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Zwei Frauen und ein Haus am Meer Katharina freut sich auf besinnliche Weihnachtstage in der Pension am Deich und plant die Weihnachtsfeier für die Gäste. Da verschwindet Femke und Ole nimmt ohne Rücksprache eine zusätzliche Veranstaltung an. Als noch überraschend ihre Tochter Deetje auftaucht, drohen Katharinas Weihnachtspläne endgültig zu scheitern. Ein Buch über die besondere Beziehung zwischen Müttern und Töchtern und die Liebe zum Meer
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Seitenzahl: 196
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Zwei Frauen und ein Haus am Meer Katharina freut sich auf besinnliche Weihnachtstage in der Pension am Deich und plant die Weihnachtsfeier für die Gäste. Da verschwindet Femke und Ole nimmt ohne Rücksprache eine zusätzliche Veranstaltung an. Als noch überraschend ihre Tochter Deetje auftaucht, drohen Katharinas Weihnachtspläne endgültig zu scheitern.
Ein Buch über die besondere Beziehung zwischen Müttern und Töchtern und die Liebe zum Meer
Silke Mahrt studierte Politikwissenschaft und Germanistik in Braunschweig und Hamburg. Heute lebt, arbeitet und schreibt sie in Bad Oldesloe. Ihre Themen sind starke Frauen und gesellschaftliche Anforderungen, die das Leben jeder Einzelnen prägen. Sie schreibt Harzkrimis mit dem Ermittlerduo Carla Altmann und Tom Steiger. In ihren Nordseeromanen drückt sie ihre Liebe zu ihrer neuen Heimat Schleswig-Holstein aus.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Epilog
«Jingle bells, jingle bells», leise sang Katharina das amerikanische Weihnachtslied. Sie liebte die Vorweihnachtszeit, den Duft nach Lebkuchengewürz und Punsch, das Licht der Kerzen, die geschmückten Räume. Für die vertrauten deutschen Lieder ihrer Kindheit erschien es ihr jedoch zu früh. Schließlich war erst morgen der 1. Advent. So wirklich in Weihnachtsstimmung war sie noch nicht. Da halfen weder die Weihnachtslieder noch die weihnachtliche Dekoration, die sie bereits im Frühstücksraum aufgestellt hatte.
Regentropfen prasselten ans Fenster. Der Sturm bog die Äste der Bäume, die die Pension vor dem Seewind schützen sollten. Dunkle Wolken zogen über den Himmel. Heute war es gar nicht richtig hell geworden. Sie vermisste die strahlenden Sommertage am Meer und sehnte sich nach glitzerndem Schnee.
Struppi setzte sich vor sie, legte den Kopf schief und bellte leise.
Sie lächelte.
«Hast du schon mal hinausgeschaut. Da jagt man ja keinen Hund vor die Tür.»
Der Border Collie erhob sich, bellte erneut, wedelte mit dem Schwanz und rannte zur Tür.
Katharina seufzte. Sie hätte den jungen Hund bei Ole in der Schäferei lassen sollen. Dort hätte er im Stall bei den Schafen sein können, die er so sehr liebte. Er hätte eine Aufgabe gehabt. Jedenfalls aus seiner Hundesicht. Hier langweilte er sich nur. Allerdings genoss sie seine Gesellschaft. Die Pension erschien ihr jetzt im Winter oft kalt und leer. Besonders Femke fehlte ihr. In den letzten Monaten hatte sie sich an ihre brummige, aber norddeutsch herzliche Art gewöhnt und sie hatten lange Gespräche geführt.
Sie blickte auf die Uhr. Schon halb elf. Sie musste sich beeilen, wenn sie bis zum Mittag zurück in der Schäferei sein wollte. Für Ole war ein pünktliches, warmes Mittagessen wichtig, und sie hatte noch nichts vorbereitet. Vielleicht war das auf landwirtschaftlichen Betrieben so. Sie konnte sich jedoch nur schwer daran gewöhnen. Sie hatte einen ganz anderen Rhythmus. Sie frühstückte gerne spät und hatte erst am Abend wieder wirklich Hunger. Sie seufzte. Sie war im Herbst zu Ole in die Schäferei gezogen. Das Zusammenleben war manchmal schwieriger, als sie gedacht hatte. Deshalb war sie froh, endlich eine Aufgabe außerhalb der Schäferei zu haben.
Dieses Jahr würde sie die Pension das erste Mal über Weihnachten öffnen. Die angemeldeten Gäste würden in drei Wochen anreisen, doch es war ihr wichtig, dass die Weihnachtsdekoration fertig war, wenn Femke am Montag aus ihrer Reha zurückkam. Sie wollte die alte Freundin mit der Dekoration in der Heimat am Deich begrüßen, um ihr eine Freude zu bereiten.
Femke lebte inzwischen in Katharinas ehemaliger kleinen Wohnung in der Pension. Auch diese Räume hatte sie weihnachtlich geschmückt. Lange hatte sie auf dem Dachboden in alten Kisten gestöbert und einige wirkliche Schätze entdeckt. Friesenbögen, die sicher noch aus der Zeit von Femkes Mutter stammten. Sie hatte die verblichene Farbe abgeschmirgelt und die Bögen grün lackiert. Sie hatte frische Tannenzweige darum gewunden und alles mit roten Sternen aus Holz, die sie ebenfalls neu bemalt hatte, geschmückt. Es sah wunderschön aus.
Sie trat einen Schritt zurück. In jedem Fenster stand ein Friesenbogen, auf allen Tischen im Frühstücksraum der Deichpension, wie sie die «Pension Elisabeth» in Gedanken noch immer nannte, ein Tannengesteck mit einer dicken roten Kerze. Rot und Grün waren die vorherrschenden Farben hier im Speiseraum, dem Herz der kleinen Pension.
Die Diele hatte sie auch für die Weihnachtszeit maritim geschmückt. An den Tannenzweigen hingen Kugeln in verschiedenen Blautönen. Möwen, Anker und andere Motive waren silberfarben eingraviert. Die Gästezimmer würde sie erst in drei Wochen weihnachtlich herrichten, damit alles frisch war. Dabei würde sie sich am Motto der einzelnen Zimmer orientieren und jedes individuell gestalten.
Seit dem Herbst wohnte sie zwar bei Ole in der Deichschäferei, die Pension war jedoch weiterhin ihre Heimat. Sie hatte so hart für deren Erhalt gekämpft, hatte alles mit Liebe renoviert und so vieles aufgegeben. Sie liebte Ole, da war sie sich sicher. Er war ihr Anker, ihr Heimathafen. Bei ihm fühlte sie sich verstanden und geborgen. Doch ihr Zuhause war die Pension. Für jede Veränderung in der Schäferei musste sie sich mit Ole auseinandersetzen. Vieles sah noch genauso aus, wie er es von seinen Eltern übernommen hatte. Das war zwar nostalgisch-gemütlich, aber auch unpraktisch und verwohnt, wie das durchgesessene Sofa im Wohnzimmer und die unmoderne Küche. Alles war in schlichten Beigetönen gehalten, dabei liebte sie kräftige Farben. Doch Ole war nordfriesisch stur. Er mochte keine Veränderungen. Meistens argumentierte er mit den Kosten und sie musste nachgeben.
Leider hatte sie mit der Pension im ersten Sommer ein ordentliches Minus gemacht. Gut, das hatte sie damals in ihrem Business-Plan vorausgesehen, doch der Verlust war deutlich größer, als sie kalkuliert hatte. Die Renovierungen waren teurer gewesen als geplant.
Teilweise hatte sie mit Anne zusätzlich eine Aushilfe beschäftigen müssen, da die Zusammenarbeit mit Femke anfangs alles andere als reibungslos verlaufen war. Dazu kam die Scheidung von Ralf. Zwar hatte sie ihm von ihrer Erbschaft nichts auszahlen müssen, aber sie hatte bisher auch von ihm kein Geld erhalten. Er zögerte den Verkauf des gemeinsamen Hauses immer weiter hinaus. Dabei könnte sie im Moment jeden Euro gebrauchen.
Ole verlangte von ihr nicht, sich an den Lebenshaltungskosten zu beteiligen, aber sie wusste, dass auch die Schäferei keinen großen Gewinn mehr erwirtschaftete. Die vielen Naturschutzauflagen hatten dazu geführt, dass er in den letzten Jahren die Zahl der Schafe deutlich reduzieren musste. Dafür waren die Preise für Futtermittel und besonders die Tierarztkosten drastisch gestiegen. Außerdem wollte er den Stall modernisieren, um die Tierschutzauflagen zu erfüllen und effizienter zu arbeiten. Die Ausgleichszahlungen des Landes für den Küstenschutz reichten dafür bei Weitem nicht aus.
Genau wie sie wurde Ole nicht jünger. Die Leistungsfähigkeit sank im Alter, da durften sie sich beide nichts vormachen. Und so hatte auch Ole im Sommer immer häufiger eine Aushilfskraft beschäftigt. Er sprach oft davon, im Frühjahr jemanden fest einzustellen. Dadurch entstanden natürlich weitere Kosten.
Katharina seufzte. Wie Elisabeth und Femke es nur geschafft hatten, die Pension zu zweit zu führen? Besonders nachdem ihre Mutter an Krebs erkrankt war, musste Femke fast Übermenschliches geleistet haben. Manchmal kam sie sich neben ihr wie eine alte, verbrauchte Frau vor, dabei war sie gerade erst fünfzig geworden, während die andere deutlich über sechzig war.
Doch auch Femke musste der vielen Arbeit Tribut zollen. Schon als junges Mädchen hatte sie ihrem Vater in der Landwirtschaft, die früher in der Deichpension betrieben worden war, helfen müssen. In den letzten Jahren hatte sie die schwer erkrankte Elisabeth gepflegt. Kein Wunder, dass sie im Spätsommer zunehmend über Rückenschmerzen geklagt hatte. Lange hatte sie sich geweigert, zum Arzt zu gehen. Schließlich hatte Katharina sie einfach ins Auto gesetzt und war mit ihr zu einem Orthopäden nach Husum gefahren. Die Diagnose war eindeutig: Femke hatte einen Bandscheibenvorfall, der dringend operiert werden musste.
Dann ging alles ganz schnell: OP und anschließende Reha. Femke war zuversichtlich, dass sie bald wieder voll in der Pension mitarbeiten könnte. Katharina hatte da so ihre Zweifel. Wenn sie geahnt hätte, wie alles kommen würde, hätte sie niemals Reservierungen über Weihnachten angenommen. Doch die ersten Anfragen waren schon vor der Diagnose gekommen, und die alte Freundin hatte ihr zugeredet. Drei Wochen Gäste zum Jahreswechsel würden das dringend benötigte Geld in die Kasse bringen und wären doch gleichzeitig eine wunderbare Abwechslung, zumal beide Frauen keine Familie hatten und sonst am Heiligen Abend allein und einsam unter dem Weihnachtsbaum sitzen würden.
Das stimmt natürlich nicht. Katharina freute sich auf das erste Weihnachtsfest mit Ole. Sie brauchte keine fremden Pensionsgäste, die nicht immer so einfach und freundlich waren, wie sie es sich vor einem Jahr erträumt hatte. Einige waren anspruchsvoll und die Arbeit in der Pension gerade an den Feiertagen nicht zu unterschätzen. Die Gäste machten über Weihnachten Urlaub, um dem Trubel zuhause zu entfliehen, erwarteten dann aber einen Heiligabend, wie sie ihn gewohnt waren. Mit Weihnachtsbaum, Weihnachtsduft und möglichst mit leckerem Essen. Das hatten die vielen Nachfragen zum Ablauf des Heiligen Abends deutlich gezeigt.
Außerdem hatte Katharina Familie.
Sie atmete tief ein.
Finn und Deetje hatten ihr die Scheidung von Ralf immer noch nicht verziehen. Oder waren es die enttäuschten Erwartungen an einen reichen Geldsegen aus dem Verkauf der Deichpension? Sie rief regelmäßig bei ihren Kindern an, doch die Gespräche blieben oberflächlich. Beide meldeten sich fast nie bei ihr. Und wenn, dann nur, um sich zu beklagen, ihr Vorwürfe zu machen oder sie um Geld zu bitten. Unvorstellbar, mit ihnen gemeinsam ein friedliches Weihnachtsfest zu verleben. Sosehr sie sich es auch wünschte.
Der Kontakt zu Karin und Horst, ihren Eltern, verlief gezwungen und unterkühlt, seit sie im Sommer herausgefunden hatte, dass Elisabeth und nicht Karin ihre leibliche Mutter war. Sie war bei den beiden behütet aufgewachsen und zumindest materiell hatte es ihr an nichts gefehlt, doch sie konnte ihnen nicht verzeihen, wie übel sie Elisabeth damals mitgespielt hatten.
Das Telefon klingelte. Katharina zuckte zusammen.
«Moin. Pension Elisabeth, Katharina Peters.»
Hoffentlich keine weitere Reservierung. Ein Zimmer war noch frei und sie würde es selbstverständlich vermieten, denn sie betrieb eine Pension. Damit wäre jedoch ein Besuch von Finn und Deetje über Weihnachten nicht mehr möglich.
«Moin Katharina», ertönte Femkes Stimme aus dem Telefon.
«Wie geht es dir? Schön, dass du anrufst.» Katharina lächelte. Femke telefonierte nicht gern und hatte sich bisher nur einmal gemeldet, um mitzuteilen, dass sie gut angekommen war. «Wann soll ich dich denn in Husum am Bahnhof abholen?»
Kurz blieb es still.
«Ich komme am Montag nicht. Ich habe die Reha um zwei Wochen verlängert. Auf Anraten der Ärzte.» Ihre Stimme zitterte leicht.
«Geht es dir immer noch nicht besser?» Katharina unterdrückte ein Seufzen. Hoffentlich gab es keine Komplikationen.
«Wat mut, dat mut.» Wieder schwieg Femke.
«Aber Heiligabend bist du doch hier?»
Eine nicht voll einsatzfähige Femke war immer noch besser als gar keine Femke. Wenn die Freundin zu Weihnachten nicht zurückkam, musste sie in der Pension übernachten. Sie konnte sich nicht vorstellen, die Gäste über Nacht allein in ihrem Zuhause zu lassen.
Femke seufzte.
«Ich hoffe mal, Deern. Mach dir keinen Kopp. Dat wird sich schon allens wiesen.» Wie immer verstreute sie einzelne plattdeutsche Begriffe in ihre Sätze, auch wenn sie inzwischen versuchte, mit Katharina Hochdeutsch zu sprechen.
Katharina presste die Lippen zusammen. Femkes Gesundheit war wichtiger als ihre Bequemlichkeit an Weihnachten.
«Du kannst ja Anne fragen, ob sie dir helfen kann. Die verdient sich doch immer gern etwas dazu.» Femke klang wieder gewohnt resolut.
«Die ist doch zum Studium in Hamburg. Im Moment sind keine Semesterferien.»
«Sie kommt sicherlich Weihnachten nach Hause.»
Katharina schluckte. Anne hat bestimmt etwas Besseres vor, als in der Pension zu arbeiten, hätte sie am liebsten gesagt. Außerdem würden dann Lohnkosten fällig. So würde sich die Öffnung über die Feiertage nicht lohnen. Doch sie wollte Femke nicht mit ihren Problemen belasten. Am wichtigsten war, dass sie wieder ganz gesund wurde.
«Ich muss dann auch. Ich habe gleich eine Anwendung. Du schaffst das schon.»
Es klickte in der Leitung. Femke hatte aufgelegt.
Katharina sank auf einen Stuhl und schloss die Augen.
Eine halbe Stunde später griff Katharina nach ihrer Jacke. Sie hatte die restliche Weihnachtsdekoration wieder in den Kisten verstaut. Es blieb ihr ja noch genug Zeit bis Weihnachten.
Struppi wuselte um ihre Beine.
Sein Schwanz wedelte so stark, dass die Bewegung ihn fast umwarf.
«Ist ja gut. Wir gehen ja schon. Und nun sitz endlich still. Sonst bekomme ich die Leine nicht fest und alles dauert länger.»
Er setzte sich vor sie und hielt den Kopf schief. Es sah aus, als würde er lächeln.
Katharina strich ihm über den Rücken und befestigte die Leine. Sofort zog er zur Tür. Sie seufzte. Struppi hatte Energie für zwei. Er war halt noch sehr jung. Sie fühlte sich dagegen ausgelaugt und entmutigt. Ihr Elan vom Morgen war nach Femkes Anruf verflogen.
Sie öffnete die Haustür und sofort peitschten ihr die ersten Tropfen ins Gesicht.
«Wir müssen noch die Katze und die Schafe versorgen.»
Sie zog Struppi an der Leine zurück, der wild Richtung Deichaufgang strebte. Jetzt, wo keine Schafe am Deich waren und keine Gefahr für bodenbrütende Vögel bestand, ließ sie ihn gerne frei laufen, was er sehr genoss.
Gehorsam folgte er ihr hinter das Haus. Er liebte die Schafe, schließlich war seine Mutter eine hervorragende Hütehündin. Vor dem Gatter setzte er sich ab. Sein Kopf ging von einem Schaf zum anderen. Es sah aus, als würde er die Tiere zählen.
Entgegen Oles Vorschlag hatte sie die fünf Muttertiere bei der Deichpension behalten. Er hatte ihr mehrmals angeboten, sie über den Winter in die Schäferei zu bringen. Auch ihre Hühner hätten dort Platz gefunden. Doch irgendetwas in ihr hatte widersprochen. Sie wollte sich nie wieder so sehr an einen Mann binden. Sie brauchte ihren Freiraum und wenn es nur die völlig blödsinnige Freiheit war, zu bestimmen, wo und wie ihre Tiere lebten. Heute verfluchte sie ihren Starrsinn. Bei diesem Wetter machte die Versorgung der Viecher wirklich keinen Spaß.
Sie ließ Struppi am Gatter zurück und eilte in den Stall. Die Stallkatze war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich verschlief sie bei diesem Wetter den Tag irgendwo an einem geschützten Ort.
Die Hühner gurrten leise. Katharina füllte Futter und Wasser nach und sammelte die Eier des letzten Tages ein. Es waren nur drei. Kurz überlegte sie, die Luke ins Freigehege offenzulassen, entschied sich aber dagegen. Sie müsste noch einmal herkommen, um die Hühner wieder einzusperren. Nachts war die Gefahr durch einen eindringenden Marder viel zu groß. Bei diesem Wetter waren die Räuber besonders auf der Suche nach einem warmen Unterschlupf.
Sie stakte Heu vom Ballen und füllte es in die Schubkarre. Dann maß sie das Kraftfutter für die Schafe ab. Ole hatte ihnen im Herbst einen festen Unterstand gebaut, sodass sie vor dem Wind geschützt waren. Allerdings musste sie jeden Tag zufüttern, denn das Gras reichte bei Weitem nicht aus.
Katharina trat mit der Schubkarre aus dem Stall. Struppi saß noch immer am Gatter und beobachtete die Schafe. Die Tiere ignorierten ihn, doch als Katharina sich der Koppel näherte, kamen sie unbeholfen angaloppiert.
Sie öffnete das Tor. Sofort schlüpfte der Hund hindurch und trieb die Tiere etwas zurück. Er achtete sehr darauf, dass die Herde zusammenblieb und kein Schaf ausbüxte. Katharina lächelte. Gut, dass sie sich damals entschieden hatte, den Welpen zu behalten, der so gar nicht in ihr Leben passte.
Sie verteilte das Heu in den Raufen. Dann stieß sie einen leisen Pfiff aus. Sofort separierte Struppi ein Schaf und trieb es zu ihr. Er achtete darauf, dass die anderen ihm nicht folgten. Nach kurzem Zögern trollten sie sich zu den Heuraufen.
Katharina verfütterte etwas Kraftfutter an das Tier und pfiff erneut. Der Hund trieb das Schaf zurück und brachte ihr ein neues. Inzwischen funktionierte das reibungslos. Gemeinsam mit Ole hatten sie den ganzen Herbst über geübt. Struppi würde mal ein hervorragender Hütehund werden, da war sich Ole sicher. Katharina wurde bei diesem Gedanken das Herz schwer. Natürlich brauchte Struppi eine Aufgabe, das merkte sie selbst, aber ein Arbeitshund war etwas ganz anderes als ein Haustier, so wie sie es sich vorstellte. Und er war ihr Hund und nicht Oles.
Nachdem alle Schafe versorgt waren, rief sie Struppi herbei, verschloss das Gatter und legte ihm die Leine wieder an. Inzwischen war sie bis auf die Haut durchnässt. Für dieses Wetter gab es einfach keine passende Kleidung. Vielleicht hätte sie lieber mit dem Auto fahren sollen. Der Weg von der Pension zur Deichschäferei betrug zwar nur knapp einen Kilometer, doch jetzt musste sie auch noch gegen den Wind zurück.
Sie überquerte die Straße, die die Pension vom Deich trennte. Vorsichtig zog sie die Leine einfach Richtung Schäferei, doch Struppi weigerte sich. Er kläffte und zog zum Deichaufgang. Sie zögerte kurz und folgte ihm dann. Eigentlich war es egal. Sie war sowieso schon völlig durchnässt und kalt.
Am Abend saß Katharina allein im Wohnzimmer. Ole war bereits im Schlafzimmer verschwunden. Ihr Lebensrhythmus passte nicht so richtig zusammen. Er ging gerne früh ins Bett und stand mit den Hühnern auf. Sie genoss die stillen Abende mit einem Buch und einem Glas Wein.
Struppi lag in seinem Körbchen an der Heizung und schlief. Sie war noch eine Stunde durch den peitschenden Regen am Deich mit ihm spazieren gegangen. Sie fühlte sich seltsam angespannt und so entmutigt wie seit langem nicht mehr. Sie erhob sich und ging zu dem antiken Sekretär, dem einzigen Möbelstück in diesem etwas überfrachteten Zimmer, das sie wirklich mochte. Hier hatte bereits Oles Großmutter die Buchführung für die Schäferei erledigt. Sie öffnete eine Schublade und nahm ein kleines, wunderschön gestaltetes Buch heraus.
Elisabeth hatte seit ihrem vierzehnten Lebensjahr Tagebuch geführt. Sie war damals sehr einsam gewesen und hatte sich nach einer Freundin gesehnt. Später bestand das Buch aus Briefen an ihre geliebte Tochter Katharina. Erst lange nach Elisabeths Tod hatte Femke ihr die Aufzeichnungen gegeben. So war sie dem schrecklichen Familiengeheimnis auf die Spur gekommen.
Im Herbst hatte sie dann selbst begonnen, Tagebuch zu schreiben. Sie hatte sich an Elisabeth orientiert und schrieb Briefe an Deetje. Zwar hatte sie ihre Tochter aufwachsen sehen, doch sie hatte gemerkt, wie wenige ihrer Gedanken und Gefühle sie tatsächlich mit ihr geteilt hatte. Jetzt, wo sie kaum noch miteinander sprachen, wollte sie dies nachholen. Vielleicht würde auch Deetje das Buch erst lesen, wenn Katharina längst verstorben war. Dann wurde es zu einer Art Vermächtnis. Jedenfalls half ihr das Schreiben, ihre Gedanken und Gefühle zu ordnen.
Sie strich über den Einband, den sie als Collage aus alten Fotos gestaltet hatte. Bilder von Deetje als Baby und bei ihrer Einschulung, sie selbst als Kind in der Pension mit Elisabeth und Femke. Dazu Fotos vom Meer und von den bunten Blumen im Sommergarten. Sie griff nach ihrem Stift und atmete tief ein.
30. November 2024
Liebe Deetje,
heute war wieder ein ganz wundersamer Tag, an dem ich dich sehr vermisst habe. Es tut mir leid, dass alles so gekommen ist, und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass du meine Entscheidungen verstehst.
Ich wollte dir und Finn immer eine gute Mutter sein. Doch was heißt das schon, eine gute Mutter zu sein? Als du klein warst, war alles aus heutiger Sicht ganz einfach. Du warst von mir abhängig und ich habe dir alles gegeben, was du brauchtest. Damit warst du zufrieden und ich war es auch. Auch wenn ich mich damals manchmal überfordert fühlte, so war ich nie wieder so glücklich wie in der ersten Zeit mit dir.
Doch je älter du wurdest, desto schwieriger wurde es für mich. Ich wusste nicht mehr automatisch, was du wolltest, und oft hatte ich das Gefühl, nicht zu genügen, nichts richtigzumachen.
Ich wollte dir nicht nur Mutter sein, sondern gleichzeitig eine Freundin, eine Vertraute. Ein Spagat, der mir scheinbar nicht gelungen ist.
Ich denke heute, ich war dir auch kein gutes Vorbild. Manchmal hatte ich das Gefühl, du würdest auf mich herabschauen, würdest mich nur als Anhängsel deines Vaters sehen, als Dienstbotin, als Seelentrösterin, wenn du sie brauchtest, aber nicht als selbstständiges Wesen mit Wünschen und Träumen. Dein Vater konnte scheinbar nichts falsch machen. Die wenige Zeit, die er mit dir verbrachte, war unendlich wertvoll, während ich nicht genügte. Väter und Töchter haben eine ganz besondere Beziehung, aber es hat mich sehr verletzt.
Es war sicher auch meine Schuld. Ich habe immer versucht, es allen recht zu machen. Früher schon meinen Eltern, später deinem Vater und dann Finn und dir. Dabei habe ich mich selbst verloren.
Versteh mich bitte nicht falsch. Ich war nicht unglücklich. Ich habe euch alle drei sehr lieb gehabt. Finn und du, ihr seid der wichtigste Teil meines Lebens. Doch irgendwann reichte mir das nicht mehr. Ich habe eine innere Unzufriedenheit gespürt, wollte manchmal einfach nur weg, wusste aber nicht wohin. Und dann kam ganz überraschend Elisabeths Erbe.
Plötzlich ging eine Tür auf.
Ich erinnerte mich an die glücklichen Tage meiner Kindheit in der Deichpension, an Sonnentage am Meer, und ich fühlte eine Sehnsucht und Verbundenheit, wie schon lange nicht mehr. Als Kind wollte ich immer Ole heiraten und mit ihm gemeinsam die Pension und die Schäferei betreiben. Es waren kindliche Träume, doch plötzlich erschienen sie mir wieder zum Greifen nah.
Ich hätte dir das damals alles erklären müssen. Vielleicht hättest du meine Entscheidungen dann besser verstanden.
Ralf und ich, wir hätten Finn und dir die Wahrheit sagen müssen, die Wahrheit über den Zustand unserer Ehe, die schon lange vor der Erbschaft gescheitert war. Aber darüber sprechen Eltern nicht mit ihren Kindern. Wir haben beide versucht, die Fassade einer heilen Familie für euch aufrechtzuerhalten. Scheinbar ist es uns gut gelungen.
Heute kann ich viele deiner Reaktionen von damals verstehen, doch es tut mir weh, dass wir nicht mehr miteinander reden. Ich möchte dich so gerne mal wieder in den Arm nehmen, ich möchte mit dir mit nackten Füßen über das Watt laufen, den Sonnenuntergang genießen, Pläne schmieden. Ich möchte so gerne deine Vertrauensperson, deine Freundin sein.
In Liebe
deine Mutter Katharina
Katharina legte den Stift aus der Hand und strich sich über ihre tränen feuchten Wangen. Struppi erhob sich, kam zu ihr und legte den Kopf auf ihr Knie. «Du hast ja recht. Genug Trübsal für heute. Es wird Zeit, dass wir ins Bett gehen. Morgen ist ein neuer Tag.»
Sie stand auf, packte das Tagebuch zurück in die Schublade und schloss sie sorgfältig ab.
Ole faltete die Zeitung zusammen und lächelte.
«Der Männergesangverein Garding hat gestern Abend angerufen. Sie wollten ihre Weihnachtsfeier in der ‹Alten Schule› in Tetenbüll feiern, doch dort gibt es nach dem Regen am Samstag einen Wasserschaden. Jan hat schon überall angerufen. Aber jetzt vor Weihnachten gibt es kaum noch freie Termine in den wenigen geöffneten Restaurants. Jedenfalls nicht kurzfristig für so eine große Gruppe. Nun ist er auf die Idee gekommen, in deiner Deichpension zu feiern.» Er sah Katharina auffordernd an.
Sie sah auf und stellte die Kaffeetasse, die sie gerade hochgenommen hatte, zurück auf den Unterteller. Ole und sie tranken jeden Nachmittag gemeinsam in der Küche der Schäferei Kaffee und erzählten sich von ihrem Tag. Viel gab es allerdings nicht zu reden, denn jetzt im Winter geschah fast nichts. So schwiegen sie und immer öfter griff Ole zur Zeitung und verschanzte sich dahinter. Manchmal erinnerte die Situation Katharina an ihre letzten Jahre mit Ralf. Sie schauderte.
«Ich habe zugesagt.» Ole strahlte sie an. «Das Geld kannst du sicher gut gebrauchen. Es sind fünfundzwanzig Männer. In Tetenbüll wollten sie traditionell Grünkohl essen.»
«Aber das geht doch nicht. Ich habe dir doch erzählt, dass Femke ihre Reha verlängert hat. Außerdem ist die Deichpension auf so etwas gar nicht vorbereitet. Das ist kein öffentliches Restaurant wie die ‹Alte Schule›. Die Küche ist viel zu klein.» Katharinas Herz pochte bis zum Hals.
