist«, mit »dem Mädchen, das du damals warst«, in Kontakt bringt, oder etwa »den Teil von dir, der weiß, wie du gemeint bist und wie du bist, wenn es dir gut geht«, bittet, den therapeutischen Prozess zu strukturieren.

Man kann zwischen Landkarten der Seele unterscheiden, die eher den Ausgangszustand der Therapie darstellen, und solchen, die eher den Zielzustand beschreiben und herbeiführen. Allerdings enthält schon die Auswahl, Bezeichnung und Darstellung der Elemente, die den Ist-Zustand beschreiben sollen, Implikationen, die oft frühzeitig darüber mitentscheiden, welche therapeutischen Veränderungen später möglich sind. So macht es einen Unterschied, ob ein Erleben als Person externalisiert wird, die einen eigenen Willen hat und sich für oder gegen die Vorschläge des Therapeuten entscheiden kann, oder als Material, das geformt und gestaltet werden kann, ob als Landkarte, die aktualisiert werden kann, oder als Trickfilm.

3.1 Persönlichkeitsanteile oder Seinsmöglichkeiten? – Räumliche und zeitliche Differenzierung von Identität

Handelt es sich bei den »Persönlichkeitsanteilen« schon nicht um objektiv feststehende Anteile, so ist weiter zu fragen, ob die Beschreibung dieser Phänomene als »Persönlichkeitsanteile« überhaupt zweckmäßig ist – denn auch dieses Wort enthält Implikationen, die die therapeutischen Möglichkeiten dieser Arbeitsweise von vornherein begrenzen.

Eine Implikation des Begriffs »Persönlichkeitsanteile« ist, es handle sich um eine psychische und allenfalls soziale Angelegenheit. Man kann aber in der gleichen Weise wie mit der »Persönlichkeit« und ihren »Anteilen« auch mit Körperteilen und Körperfunktionen arbeiten, um auf Gesundheit oder die Verbesserung sportlicher Fähigkeiten hinzuwirken.

Je nachdem, ob ich sage, »das Gehirn erzeugt den Geist« oder »der Geist erzeugt das Gehirn«, werde ich diese Arbeitsweise entweder als eine Gehirn-interne oder als eine spirituelle Angelegenheit sehen. Der Begriff »Persönlichkeitsanteile« scheint eher auf das Individuum als geschlossener Größe zu verweisen. Spirituelle Personen, die den Klienten wichtig sind, Verstorbene, Engel oder Gott, lassen sich leichter in die Arbeit integrieren, wenn wir uns nicht darauf festlegen, sie seien »Persönlichkeitsanteile«.

Statt von Persönlichkeitsanteilen könnte man in vielen Fällen von Seinsweisen oder Seinsmöglichkeiten sprechen, die nicht nur gleichzeitig nebeneinander, sondern ebensogut nacheinander (also alternativ zueinander) bestehen können. Eine mögliche Implikation von »Anteilen« ist nämlich: Was einmal ein Anteil ist, wird immer einer sein. Von »Seinsweisen« zu sprechen beinhaltet wiederum, dass diese Zustände kommen und gehen und auch ohne einander bestehen können. Solche Seinsweisen sind auch die bisherigen Seins-Unmöglichkeiten. So kann man Seins-Möglichkeiten herbeirufen, die bisher nicht vorhanden waren.

Nie dagewesene Seinsweisen könnten etwa sein: »Die Person, die du wärest – und sobald du sie kennenlernst, auch bist –, wenn du bei deiner Geburt willkommen gewesen wärest« oder »Der Mensch, der du bist, dem es besser geht, als du es je für möglich gehalten hättest, und dem es nichts ausmacht, wenn du nicht an ihn glaubst, weil es ihm einfach trotzdem gut geht«.

Natürlich gibt es viele Weisen, Modelle der Ausgangs- oder Problemsituation von Klienten (oder einem Klientensystem) zu erstellen, die Lösungen implizieren. Um implizite Begrenzungen der Therapiemöglichkeiten durch das jeweils gewählte Modell zu vermeiden, ist es mir wichtig, nach Bedarf zwischen verschiedenen Problemmodellen hin und her zu wechseln.

Einmal werden Persönlichkeitsanteile externalisiert, ein anderes Mal werden bisher nie gehabte Seinsmöglichkeiten herbeigerufen.

Manchmal werden die Anteile oder Seinsweisen als Personen externalisiert, dann wieder werden aus den Personen innere Zustände als Gegenstände beschrieben, mit denen weitergearbeitet wird.

Einmal reisen wir in die Vergangenheit, ein anderes Mal erkläre ich, dass alle Vergangenheit nur Erinnerung ist, die in der Gegenwart stattfindet, so wie alle Zukunft nur Erwartung in der Gegenwart ist, und dass es daher nur eine ewige Gegenwart gebe, in der Erinnerung, Erwartung und aktuelle Wahrnehmung im Dialog sind und einander verändern. Wieder ein anderes Mal könnte ich erklären, dass es keine Gegenwart gibt, da diese ja ein unendlich kleiner Punkt in der Zeit sei und das, was wir für Gegenwart halten, nur die Verschmelzung der eben erinnerten Vergangenheit mit der gleich erwarteten Zukunft sei.

Einmal werden in der Therapie innere Trickfilme gedreht, die dann als neue Realität entdeckt werden, ein anderes Mal wird die sogenannte Realität zu einem inneren Film erklärt.

Einmal wird zwischen Subjekt und Objekt, Innen- und Außenwelt, den realen Eltern und den »Eltern im Kopf« unterschieden, ein anderes Mal wird erklärt: Da alles Äußere uns nur zugänglich sei, indem es in uns abgebildet wird, gebe es gar kein fassbares Außen; alles geschehe innen, und daher gebe es auch kein Innen, sondern nur den Geist, der das Sein wahrnehme.

Einmal erkläre ich eine Störung psychosomatisch, weil es »nur ein Gehirn gebe«, ein anderes Mal erkläre ich, die psychosomatische Denkweise sei ein Irrtum, weil sie psychische und körperliche Symptome so verknüpfe, dass sie es erschwere, beides separat zu heilen.

Einmal verstehe ich das Gehirn als Produzenten innerer Filme, die wir für Wirkungen unseres Geistes halten. Ein anderes Mal erkläre ich den Geist als Produzenten der inneren Filme, zu denen auch unser Bild von einem Gehirn gehöre, das jedoch nur ein Ergebnis unserer Geistestätigkeit sei.

Durch den Wechsel zwischen verschiedenen Modellen können wir die impliziten Selbstbegrenzungen der jeweiligen Modelle reduzieren. Zur Entwicklung von Problem- und Lösungsmodellen äußert sich Sidney Rosen, indem er Milton Erickson zitiert und kommentiert: »›Wenn du mit einem schwierigen Problem zu tun hast, mach daraus ein interessantes Muster. Dann kannst du dich auf das interessante Muster konzentrieren und die mörderische Arbeit dabei außer Acht lassen.‹ Zuerst entdeckt man ein interessantes Muster in den Reaktionen und Symptomen des Patienten. Als Nächstes wählt man eine Geschichte oder mehrere aus, die zunächst eine Analogie zu den Mustern des Patienten darstellen, und dann ein verbessertes Muster. Oder – wie Erickson seiner Schwiegertochter ›Cookie‹ sagte: ›Als Erstes machst du ein Modell von der Welt des Patienten. Dann machst du ein Rollenmodell von der Welt des Patienten.‹«8

Modelle des Problemerlebens, die jeweils spezifische Lösungsmöglichkeiten implizieren, können nicht nur personifiziert, sondern auch gegenständlich sein. Sie können nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich strukturiert sein. Sie können als statisches Bild (eine Metapher im eigentlichen Sinn) oder dynamisch als Geschichte mit einer Handlung gestaltet sein.

Problemmodelle implizieren Lösungsmöglichkeiten, sie enthalten aber auch unausgesprochene Begrenzungen:

Einem EDV-Techniker, der einen Schlaganfall oder einen epileptischen Anfall erlitten hat, könnte man erklären: »Der Computer ist abgestürzt.« Die positive Implikation wäre: Verlorene Inhalte können wiederhergestellt und ein Sicherungsprogramm installiert werden. Die negative Implikation wäre: Nur das, was mit einem Computer auch möglich ist, ist mit Ihrem Gehirn möglich. Eine Selbstregeneration des Gehirns ohne gezielte Einwirkung von außen würde etwa durch diese Metapher nicht gefördert.

Einem Agrarbiologen, der wegen Burnout in Therapie kommt, könnte der Therapeut mitteilen: »Ihr Boden ist durch langjährige Monokultur ohne Fruchtwechsel ausgelaugt.« Eine positive Implikation der Metapher ist: Wie eine spezielle Bepflanzung dem Boden wieder Nährstoffe zuführt, können wir durch eine andere Beanspruchung Ihres Organismus Ihre Handlungsfähigkeit wiederherstellen. Eine negative Implikation wäre: Das kann lange dauern.

3.2 Dimensionen des Erlebens – Das Koordinatensystem des Denkens neu nutzen

Wir können Modelle des menschlichen Erlebens auch ganz anders gestalten. In unserer Kultur werden solche Modelle oft in polaren Begriffen beschrieben: Wir unterscheiden Körper und Seele, Denken und Fühlen, Ich und Du (Wir und die anderen), Glaube und Wissenschaft, Vergangenheit und Zukunft, Gesundheit und Krankheit. Natürlich enthalten diese Polaritäten einschneidende Begrenzungen für unsere Entwicklungsmöglichkeiten.

Grundformen des therapeutischen Handelns in einem solchen Rahmen sind die Verknüpfung (Kopplung, Bindung, Assoziation, Zusammenschau, Gleichsetzung) und Trennung (Entkopplung, Dissoziation, Unterscheidung) von Erlebnisinhalten und -bereichen.

Dabei folge ich dem Grundsatz: »Probleme trennen, Lösungen verknüpfen«. Das heißt, Probleme und Problemaspekte werden voneinander und vom Ich-Erleben des Klienten getrennt, Ressourcenerleben, Lösungen und Lösungsaspekte werden aktiviert, miteinander und mit dem Ich-Erleben des Klienten verknüpft. Auch können Ressourcen, sobald sie gegenüber den Probleminhalten als vorrangig erlebt werden, mit diesen Inhalten verknüpft werden, um sie zu neutralisieren oder als lösungshaltig erlebbar zu machen.

Vom Problem fernliegende Lebensbereiche zu fokussieren, kann helfen, spielerisch Lösungen zu finden.

Therapie und Beratung verstehe ich als einen Prozess, in dem Klienten bestehende Muster ihres Erlebens und Verhaltens beenden möchten – anders ausgedrückt, möchten sie neue Verhaltens- und Erlebensmuster einführen, die die bisherigen verändern, ablösen oder ergänzen – und darin professionell unterstützt werden. Im weiteren Sinn des Wortes geht es also um das Lernen, Verlernen und Umlernen von Erlebensmustern. Das könnte heißen, Erlebnisinhalte zu verknüpfen, sie zu entknüpfen oder sie umzuformen.

Erlebnisinhalte – das sind Sinneswahrnehmungen und Körperreaktionen ebenso wie verbale Gedanken und innere Filme (Stimmen, Klänge, Bilder, Gerüche, als Erinnerung, Erwartung oder frei konstruierte Imagination), Emotionen, absichtsvolle und unwillkürliche Verhaltensweisen. Sie sind in vielfältigen Weisen nach Themen und Blickwinkeln gruppiert für das aktuelle Erleben abrufbar. So gestaltet sich »traurig sein« oder »Angst haben« als komplexes Erlebensmuster. Es ist kein Einzelerleben, sondern besteht aus einem Netz von Körpergefühlen, Körperreaktionen, inneren Stimmen oder Texten, Erinnerungs- und Erwartungsfilmen, gewohnheitsmäßigen Handlungen und anderen Aspekten des Erlebens.

Das folgende Schaubild kann vergegenwärtigen, welche Kategorien unseres Erlebens wir beispielsweise miteinander verknüpfen oder voneinander trennen können. Wir könnten Körper (Feld 21) und Psyche (oder Geist, Feld 9) unterscheiden oder sie verknüpfen, indem wir sie als ein und dasselbe definieren. Wenn wir sie unterscheiden, könnte das helfen, als »psychosomatisch« definierte Symptome als psychisch oder somatisch zu definieren und dadurch auf dem einen oder anderen Behandlungsweg behandelbar zu machen. Wenn wir sie identifizieren, könnte das dazu beitragen, die Psyche über den Körper oder den Körper über die Psyche zu behandeln. Der eine Weg ist nicht unbedingt besser als der andere.

Die Wahl des Konzepts hat aber eine Implikation: Getrennt Wahrgenommenes will getrennt behandelt werden, verknüpft Wahrgenommenes will verknüpft behandelt werden.

In jedem Feld des Schaubilds sind weitere Unterscheidungen oder Verknüpfungen möglich. Innerhalb des Erlebens von Vergangenheit (oder »Erinnerung«, Feld 14) kann die spätere Vergangenheit (Zeitpunkt C) dazu herangezogen werden, frühere Vergangenheiten (Zeitpunkte A und B) zu deuten. Der Umgang von Katze und Hund miteinander (Wir, Gruppe A) kann dazu dienen, neue Ideen für den Umgang von Geschwistern (Wir, Gruppe B) zu generieren (Feld 8). Das gesunde rechte Bein (Körperteil A) kann mit dem kranken linken (Körperteil B) ins Gespräch kommen (Feld 21), und so weiter.

3.3 Probleme trennen, Lösungen verknüpfen! –Das Ich, das Schlimme und das Schöne neu in Beziehung setzen

Der Grundsatz, wonach Probleme zu trennen und Lösungen beziehungsweise Ressourcen zu verknüpfen sind, besagt mehreres:

Verschiedene Inhalte, die der Klient als Probleme erlebt, sollen

voneinander

getrennt werden

. Das heißt, die Einzelprobleme werden unterschieden. Sie werden separat betrachtet und nicht vermischt. In je mehr Einzelprobleme das Problemkonglomerat des Klienten ausdifferenziert werden kann und je deutlicher sie auseinandergehalten werden, desto eher hat der Klient den Eindruck, dass seine Probleme gelöst werden können.

Auch was der Klient als

ein

Problem erlebt, soll

in verschiedene Problemaspekte oder Teilprobleme fragmentiert

werden. Das Problem soll

in sich

zerteilt werden. Was kleiner portioniert ist, ist leichter zu bearbeiten. Weniger wichtig ist, wie das Problem zerlegt wird, ob es sozusagen längs oder quer filetiert wird.

Das Problem kann noch auf eine zweite Weise in sich zerlegt werden, indem

»das Problem am Problem« vom »Guten am Problem« unterschieden

wird. Differenzierungen zwischen »guter Absicht« und der »nicht gelungenen Strategie« oder ein »Missverständnis des Gehirns, das etwas Gutes wollte und nicht erreichte«, können dafür herangezogen werden.

Das Problem soll

vom Ich-Erleben getrennt

werden. Das kann durch eine räumliche oder zeitliche Unterscheidung von Klient und Problem geschehen oder indem der Klient und das Problem immer separat angesprochen werden.

Entsprechend sollen Lösungen (Ressourcen, Möglichkeiten, Kompetenzen etc.)

miteinander verknüpft werden

. Das heißt, verschiedene stärkend und möglichkeitserweiternd erlebte Inhalte werden miteinander assoziiert oder identifiziert.

Lösungen sollen

in sich gestärkt werden

, indem sie als bedeutsam, dauerhaft und unbestreitbar dargestellt werden.

Lösungen sollen

mit Problemen verknüpft werden

, nachdem diese Lösungen gegenüber dem Problem vorrangig gemacht wurden. Dazu werden die Lösungen zuvor verknüpft und gestärkt, während die Probleme zuvor in sich, voneinander und vom Ich-Erleben getrennt werden.

Lösungen sollen

mit dem Ich-Erleben des Klienten assoziiert oder identifiziert

werden.

3.4 Wartezimmergespräche – Erlebtes trennen

Ich saß im Wartezimmer einer Arztpraxis. Ein Mann kam herein und erkannte in einem der Wartenden einen alten Bekannten: »He Hannes, was machst du denn hier? Wie geht’s dir denn?« – »Mir geht’s gut, aber meinem Bein nicht!«