Wolf Kunert
Hannes oder Das fremde Land
Hannes
oder
Das fremde Land
Roman
Gewidmet, wie immer
Und immer Derselben
Die Personen in diesem Buch hat es, wie hier beschrieben, nie gegeben.
© 2024 Wolf Kunert
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
„Wohin mit mir. Ist eine Welt zu denken, eine Zeit, in die ich passen würde. Niemand da, den ich fragen könnte. Das ist die Antwort.
Christa Wolf, Medea
1
Hannes war ein Idiot. Das sind nicht meine Worte. Er selbst sagte das einmal über sich. Vielleicht nicht im pathologischen Sinne fügte er hinzu. Er gehöre eher zu den Unauffälligen seiner Art, schließlich dürfe er sich noch immer frei unter uns bewegen.
Im Grunde besaß Hannes sogar so etwas wie Charme, der ihn für die Mehrheit der Menschen in seiner Umgebung sympathisch erschienen ließ. Schon als Kind war er besonders bei älteren Damen recht beliebt. Sie schätzten ihn für seinen Respekt und die Höflichkeit, die er ihnen entgegenbrachte. Er versuchte sich bei ihnen beliebt zu machen, wie er es auch später bei seinen Schulkameraden und dann bei seinen Jugendfreunden tat. Das war seine Art, mit Menschen umzugehen. Aber er hatte von klein an ein Defizit.
Wir waren uns auf unseren Spaziergängen begegnet, Hannes und ich. Wir grüßten uns, wenn wir uns begegneten und eines Tages redeten wir dann miteinander über dieses und jenes. Belanglose Freundlichkeiten des Alltags. Hunde bringen Menschen zusammen. Sein Hund und meiner kannten und akzeptierten einander. Wenn die Vierbeiner sich mögen, können sich meistens auch deren Zweibeiner leiden. Schließlich haben nur gute Menschen, freundliche Hunde. Diesem kurz gegriffenen Schluss erlagen auch wir.
Beinahe wie von selbst ergab es sich, dass wir unsere Spaziergänge letztlich gemeinsam absolvierten. Während unsere Hunde ihr Revier schnüffelnd und markierend sicherten, redeten wir über Gott und die Welt. Wir beschnüffelten uns sozusagen nach Menschenart.
Wir waren beide im Rentenalter und konnten unsere Zeit nach Belieben einteilen. Eine der Segnungen unseres Alters. Hannes erklärte, ich neige zur Bequemlichkeit und würde wohl ohne den Hund, nicht so regelmäßig für Bewegung sorgen. Sport war nie wirklich meine Angelegenheit. Sehr zum Ärgernis meiner Tochter. Sie schimpft deshalb gelegentlich mit mir. Aber jeder lebt halt nach seinen Vorstellungen. Auch wenn es manchmal die Falschen sind und man darum weiß.
Anfangs waren wir zwei uns eher zufällig begegnet. Doch mit der Zeit wurde es mir eine liebe Gewohnheit. Es tat gut, die Zeit mit einer angenehmen Plauderei zu verbringen. Das lenkte vom Alltagstrott ab und brachte frischen Wind in den Kopf. Wir grüßten uns, die Hunde absolvierten ebenfalls ihr Begrüßungsritual und dann begannen wir unsere Runde. Wir redeten über Dinge, die uns gerade einfielen. Zum Beispiel, was wir inzwischen am Ruhestand zu schätzen gelernt hatten.
Als ich vor drei Jahren in Rente ging, erzählte mir Hannes, hatte ich Angst, ich könnte mich langweilen. Aber inzwischen habe ich gelernt, die Zeit zu füllen. Ich lese wieder mehr. Es stehen noch einige Bücher im Regal, die auf mich warten und mein Weblog beschäftigt sich mit aktuellen Themen, Dinge, die mich belustigen oder beunruhigen. Nichts, dass die Welt verändert, aber so kann ich sie für mich verarbeiten und Schlüsse ziehen. Es liegt mir nicht, den Tag vor dem Fernseher zu verbringen. Schon nach wenigen Minuten beginne ich mich zu langweilen.
Über die Wochen lernten wir einander näher kennen. Im Alter schließt man nicht so rasch Freundschaften. Die Erfahrungen haben einen kritischer gemacht. Auch hält sich der Missionarsdrang in Grenzen, der anderen eine Meinung aufdrängen will. Dessen Konsequenz dann regelmäßig ist, die Menschen in Klug und Dumm einzuteilen. Je nachdem, ob sie der eigenen Meinung folgen oder nicht.
Wir redeten über die Rente, die nie ausreichend ist, die aktuelle Politik, die wir überwiegend für dilettantischen Nonsens hielten und natürlich über unsere Hunde. Was man eben so redet. Man hat gelernt, dass das Gegenüber selbst ein Päckchen zu tragen hat und lädt ihm, wenn möglich, das eigene nicht auch noch auf.
Hannes lebte wie ich allein und hatte nur losen Kontakt zu seiner ehemaligen Familie. Da teilte er das Schicksal mit mir und anderen Männern, wenn sie ihrer Versorgeraufgabe nicht mehr gerecht werden. Mit der Ex hat man abgeschlossen. Die Kinder sind erwachsen und stehen im Beruf. Sie leben ihr eigenes Leben. Wenn sie dazu in der Lage sind, hat man zumindest nicht alles falsch gemacht. Der Preis ist allerdings, dass sie nur wenig Zeit erübrigen können. Ich glaube, das nennt sich Kreislauf des Lebens, fügte Hannes hinzu. Alles fällt auf uns zurück. Wir haben es in unseren jungen Jahren kaum anders gehandhabt.
Wir gewöhnten wir uns mit der Zeit aneinander. Freundschaft wäre ein zu großes Wort dafür, aber Gewöhnung passt hervorragend. Ich will damit sagen, dass ich anfing, nach ihm zu schauen, wenn er mal zu spät kam oder gar nicht. Wie in unserem Alter wohl unvermeidlich, begannen wir auch über die Vergangenheit zu reden; also die ach so gute alte Zeit. Auch wenn man weiß, dass damit eigentlich nur die Zeit gemeint ist, in der man noch gelenkiger war und mehr Haare auf dem Kopf hatte. Es soll Leute geben, die machen große Pläne für ihren Ruhestand. Ich bin froh, dass ich mich endlich einmal treiben lassen kann und nicht mehr planen muss.
Es soll Menschen geben, pflichtete Hannes mir bei, die so sehr damit beschäftigt sind, ihr Leben zu organisieren, dass für das Leben selbst keine Zeit mehr bleibt. Wenn du willst, dass Gott lacht, erzähl ihm von deinen Plänen, habe ich irgendwo gelesen. Andererseits schob Hannes nach, wenn ich auf mein planloses Leben zurückblicke: Das ist auch nicht unbedingt nachahmenswert. Womöglich liegt die Wahrheit, wie so oft, in der Mitte.
Ganz gleich, worüber er redete, er verband es meist mit einer Anekdote oder Pointe. Dahinter verbarg sich wohl eine gewisse Unsicherheit. Es fiel mir nicht schwer, ihm zuzuhören. Ernsthaften Widerspruch gaben unsere Themen ohnehin nicht her. Er hatte eine typische Altherren-Philosophie entwickelt, die der meinen recht ähnlich war.
Ich gewann den Eindruck, dass hinter seinen Geschichten ein Leben stand, das nicht immer geradlinig verlief. Man kann sich vieles anlesen, aber manches muss man selbst durchlebt haben, um tatsächlich darüber urteilen zu können.
Hatten wir uns ein paar Tage nicht gesehen, fehlten mir die Unterhaltungen. Ich war froh, wenn er dann kam und es ihm gut ging. Wir waren zwar noch recht gut beieinander. Ab einem gewissen Alter kann man aber nicht davon ausgehen, dass es auch künftig so bleibt. So ist das nun einmal. Man wird mit der Endlichkeit konfrontiert.
Habe ich Ihnen eigentlich erzählt, wie ich auf den Hund gekommen bin? Ich war mit meiner Tochter in Dänemark in den Ferien, fuhr er ohne meine Antwort abzuwarten fort. Wir saßen in einem Restaurant und aßen zu Abend. Da eröffnete sie voller Selbstbewusstsein, dass sie künftig alt genug sei, um mit Freunden in den Urlaub zu fahren. Ich fragte sie, was ich dann machen solle. Und sie antwortete: „Na, du schaffst dir einen Hund an, wie alle alten Männer.“ Ich war damals Fünfzig. Die Art, wie sie mir den Vorschlag vortrug, fand ich belustigend. Aber wie Sie sehen, hat sich der Gedanke festgesetzt. Ich bekam Bruno, als er noch ein Welpe war. Er wog gerade einmal fünfhundert Gramm und passte bequem in meine Hand. Inzwischen gehört er zu meinem Leben. Wir sind zusammen alt geworden und wenn man das Alter umrechnet, hat er mich längst überholt. Das war rückblickend eine ihrer besten Ideen.
Immer wenn Hannes von seiner Tochter sprach, bekam er dieses Leuchten in die Augen. Man merkte, dass sie etwas Besonderes für ihn war. Aber es schwang auch immer eine gewisse Traurigkeit mit. Als wäre da noch etwas Unausgesprochenes. Ich muss zugeben, ich war damals nicht bereit, mir seine Probleme aufzuladen. Ich wusste noch zu wenig über ihn. Wenn man sich als Außenstehender in Familienprobleme ziehen lässt, kann man rasch zwischen die Fronten geraten.
Er könne noch immer im Schneidersitz auf dem Sofa sitzen, wechselte Hannes das Thema. Das sehe er als gutes Zeichen für seinen Zustand. Nur bei Anstrengung, Treppen steigen und so, fehle ihm rasch die Luft. Er sei Raucher von jung an. Mit zwölf oder dreizehn Jahren hätte er angefangen und zweimal vergeblich versucht aufzuhören. Letztlich habe er sich damit abgefunden. Immerhin sei er trotzdem so alt wie sein Großvater geworden. Was wolle er also mehr! Jeder weitere Tag sei so etwas wie ein neuer Familienrekord.
Es ist eine Eigenart von Erinnerungen, nicht chronologisch aufzutauchen. Mit den Zeiten habe ich es nicht so, entschuldigte er sich. Da passiert es mitunter, dass ich nicht mehr genau weiß, wann was geschehen ist. Aber die Details weiß ich noch ziemlich genau. Ich habe wohl eher ein fotografisches Gedächtnis, denn ich sehe die Bilder der Ereignisse recht genau vor mir.
Er hatte zu seiner Tochter nur noch selten Kontakt und wenn, dann telefonierten sie meist. Sie ist erwachsen und meistert ihr Leben auf ihre Art. Sie hat ihren eigenen Weg gewählt und ihre eigenen Philosophien, die sich nicht immer mit meinen decken. Genau genommen sogar recht selten. So ist das nun einmal mit den Kindern. Irgendwann kehrt es sich um und dann wollen sie uns erklären, wie das Leben ist oder zu sein hat. Dabei haben sie völlig vergessen, dass man ihnen einmal beibrachte, mit einem Löffel zu essen. Zumindest im Starrsinn sind wir uns beide ähnlich.
Sie liest gern und scheint sich eine eigene Bibliothek aufzubauen. Das ist heutzutage auch nicht selbstverständlich, fügte er stolz hinzu. Es war lange mein Traum, ihr irgendwann meine Bibliothek zu vermachen. Aber dann erkannte ich, dass man bestenfalls Bücher vererbt, nicht aber Bibliotheken. Jede Zeit hat ihre Bücher und jedes Alter seine Literatur, wenn man von den Klassikern absieht. Glauben Sie nicht? Das klingt logisch für mich, gab ich zu. Literatur benötigt ihren zeitlichen Kontext. Sprache verändert sich mit den Zeiten und damit meine ich nicht die verordneten Vorgaben. Interessen ändern sich im Laufe des Lebens ebenso, wie auch Wissen und Bildung. Auch wenn ich das Gefühl habe, dass Feinheiten und Nuancen in der Sprache verloren gehen und einer zunehmenden Ghettoisierung weichen.
Erinnerungen sind ungenau, kehrte Hannes zum Thema zurück. Liegen sie weit zurück, haben wir sie uns zurecht geglättet und mit Meinung aufgefüllt, damit sie in unsere Schubladen passen. Sind sie noch frisch, dann sind sie gespickt mit den Gefühlen, die sie in uns auslösten. Man kann Erinnerungen nicht trauen. Sie gaukeln uns eine Vergangenheit vor, die es so nicht gegeben hat. Unser Leben besteht nicht aus Schnappschüssen oder kurzen Sequenzen. Es verläuft kontinuierlich. Aber das Gedächtnis speichert nur bestimmte Dinge und nicht selten überdecken negative Erfahrungen all die schönen und glücklichen Momente, die wir doch auch hatten. Definieren wir Menschen uns wirklich nur über erfahrenes Leid? Ist das nicht traurig? Was wäre das für ein erbärmliches Leben?
Wir haben doch auch Schönes erlebt. Irgendwann haben wir ein vierblättriges Kleeblatt gefunden, einen Fliegenpilz in seiner Pracht bewundert. Haben wir denn nicht auch geliebt und gelacht? Sind Sie schon einmal derart von der Schönheit einer Frau eingefangen worden, dass Sie aus der Straßenbahn gefallen sind? Ich schon. Sehen Sie und das sollte doch unser Leben und unsere Schubladen füllen. Oder? Tut es das nicht, fragte ich zurück. Sie erinnern sich doch gerade daran. Ein gutes Argument räumte er ein. Irgendwo habe ich einmal gelesen: „Und ich habe mich so gefreut! Sagst du vorwurfsvoll, wenn dir eine Hoffnung zerstört wurde. Du hast dich gefreut – ist das nichts?“
Vielleicht ist es wie bei Büchern, warf ich ein. Manche Leser entdecken eine vollkommen andere Geschichte, als Sie oder ich, obwohl wir dasselbe gelesen haben. Mit Erinnerungen verhält es sich ähnlich, denke ich. Wir gleichen sie mit unseren Erfahrungen ab und verwerfen sie, oder ziehen die uns passenden Schlüsse daraus. Jahre später lesen wir dieselbe Geschichte dann wieder und kommen zu anderen Schlüssen.
Kennen Sie das auch, Sie lesen ein Buch und ein einziger Satz daraus bleibt bei ihnen haften? Dann weiß man, es hat sich gelohnt, das Buch zu lesen. Bei mir war es Knulp. Als Gott zu ihm sagt, wenn ich dich anders gewollt hätte, wärest du anders geworden. Leider habe ich das Buch erst recht spät entdeckt. Möglicherweise wäre manches anders verlaufen. Aber ich habe den Satz schlussendlich gefunden, das allein ist wichtig. Er hat mir geholfen, mich anzunehmen, so wie ich bin. Ich hoffe, das klingt jetzt nicht zu pathetisch für Sie. Nein, nicht pathetisch, eher entschuldigend. So bin ich nun einmal, daran kann ich nichts ändern. Akzeptiert das!
Ein gutes Argument, jedoch spreche ich nicht von irgendwelchen Moden, diesen Schutzschilden, wie man sie heutzutage vor sich herträgt, um Angreifern ein schlechtes Gewissen zu machen. Was ich meine sind die Grundlagen, die man während seiner kindlichen Entwicklung erhält oder eben nicht.
Nehmen Sie mich zum Beispiel, ich bin nicht in der Lage, Emotionen und Absichten anderer Menschen zu erkennen. Nur wenn sie ganz offen und klar zutage treten, werden sie für mich wahrnehmbar. Ich bin im Grunde unfähig, die Fassade eines Menschen zu durchschauen. Was hinter mancher Freundlichkeit steckt, bleibt für mich meist undurchschaubar. Daran änderte sich zeit meines Lebens nichts.
Der Grund dafür liegt wohl in meinen ersten Lebensmonaten. Mit den Jahren habe ich gelernt zu akzeptieren, dass ich allein für meine Entscheidungen verantwortlich bin und diese nun einmal Folgen haben.
Meine Mutter war bei meiner Geburt gerade einmal siebzehn Jahre alt. Sie muss eine lebenslustige Person gewesen sein, die ihre Jugend genoss. So passierte ich während einer Tanzpause in einer warmen Sommernacht. Unmittelbar nach meiner Geburt wurde ich an ein Kinderheim übergeben. Ob meine Mutter das entschied, oder mein Großonkel, habe ich nie erfahren können.
Sie war offenbar nicht zu jung, um auf dem Bauernhof dieses Großonkels zu arbeiten. Wohl aber, um selbst für mich sorgen zu dürfen. Der Onkel benötigte ihre Arbeitskraft auch in diesem Jahr während der Ernte. Fakt war, dass meine Mutter noch als minderjährig galt und knapp ein Jahr verstrich, bis die rechtlichen Verhältnisse um die Vormundschaft geklärt waren. Dann fuhr meine Großmutter mit dem Zug in das holsteinische Kaff, um mich zu sich nach Mecklenburg zu holen. Damals konnte man noch von einem Sektor des Landes in den anderen fahren. Ich bin sozusagen ein Verschleppter des Stalinregimes, kalauerte Hannes. Wissen Sie, ob es dafür eine Opferrente gibt?
Für mich kam der Wechsel zu meinen Großeltern wohl ein Jahr zu spät. Diese Zeitspanne genügte, um aus mir den Idioten werden zu lassen, der ich ein Leben lang blieb.
Gänzlich unbegründet erscheint mir diese Formulierung im Nachhinein nicht. Man darf nicht vergessen, wie wichtig dieses erste Jahr im Leben eines Menschen ist. In diesen wenigen Monaten wird der Grundstein für soziale Kompetenz, also die grundlegende Fähigkeit gelegt, andere Menschen einzuschätzen und ihnen, wenn angebracht, zu vertrauen. So lernte Hannes nie, wirkliche Nähe zuzulassen. Was körperlicher Kontakt an Schönem in uns auslösen kann, blieb ihm für lange Zeit verschlossen. Auch uneingeschränktes Vertrauen zu anderen Menschen zu entwickeln, war ihm unmöglich. Gab es Probleme, zum Beispiel in der Partnerschaft oder bei Freunden, zeigte sich ein ausgeprägtes Fluchtverhalten bei ihm. Er fühlte sich schnell verraten und zog sich in sich selbst zurück.
Wussten Sie, unterbrach Hannes meine Gedanken, dass es nicht möglich ist, vernünftig sprechen zu lernen, wenn man es bis zum neunten Lebensjahr nicht erlernt hat? Wir durchleben Etappen in unserer Entwicklung, die nicht nachholbar sind. Das Gehirn ist schon eine seltsame Maschine. Einerseits generiert es bei jeder Bewegung, die wir machen neue Synapsen und andererseits ist es unfähig bestimmte Dinge aufzuholen, die so wichtig für uns sind.
Ich lernte mit der Zeit, dass Menschen mich irgendwann verlassen oder schlimmer noch, verletzen, obwohl ich sie liebe. Konfliktfähigkeit oder wirkliche Empathie waren bei mir praktisch nicht vorhanden. Stattdessen entwickelte ich ein Fluchtverhalten in solchen Situationen. Ich ziehe mich zurück, wenn mich eine Situation zu sehr beansprucht.
Es fehlte ihm Sicherheit, die körperliche und mentale Nähe, die ein Elternhaus geboten hätte. Das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit einer Familie wäre zu diesem Zeitpunkt entscheidend gewesen. Den körperlichen Kontakt, den ein Säugling so dringend benötigt, das Schlagen des Mutterherzens und die Vertrautheit der elterlichen Stimmen und Gesichter, all das hatte er nicht kennengelernt. Zwar sagt man, jeder sei seines Glückes Schmied, aber wir sollten nicht vergessen, nicht jeder hat auch schmieden gelernt.
Als Hannes geboren wurde, wusste man nur wenig über Kinderpsychologie oder gesunde psychische Entwicklung; weder die Schwestern im Kinderheim, noch danach seine Großeltern. Man beschränkte sich überwiegend auf das leibliche Wohl, das war greifbarer. Kam er später weinend nach Hause, weil ihn jemand geschlagen oder geärgert hatte, fragte der Großvater, wofür bekommst du dein Essen? Wehre dich! Möglicherweise war man in dem Heim davon überzeugt, dass die Säuglinge noch gar nicht in der Lage seien, in irgendeiner Form zu interagieren.
Hannes erzählte mir, dass er dazu Recherchen im Internet angestellt hatte. Doch ergaben die sehr wenig Konkretes zu diesem Thema. Es gab unterschiedliche Auffassungen und man konnte auch nicht immer sicher sein, dass die Quellen fundiert und vertrauenswürdig waren.
Das besagte Kinderheim wurde als kirchliche Einrichtungen betrieben und von, in der Kinderpsychologie, vermutlich unerfahrenen und unausgebildeten Schwestern getragen. Die mögen sich nach bestem Wissen um das Wohl der Kleinen gekümmert haben, aber von den Dingen, die einen Menschen jenseits von Essen und Sauberkeit ausmachen, wussten sie wohl nur wenig. Hannes hat mir gegenüber nie von Schuld gesprochen. Wie gesagt, war er noch ein Säugling. Seine Mutter hatte nicht über diese Zeit gesprochen. Wenn sie auf ihn wütend war, hatte sie ihm eher klargemacht, dass sie ihn nie wollte.
Sobald die Kleinen aufstehen konnten, wurden sie zu ihrer Sicherheit in den Kinderbetten angeschirrt. So konnten sie sich zwar noch am Gatter aufrichten, wenn sie so weit waren, aber mit anderen Kindern im Raum spielen war nicht möglich. Vermutlich lernten sie eher einander zu überschreien, um Aufmerksamkeit bei den Schwestern zu erringen. Dieses Verhalten war sicher nicht bei allen Kindern gleich ausgeprägt. Es gab wohl auch Säuglinge, die dazu neigten, sich in eine Ecke ihres Bettes zu verkriechen, während andere fordernd auf die fehlende Zuwendung zu reagierten. Ähnlich dem Verhalten frisch geschlüpfter Vogeljungen. Wer am lautesten schreit, erhält das meiste Futter.
Die Phase des Fallenlassens und Werfens von Spielzeug empfanden die Schwestern wohl eher als störend für die tägliche Routine. Ob sie darin eine normale Entwicklungsstufe sahen, könnte ich nur vermuten. Es mag als Trotz und Ungezogenheit ausgelegt worden sein. Ganz sicher hatten sie nicht die Zeit, die Kinder darin zu fördern. Das war schon rein organisatorisch unmöglich. Der Tagesablauf beschränkte sich also notgedrungen auf das Wickeln und Füttern. So zogen diese Heime zu der Zeit wohl sozial eingeschränkte Idioten heran, ohne es zu ahnen.
Hannes versuchte später unbewusst diese Defizite auszugleichen. Seine Bemühungen, Nähe und Wärme bei anderen Menschen zu finden oder sie zu geben, machten aus ihm einen Clown. Er verwechselte als Kind den Applaus für seine Späße mit Sympathie oder Zuneigung. Die ungestillte Sehnsucht nach Nähe begleitete ihn sein Leben lang. Gleichzeitig fürchtete er sie aber auch. Er war sie nicht gewohnt und misstraute ihr daher.
Erhielt er sie dennoch, verletzte er lieber die Menschen, die sie ihm entgegenbrachten, bevor sie es bei ihm konnten. Ihn begleitete die Angst vor dem Verlassen werden und der Zurückweisung bis heute. Selbst als Erwachsener beschlich ihn ein ungutes Gefühl, wenn er Menschen aus seiner Vergangenheit begegnete. Stets begleitete ihn die Furcht, ihnen gegenüber schuldig geworden zu sein, ohne zu wissen worin. Er konnte sich nicht vorstellen, dass man ihn wirklich mochte.
Hannes erinnert sich; als er Jahre später wieder in das Theater kam, in dem er gearbeitet hatte, fielen ihm einige der ehemaligen Kolleginnen um den Hals. Sie wollten wissen, was er mache, wie es ihm gehe und dass sie es schön fänden, ihn wiederzusehen. Damit hatte er nicht gerechnet. Schließlich war er überzeugt, einiges im Argen hinterlassen zu haben. Anscheinend hatte bei seinen Kollegen der positive Eindruck überwogen.
Das Problem bei Idioten wie Hannes ist, dass sie Sympathie bei anderen Menschen aufsaugen wie ein Schwamm. War jemand bereit sie ihm zu geben und das kam nicht selten vor, wollte er, dass es so bleibt. Dafür steigerte er seine Aktionen mitunter bis zum Exzess. Irgendwann wendeten sich die Menschen enttäuscht von ihm ab. Sie fühlten sich betrogen und spürten, dass er ihnen etwas vorspielte.
So passierte es immer wieder im Laufe seines Lebens. Er hatte einen schwarzen Fleck in seiner Wahrnehmung. Es ist das eine, glaubte er, etwas zu wissen, aber etwas völlig anderes, damit umgehen zu können. Wenn der Verstand und die Gefühle nicht zusammenpassen, bleibt immer eine Angst, die man nicht auflösen kann.
Inzwischen hätte er seinen Frieden damit gemacht. Er gehe den Leuten aus dem Weg, wenn er konnte. Ich solle das bitte nicht als Arroganz deuten. Aber er hätte wenig mit ihnen zu tun und wolle das im Grunde auch nicht. Das schütze ihn und die anderen vor Enttäuschung.
Wohl deshalb hatte er immer wieder Probleme, wenn es um Frauen ging. Deren Signale und Körpersprache verpufften bei ihm. Ich weiß, was es bedeuten kann, wenn eine Frau sich durch das Haar streicht, oder wenn sie länger den Blickkontakt hält, zumindest theoretisch. Aber dann frage ich mich, warum sollte sie ausgerechnet mich meinen. Im Grunde ist jede meiner Beziehungen von den jeweiligen Frauen ausgegangen, zumindest die mit Bedeutung.
Ich ging davon aus, dass sie doch merken müssten, was ich für sie empfand und habe deshalb nicht verstanden, was sie von mir erwarteten. Lieber zog ich mich zurück,
So geht es mir auch mit meiner Tochter. Im Grunde weiß ich, dass sie irgendetwas mit sich herumschleppt. Sie hatte nach dem Abitur begonnen, Philosophie und Geschichte zu studieren. Ich war unendlich stolz auf sie. Zwar hatte sie beim Abiturientenball erklärt, dass sie wegen ihres Lehrers diese Fächer studieren wolle, aber ich war überzeugt, dass ich ebenfalls einen gewissen Einfluss darauf hatte, denn es sind auch meine Lieblingsthemen.
Als sie mir nach einem Jahr erklärte, dass sie das Studium abbrechen werde, war ich zutiefst betroffen und für eine Weile fehlten mir die Worte. Wenn ich mich noch richtig erinnere, schossen mir Tränen in die Augen. Ich glaube bis heute nicht, dass ihr die Studienfächer zu schwerfielen. Eher hatte sie sich, die falschen Freunde ausgesucht. Die kamen mir wie lustlose Faulenzer vor. Überall stand bei ihnen Alkohol herum und was sie so weg kifften, möchte ich nicht wissen.
Sie hatte sich Freunde gesucht, die sie lähmten, statt sie anzuspornen. Dabei hatte sie mir erzählt, dass sie bei ihrer ersten Klausur eine andere Meinung verfolgt hatte als ihre Studiengruppe und damit am Ende richtig lag.
Ihr Umgang mit diesen kiffenden Null-Bock-Leuten tat ihrer Einstellung, aus meiner Sicht, nicht gut. Sie hatte sich von ihnen herunterziehen lassen. Darin ähnelt sie ihrer Mutter, sich mit Leuten zu umgeben, denen sie sich überlegen fühlt. Ich weiß nicht, ob das etwas mit Minderwertigkeitskomplexen zu tun hat. Weil man sich vor der Herausforderung fürchtet. Ich habe mit ihr nicht darüber gesprochen, weil ich hoffte, dass sie es selbst merken würde.
Sie gab vor, dass sie keine berufliche Zukunft mit diesen Studienfächern sehe. Dabei hatte uns ein Professor von seinem ehemaligen Assistenten erzählt und dass der jetzt in der Wirtschaft richtig gutes Geld verdiene. Eine der Tugenden, die das Geschichtsstudium mit sich bringt, ist, dass man Daten und Fakten zusammenzutragen und diese dann zu analysieren lernt. Eine Fähigkeit, die in der Wirtschaft hochgeschätzt und gut honoriert wird. Sie wolle nicht in die Wirtschaft, hatte sie erklärt.
Die Ironie aber ist, dass sie dann, nach ihrem zweiten Studium, für einen Wirtschaftszweig gearbeitet hat, der auf die Bequemlichkeit der Menschen baut und ihnen einredet, sie könnten nicht im Wald oder in der Stadt joggen, sondern benötigten dazu teure Geräte und die verbrauchte Luft eines Fitnessstudios. Inzwischen ist sie beim Staat angestellt. Hätte sie ihr erstes Studium abgeschlossen, könnte sie wohl eine höhere Laufbahn einschlagen. Aber es ist jetzt müßig, darüber nachzudenken.
Vielleicht hatte sie erwartet, dass ich ihr Mut zuspreche. Ich weiß es nicht. Ich bin nicht gut in solchen Dingen. Stattdessen habe ich ihr nur meine Enttäuschung gezeigt. Sie fühlte sich vermutlich abgelehnt oder im Stich gelassen. Ich war überzeugt, dass es mir auch dieses Mal nicht gelingen würde, sie von ihrem Entschluss abzubringen. Das war mir nie gelungen. Sie kann genauso eigensinnig sein, wie ich selbst.
Hannes gehörte nicht zu denen, die ihre schwere Kindheit vor sich hertragen, um alle Schuld für eigenes Versagen auf die Eltern, oder wie in seinem Fall auf die Großeltern zu schieben. Zum einen war das in seiner Generation nicht Mode, zum anderen wurde ihm mit zunehmendem Alter klar, dass auch sie nur handeln konnten, wie sie es gelernt hatten. Wo sollte man anfangen und wo würde dieses Verschieben von Verantwortung aufhören? Nein, das war nicht seine Art. So tickte Hannes nicht.
Glauben Sie an Horoskope, fragte er mich einmal. Nicht wirklich. Die chinesische Astrologie funktioniert gänzlich anders, als die westliche. Die zwölf Tierjahre haben weniger mit Geld, Beruf und Liebe zu tun, sondern eher mit Charakterzügen und Veranlagungen. Ich erkenne mich in meinem Tierzeichen wieder. Das gilt übrigens auch für meine Tochter. Wie weit das tatsächlich auf alle im jeweiligen Jahr Geborenen zutrifft, kann ich natürlich nicht sagen. Es ist auch für mich schwer vorzustellen, dass alle Menschen des gleichen Jahrgangs den gleichen oder zumindest ähnlichen Charakter haben sollen. Es hat mir allerdings geholfen, mich zu akzeptieren.
Glauben Sie nicht, dass das auch zu Bequemlichkeit führen kann? So bin ich nun mal, daran kann ich nichts ändern. Ja, vielleicht haben Sie recht, meinte Hannes, aber gehören nicht auch unsere Schwächen zu uns? Was bringt es, wenn wir ständig damit beschäftigt sind, die vorgeblichen Stärken anderer nachzuahmen. Was bliebe von uns selbst? Würden wir nicht zu schlechten Kopien anderer Menschen werden?
Ich war in meinen jüngeren Jahren, nicht selten neidisch auf diese abgeklärten, schweigsamen Männer, fuhr er fort. Es gab Kollegen am Theater, die beinahe jede Nacht mit einer anderen Frau nach Hause gingen und am nächsten Tag so taten, als wäre nichts Besonderes geschehen. Einer von ihnen, er war bei der Bühnentechnik, war mir dabei besonders aufgefallen. Er war mit einer wirklich schönen Frau verheiratet. Sie war zierlich, blond und hatte ein auffallend schönes Gesicht. Ich verstand nicht, warum so jemand regelmäßig fremdgehen musste. Dann eines Tages nach der Wende fand man ihn erhängt im Probesaal vor. Seine Frau hatte einen reichen Orientalen kennengelernt und war mit ihm zusammen nach Dubai verschwunden. Damit kam ihr Mann offensichtlich nicht zurecht. Ich schloss daraus, dass er wohl doch nicht so abgeklärt war, wie er sich gern gab. Ich verstand, dass dieser Gruppenzwang unter Männern, oft nur eine Fassade war, sicher aber ein Verhängnis sein konnte.
Irgendwann fragte ich Hannes noch einmal nach seiner Großmutter. Sie holte den Jungen also aus dem Heim. Er lebte die ersten Jahre seiner Kindheit recht gut versorgt bei den Großeltern. Hannes war nicht dumm. Bereits mit vier Jahren las er deutsche Fraktur in der Bibel der Großmutter. Er schrieb Sütterlin und lernte die Lieder seiner Großmutter auswendig. In seiner Familie wurde damals nur Plattdeutsch gesprochen, so waren auch Hannes ersten Worte natürlich auf Mecklenburger Platt. Was zuerst recht niedlich gewirkt haben mochte, erwies sich vor seiner Einschulung als Problem. Also beschloss die Familie in seiner Gegenwart nur noch Hochdeutsch zu sprechen. Was den Großeltern in einer Art Kauderwelsch gelang. Der Wahlspruch der Großmutter lautete diesbezüglich: Mir und mich kannst du ruhig verwechseln, aber nicht mein und dein. Eine Weisheit, die ihm zumindest schulisch kaum weiterhalf.
Seine Großmutter gab sich Mühe, mit Hannes und brachte ihm bei, was sie wusste. Sie war eine Frau vom Lande und hatte wohl bestenfalls die Grundlagen im Lesen, Schreiben und Rechnen in ihrer knappen Schulzeit erlernt. In ihrer Kindheit wartete die Pflicht auf dem Bauernhof der Familie. So wie sie es als Kind vermutlich selbst erfahren hatte, hatte sie kein Problem damit, Hannes bei Gelegenheit körperlich zu züchtigen. Dafür nutzte sie meist einen längeren braunen Schuhanzieher, der seitlich in ihrem Sessel steckte. „Du wirst mir später dafür dankbar sein und sagen, schade um jeden Schlag, der vorbeigeht“, pflegte sie sich zu rechtfertigen. Hannes war ihr nie dankbar dafür, dennoch blieb sie in seiner Erinnerung eine fürsorgliche und geliebte Großmutter.
Es gehörte für ihn einfach dazu, dass man ihn schlug, wenn man es für angebracht hielt. Es war nichts, worüber er lange nachdachte. Auch dem befreundeten Geschwisterpaar aus dem Nachbarhaus wurde gelegentlich vom Vater der Hintern versohlt. Das war nicht die Zeit, in der man seinen Namen tanzte. Es waren andere Zeiten, meinte Hannes.
Für ihn war sie immer wie eine Oma aus den Märchen. Warm und durch das Alter dicklich geworden, mit einem schütteren grauen Dutt. Manchmal, so erinnert sich Hannes, suchte sie ihre Brille, die sie auf die Stirn hochgeschoben hatte. Stand Hannes dann als Knabe vor ihr und musste lachen, wurde sie ungehalten. Löste er dann die Suche auf, rügte sie ihn zum Spaß für seine Frechheiten. Sie nannte ihn oft einen frechen Lümmel. Das war er wohl auch, gab er zu. Er erinnert sich gern, wie er auf einem kleinen Holzhocker zu ihren Füßen saß und ihren Geschichten oder Liedern lauschte.
Sie hatte eine ganz besondere und pragmatische Verbindung zu ihrem lieben Gott, wie sie ihn nannte. Es war eine eher lebensbezogene Verbindung und nicht so theoretisch, wie so oft praktiziert. Sie las immer dann in der Bibel, wenn sie ein Problem oder einen Kummer wälzte. Darin fand sie dann wohl den gesuchten Rat. Auf die Kirche selbst war sie nicht unbedingt gut zu sprechen. Die haben mit den Nazis geklüngelt, um ihre Pfründe zu retten. Unser guter Herr Jesus war doch aber auch ein Jude. Die sollten sich schämen allesamt. Jetzt gehen die gleichen Herren mit den Kommunisten ins Bett. Die wissen, wie man das macht, dass ihnen nichts genommen wird. Der Herr Pfarrer hatte keine Kinder, wusste sie auch, aber seine Haushälterin ihrer viere. Heuchler sind sie allesamt. Das waren die diesbezüglichen Weisheiten meiner Großmutter.