Harzer Angst - Silke Mahrt - E-Book

Harzer Angst E-Book

Silke Mahrt

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Beschreibung

Nach einem Peitschenknaller-Training verschwindet der dreizehnjährige Ben. Tage später entdecken Wanderer die misshandelte Leiche des Jungen. Tom Steiger, Trainer der Gruppe, macht sich große Vorwürfe und beginnt zu ermitteln. Seine Kollegin und Vorgesetzte Carla Altmann hat noch ganz andere Sorgen. Ihr Sohn Niklas verändert sich und zieht sich immer mehr zurück. Carla spürt, dass etwas nicht stimmt – mit ihrem Sohn, mit dem Fall. Weiß er etwas über Bens Tod?

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Silke Mahrt

Harzer Angst

Impressum

ISBN 978-3-96901-120-1

ePub Edition

V1.0 (04/2025)

© 2025 by Silke Mahrt

Abbildungsnachweise:

Umschlag (Front) © semenovp | #314230872 | depositphotos.com

Umschlag (Back) © STILLFX | Getty Images via canva.com

Porträt der Autorin © Silke Mahrt | silke-mahrt.de

Lektorat:

Sascha Exner

Verlag:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt · Deutschland

Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

Web: harzkrimis.de · E-Mail: [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Schauplätze dieses Romans sind reale Orte. Die Handlung und die Charaktere hingegen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen wären reiner Zufall und sind nicht beabsichtigt.

Inhalt

Titelseite

Impressum

Sonntag, 18. Juni

Montag, 19. Juni

Dienstag, 20. Juni

Mittwoch, 21. Juni

Donnerstag, 22. Juni

Freitag, 23. Juni

Samstag, 24. Juni

Montag, 26. Juni

Dienstag, 27. Juni

Samstag, 1. Juli

Nachwort

Über die Autorin

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Eine kleine Bitte

Sonntag, 18. Juni

Mit aller Kraft schleuderte Tom die Peitsche durch die Luft. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißtröpfchen. Sein Gesicht glühte und er presste die Lippen fest aufeinander. Es knallte leise.

Tilda nickte ihm zu und senkte ganz langsam den hochgestreckten Daumen.

Tom stutzte und kam noch mehr aus dem Rhythmus. Sie hatte recht. Bei jedem Training erklärte er den Kindern, dass es beim Knallen nicht auf die Kraft ankam. Peitschenknallen war eine Kunst, hatte etwas Meditatives. Es kam auf das Gefühl an. Alles passierte im Handgelenk. Und nun stand er hier und hantierte mit der Peitsche wie ein Berserker. Auf jeden Fall wie ein blutiger Anfänger und nicht wie der amtierende Peitschenknallmeister des Oberharzes. Schuld daran war Ben. Er war heute nicht gekommen. Er hatte nicht einmal abgesagt. Ohne ihn hatten seine Kids keine Chance gehabt. Ihr Auftritt war genauso eine Katastrophe gewesen wie seine Darbietung jetzt.

Endlich war seine Kür zu Ende. Tom ließ die Peitsche sinken, wischte sich über die Stirn und verbeugte sich kurz. Schnell verschwand er hinter dem Vorhang, der die Bühne abgrenzte.

Sein Vater grinste ihn an und schüttelte den Kopf.

»Was war das denn? Hast du Stress mit Julia oder auf wen warst du so wütend?« Er legte Tom die Hand auf den Arm und griff nach der Peitsche. »Niemals wütend mit der Peitsche in der Hand. Wer predigt das noch immer? Da waren deine Kinder vorhin ja besser.«

Tom schüttelte die Hand seines Vaters ab.

»Sooo schlecht war ich nun auch wieder nicht. Mit Julia ist alles in Ordnung.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Wir treffen uns in einer Stunde zum Poffertjes-Essen. Ich muss mich nur noch von meiner Gruppe verabschieden und schauen, dass alle abgeholt werden.«

Er winkte seinem Vater kurz zu und eilte Richtung Parkplatz. Hoffentlich waren die Kinder schon am vereinbarten Treffpunkt. Pünktlichkeit war Julia wichtig. Außerdem hatte er keine Lust, noch einmal über die Festwiese zu gehen, um die Nachzügler zu suchen. Dumme Sprüche konnte er jetzt wirklich nicht gebrauchen.

»Kommst du heute Abend zum Abendbrot?«, rief sein Vater ihm hinterher. »Oder schläfst du bei Carla?«

Tom verdrehte die Augen. Auch so ein Problem. Musste seine Freundin Julia unbedingt mit seiner Chefin zusammenwohnen? Klar, Carla war nett und sie verstanden sich gut. Ging ja gar nicht anders, wenn eine Polizeistation nur mit zwei Menschen besetzt war. Aber Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps, wie sein alter Chef Gustav Oberhofer immer sagte. Okay, mit ihm hatte er sich in seiner Freizeit regelmäßig auf ein Altenauer Bier getroffen, gerne mit Currywurst dazu, aber ihn kannte er schon sein ganzes Leben und er war halt Polizist. Genau wie Tom.

Carla war neu, jedenfalls fast neu, auch wenn sie in Altenau geboren war. Seit etwas über einem Jahr leitete sie die Polizeistation. Vorher hatte sie eine leitende Position beim LKA in Hannover. Was sie dort genau gemacht hatte, darüber redete sie nicht. Auf jeden Fall war sie eigentlich bei der Kriminalpolizei, Hauptkommissarin sogar. Nachts mit ihr in einem Haus zu schlafen, ihr womöglich im Schlafanzug zu begegnen, war ihm unangenehm. Er schüttelte sich allein schon bei diesem Gedanken.

»Mensch, Alter, was war das denn für ein Mist eben? Immer schön aus dem Handgelenk, mit viel Gefühl«, äffte Anton ihn nach und musterte ihn spöttisch.

Die anderen Kinder blickten betreten zu Boden. Nur Tilda zwinkerte ihm zu.

»Ihr wart auch nicht besser«, blaffte Tom zurück. »Wer hat denn drei Mal die Peitsche verloren und kaum einen Ton erzeugt?«

»Ich bin ein Schüler, ein Anfänger, ich lerne noch. Aber du«, Anton stach mit ausgestrecktem Finger in Toms Richtung, »willst Harzer Meister sein und uns etwas beibringen.« Er grinste.

Tom schluckte. Es hatte keinen Sinn, auf diese Provokationen einzugehen. Leider hatte der Bengel ja recht.

»Alle da?«, fragte er und ließ seinen Blick über die kleine Truppe schweifen.

»Alle zum Appell angetreten!« Anton salutierte und knallte die Hacken zusammen. So einen lauten Ton hatte er mit der Peitsche nicht geschafft.

»Alle da«, verkündete Tilda, das einzige Mädchen und heute die beste Peitschenknallerin der Truppe. »Bis auf Ben«, fügte sie leise hinzu.

Toms Miene verfinsterte sich.

»Hat jemand etwas von ihm gehört?«

Er sah jedes Kind direkt an.

»Wie denn? Der Assi hat ja nicht mal ein Handy. Kann sich sein Alter nicht leisten. Der lebt von Stütze!« Wieder Anton.

»Bens Vater arbeitet in einer Fabrik in Goslar«, stellte Tilda klar. »Kann ja nicht jeder einen Anwalt als Papi haben. Außerdem heißt das Bürgergeld, du Schlauberger.« Sie seufzte. »Ben ist immer noch nicht gekommen. Gemeldet hat er sich auch nicht. Bestimmt ist er krank. Er hätte uns niemals ohne Grund im Stich gelassen.«

»Hallo Herr Steiger!« Antons Mutter trat von hinten auf Tom zu. Er zuckte zusammen und drehte sich um.

Sie lächelte und zeigte dabei ihre gebleichten Zähne. Vielleicht musste sie das als Zahnärztin ja. Sie erinnerte Tom damit jedoch an einen Haifisch.

»Ich will nur schnell Anton abholen. Sie sind doch hier fertig? Wir wollen noch zum Tennis.« Sie strich ihrem Sohn über den Kopf. Er duckte sich rasch weg und warf ihr einen zornigen Blick zu.

Tilda grinste.

»Können Sie mich vielleicht mitnehmen?«, fragte sie gleich darauf zaghaft. »Meine Mutter hat mir eine WhatsApp geschrieben. Meinem Bruder geht es nicht so gut. Sie schafft es nicht, mich abzuholen.«

Lukas verdrehte die Augen. »Ist der Spasti schon wieder krank?«

»Tut mir leid«, säuselte seine Mutter. »Wir sind schon spät dran. Anton muss unbedingt noch trainieren. Nächste Woche ist ein wichtiges Ausscheidungsturnier. Sein Bruder wurde bereits vor zwei Jahren in den Landeskader aufgenommen. Anton muss einfach mehr trainieren, dann schafft er das auch.« Sie sah ihren Sohn an, der finster zu Boden blickte, und zog ihn davon, bevor Tilda oder Tom etwas sagen konnten.

Kurz darauf trafen die Eltern eines anderen Jungen ein. Sie nahmen den Rest der Truppe mit. Für Tilda war kein Platz mehr im Auto.

»Du kannst mit mir mitfahren, kein Problem.« Am liebsten hätte Tom Tilda über die blonden Locken gestrichen, wie sie da so mit gesenktem Kopf neben ihm stand. Aber das ging natürlich nicht. Wenn Julia und er erst Kinder hatten, dann wünschte er sich ein Mädchen so wie Tilda.

Sie lächelte. »Danke! Meine Mutter hat gesagt, ich kann mir auch ein Taxi nehmen, aber das ist irgendwie komisch.«

»Na, dann komm. Beeil dich, ich habe noch eine Verabredung. Sie wartet nicht gern.« Tom schüttelte den Kopf. Was ging das Tilda an? »Nimm die drei Peitschen, ich nehme die anderen. Mein Auto steht gleich da vorne.«

* * *

Carla presste beide Hände in den Rücken. Sie stöhnte. Seit Tagen zog es mal hier, mal dort. Ihre Arme waren schwer, als hätte sie Blei in den Adern. Das T-Shirt klebte an ihrem verschwitzten Körper. Sie sah sich in dem Zimmer um, das später einmal das Wohnzimmer werden sollte. Chaos, wohin sie blickte, und keine Hilfe weit und breit.

Sie hatte sich mit der Renovierung des Hauses übernommen. Nicht nur finanziell, sondern eindeutig auch körperlich. Von ihrer verletzten Seele nicht zu sprechen. So war das, wenn Frau ihre Träume verwirklichen wollte.

Alle hatten ihr gut zugeredet.

Mach das!

Einmalige Gelegenheit!

Na ja, ihre Mutter nicht. Sie hatte sie gleich gewarnt.

Du läufst mal wieder Hirngespinsten hinterher. Immer mit dem Kopf durch die Wand. Erst handeln, dann denken. Du wirst schon sehen. Am Ende stehst du mit allem allein da.

Wie so oft, hatte ihre Mutter leider recht behalten.

Annelie war dieses Wochenende wieder nicht gekommen. Der Traum, hier gemeinsam zu leben, war in weite Ferne gerückt. Bis zum Notartermin lief alles gut. Annelie hatte geplant! Und wie sie geplant hatte. Immer neue Ideen und Entwürfe. Ihre Begeisterung hatte Carla mitgerissen. Aus einer kleinen Renovierung war ein Lebensprojekt geworden. Seit es an die Umsetzung ging, kam Annelie jedoch nur noch selten von Husum nach Altenau. Von einem endgültigen Umzug war keine Rede mehr. Jetzt war sie schon seit vier Wochen nicht hier gewesen. Sie rief kaum noch an, fragte nicht nach dem Stand der Sanierungen. Selbst die Auswahl der Farben hatte sie plötzlich Carla überlassen. Immerhin überwies sie rechtzeitig ihren Anteil an der Miete.

Julia, Annelies Tochter, kam alle zwei Wochen, aber nicht um zu helfen, sondern um sich mit Tom zu treffen und ihre Großeltern in Schulenberg zu besuchen. Ins Haus kam sie nur zum Schlafen. Oder sie setzte sich mit einem Buch auf einen Liegestuhl im Garten. Angeblich musste sie für ihr Studium lernen, doch meist sah es so aus, als träume sie einfach so vor sich hin.

Carla strich sich über die Stirn. Überhaupt der Garten. Gut, sie mochte es gerne urwüchsig. Es musste nicht alles grade sein und Wildkräuter waren eine gute Bienenwiese. Doch selbst sie erkannte, dass es so nicht weiterging. Dazu brauchte sie nicht die hämischen Kommentare der Nachbarn. Wenn sie nicht endlich mal Zeit in den Garten steckte, würde sie ihn im nächsten Jahr völlig neu anlegen müssen.

Sie richtete sich auf. Von alleine ging die alte Farbe nicht von den Fenstern ab. Mit aller Kraft zog sie den Schleifklotz über den Fensterrahmen.

»Autsch!«

Sie schrie auf. Zu blöd. Sie hatte das Schleifpapier über ihren kleinen Finger gezogen und Haut ging eindeutig leichter ab als alte Farbe. Sie warf den Schleifklotz auf den Boden. Tränen schossen ihr in die Augen. Ob aus Wut oder Schmerz konnte sie nicht sagen.

Auf jeden Fall war jetzt Zeit für einen Kaffee. Immerhin war die Küche voll funktionsfähig. Dort hatte sie kaum etwas geändert. Der Raum strahlte noch immer die gleiche Gemütlichkeit aus, wie bei Carlas erstem Besuch hier im Haus. Nur die Kaffeemaschine war neu. Annelie hatte sie zum Einzug gekauft. Carla trank lieber Tee, doch heute war sie froh über die Anschaffung. Mit wenigen Griffen bereitete sie sich einen Latte macchiato zu. Der Duft des Kaffees kitzelte verführerisch in ihrer Nase. Sie nahm die Schachtel mit den Reservezigaretten aus der Schublade.

Genug für heute, beschloss sie. Ich setze mich mit Kaffee und Zigaretten auf die Bank vor dem Haus.

Wegen dieser Bank und des herrlichen Ausblicks hatte sie sich auf den ersten Blick in das Haus verliebt. Doch viel Zeit, um draußen zu sitzen und einfach nichts zu tun, so wie sie es sich damals erträumt hatte, hatte sie bis heute nicht gehabt.

»Hallo Carla!«

Sie zuckte zusammen. Sie war in der Sonne eingeschlafen. Vor ihr stand Thomas Schneidereit. Er hielt ein Kuchenpaket in der Hand und grinste sie an.

»Pause? Da komme ich ja gerade richtig. Eine halbe Stunde später und du hättest einen tüchtigen Sonnenbrand.«

Carla rieb sich die Augen.

»Wie spät ist es denn?«

»Halb vier.«

»So ein Mist. Ich muss noch die Fenster fertig abschleifen.« Sie sprang auf.

Er drückte sie zurück auf die Bank.

»Du musst auch mal Pause machen. Es ist Sonntag.« Er sah sie mitleidig an. »Ist Annelie wieder nicht gekommen? Warum hast du nicht angerufen? Ich hätte dir doch helfen können.«

Schneidereit war Leiter der Kriminaltechnik bei der Kripo in Goslar. Carla hatte ihn bei ihren Ermittlungen zu den Toten an der Okertalsperre kennengelernt. In den letzten Monaten hatten sie sich häufiger getroffen und er hatte ihr schon einige Male bei schweren Arbeiten geholfen. Inzwischen waren sie so etwas wie gute Freunde, wobei Carla manchmal dachte ... Sie schüttelte den Kopf. Eine Liebesbeziehung war das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte. Ihre kurze Affäre mit dem Sozialarbeiter Rolf aus Braunschweig hatte ihr deutlich gezeigt, dass sie besser auf ihren Verstand als auf ihr Herz hörte. Rolf und ihr Sohn Niklas waren überhaupt nicht miteinander klargekommen.

»Ich mache dann mal frischen Kaffee.« Sie stand auf und zeigte auf das Kuchenpaket. »Puddingkuchen von Moock?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Puddingkuchen von Moock«, bestätigte Schneidereit. »Du bleibst hier sitzen. Ich koche Kaffee und bringe dir Sonnencreme raus.«

Er verschwand im Haus. Carla sah ihm lächelnd nach.

* * *

Tom stoppte das Auto vor dem Haus, in dem Ben lebte. Ein einfaches Wohnhaus mit zwei Mietwohnungen. Die Farbe blätterte von der Fassade. Der Vorgarten war seit Jahren verwildert. Im Hof standen ein alter Golf ohne Reifen, ein ausrangierter Kühlschrank und weiteres Gerümpel. Er war während seiner Dienstzeit schon hier gewesen und hatte mit dem Vater gesprochen. Ben hatte die Bänke im Kurpark bekritzelt und einmal hatte ihn der Leiter des Nahkaufs beim Klauen erwischt. Es ging zwar nur um eine Tafel Schokolade, aber Diebstahl blieb nun mal Diebstahl. Viel hatte er bei Bens Vater nicht erreicht.

»Warte einen Moment. Ich schau mal, ob Ben zu Hause ist.«

»Von hier aus kann ich zu Fuß gehen.« Tilda griff nach dem Türöffner.

»Quatsch, ich fahre dich bis vor die Haustür. Ich muss sowieso noch die Peitschen in die Heimatstube bringen.«

Tom stieg aus und schlenderte über den vollgemüllten Hof.

»Breitner«, da stand es ja. Tom klingelte. Nichts geschah. Er klingelte erneut und ließ den Finger auf dem Knopf liegen. Das durchdringende Schellen war bis auf den Hof zu hören. Nichts rührte sich. Tom überlegte kurz und drückte auf die beiden anderen Klingeln. Hier standen nicht einmal Namen. Gleich darauf rumpelte es im Hausflur.

»Ja!« Ein Mann öffnete die Tür. Er musterte Tom aus zusammengekniffenen Schweinsäuglein. Seine verdreckte Hose wurde mit Hosenträgern über dem nackten Bauch gehalten.

»Polizeimeister Tom Steiger, Polizeistation Altenau. Ich möchte zu Ben Breitner.«

»Schicke Uniform.« Der Mann grinste.

Tom spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er noch Tracht trug. Mit knielanger Lederhose und langen Kniestrümpfen machte er sicher keinen seriösen Eindruck.

»Ich möchte zu Ben Breitner«, wiederholte er.

»Ist nicht da. Der Alte auch nicht. Der arbeitet.« Es klang abwertend. »Was hat der Bengel denn nun schon wieder ausgefressen, dass ihr sogar am Sonntag nach ihm sucht.«

»Nichts«, beeilte sich, Tom zu sagen. »Ich habe ihn heute nur vermisst.«

»Da sind Sie aber der Erste, der den je vermisst hat.« Der Mann lachte.

»Wann haben Sie Ben denn das letzte Mal gesehen?« Tom biss sich auf die Zunge. Beinahe hätte er ›lebend‹ gesagt.

Der Mann griff sich an den Kopf und runzelte die Stirn. Schließlich zuckte er mit den Achseln.

»Der kommt und geht, wie er will. Ist ein offenes Haus hier. War’s das?« Er schob die Tür zu.

»Danke! Bitte melden Sie sich, wenn Ben wieder da ist.« Tom griff in seine Tasche. Mist, in der Tracht hatte er natürlich keine Visitenkarte. Als er aufblickte, war die Tür geschlossen. Er wandte sich ab und ging zurück zum Auto.

»Wie geht es Ben?« Tilda blickte ihn besorgt an. »Ist er krank?«

»Nicht zu Hause«, nuschelte Tom. »Sein Vater auch nicht. Bestimmt haben sie etwas Wichtiges vor.«

Obwohl, hat der Typ nicht gesagt, Bens Vater ist bei der Arbeit? Da hat er Ben bestimmt nicht mitgenommen. Außerdem war Ben der Auftritt heute total wichtig gewesen. Irgendetwas stimmt hier nicht.

Tom hatte ein ganz mulmiges Gefühl. Doch er hatte jetzt einfach keine Zeit. Er sah auf seine Uhr. Schon halb fünf. Julia wartete seit einer halben Stunde auf ihn.

»Wir müssen los.«

Er startete das Auto, fuhr mit quietschenden Reifen vom Hof und stoppte drei Minuten später vor dem Haus, in dem Tilda mit ihren Eltern wohnte.

»Tschüss, bis Freitag.« Tom trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. Julia mochte es überhaupt nicht, zu warten.

»Tschüss und danke fürs Heimfahren.« Tilda lächelte ihn an. Sie öffnete die Autotür.

»Warte! Bist du mit Ben in einer Klasse?«

»Ja, er ist zwar ein Jahr älter, aber er hat schon einmal wiederholt. Anton geht auch in unsere Klasse.« Sie verzog das Gesicht.

»Kannst du mir morgen Bescheid sagen, ob er in der Schule ist?«

»Mach ich, aber erst nach Schulschluss. Ich darf mein Handy nicht mit in die Schule nehmen.« Tilda stieg aus.

Tom winkte ihr zu und wendete Richtung Waldcafé. Die Peitschen konnte er später noch zurückbringen.

* * *

»Musstest du in dem Aufzug kommen? Das ist ja megapeinlich!«

Julia saß vor dem idyllischen Café in der Sonne und musterte Tom von oben bis unten. Vor ihr standen eine leere Kaffeetasse und ein Teller, auf dem noch Reste von Butter glänzten. Scheinbar hatte sie ihre Poffertjes schon aufgegessen. Sie sah wunderschön aus mit ihren roten Locken und den strahlenden blauen Augen. Nur ihr verkniffener Gesichtsausdruck störte.

»Ich freue mich auch, dich zu sehen.« Tom beugte sich hinunter, um sie zu küssen. Sie drehte sich weg.

»Du stinkst wie ein Fuchs im Zoo. Konntest du nicht wenigstens duschen?«

Tom holte tief Luft. »Dann wäre ich noch später gekommen. Das war vielleicht ein Tag.« Er setzte sich auf den Stuhl gegenüber von Julia. Er hatte Lust auf ein gekühltes Altenauer, aber am besten bestellte er Kaffee. Julia liebte gemütliches Kaffeetrinken.

»Schön, dass du so einen tollen Tag hattest.« Sie verdrehte die Augen. »Ich habe den ganzen Tag geschuftet.«

»Hast du Carla beim Renovieren geholfen?«

»Oma geht es schlecht. Ich habe geputzt, Wäsche gewaschen und unter Opas Aufsicht die Beete vom Unkraut befreit.« Sie stöhnte theatralisch. »Dabei muss ich unbedingt noch ein Referat fertig machen.«

»Lucie geht es schlecht?« Tom sah sie besorgt an. Rudi und Lucie Meyer waren so etwas wie Wahlgroßeltern für ihn. Als Kind hatte er sehr viel Zeit mit Rudi in den Harzer Wäldern verbracht, später war er ein väterlicher Freund für ihn geworden. In den letzten Monaten war er den beiden alten Menschen wieder näher gekommen.

Julia winkte ab.

»Die beiden werden bald neunzig. Da gibt es schon mal das ein oder andere Wehwehchen. Ich vermute, sie suchen nur nach einer Ausrede, um mich zu beschäftigen, damit ich möglichst oft am Wochenende herkomme.«

»Brauchst du denn eine Ausrede?« Tom griff nach Julias Hand.

Sie zog sie zurück und blickte auf die Uhr.

»Ich muss los. Das Referat für die Uni, du weißt ja. Bezahlst du für mich mit?« Sie stand auf und warf Tom eine Kusshand zu, ohne seine Antwort abzuwarten. »Bis bald. Ich fahre morgen früh los. Ich will vor dem Berufsverkehr durch Hannover sein.«

Tom blickte ihr verwirrt hinterher. Bis bald? Es war wirklich ein schrecklicher Tag.

* * *

Mit einem lauten Knall fiel die Haustür ins Schloss. Carla zuckte zusammen. Schneidereit war erst vor einer halben Stunde gegangen. Nach dem gemütlichen Kaffeetrinken hatten sie das Staudenbeet vor dem Haus von Wildkräutern befreit. Es hatte Spaß gemacht, zu zweit in der Sonne zu arbeiten, und durch den blühenden Vorgarten wirkte alles gleich viel freundlicher.

Als sie fertig waren, hatten sie sich auf die Bank gesetzt und ein kühles Altenauer getrunken. Der ganze Nachmittag kam der puren Idylle, die Carla sich beim Umzug in das Haus vorgestellt hatte, ziemlich nahe. Nur an Schneidereit hatte sie damals nicht gedacht.

Schon wieder knallte eine Tür. Julia war bereits vor zwei Stunden gekommen, hatte Thomas gemustert, kurz gegrüßt und war nach oben in ihr Zimmer verschwunden. Ohne Tom. Hatten die beiden sich gestritten?

Also konnte es nur Niklas sein. Er hatte das Wochenende bei seinem Vater in Hannover verbracht. In der letzten Zeit lief es ziemlich gut zwischen den beiden. Nach der Scheidung hatte Paul ständig neue, natürlich deutlich jüngere Freundinnen gehabt. Oft hatte er die Vater-Sohn-Wochenenden abgesagt. Inzwischen hatte er seit einem halben Jahr eine feste Freundin. Lisa war ebenfalls jung, aber nach Aussage von Niklas voll okay.

Carla stand auf und trat auf den Flur. Von Niklas keine Spur. Nur die auf dem Fußboden liegende Jacke und die verstreuten Schuhe zeugten von seiner Anwesenheit. Die Tür zu seinem Zimmer war zu.

Carla klopfte an. Mit dem Einzug in das Haus hatte Niklas ein Schild »Bitte klopfen! Erst nach Antwort eintreten!« an seine Zimmertür gehängt. Sie hatte es auf die beginnende Pubertät geschoben, aber Niklas hatte es anders begründet: Wir wohnen jetzt mit zwei fremden Frauen zusammen. Tom wird auch ständig hier abhängen. Da brauche ich meine Privatsphäre. Eigentlich hätte er das Schild längst wieder abnehmen können. Annelie war nie hier, Julia nur selten und dann kaum zu sehen.

Von drinnen kam keine Antwort. Carla klopfte erneut. Dieses Mal kräftiger. Das darauf folgende Brummen interpretierte sie als »Herein«.

Niklas lag auf seinem Bett und starrte die Decke an.

»Hallo Großer. Alles klar? Oder hattest du Stress mit deinem Vater?«

Er schüttelte den Kopf.

»Alles okay. Lisa bekommt ein Baby. Aber das macht nur Papa Stress.« Er grinste schief.

Carla schluckte. Paul wurde noch mal Vater. Mit ihr hatte er kein zweites Kind gewollt.

Sie setzte sich zu Niklas auf die Bettkante und wuselte ihm durch die Haare. »Ist das wirklich okay für dich?«

Er schob ihren Arm weg.

»Mensch, Mutsch, ich bin kein Baby mehr.« Er setzte sich auf. »Ist echt kein Problem. Vielleicht wird es ja ein Mädchen. Eine kleine Schwester wäre schon nett. Ist es für dich auch okay?« Er blickte sie besorgt an.

Carla horchte einen Moment in sich hinein. Dann nickte sie. »Ja, es ist wirklich okay. Aber irgendetwas hast du doch?«

Niklas zuckte mit den Schultern.

»Die Hormone nehme ich an.« Er lächelte gezwungen.

Carla prustete. Mit diesem Spruch erklärten sie sich seit einiger Zeit gegenseitig ihre Launen.

»Und bei dir? Ist Annelie wieder nicht gekommen?«

Carla seufzte. »Ich weiß auch nicht, wie das werden soll. Alleine schaffe ich das alles nicht.«

Niklas strich ihr über den Arm.

»Nächstes Wochenende helfe ich dir, versprochen.«

»Wirklich alles okay?«, fragte sie ihn noch einmal.

Er nickte. »Gute Nacht. Ich bin müde.« Er drehte sich mit dem Gesicht zur Wand.

Carla runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte nicht, aber sie konnte ihn nicht zwingen, mit ihr zu reden.

»Gute Nacht!« Kurz streckte sie die Hand aus, um ihm noch einmal durch die Haare zu wuseln, zog sie jedoch schnell zurück. Er hatte ein Recht auf seine Privatsphäre. Er wurde langsam erwachsen.

Sie stand auf und schloss leise die Tür hinter sich.

* * *

Niklas setzte sich auf und wühlte in seinem Rucksack nach dem Smartphone. Seine Mutter konnte echt nerven. Es gab einfach Dinge, die konnte sie nicht verstehen. Und ändern auch nicht.

Er öffnete WhatsApp. Fünfzehn neue Nachrichten im Klassenchat. Natürlich nicht in dem offiziellen, in dem die Lehrer die Hausaufgaben und Erinnerungen an irgendwelche blöden Zettel einstellten. Der war in erster Linie für die Eltern. Die Nachrichten waren in dem exklusiven Gruppenchat, den Marvin vor Kurzem eingerichtet hatte. Beitritt nur mit persönlicher Einladung. Schon das fand Niklas irgendwie crazy. Auf der anderen Seite war er komischerweise richtig stolz, als einer der Ersten dabei gewesen zu sein. Aber da hatte er ja auch nicht wissen können, wie sich das Ganze entwickeln würde.

Mit zitternden Fingern tippte er den Chat an. Er stöhnte. Schon wieder ein neuer Film. Luisa mit hochrotem Gesicht. Sie kniete vor Marvin, der seine Hose heruntergelassen hatte. Er grinste und zeigte das Victory-Zeichen. Danach ein Film mit Luisa von hinten. Auf ihren Pobacken waren rote Striemen zu sehen.

Niklas starrte auf die Bilder. Tränen stiegen ihm in die Augen. Das war nicht fair. Luisa war nett. Ein bisschen pummelig, ein bisschen zu bemüht, aber nett. Marvin hatte sie in den letzten drei Wochen ständig angebaggert, hatte ihr dauernd Komplimente gemacht und sie zum Eis eingeladen. Sie wusste nicht, dass es nur um eine Challenge ging. Sie ahnte nicht, dass es Marvin nur um diesen Film ging und dass er ihn mit der ganzen Gruppe teilen würde.

Niklas scrollte sich durch die Kommentare. Einer widerlicher als der andere. Der letzte Spruch war wieder von Marvin.

»Und hiermit nominiere ich .... Niklas. Hau rein, Alter – und vergiss das Filmen nicht!«

Er biss die Zähne zusammen.

Was sollte er nur tun?

Montag, 19. Juni

Um halb neun betrat Carla die Polizeistation. Sie hatte verschlafen. Erst konnte sie nicht einschlafen, dann hatte sie das Klingeln des Weckers überhört. Niklas hatte sie schließlich mürrisch geweckt. Er sah aus, als hätte er noch weniger geschlafen. Er war blass, seine Augen waren rot gerändert. Belastete ihn die Schwangerschaft von Pauls Freundin mehr, als er zugeben mochte?

Carla hatte die Nachricht so allein im Bett doch weiter beschäftigt. Nicht, weil ihr Ex-Mann noch einmal Vater wurde. Einen Kinderwunsch verspürte sie nicht. Aber Paul hatte eine neue Partnerin gefunden, während sie hier in Altenau herumsaß und kaum Kontakte hatte. Sie war einsam, das war ihr in der Nacht bewusst geworden. Vielleicht sollte ich doch dem Druck meiner Vorgesetzten nachgeben und irgendwo eine Stelle bei der Kripo annehmen. Nicht wieder im Bereich der Organisierten Kriminalität, nicht beim LKA, aber vielleicht ist Wirtschaftskriminalität ja das Richtige für mich.

Sie schlug die Tür mit mehr Schwung als nötig zu und blickte sich um. Das Mobiliar war in die Jahre gekommen. Alles sah ein wenig verwahrlost aus. Die Zeit der kleinen Reviere auf dem Land war wirklich vorbei. Niemand da. Gustav, der pensionierte Polizeiobermeister und langjährige Revierleiter, der seit Januar mit einer halben Stelle als Bürogehilfe arbeitete, kam immer erst um zehn. Tom war sicher im Hinterhof, um eine Zigarette zu rauchen.

Carla setzte sich an ihren Schreibtisch und startete den PC. Sie rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Ein langweiliger Arbeitstag lag vor ihr und sie war jetzt schon müde. Schließlich nahm sie ihre Zigarettenschachtel aus der Schreibtischschublade und ging ebenfalls in den Hinterhof.

»Guten Morgen.«

»Mahlzeit!« Tom verdrehte die Augen. »Dieser Morgen ist beschissen.«

»Stress mit Julia?« Carla zündete sich eine Zigarette an.

Tom stöhnte. »Ich habe kaum geschlafen. Aber nicht wegen Julia«, fügte er schnell hinzu. »Ben ist weg!«

»Der Ben, der immer die Bänke beschmiert?«

»Genau der. Er ist mein bester Peitschenknaller und ist gestern nicht zum Wettkampf erschienen.«

»Vielleicht ist er krank?«

»Glaube ich nicht. Ich bin gestern Abend zwei Mal bei ihm zu Hause vorbeigefahren und heute Morgen auch noch mal. Er war nicht da und sein Vater auch nicht.«

»Vielleicht sind die beiden zusammen weggefahren?«

»Sein Vater war angeblich zur Arbeit. Das hat jedenfalls der Nachbar gesagt. Sie leben in dem heruntergekommenen Mietshaus oben am Berg. Ich mache mir wirklich Sorgen. Peitschenknallen ist Ben echt wichtig.«

»Hast du schon die Unfallberichte gelesen?«

Tom nickte. »Nichts Auffälliges. In Torfhaus ist einer besoffen in den Graben gefahren. Zum Glück ist nichts weiter passiert.«

Carla atmete tief ein. Hier geschah eigentlich nie etwas. Das war ja ihr Problem. Im Dienst starb sie manchmal vor Langeweile. In ihrer Freizeit wuchs ihr die Arbeit mit dem Haus über den Kopf. Da hätte sie doch gleich Handwerkerin werden können.

Tom drückte seine Zigarette aus. »Ich fahre noch mal zu Bens Vater. Irgendetwas stimmt da nicht.«

»Ich komme mit.«

Tom sah Carla an.

»Na ja, zu zweit sieht offizieller aus.« Und ich habe absolut keine Lust, mich mit dem ganzen bürokratischen Kram zu beschäftigen, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Aber wenn jemand was von uns will ...«

Tom nahm den Dienst in der Polizeistation sehr ernst.

»Wir schreiben auf dem Weg ein paar Falschparker auf. Außerdem kommt Gustav gleich.« Carla zwinkerte ihm zu.

* * *

Sie gingen wie meistens, wenn sie im Ort zu tun hatten, zu Fuß. Unterwegs verteilten sie zwei Strafzettel.

Eine Viertelstunde später standen sie vor der Haustür von Bens Wohnhaus. Trotz des Mülls auf dem Hof wirkte es völlig verlassen.

Tom klingelte. Nichts passierte. Er ließ den Finger auf dem Klingelknopf. Das Schellen durchbrach die morgendliche Stille. Ein Fenster öffnete sich.

»Ruhe, verdammt noch mal!«

Der Mann, mit dem Tom gestern schon gesprochen hatte, lehnte sich aus dem Fenster. Dickes Brusthaar kräuselte sich auf seinem nackten Oberkörper. Er sah aus wie ein Gorilla. Fehlte nur noch, dass er sich mit den Fäusten auf die Brust trommelte.

»Ach Sie schon wieder. Der Breitner ist da. Poft wahrscheinlich wie alle vernünftigen Menschen um diese Zeit.« Er schüttelte die geballte Faust in Toms Richtung und schloss das Fenster mit einem lauten Knall.

»Netter Zeitgenosse.« Carla verzog das Gesicht.

Tom klingelte erneut. Schritte erklangen im Flur und endlich wurde die Tür geöffnet.

»Ja?«

Vor ihnen stand ein kahlköpfiger Mann in einem ausgeleierten Schlafanzug. Die Hose hielt er mit einer Hand fest. Schweißgeruch stieg Carla in die Nase.

»Herr Breitner?« Carla lächelte.

»Wer will das wissen?«

Blöde Frage, dachte Carla. Tom trug im Gegensatz zu ihr seine Uniform.

Tom trat vor und zeigte seinen Dienstausweis.

»Polizeimeister Tom Steiger, Station Altenau. Wir suchen Ben.«

»Was hat der Bengel denn nun schon wieder ausgefressen? Er ist erst dreizehn, also nicht strafmündig. Und das Jugendamt steht hier ständig vor der Tür.« Er wandte sich an Carla. »Sind Sie die Neue? Brauchen Sie jetzt schon Polizeischutz? Ich bin unbewaffnet.« Er hob die Hände und seine Hose kam bedenklich ins Rutschen. Schnell hielt er sie wieder fest.

»Kriminalhauptkommissarin Carla Altmann«, stellte sich Carla vor.

»Oha, Kripo.« Der Mann wurde blass. »Ist Ben was passiert?«

»Er ist gestern nicht zum Peitschenknaller-Wettkampf erschienen«, mischte Tom sich ein. »Ich bin sein Trainer«, fügte er hinzu.

»Und deshalb kommt die Kripo?« Breitner lächelte und zeigte dabei ein paar gelb verfärbte Zähne. »Wahrscheinlich hatte er einfach keine Lust auf den Scheiß.«

»Das Peitschenknallen ist ihm wichtig.« Tom starrte den Mann an.

Nach einem Moment wandte der andere den Blick ab.

»Kann schon sein«, nuschelte er.

»Ist Ben nun da?« Tom wurde laut.

Breitner zuckte mit den Achseln. »Muss ich mal nachsehen. Bin gerade erst nach Hause gekommen. Nachtschicht.« Er versuchte, die Tür zu schließen. Carla trat einen Schritt vor und starrte ihn an.

»Okay.«

Er hob wieder die Hände, griff jedoch schnell genug zum Hosenbund, um das Schlimmste zu verhindern. »Ich schaue nach. Sie warten hier. Ist nicht aufgeräumt.« Er schlurfte zurück in den dunklen Flur.

Kurze Zeit später erschien er wieder.

»Ist nicht da.« Er blickte auf seine Uhr. »Er ist bestimmt in der Schule.«

»Konnten Sie denn feststellen, ob er heute Nacht überhaupt zu Hause war?«, mischte Carla sich ein.

Breitner verdrehte die Augen. »Wie denn? Meinen Sie, der macht ordentlich sein Bett? Sein Zimmer sieht aus wie immer, also wie ein Schweinestall.«

»Wollen Sie in der Schule anrufen oder sollen wir?«

»Machen Sie, was Sie wollen! Vielleicht schwänzt er auch wieder. Kommt öfter vor.«

»Welche Schule?« Carla zog ihr Smartphone hervor. Es hätte sie nicht gewundert, wenn der Vater dies gar nicht wusste.

»Gemeinschaftsschule Clausthal-Zellerfeld.«

Also ging Ben auf Niklas Schule. Carla rief im Sekretariat an. Sie stellte ihr Handy auf laut.

»Ben Breitner?« Die Schulsekretärin klang genervt. »Der fehlt mal wieder. Das weiß ich, ohne nachzusehen. Wir müssen für das Jugendamt eine Liste führen. Was hat er denn nun wieder angestellt?«

»Nichts«, versicherte Carla. Sie wollte dem Jungen nicht noch mehr Ärger machen. Leicht hatte er es sicher nicht. »Wir suchen ihn. Er ist seit Freitag verschwunden.«

Die Sekretärin schnaubte nur ungläubig. »Der taucht schon wieder auf. Keine Angst.«

Carla bedankte sich und beendete das Telefonat.

»Verschwunden!« Breitner schüttelte den Kopf. »Der verschwindet nicht. Der ist höchstens mal wieder abgehauen. Ist schwierig im Moment. Er hat einfach keinen Bock auf nichts. Die Hormone nehme ich an.« Er guckte Tom Beifall heischend an.

»Peitschenknallen ist ihm wichtig«, behauptete Tom erneut. »Wo könnte er denn sein? Hat er einen besten Freund? Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

Breitner zuckte mit den Schultern.

»Freitag vielleicht. Hatte die ganze letzte Woche Nachtschicht. Da schlafe ich tagsüber. Ben ist sehr selbstständig«, fügte er hinzu.

Und einsam, dachte Carla. »Könnte er bei seiner Mutter sein?«, fragte sie laut.

»Glob ich nich. Eher bei der Hanna, der Apothekerin.«

»Hanna Voigt?« Carla stutzte.

»Jo, die macht in der letzten Zeit ein Gewese um den Bengel, als ob es ihrer wäre. Na ja, der Ulf sitzt ja wieder im Knast. Da braucht sie Ersatz.« Breitner gähnte. »Ich muss wirklich schlafen. Wenn Ben kommt, sag ich ihm, er soll sich bei Ihnen melden.«

»Hat Ben ein Handy?« Tom griff nach Breitners Arm, der sich bereits umgedreht hatte.

»Bin ich Krösus, oder was? Der Bengel ist dreizehn. Wenn er ein Handy will, soll er arbeiten. Mach ich ja auch.« Er schüttelte Toms Hand ab und schlurfte die Treppe hinauf. »Tür zu nicht vergessen!«, brüllte er noch.

Tom und Carla sahen sich an. Kein Wunder, dass das Jugendamt ständig hier war. Verwunderlicher war da schon, dass nichts geschah.

»Und nun?«, fragte Tom. »Wir müssen doch irgendetwas tun.« Seine Wangen färbten sich rot. »Wie kann der sich denn jetzt einfach schlafen legen? Sein Sohn ist seit Freitag weg!«

Carla atmete tief ein. Aus Hannover kannte sie solche Fälle, hatte einige Zeit auch mit Straßenkindern zu tun gehabt. Doch hier im Harz schien die Welt wenigstens oberflächlich noch in Ordnung.

»Auf zur Apotheke. Da waren wir ja schon länger nicht mehr«, schmunzelte Carla in Anspielung auf ihre letzten beiden Fälle.

Tom verzog das Gesicht. »Ich mache mir wirklich Sorgen um Ben.«

»Ich weiß«, sie lächelte ihn an. »Und das ehrt dich. Doch ich denke, der Junge ist einfach nur abgehauen. Die meisten Jugendlichen tauchen nach zwei bis drei Tagen unversehrt wieder auf.« Sie zeigte auf das Fenster oben, hinter dem noch immer die bullige Gestalt von Breitner zu erkennen war. »Bei dem Vater auch kein Wunder.«

* * *

Die Glocke über der Tür bimmelte, als Carla und Tom die Apotheke betraten. Der Verkaufsraum war leer. Alles wirkte ein wenig aus der Zeit gefallen. Keine Hochglanzprospekte, keine teuren kosmetischen Produkte. Dafür verstaubte dunkle Holzregale und Flaschen mit verschiedenen Tinkturen.

Johann Voigt erschien durch einen Vorhang aus Holzkugeln.

»Sie schon wieder«, blaffte er und wurde blass. »Was wollen Sie?«

»Guten Morgen.« Carla lächelte. »Wir möchten mit Ihrer Frau sprechen.«

»Hanna ist nicht da.«

»Wann kommt sie wieder?«

»Das wüsste ich auch gerne. War es das? Ich habe zu tun.«

Carla schaute zu Tom. Nach Arbeit sah es in der Apotheke wirklich nicht aus. Nur Aufräumen und Staub wischen könnte mal wieder jemand. Sie hatte sich schon häufig gefragt, wie die Voigts wirtschaftlich über die Runden kamen. Die meisten Altenauer fuhren zu den Fachärzten in Clausthal-Zellerfeld und lösten ihre Rezepte dort ein. Zwar praktizierte auch ein Allgemeinmediziner in Altenau, doch ob der Umsatz für die Apotheke ausreichte?

»Nein, wir müssen dringend mit Ihrer Frau sprechen. Haben Sie ihre Handynummer für uns?«

Carla zog ihr Smartphone aus der Hosentasche.

»Das ist abgeschaltet.«

»Wann haben Sie Ihre Frau denn das letzte Mal gesehen?« Langsam kam Carla das Gespräch absurd vor.

»Am Freitag«, nuschelte Johann Voigt.

»Und Sie wissen nicht, wo Sie sich aufhält? Und Sie können sie auf dem Handy nicht erreichen?«, fragte Carla nach.

Johann Voigt zuckte mit den Achseln und schaute zu Boden.

»Warum haben Sie noch keine Vermisstenanzeige aufgegeben? Machen Sie sich denn gar keine Sorgen?« Tom runzelte die Stirn.

»Was hätten Sie denn dann gemacht? Hanna ist erwachsen. Sie werden doch nur tätig, wenn es zu spät ist oder wenn es gegen meine Familie geht. Nun verlassen Sie bitte meine Apotheke! Es ist geschäftsschädigend, wenn hier immer die Polizei ein- und ausgeht.«

Carla schluckte. Das Verhältnis zwischen Hanna und Johann Voigt war schwierig. Vor einem Jahr, im Zusammenhang mit den Ermittlungen zum Mord an ihrem Schwiegervater, hatte Hanna versucht sich umzubringen. Im Herbst hatte Carla vermutet, dass Hanna von ihrem Mann geschlagen wurde. Sie hatte sie darauf angesprochen, doch sie hatte geschwiegen. Ohne ihre Anzeige konnte sie nicht tätig werden.

»Was ist passiert? Haben Sie Ihre Frau geschlagen?«, äußerte sie ihren Verdacht.

Johann Voigt lief rot an. »Ich schlage meine Frau nicht! Ich schlage überhaupt keine Frauen. Hanna ist zu Ulf nach Braunschweig, nehme ich an. Er wurde am Freitag aus der Haft entlassen. Sie wollte, dass er wieder bei uns einzieht. Aber das lasse ich nicht zu. Der Kerl kommt mir nie wieder ins Haus, nie wieder!«, brüllte er.

Carla nickte. Die Erklärung war schlüssig. Ulf Voigt, der Sohn von Johann Voigt und Annelie Meyer, war ein bekannter Neonazi. Sie verdächtigte ihn noch immer, den Angriff auf Hassan Sayed und sie vor einem Jahr in Auftrag gegeben zu haben. Leider konnte sie ihm nichts nachweisen. Hanna liebte ihren Adoptivsohn abgöttisch. Sicher würde sie zu seiner Haftentlassung nach Braunschweig fahren. Für Ulf würde sie alles tun, vielleicht sogar ihren Mann verlassen.

»Kennen Sie Ben Breitner?«, mischte sich Tom ein. »Er ist ebenfalls seit Freitag verschwunden.«

»So ein kleiner Rothaariger? Etwas dicker und große Klappe?«

Tom nickte.

»An dem hat Hanna einen Narren gefressen. Ihr dämlicher Kinderwunsch hat uns schon genug Ärger eingebracht.« Johann Voigt grinste schmierig.

Carla stieß geräuschvoll die Luft aus. Er verdrehte mal wieder die Tatsachen. Er hatte damals die minderjährige Annelie geschwängert und Ulf dann mit Hilfe seiner Mutter als eheliches Kind von Hanna und sich ausgegeben.

»Könnte Hanna Ben mit nach Braunschweig genommen haben?«, fragte Tom.

Der Apotheker zuckte mit den Achseln.

»Woher soll ich das wissen? Die Frau ist doch unberechenbar, wenn es um Kinder geht. Kann ich jetzt eine Vermisstenanzeige aufgeben? Nicht dass es nachher heißt, ich hätte nicht alles unternommen, um Hanna zu finden.«

»Das ist Ihre Entscheidung.« Carla blickte ihm in die Augen. Er starrte zurück. »Wenn Sie sicher sind, dass Ihre Frau bei Ulf in Braunschweig ist, erübrigt sich das. Wenn Sie etwas von ihr hören, sagen Sie ihr bitte, sie soll sich bei mir melden. Meine Nummer hat sie. Es ist wichtig.«

Carla drehte sich um und schlenderte Richtung Ausgang. Sie würde Annelie anrufen. Sie hatte immer mal wieder Kontakt zu Hanna Voigt, besonders wenn es um Ulf ging.