Ella - Zeit der Träume - Silke Mahrt - E-Book

Ella - Zeit der Träume E-Book

Silke Mahrt

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Beschreibung

Ella Zeit der Träume Ella träumt von Freiheit und Glück Eiderstedt 1937: Ella zieht mit ihrem Mann Hinrich, einem überzeugten Nationalsozialisten, und ihrer gemeinsamen Tochter Johanna in den neu eingedeichten Heverkoog. Unter widrigen Bedingungen kämpfen die Neusiedler für ihren Traum von einem neuen Leben. Hinrich entflieht immer häufiger der Enge des Kooges und lässt Ella allein zurück. Unterstützung bekommt sie nur von Karl, dem Schmied. Als sie wieder schwanger wird, kommt es fast zu einer Katastrophe. Doch Ella kämpft für die Heimat ihrer Kinder. Da bricht der Zweite Weltkrieg aus.

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Seitenzahl: 222

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buchbeschreibung:

Ella – Zeit der Träume

Ella träumt von Freiheit und Glück Eiderstedt 1937 - Ella zieht mit ihrem Mann Hinrich, einem überzeugten Nationalsozialisten, und ihrer gemeinsamen Tochter Johanna in den neu eingedeichten Heverkoog. Unter widrigen Bedingungen kämpfen die Neusiedler für ihren Traum von einem neuen Leben.

Hinrich entflieht immer häufiger der Enge des Kooges und lässt Ella allein zurück. Unterstützung bekommt sie nur von Karl, dem Schmied. Als sie wieder schwanger wird, kommt es fast zu einer Katastrophe. Doch Ella kämpft für die Heimat ihrer Kinder. Da bricht der Zweite Weltkrieg aus.

Über die Autorin:

Silke Mahrt studierte Politikwissenschaft und Germanistik in Braunschweig und Hamburg. Heute lebt, arbeitet und schreibt sie in Bad Oldesloe. Ihre Themen sind starke Frauen und gesellschaftliche Anforderungen, die das Leben jeder Einzelnen prägen. Sie schreibt Harzkrimis mit dem Ermittlerduo Carla Altmann und Tom Steiger. In ihren Nordseeromanen drückt sie ihre Liebe zu ihrer neuen Heimat Schleswig-Holstein aus.

Inhaltsverzeichnis

1933

1

2

3

4

1936

1

2

3

4

1937

1

2

3

4

5

6

1938

1

2

3

1939

1

2

3

4

Ella – Verlorene Träume

Nachwort

1933

1

Ella wischte sich den Schweiß von der Stirn und stöhnte auf. Am liebsten hätte sie die Forke in die Ecke geschleudert. Diese verdammte Sau. Noch nie hatten sie ein Schwein gemästet, das den Koben so schmutzig machte. Das Stroh war zerwühlt und völlig nass. Selbst die Fressecke war dreckig.

Die Sonne brannte seit Wochen auf das Land, dabei war es erst Anfang Juni. Der Winter war lang und hart gewesen, doch nun war es viel zu warm. Die blöde Sau hatte sich tatsächlich einen Sonnenbrand geholt und musste zurück in den Stall. Und sie musste bei dieser Hitze den Koben säubern. Es stank furchtbar.

Sie warf der Sau ein paar Kartoffelschalen und drei Kohlköpfe vom letzten Jahr in den Trog. Sie waren schon reichlich gammelig, aber für die Sau musste das reichen, bis sie mit der Mutter vom Markt in Husum zurückkam. Wenn sie genug Geld verdienten, konnten sie vielleicht etwas Schrot für das Tier kaufen. Zu allem Überfluss war das Vieh viel zu mager. Die Sau nahm nicht zu, egal, was sie ihr zu fressen gab.

Ella tätschelte der Sau den Rücken, schloss den Koben und stellte Forke und Karre ordentlich an die Seite. Sie verließ den schummrigen Stall und trat in den Hof. Sie kniff die Augen zusammen und stieß sie einen schrillen Pfiff aus. Hasso, der Hofhund, kam sofort um die Ecke geflitzt. Er legte einen Stein vor ihr ab, hielt den Kopf schief und wedelte mit dem Schwanz. Der bunt gescheckte Mischling war erst ein Jahr alt. Freya, die Kaltblutstute, die auf der Koppel hinter dem Gebäude graste und der Ellas Pfiff gegolten hatte, hob noch nicht einmal den Kopf.

Ella hatte ihr den Namen gegeben. Mit einer nordischen Gottheit hatte die Braune wenig gemeinsam, und ihr Vater nannte die Stute einfach ‹Dicke›, doch Ella hatte die Mythen in der Schule geliebt. Sie seufzte. Sie wäre so gerne weiter zur Schule gegangen, aber die Dorfschule endete nach acht Jahren und Geld für die weiterführende Schule in Husum hatte ihr Vater nicht. Alles, was sie über Tiere und Pflanzen wissen musste, konnte er ihr beibringen. Das war jedenfalls seine Meinung.

Hasso leckte ihre Hand und stupste sie an. Sie nahm den Stein und kullerte ihn über den ungepflasterten Hof. Der Hund stürmte hinterher. Kaum hatte er den Stein erreicht, schnappte er danach und brachte ihn zurück. Erwartungsvoll legte er ihn vor ihre Füße. Sie schüttelte den Kopf. Gerne hätte sie weiter mit ihm gespielt, doch dafür war keine Zeit.

Sie trat ans Gatter der Weide und pfiff noch einmal. Freya trotte langsam zum anderen Ende der Koppel.

Blödes Mistvieh. Vater hatte sie gestern bis spät in die Nacht zum Rübenpflanzen angeschirrt. Klar, dass sie lieber in Ruhe auf der Wiese stand und fraß, als schon wieder zu arbeiten. Auch Ella konnte sich viele Dinge vorstellen, die sie an diesem Morgen lieber getan hätte, als mit ihrer Mutter nach Husum zum Markt zu fahren.

Sie warf einen sehnsüchtigen Blick hinunter zum Meer, das in der Morgensonne glitzerte. Schobüll lag auf einer bewaldeten Altmoräne. Kein Deich trennte das Dorf von der Nordsee. Sie waren den Naturgewalten schutzlos ausgeliefert. Doch nur selten trieb der Sturm die Wassermassen über das Land und brachte guten Dünger für die Felder. Häufiger fegte er den Sand der Dünen in das Landesinnere, viel Sand, den sie im Frühjahr mühsam wieder von den Feldern karren mussten. Es war Flut, die ideale Zeit zum Schwimmen. Einfach eintauchen und die Welt vergessen.

Ella seufzte, griff nach dem Halfter, das am Koppeltor hing und öffnete das Tor. Genug geträumt. Freya und sie mussten arbeiten, ob sie wollten oder nicht.

«Ella, wo bleibst du denn? Wir müssen los, sonst sind die besten Plätze vergeben.»

Ihre Mutter trat aus der reetgedeckten Kate. Sie zog einen Bollerwagen hinter sich her. Darauf stapelten sich Eierkartons, Eimer mit abgewogenen Butterstücken und Pakete mit kräftigem Hofkäse. In der Hand trug sie einen Korb mit den ersten Erdbeeren des Jahres. Eine Stiege mit frischem Kohlrabi schwankte bedrohlich, als ein Rad des Wagens in einer ausgetrockneten Pfütze hängen blieb. Ella lief zu ihr.

«Vorsichtig.» Sie griff nach der Stiege. «Entschuldige, dass ich dir nicht geholfen habe.»

Käthe Dicks schüttelte den Kopf. «Dazu ist es jetzt zu spät. Was hast du überhaupt so lange herumgetrödelt? Ich hätte deine Hilfe gebraucht.»

Ella atmete tief ein und verschluckte die Worte, die ihr auf der Seele lagen. Sie hatte die Hühner gefüttert und war zum Melken auf der Fenne gewesen. Dann hatte sie den Koben der blöden Sau gemistet. Mehr ging nicht. Es war einfach zu viel Arbeit.

«Freya will mal wieder nicht», sagte sie nur und wandte sich ab. Sie schlüpfte durch das Tor und stapfte über die Koppel. Die schwere Stute drehte ihr das Hinterteil zu.

Käthe Dicks trat an den Zaun. Den Bollerwagen ließ sie mitten auf dem Hof stehen. Hasso steckte sofort seine Nase in Richtung Käse.

«Hau ab. Dein Fressen steht im Stall.» Käthe drehte sich um und der Hund kniff den Schwanz ein. «Du hättest früher aufstehen müssen. Heute ist Markttag. Wir brauchen das Geld.»

Sie klang ungewohnt streng. Und müde, erkannte Ella. Sie zog der Stute das Halfter über und zerrte am Strick. Widerwillig setzte sich Freya in Bewegung.

«Nun geh dich schnell waschen. So kannst du nicht zum Markt.» Käthe kam ihr entgegen und nahm ihr die Stute ab. «Ich mache den Leiterwagen fertig. Aber beeil dich. Und bring noch ein paar Gläser Rhabarberkompott mit. Letzte Woche haben wir ganz gut davon verkauft.»

Ella rannte zum Brunnen und zog den Eimer nach oben. Sie klapperte mit den Zähnen, als sie sich das eiskalte Wasser über die verschwitzten Arme goss und kurz ihr Gesicht eintauchte. Zu mehr blieb keine Zeit.

Sie schnüffelte an ihrem Pullover. Puh, sie roch wie die verdammte Sau. So konnte sie unmöglich nach Husum fahren. Sie blickte über den Hof. Freya stand angebunden am Scheunentor. Käthe war nirgendwo zu sehen. Sicher war sie noch im Schuppen und kümmerte sich um den Leiterwagen. Also Zeit genug, um sich umzuziehen. Wer weiß, wem sie in Husum begegnen würde. Sie lächelte. Prinzen gab es nur im Märchen, doch Wunder gab es überall. So predigte es jedenfalls der Pastor sonntags in der Kirche.

Schnell rannte sie ins Haus. Schon im Laufen zog sie den Pullover über den Kopf. Raus aus den Holzpantinen und der dreckigen Arbeitshose. Sie huschte in ihre Kammer, diegleich neben der Küche lag. Es gab kaum Platz für ein Bett und einen Schrank. Doch es war ihr eigenes Reich, ihr Rückzugsort zum Träumen. Auf dem Bett lag eine bunte Flickendecke und auf dem dreibeinigen Tischchen daneben ihre Schätze. Winzige rosafarbene Muscheln, die Feder eines Austernfischers und die Versteinerung eines Seeigels. Ella öffnete die Schranktür, die laute knarrte, und zog den Bügel mit dem geblümten Sommerrock und der hellblauen Bluse aus dem Schrank. Vorsichtig sprühte sie etwas von dem Parfüm, das sie sich im Frühling heimlich in Husum gekauft hatte, unter die Achseln und zog sich an. So musste es gehen. Zeit, ihre Zöpfe neu zu binden, blieb ihr nicht.

Sie stürmte durch die Küche nach draußen.

Käthe hatte inzwischen Freya angeschirrt und die Ware auf der Ladefläche verstaut. Sie saß auf dem Kutschbock und wackelte nervös mit den Beinen.

«Willst du zur Schönheitsschau?» Sie schüttelte den Kopf. «Wir sind sowieso spät dran.»

Ella grinste. «Wenn ich so adrett ausschaue, ist das bestimmt verkaufsfördernd.»

«Es wird nicht mit den Soldaten poussiert, mögen sie noch so schmuck aussehen. Du weißt, was dein Vater davon hält.»

Ella verzog das Gesicht. Wenigstens ein wenig schäkern musste doch erlaubt sein. Seit Husum zur Garnisonsstadt ausgebaut wurde, wimmelte es nur so von jungen Männern in der Stadt. Auch die Angehörigen der SA trafen sich regelmäßig in der Fischerklause am Hafen. Die gefielen ihr allerdings nicht. Sie waren so laut und überheblich. Einige hatten sich einen lächerlichen Schnurrbart wachsen lassen, genau wie der Führer.

Sie kletterte neben ihrer Mutter auf den Kutschbock. Freya setzte sich behäbig in Bewegung. Hasso folgte dem Fuhrwerk, blieb jedoch an der Hofgrenze stehen und bellte. Auf der Chaussee knallte Käthe ein paar Mal mit der Peitsche und endlich fiel Lotte in einen leichten Trab.

Ella schloss die Augen und hielt ihr Gesicht in den Fahrtwind.

Käthe musterte Ella von der Seite. Wie hübsch sie war, in dem luftigen Sommerkleid. Sie war zu einer jungen Frau geworden. Völlig entspannt hatte sie sich zurückgelegt, ein kleiner Speicheltropfen glänzte im Sonnenlicht auf ihren wohlgeformten Lippen. Eine widerspenstige Strähne hatte sich aus ihren blonden Zöpfen gelöst. Doch ihre Hände waren rissig, die Fingernägel abgebrochen und spröde. Seit Erwin den Hof verlassen hatte und nach Amerika ausgewandert war, musste Ella viel zu hart arbeiten. Er hatte einen Weg aus dem Elend gesucht. Sie hoffte so sehr, dass er in dem fremden Land eine bessere Chance auf ein glückliches Leben hatte.

Es wurde von Jahr zu Jahr schlimmer. Daran hatte auch die neue Regierung nichts geändert. Die Preise für Obst und Gemüse sanken, während das Saatgut immer teurer wurde. Um überhaupt über die Runden zu kommen, mussten sie alle noch etwas dazuverdienen. Deshalb fuhr sie heute zum Markt, anstatt Wilhelm bei den Rüben zu helfen oder endlich die Wäsche zu waschen.

Sie seufzte. Ihr ältester Sohn fehlte. Nicht nur als Arbeitskraft. Ihr fehlte sein Lachen, die flotten Sprüche, mit denen er sie morgens begrüßt hatte. Hanno, ihr zweiter Sohn, war viel zu ernst. Nach Erwins Auswanderung musste er die Verantwortung für den Hof übernehmen, dabei wusste sie genau, dass er von einem anderen Leben träumte.

Sie blickte auf die Nordsee zu ihrer Rechten und lächelte. Hanno kam nach seinem Großvater – und nach ihr, gestand sie sich ein. Die Liebe zum Meer wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Als Junge war Hanno genau wie sie mit zum Fischfang hinaus aufs Meer gefahren. Lachend, mit roten Wangen und stolz auf seinen Fang, war er zurückgekehrt. Der Kutter war längst verkauft, die Fischerfamilie gab es nicht mehr.

Inzwischen verdeckte der Deich ihr die Sicht auf das Meer. Sie seufzte erneut und stoppte den Leiterwagen, um in Richtung Husum abzubiegen.

Auf der Chaussee waren jetzt immer mehr Automobile unterwegs, ein Anblick, an den siesich nie gewöhnen würde. Freya wohl auch nicht, denn die träge Stute scheute kurz, als ein Omnibus an ihr vorbeifuhr. Sie blieb wie angewurzelt stehen und schnaubte. Käthe haute ihr leicht mit der Peitsche auf das Hinterteil. Freya schlug mit dem Schweif und setzte sich widerwillig wieder in Bewegung.

Käthe seufzte. Hoffentlich verkauften sie genug auf dem Husumer Markt. Das Schwein brauchte Schrot und das Mehl war knapp. Hanno arbeitete beim Dammbau, doch besonders gut wurde die harte Arbeit nicht bezahlt. Viele Männer aus der Stadt, sogar aus dem fernen Hamburg, versuchten dort ihr Glück. Im Dorf wurde gemunkelt, dass Kriminelle verpflichtet worden waren. Die Zeiten änderten sich. Nordstrand wäre bald keine Insel mehr. Was das für Schobüll bedeuten würde, das konnte sie sich nicht vorstellen. Es war nie gut, sich mit den Naturgewalten anzulegen. Die Nordsee war eine strenge Freundin.

Sie schauderte. Genug gegrübelt. Sie hoffte so sehr, dass sich die Zeiten änderten. Die Landwirtschaft sollte gefördert werden, hatte der Schnauzbart versprochen. Sie sei wichtig für das Vaterland. Zu gern würde sie ihm glauben, doch Wilhelm, ihr Mann, sah das anders. Er sprach immer häufiger vom Krieg. Er hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft. Nur schwer hatte er wieder in sein altes Leben zurückgefunden.

Käthe bog auf die Straße am Husumer Hafen ein. Der Leiterwagen rumpelte über das Kopfsteinpflaster. Freya wieherte und erhielt eine vielstimmige Antwort. Wahrscheinlich wurden in den Viehauktionshallen heute Pferde zum Kauf angeboten.

Käthe liebte den Hafen. Sie atmete tief ein. Es roch nach Fisch, nach Meer und nach unendlicher Freiheit. Sie spürte den Ruf der Ferne im Sommerwind.

«Sind wir schon da?» Ella blinzelte in die Sonne und gähnte.

«Na du Schlafmütze.» Käthe lächelte und bog auf den Husumer Marktplatz ab. «Alles belegt. Wir sind zu spät», stellt sie gleich darauf fest.

Vor dem Tine-Brunnen und der St. Marienkirche drängten sich die Fuhrwerke. Stimmen schallten über den Platz und die Verkäuferinnen priesen ihre Waren an. Die Tine, das von Adolf Brütt geschaffene Wahrzeichen der Stadt, blickte unbeeindruckt vom Treiben in Richtung Westen. Die junge Husumer Hotelangestellte Dora Fuchs hatte für die Figur Modell gestanden. Käthe hatte sie bereits ein paar Mal auf dem Markt getroffen und mit ihr geschnackt. Sie war eine Berühmtheit, doch überhaupt nicht eingebildet.

Tines Faltenrock bauschte sich im Wind und in der Hand hielt sie ein Ruder. Acht Fischköpfe spendeten ihr Wasser, vier Ochsenköpfe saugten das einfließende Wasser wieder auf. Sie war ein Sinnbild der Frauen Nordfrieslands, Fischerfrau, Bäuerin und ewige Konstante im wechselhaften Leben. Käthe nickte der Figur, wie immer, wenn sie zum Markt kam, zu und bat um gutes Wetter, eine reiche Ernte und einen erfolgreichen Markttag. Der Pastor würde das nicht billigen, doch ihr war die Tine viel näher als der Gott im Himmel. Was kümmerte den schon ihr Leben?

«Lass es uns hinter der Kirche versuchen.» Ella deutete auf eine kleine Gasse, die rechts an dem Gotteshaus vorbeiführte.

Käthe seufzte. Nur wenige Frauen würden den Weg zu ihnen finden. Da konnte auch die Tine nicht helfen. Sie schnalzte und lenkte Freya geschickt an den anderen Pferdewagen vorbei.

* * *

Hinrich knallte die Tür hinter sich zu. Er hatte es so satt. Hermann führte sich mal wieder auf, als würde der Hof schon ihm gehören. Ständig erteilte er ihm Befehle, verfügte über seine Zeit und wusste alles besser. Noch hatte sein Vater auf dem Hof zu bestimmen und nicht sein Bruder.

Er riss die Tür zu seinem Zimmer auf, das er sich mit seinem älteren Bruder Hannes teilen musste, seit Hermann mit Meike verheiratet war. Noch etwas, was ihm gewaltig gegen den Strich ging. Der Hof war zu klein für sieben erwachsene Menschen und ein Baby.

Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen und straffte die Schultern.

Heute würde er es endlich tun. Er würde sich um eine Hofstelle im neu eingedeichten Heverkoog bewerben und das alles hier hinter sich lassen. Sollte Hermann doch sehen, wie er ohne ihn klarkam.

Hinrich öffnete die Tür zu seinem Kleiderschrank und zog seine SA-Uniform heraus. Die dunkelbraune, etwas weitere Hose und das hellbraune Hemd waren frisch gebügelt. Auf seine Mutter war Verlass. Er zog beides an und schnallte den Gürtel so eng wie möglich. Jetzt noch der Schlips und die rote Armbinde mit dem schwarzen Hakenkreuz auf weißem Grund. Seine hohen Stiefel hatte er gestern Abend poliert. Er begutachtete sie von allen Seiten. Sie glänzten, als würde sich das Sonnenlicht in ihnen spiegeln. Zu gerne wäre er kurz in Meikes Kammer gehuscht und hätte sich im Spiegel betrachtet. Er grinste. Das war lächerlich. Er brauchte sein Spiegelbild nicht. Er strich sich noch einmal über die Binde am Arm, kontrollierte, ob das Parteibuch in seiner Brusttasche steckte, und verließ das Zimmer.

Beim Blick auf das Bild seines Vaters, das oben am Treppenaufgang hing, zog er eine Grimasse. Der Alte hatte das Gemälde vor zwei Jahren zu seinem sechzigsten Geburtstag anfertigen lassen. Er hob spielerisch den Arm und grüßte. Paul Jansen würde bald merken, dass sich die Zeiten geändert hatten. Es war eine Zeit des Aufbruchs, die Zeit der Jungen, und er würde mittendrin sein.

Der Alte weigerte sich, ihn auszuzahlen oder ihm wenigstens einen Kredit zu gewähren. Das letzte Mal, als er ihn darum gebeten hatte, gab es einen riesigen Streit, der damit endete, dass der Vater drohte, ihn zu verstoßen und zu enterben. Hinrich schnaubte. Er war ein oller nordfriesischer Dickschädel.

Er hätte das Geld schon längst zusammen, wenn er nicht seit Jahren ohne Lohn auf dem Hof schuften würde. Morgen früh würde er sich zum Arbeitsdienst beim Bau des Nordstrander Damms melden. Sollten Vater und Hermann doch sehen, wie sie ohne ihn den Hof im Sommer bewirtschaften konnten. Jetzt begann seine Zeit, sein Leben, und er würde endlich seinen eigenen Weg gehen.

Die Hofstellen im Koog wurden nur an Paare abgegeben, am besten mit Kind. Doch darum würde er sich später kümmern. Alles zu seiner Zeit. Er war eine gute Partie, sah nicht schlecht aus, wusste sich zu benehmen. Lilly, die Tochter von Kaufmann Jensen, wartete nur darauf, dass er ihr endlich einen Antrag machte. Leider war sie von einem Leben als Frau eines Bauern nicht begeistert. Sie schwärmte von der Zeit ihrer Ausbildung in Hamburg, als sei die Stadt der Mittelpunkt der Welt. Er würde ihr die Idee vom eigenen Land schon schmackhaft machen.

Er schloss die Augen. Lilly und er, Hand in Hand vor dem stattlichen Hof. Sie in einem blau-weißen Sommerkleid, ihre Haare wehen im Wind. Er in seiner Ausgehuniform, um sie herum eine Horde blonder Kinder. Ein Nachbar geht vorbei, grüßt höflich und bittet ihn um Rat. Er sah das Bild direkt vor sich. Im Frühling würden sie ein paar vergnügliche Tage in der Hafenstadt verbringen, im Winter könnten sie mit den Kindern in die Berge fahren. Das Leben bestand ja schließlich nicht nur aus Arbeit. Er pfiff vor sich hin. Seine Laune hatte sich schlagartig gebessert. Alles der Reihe nach.

Zuerst zum Gruppentreffen der SA-Kameradschaft in der Fischerklause am Husumer Hafen. Am frühen Morgen hatte ein Junge geklingelt. Als er die Einladung überbrachte, hatte er vor Aufregung gestottert. Hinrich hatte ihm eine Mark gegeben, viel Geld für einen Laufburschen. Ein Treffen am Vormittag, noch dazu im Sommer, war außergewöhnlich. Er war gespannt, was die Kameraden planten.

Er zog sein Parteibuch aus der Hemdtasche. Nur Parteimitglieder bekamen Land im Koog, das war klar. Er hatte eine Mitgliedsnummer im hohen fünfstelligen Bereich. Das war nicht gut. Er war erst im Februar in die Partei eingetreten. Das reichte wahrscheinlich nicht aus, um berücksichtigt zu werden. Umso wichtiger, dass er heute an dem Treffen teilnahm, ganz egal, welche Arbeit Hermann für ihn vorgesehen hatte. Hoffentlich schrieb ihm einer der Kameraden eine Bürgschaft. Er brauchte jede Unterstützung, die er bekommen konnte.

Er trat auf den Hof und sah sich um. Sein Haus im Koog würde größer werden, die Einfahrt gekiest und mit Bäumen gesäumt. Nicht so ein Schlammweg wie hier. Doch Mutters Garten auf der rechten und die Stallgebäude auf der linken Seite wirkten harmonisch und gepflegt. Wieder schloss er die Augen und sah seinen Hof. Die Bäume biegen sich im Wind, das Korn steht hoch auf dem Feld und dicke Kühe grasen auf saftigen Weiden. Er schüttelte sich. Genug geträumt. Er durfte heute nicht zu spät kommen.

Zum Glück standen die Pferde noch im Stall. Das ersparte ihm den Gang über die Weide und das erneute Stiefelwichsen.

Er öffnete die Tür zur Remise und schob den Einspänner heraus. Der Rappe hörte ihn und wieherte laut. Bestimmt freute er sich auf einen schnellen Galopp am Strand. Hinrich schüttelte den Kopf. Pferde hatten keine Gefühle. Sie ergaben sich ihrem Schicksal. Sie waren Fluchttiere und nicht zum Herrschen geboren. Er holte den Rappen aus der Box. Er zog nicht gerne die Kutsche, doch das große schwarze Pferd machte sehr viel mehr Eindruck als die Kaltblüter, die Vater immer vor die Kutsche spannte. Außerdem war er damit schneller unterwegs. Den Rappen würde er auf jeden Fall mit in den Koog nehmen, ganz egal, was Vater sagte.

Bestimmt konnte er Lilly überreden, am Nachmittag mit ihm an den Strand zu fahren und einen Kaffee zu trinken. So lange konnte die Sitzung ja nicht dauern. Ein lauschiges Plätzchen würde sich schon finden lassen. Er grinste.

«Du bist spät. Vater und Hermann sind schon auf dem Feld.»

Hinrich zuckte zusammen.

Seine Mutter stand vor der geöffneten Haustür. Sie hatte beide Arme in die ausladenden Hüften gestemmt und musterte ihn von oben bis unten. «So kannst du keine Rüben setzen.»

«Ich fahre nach Husum. Ich habe zu tun.»

Seine Mutter lachte. «Zu tun gibt es hier auf dem Hof genug. Dein Vater und dein Bruder brauchen Hilfe beim Rübensetzen. Du willst doch wieder nur mit Lilly poussieren und dir einen schönen Tag machen.»

«Ich habe zu tun», wiederholte Hinrich. «Die Partei braucht mich.»

Seine Mutter schnaubte. «Pferd und Wagen bleiben hier. Meike will mit dem Lütten zu ihren Eltern.»

«Ich muss nach Husum.»

«Dann nimm den Autobus, wenn du dich unbedingt vor der Arbeit drücken willst.» Katharina Jansen griff nach den Zügeln. «Wenn du dich beeilst, kriegst du den Zehner noch», meinte sie ruhiger. «Ich bringe das Pferd zurück. Und pass auf, dass dein Vater dich nicht sieht. Sonst wird es nichts mit der Verlustierung.» Nun lächelte sie.

Heinrich beugte sich hinab und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Er zwinkerte ihr zu. «Ich bringe dir auch was Schönes mit.»

Katharina verdrehte die Augen. «Bloß nicht die Lilly, die taugt nicht zur Schwiegertochter. Und nun geh. Der Bus wartet nicht.»

Hinrich drehte sich um und stürmte zur Chaussee. Hauptsache, er kam heute nach Husum. Sein Traum von einem besseren Leben hing davon ab.

Völlig außer Atem erreichte Hinrich den Bus. Die Türen waren bereits geschlossen, doch der Busfahrer öffnete sie für ihn erneut. Auch eine der Neuerungen, die sie den Nationalsozialisten zu verdanken hatten. Endlich fuhr ein Autobus und nicht mehr das Pferdefuhrwerk mit seinen klapprigen Sitzen von Schobüll nach Husum. Durch die tiefen Schlaglöcher in der gekiesten Chaussee war die Fahrt allerdings ziemlich ruckelig und oft kam der Bus nur im Schritttempo voran, weil diverse andere Fahrzeuge oder streunende Tiere die Weiterfahrt behinderten.

Er setze sich auf den einzigen noch freien Platz direkt hinter dem Fahrer. Hinrich verzog das Gesicht. Außer ihm fuhren nur ältere Frauen mit dem Bus. Hoffentlich sah ihn keiner seiner Kameraden, wenn er in Husum aus dem Bus stieg.

Die Bäuerin auf der anderen Seite des Ganges musterte ihn und schnaubte abfällig. Sie kam nicht aus Schobüll. Jedenfalls hatte Hinrich sie noch nie gesehen. Er setzte sich aufrecht hin und starrte sie an. Sie rümpfte die Nase, wurde bleich und wandte sich ab.

Sie umklammerte den Korb auf ihrem Schoß, als hätte sie Angst, er würde sie bestehlen. Da hob sich das Handtuch, mit dem der Korb abgedeckt war, und die glänzende Nase eines Kaninchens erschien. Schnell schob sie das Tier wieder zurück.

Hinrich sah sich um. Er erblickte ein Huhn, Körbe voller Gemüse und hinten im Bus umklammerte ein etwa sechsjähriger Junge einen Strick, an dem eine Ziege angebunden war. Scheinbar hatte sich das Tier erleichtert, denn im Bus stank es penetrant nach Schiet. Vielleicht war die offene Pferdekutsche doch das komfortablere Gefährt, zumindest wenn sich die ganze Landbevölkerung auf den Weg zum Markt machte. Er verfluchte seine Schwägerin Meike und ihr verzogenes Gör. Ständig fuhr sie zu ihren Eltern auf die Geest, anstatt sich auf dem Hof nützlich zu machen. Er würde seine Ehefrau sorgfältiger auswählen.

Er schmunzelte. Er hatte noch genug Zeit. Er würde in Husum über den Markt bummeln, um sich in Ruhe nach einer Braut umzusehen. Bisher hatten ihn die Bauernmädchen aus der Umgebung nicht interessiert, doch umschauen konnte er sich ja einmal. Es war immer gut, eine Alternative zu haben. Seine Mutter hatte recht. Als Bauersfrau eignete sich Lilly wirklich nicht.

An der Einmündung zur Husumer Chaussee hupte der Busfahrer laut. Hinrich zuckte zusammen und stand auf. Der Bus rumpelte über das Kopfsteinpflaster und Hinrich schwankte. Er griff nach der Lehne des Sitzes auf der anderen Seite des Ganges. Die Bäuerin hielt die Hände über den Korb mit dem Kaninchen. Am liebsten hätte er sie geschüttelt. Er war doch kein Dieb. Er war Hinrich Jansen, Sohn des reichsten Bauern von Schobüll und bald Besitzer eines eigenen Hofes.

* * *

Ella griff nach ein paar Blumen und band sie zu einem bunten Strauß. Die Margeriten erinnerten an den wolkenbetupften Himmel über dem Meer. Vielleicht fand sich ja so eine Abnehmerin. Blumen waren ein Luxusgut geworden, dabei brachten sie Farbe in jede Stube. Bisher hatten sie nur wenig verkauft. Hinter die Kirche verirrten sich kaum Frauen. Und wenn doch, dann feilschten sie um jeden Pfennig.

Es herrschte schon lange keine Ordnung mehr auf dem Markt. Jede Bauernfamilie aus der Umgebung versuchte, irgendetwas zu verkaufen, um die Haushaltskasse aufzubessern. Selbst die Husumerinnen plünderten den eigenen Garten, um ein wenig Geld zu verdienen. Manchmal hatte Ella das Gefühl, es gab mehr Händlerinnen als Käuferinnen.

«Hallo, mein Frollein. Was kostet denn der wunderschöne Blumenstrauß?»

Ella sah auf. Ein junger Soldat in schneidiger Uniform grinste sie an. Er zwinkerte mit einem Auge, was irgendwie ulkig wirkte.

Bevor sie antworten konnte, nahm Käthe ihr den Strauß aus der Hand.

«Fünf Reichsmark!» Sie streckte dem Mann die Blumen wie einen Degen entgegen.

Ella zuckte zusammen. Das war viel zu viel für die paar Gartenblumen, mochten sie auch noch so schön gebunden sein.

Der Soldat zog seine Geldbörse aus der Uniformjacke. «Vier Mark und ein Spaziergang mit dem hübschen Frollein.»

«Verschwinden Sie oder ich rufe den Gendarmen!» Käthe machte die Bewegung, mit der sie sonst abends die Hühner in den Stall trieb.

Ella spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Wie peinlich. Sie verschluckte sich und ein Hustenreiz raubte ihr fast den Atem. Sie presste die Lippen fest zusammen und unterdrückte ein Grinsen.

Der Soldat lachte auf und ging schnell weiter. Dabei zwinkerte er ihr noch einmal zu.

«Was sollte das denn? Eine Mark hätte für den Strauß auch gereicht. Außerdem war er doch nett.» Ella sah dem Mann hinterher.

«Die Soldaten suchen nach jungen Mädchen für eine Nacht», zischte Käthe. «Das weiß jede gescheite Frau. Aber das kommt davon, wenn man mit seinem Sonntagskleid auf dem Markt steht. Was sollen bloß die Leute denken?»