Haschtee, Rocker und Amateurfußball - Roland Scheller - E-Book

Haschtee, Rocker und Amateurfußball E-Book

Roland Scheller

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Beschreibung

Eine Kurzgeschichtensammlung mit rund 50 knackigen Storys. Wie der Titel sagt, geht es zuallererst um Drogen, Rocker und Amateurfußball, aber auch ums Punkmilieu, Waffenhandel, Zivildienst, Rechtsextremismus, Antisemitismus, Gewalt in der Schule, Prostitution u.v.m. Zwischen humorvoll und erschreckend. Kurzgeschichten gegen Rechts!

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Roland Scheller

Haschtee, Rocker und Amateurfußball

UUID: 28c7f479-57de-470d-91c2-14ab04854f3b
Dieses eBook wurde mit Write (https://writeapp.io) erstellt.

Inhaltsverzeichnis

Drei kleine Adolfs auf dem Kinderspielplatz

Der Karnikelmörder

Der Kaugummiautomat am Ende der Straße

Klingelstreich bei einem Alt-Nazi

Blumento Pferde

"r - e - f - r - i - g - e - r - a - t - o - r"

Das Mädchen mit Down-Syndrom

Der falsche Joint

Massenschlägerei in Bad Kreuznach

Haschtee ins Nirvana

Die Kieler Dealer-Kartei 1987

Vereinsreise nach Manchester

Der aggressive Rollstuhlfahrer

Das Gleichnis vom 4-stöckigen Haus

Die Geschichte von der Schusswaffe in der Behinderten-WG

Blockade der Marinebasis

Mannschaftsfahrt nach Bremerhaven

Verspätete NS-Paranoia

Die Sicherheitsnadel

Fußball und Panzerbau

Brief an einen toten Fixer

Die Rocker und der fliegende Tisch

Brief an einen toten Punk

Der zerrissene Geldschein

Brief an einen Zuhälter

Rede des Bundesbeauftragten für Sport-, Kampf- und Windhunde

Der Taxischein

Geständnis eines Nichtrauchers

Ein Superterrorist in der Hafenstadt?

Brief an einen toten Rocker

Der Zugspaziergang

Ein Fall von Antisemitismus beim Fußball

Straßenschlacht am Samstagnachmittag

Der F*ckschein

Brief an einen Neo-Nazi

Es war Mord

Die BWL-Studentin

Die Rechtsradikalen im Supermarkt

Paketservice nach Osteuropa

Amateurfußball und Rassismus

Hausverbot in einer Kneipe

Der fixierte Tote

Zwischenfall auf der Gegengeraden

Die Jam-Session

Der tote Segler

Ein Flüchtling zwischen zwei Wachtürmen

Der Alkoholschiss

Impressum

Roland Scheller

Haschtee, Rocker und Amateurfußball

Sub-Geschichten

BookRix GmbH & Co. KG 81371 München

Drei kleine Adolfs auf dem Kinderspielplatz

Wir schreiben die 1970er. Die Kinder waren alle noch keine zehn Jahre alt, hatten jedoch eine ganze Menge über die Vergangenheit der Großeltern während der Nazi-Zeit in Erfahrung bringen können. Das geschah sowohl bei Familiengesprächen als auch durch Fernsehsendungen wie „Vor 40 Jahren“. Sie trafen sich fast täglich auf dem Abenteuerspielplatz, wo Spielgeräte wie Kletterhäuser, Seilbahn und Reifenschaukel längst ihren Reiz verloren hatten und langweilig wirkten. Es musste etwas Aufregendes her, und deshalb spielten sie Krieg. Sie brachten ihre Plastikpistolen, MGs und Gummi-Messer mit und spielten abmurksen, erschossen werden, tot zu Boden fallen und qualvoll sterben. Das brachte den Kindern Riesenspaß. Am zurückliegenden Sonntagmorgen wurde wie üblich im Fernsehen in einer Wiederholung eine Ausgabe der Deutschen Wochenschau vor 40 Jahren gezeigt. Diese Sendung enthielt Ausschnitte von Hitlerreden und Reden anderer Ober-Nazis sowie Nazirituale mit und ohne Marschmusik. Das war für die Kinder ein gefundenes Fressen.

Eines Nachmittags stellte sich eins der Kinder – gerade mal acht Jahre alt – auf ein Kletterhäuschen des Abenteuerspielplatzes, das eine Plattform mit Umzäunung wie ein Krähennest besaß, und fing an, eine Rede zu halten. Es wurde der größte Ehrgeiz aufgeboten, um Adolf Hitler in Ekelhaftigkeit, Aggro-Rhetorik und Grausamkeit zu überbieten. Der Grundschüler verausgabte sich beim Schreien dieser improvisierten, im Verlauf konfabulierten Rede. Das Kind gebärte sich bewusst, als hätte er eine Halskrankheit, genauso, wie er es an Adolf Hitler im Fernsehen wahrgenommen hatte. Und er brach das Geschrei erst ab, als ihm der Hals schmerzte, die Stimme rauer und kratzig wurde und schlussendlich aussetzte.

Seine Großmutter lächelte manchmal verschämt die Enkelkinder an, wenn die Hitler-Reden Sonntagmorgen im Fernsehen liefen. Der Großvater schaute stets ernst und wie gebannt auf den Fernseher und hatte die Arme dabei in einer Abwehrhaltung vor dem Brustkorb verschränkt. Er wirkte skeptisch, zeigte aber außer der Abwehrhaltung keine Gefühlsregung. Der achtjährige Enkel begriff sofort, dass diese Reden eine spezielle Wirkung auf die ältere Generation hatten. Und beim Imitieren auf dem Abenteuerspielplatz steigerte er sich in etwas hinein. Er versuchte den Hass zu imitieren, schrie immer lauter und kam immer wieder auf die Themen Krieg und Zerstörung zu sprechen. Es fielen immer wieder Wörter wie „vernichten“ und „zerstören“. Jetzt zog der 8-Jährige über die Juden her, genauso, wie er es in der Wochenschau gesehen hatte. Ohne das weiter zu reflektieren, verlor das Kind sich immer tiefer in seine Hassrede. Jetzt schrie er mehrmals das Wort „ausrotten“, sodass es über den Abenteuerspielplatz schallte. Die Anwohner in ihren Gärten wunderten sich und ließen das Gegröle laufen, hörten teils sogar interessiert zu und spitzten die Ohren. Die Hassrede des 8-Jährigen schien nicht enden zu wollen. Er holte immer wieder aus und setzte zur nächsten Hasstirade an. Plötzlich fing der nächste Knirps eine Rede an. Auch dieser Grundschüler wollte Schreihals Adolf imitieren und seinen Vorredner übertreffen. Er schrie alles aus sich heraus, was er von den Hitler-Reden aus der „Wochenschau“ behalten hatte. Da das andere Kind mit seiner Rede noch nicht fertig war, waren die kleinen Hitler-Imitatoren jetzt aus unterschiedlichen Richtungen gleichzeitig zu hören, bis sogar noch ein drittes Kind mit einstimmte. Sie stritten sich sogar um den besten Platz auf der kleinen Plattform und schubsten sich gegenseitig, nur um von dort vom Geländer eine Rede halten zu können. Die kleinen Hitler-Imitatoren schrien gegeneinander an, und jeder wollte für sich die beste und fieseste Rede halten. Jeder wollte „der bessere Hitler“ sein. Ihnen war noch nicht ganz klar, was sie taten.

Als schließlich ein älterer Herr mit einem Gehstock über den Abenteuerspielplatz tippelte, bekamen die Kids einen Schreck und verstummten plötzlich. Sie griffen ihre Spielzeugwaffen und versteckten sich. Der Spuk war vorüber. Am nächsten Tag war beim Spielen bereits eine neue Masche angesagt. Sie spielten mit kleinen Plastikfiguren an Mini-Fallschirmen, die sie in die Luft warfen und zu Boden segeln ließen. Sie spielten Angriff auf Pearl Habor und Landung in der Normandie. Adolf war auf dem Spielplatz bereits wieder out.

Der Karnikelmörder

Der Abenteuerspielplatz lag mitten im Neubaugebiet des Stadtteils. Wie die meisten Spielplätze war dieser verdreckt mit Glasscherben, Bierdosen und Hundescheiße. Spritzen wurden hier jedoch bisher nicht gefunden.

Schilder wiesen ausdrücklich darauf hin, dass Alkoholkonsum und Hunde verboten waren. Doch die meisten Leute scherten sich einen Dreck darum, fast alle Hundehalter aus dem näheren Umkreis gingen hier mit ihren Hunden Gassi. So konnte es passieren, dass Kinder beim Spielen in der Hundescheiße landeten oder sich an Glasscherben schnitten. Der Polizei war das ziemlich egal.

Eine Klicke Jugendlicher und Kinder hatte damals immer ein kleines Zwergkaninchen dabei, das eine von ihnen, ein junges Mädchen aus der Nachbarschaft, zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Sie ließen das weiße Kaninchen immer im hohen Gras hüpfen, und fingen es wieder ein, wenn es zu nah an die Knicks kam, die den Abenteuerspielplatz begrenzten. Zu Hause hielt sie das Kaninchen in einem kleinen Käfig und fütterte es mit Äpfeln, Karotten und Grünzeug. Es trug sich jetzt so zu, dass täglich ein älterer, alleinstehender Herr mit einem ausgewachsenen, braun-weiß-gecheckten Boxer auf dem Spielplatz umherlief. Der Mann ließ den Hund frei laufen, warf hin und wieder ein Stöckchen und ließ den Hund apportieren. Die Jugendlichen hatten Angst um das kleine Kaninchen, wenn der Boxer auftauchte, und sie nahmen es immer schnellstmöglich auf den Arm.

In der Mitte des Abenteuerspielplatzes befand sich ein kleiner Hügel, auf dem ein Kletterbaum stand, von dem zwei Seilbahnen starteten. Eines Nachmittags ließen die Jugendlichen das kleine Kaninchen wieder laufen, als der Boxer nicht da zu sein schien. Das Kaninchen hoppelte durch das hohe Gras, als plötzlich der Boxer um den Hügel herumjagte und direkt auf das kleine weiße Etwas zusteuerte. Den Jugendlichen stockte der Atem, es brach Panik aus, und sie versuchten, das Kaninchen schnell zu erreichen, um es zurück auf den Arm zu nehmen. Der Boxer war schneller. Er erwischte das Kaninchen am Genick und schüttelte das kleine Knäuel durch. Die Kleine aus der Nachbarschaft fing gleich fürchterlich an zu schreien und brach in Tränen aus. Das Herrchen des Hundes sah sich das Drama an und machte keine Anstalten, den Boxer zurückzupfeifen. Sobald das erste Blut am weißen Kaninchen zu sehen war, spritzten bei dem Nachbarsmädchen die Tränen umso mehr, und sie schrie noch verzweifelter. Uns ging es nicht sehr viel anders. Der Boxer schüttelte das Zwergkaninchen durch, knurrte dabei wild und Angst erregend. Nach einer Weile hing das hilflose Wesen leblos in seinem Maul. Der Boxer fing an, das tote Kaninchen zu zerreißen. Die Jugendlichen gaben jedoch die Hoffnung nicht auf, dass ihr geliebtes Haustier die Sache überleben könnte. Sie schrien nun zum Hundebesitzer rüber, dass er endlich seinen Hund zurücknehmen solle. Schließlich kam der bisher ignorante Hundehalter ein Stück näher und gab dem Hund den Befehl

„Komm hier her – bei Fuß,“

damit er endlich von dem toten und zerfetzten Wesen ablasse. Das Mädchen war total in Tränen aufgelöst und traumatisiert. Der Hundebesitzer ging mit seinem Boxer einfach weg, als sei nichts gewesen, ohne sich zu entschuldigen oder mit den Kindern zu sprechen. Wir mussten das Nachbarsmädchen trösten. Der Verlust war groß. Die Kinder beerdigten das Kaninchen und schafften sich danach nie wieder ein weiteres Kaninchen an aus Angst, dass es erneut von einem Hund zerfetzt würde. Das Unglück wirkte noch Jahre nach dem Vorfall weiter. Sie verließen meistens den Spielplatz, wenn Hundebesitzer mit großen Hunden auftauchten. Doch es gab weitere Vorfälle. Auf der anderen Seite des Spielplatzes befand sich ein kleines Fußballfeld für die Kinder und Jugendlichen. Dort biss der Boxer einen Lederball kaputt. Jedes Mal, wenn sie den Mann mit dem Boxer in Zukunft begegneten, nannten sie ihn „Mörder“. Auch auf offener Straße riefen sie ihm "Mörder" hinterher. Sogar Jahre später noch, als sie schon volljährig waren, kam immer wieder Unmut auf, wenn sie diesen speziellen Hundebesitzer trafen. Der alte Boxer war mittlerweile tot. Der Mann hat sich inzwischen erneut einen Boxer zugelegt. Ab einem Zeitpunkt ging er nicht mehr auf den Spielplatz. Er hatte wohl Angst, dass sein Verhalten schlussendlich Konsequenzen haben könnte.

Der Kaugummiautomat am Ende der Straße

Stell dir vor, in deinem Stadtteil hängen in jeder größeren Straße zwei oder drei Kaugummiautomaten. Stell dir vor, du kannst in jeder Drogerie das ganze Jahr über Wunderkerzen in 10er-Packs kaufen. Du bist dazu etwas experimentierfreudig, baust als Kind kleine Sprengsätze aus 0,7-L-Mineralwasser- oder Brauseflaschen, indem du vier bis fünf Wunderkerzen in die Flasche bröselst, eine weitere Wunderkerze unten statt oben anzündest, kopfüber in die Flasche wirfst und den Metallverschluss fest zudrehst. Jetzt steht die Flasche da im Halbdunkel und leuchtet wie eine Laterne. Die Funken der Wunderkerze sehen ein wenig eingesperrt aus und wandern immer weiter nach unten der Spitze entgegen. Der interessierte Beobachter erkennt, dass einzelne Funken die zerbröselten Wunderkerzen auf dem Flaschenboden nicht entzünden können. Jedoch, wenn die Spitze der Wunderkerze endlich erreicht ist, entlädt sich alles in einem Blitz, in einen Unterdruckknall, in Splittergeräusche und Glassplitterregen. So bist du als Kind schon ein wahrer Sprengmeister. Die Experimentierfreude kannte keine Grenzen.

Schon bald wurde erkannt, dass brennende Wunderkerzen Plastikgefäße zum Schmelzen bringen konnten, vor allem Plastikbecher und Plastikflaschen.

Der nächste Schritt ist das Öffnen von Kaugummiautomaten, denn Wunderkerzen brennen durch dünne Plexiglasscheiben. Wenn die Spitze brennt, musst du sie auf die Plexiglasscheibe drücken, bis sie wie durch weiche Butter geht. Jetzt musst du den Brennpunkt immer an eine Stelle auf Höhe der durchbrannten Plexiglaswand halten, damit das Loch größer und größer wird. Meistens brauchst du dafür mehr als eine Wunderkerze. Da können ruhig die Cops vorbeifahren, denn die freuen sich und denken, die Kinder spielen schön. Die Ränder des Lochs sind recht porös, geschmolzenes Plastik halt, und du kannst jetzt kleine Stücke aus den Schweißstellen herausbrechen oder weiter mit Wunderkerzen arbeiten. Bald ist das Loch groß genug, dass du mit einem oder zwei Fingern durchgreifen kannst, um dir Kaugummis oder die kleinen Gimmick-Kügelchen herauszufischen. Allerdings musst du aufpassen, dass die Kaugummis nicht angekokelt sind. Irgendwann entschieden wir uns, nur noch Kaugummiautomaten aufzuschweißen, in denen sich keine Kaugummis befanden, sondern ausschließlich die runden Plastikkügelchen mit Mini-Spielzeug als Inhalt.

Nach solchen Missetaten konntest du dir sicher sein, dass du den Nachmittag gut verbracht hattest, dich nicht mit Hausaufgaben hast quälen lassen, dass du etwas umsonst bekommen hast und obendrein mit deinen Kumpels etwas erlebt hattest, das zusammenschweißte.

Klingelstreich bei einem Alt-Nazi

Gegenüber vom Haus meiner Eltern wohnte ein Alt-Nazi zusammen mit seiner Frau in einem Reihenhaus. Wir konnten von unserer Einfahrt direkt in dessen Garten auf der anderen Straßenseite blicken. Der Garten hatte einen Dornenhecke und war dicht bewachsen, sodass niemand auf die kleine Terrasse schauen konnte.

Das Ehepaar hatte keine Bekannten und unterhielt sich nicht mit Nachbarn, als seien sie dort im Reihenhaus untergetaucht. Wir gingen vom Schlimmsten aus. Einige munkelten, dass er bei der Gestapo war. Von seiner Zackigkeit und Herzlosigkeit passte es.

Der Mann hatte ein blasses, fast aschfahles Gesicht, graue Haare und trug stets dunkle Kleidung ohne bunte Farben. Er sah aus wie der leibhaftige Tod und hätte in jedem Horrorfilm auftreten und in jeder Geisterbahn stehen können. Wir spekulierten wieder und wieder darüber, was er im Krieg alles angestellt haben könnte. Er wirkte wie ein kaltblütiger Mörder, als hätte er unzählige Menschen eigenhändig abgemurkst. Die Kinder hatten Angst vor ihm. Und das machte den Thrill aus. Wir wollten diesen Killer herausfordern. Wir, die Kinder aus der Nachbarschaft, wollten ihn für seine Untaten bestrafen. Doch wir hatten nicht mit seiner Zähigkeit und seiner Hartnäckigkeit gerechnet. Es war ein Spiel mit dem Feuer.

Da brauchte ihm nur jemand in die Hecke zu greifen oder Bonbonpapier in den Garten zu werfen, dass sein Hass aktiviert wurde und er anfing zu drohen. Bisher wagte er nicht, sich an uns zu vergreifen.

Es sprach sich herum, dass der Alt-Nazi regelrecht ausflippte, wenn bei ihm jemand einen Klingelstreich verübte. Das erhöhte den Reiz umso mehr. Es war eine Mutprobe, bei diesem Zombie zu klingeln, denn er konnte direkt hinter der Tür im verdunkelten Hausflur stehen und lauern.

Wäre er beim ersten Mal nicht hinterhergelaufen, hätten die Kinder wahrscheinlich nie wieder geklingelt. Doch er wollte uns erwischen und abstrafen. So war er aus der Nazi-Zeit programmiert.

Sein Reihenhaus befand sich genau in der Mitte einer Reihenhauszeile, sodass wir in beide Richtungen fliehen konnten. Im Dunkeln schlichen wir zur Haustür, klingelten und sprinteten davon. Da ging schon das Licht an und er sprintete hinterher. Er fluchte währenddessen.

„Stehenbleiben! ... Sofort stehenbleiben, ich erwisch euch!“

Er schrie und pöbelte ununterbrochen und forderte uns auf stehenzubleiben. Der Alt-Nazi jagte uns durch den halben Stadtteil, doch wir hatten mehr Puste und konnten ihn immer wieder abhängen.

Tagsüber trug er einen Hut und einen dunklen Mantel. Die Hutkrempe war leicht runtergezogen und der Mantelkragen hochgeklappt. Seine Frau trug ebenfalls eine Art Tirolerhut ohne Anstecker und einen dunkelgrünen Mantel. Da war die alte Kriegsgeneration recht uniform in ihrem Aussehen. Es sei denn, dass es einfache Arbeiter waren.

Dem ehemaligen Nazi-Schergen war schon klar, wer hinter den Klingelstreichen steckte. Er durchbohrte uns mit seinen hasserfüllten Blicken auf offener Straße. Er hatte dabei ein versteinertes, toternstes Gesicht. Wir sahen den Mann nie lachen. Er war schon tot im Gesicht. Auch sein Blick schien tot zu sein. Wir wiederholten die Klingelstreiche immer wieder. Knapp wurde es, wenn er abends direkt hinter der Tür stand und wir nur zwei, drei Meter Vorsprung hatten. Wir schüttelten ihn zunächst ab. Er gab nicht auf. Wir kicherten beim Weglaufen. Irgendwann war aus die Maus.

Eines Abends erwischte er uns nach einem Klingelstreich am Spielplatz zwischen Händelweg und Bachweg. Wir liefen ihm direkt in die Arme, als wir einmal um den Spielplatz hechelten. Er packte mich und ließ mich nicht mehr los. Er war so giftig und aufgebracht, dass er zischte wie eine Schlange. Ich konnte mich aus seinem Griff nicht mehr lösen, so hart packte er zu. Da er mich erkannte und wusste, wo ich wohne, zerrte er mich die fast 300 Meter zum Haus meiner Eltern, klingelte und drohte mit der Polizei. Das war das Ende unserer Klingelstreichserie. Sein versteinertes Gesicht blieb in meinem Gedächtnis, ebenso die fehlenden Regungen und der starre, fast tote Blick. Wir hatten es übertrieben. Trotzdem war das unsere Rache an der Alt-Nazigeneration. Nie wieder Faschismus.

Blumento Pferde

Auf dem Gymnasium für Jungen und Mädchen herrschte meistens ein harter, fast schon militärischer Umgangston. Die Lehrerschaft war straff organisiert, die Anzahl der Lehrerinnen war deutlich geringer als die der Lehrer. Dem Direktor wurde nachgesagt, dass er ein Schreckensregime führen würde. Der Konrektor war ein kräftiger untersetzter Mathe- und Sportlehrer, der das Talent besaß, dermaßen laut zu schreien, dass die Schüler*nnen anfingen zu zittern und nicht mehr wussten, ob sie lachen oder weinen sollten. Er galt als der strengste Lehrer an der Schule. Sein Unterkiefer schaute ein wenig hervor und beim Sprechen hörte man ihm manchmal an, dass er sich beim Schreien verausgabt hatte. Er konnte den Mund nicht richtig öffnen, da seine Kiefermuskulatur ständig verkrampft war.

Das Erschreckende an ihm war: Er hatte eine verstümmelte Hand. Ihm fehlten zwei Finger, und es hieß, er hätte diese im Krieg verloren. Das wäre alles gar nicht so schlimm gewesen, denn zu der Zeit hatten noch viele ältere Männer Kriegsverletzungen. Es war sehr fies, wenn der Mathelehrer sich ein paar Schüler herauspickte, denen er selektiv oder präventiv mit der flachen Hand ins Gesicht schlug. Er schlug ausschließlich die männlichen Schüler, nie die jungen Frauen. Zwar wussten alle, dass er eine verstümmelte Hand hatte, jedoch konnte sich später keiner der misshandelten Schüler erinnern, ob der Lehrer mit der unversehrten oder der versehrten Hand zugeschlagen hatte, weil alles so schnell ging.

Wenn in der Schule etwas vorgefallen war, das nicht aufgeklärt werden konnte, so suchte sich der Mathelehrer einfach jemanden aus der Klasse heraus, fragte noch

„Warst du das?“

und schlug diesem mit voller Wucht ins Gesicht, egal ob der Schüler mit nein oder überhaupt nicht antwortete.

Einmal war morgens vor dem Unterricht ein Fenster geöffnet, was untersagt war. Der Lehrer sah das von der Klassenzeile aus und schloss daraus, dass einer der Schüler durch das Fenster geklettert war. Er fing an zu schreien und befahl alle umherstehenden Schüler zu sich. Jetzt standen vier Siebtklässler in einer Traube vor ihm.

„Wer von euch ist durch das Fenster geklettert?“

Niemand antwortete. Mit aggressiven, funkelnden Augen sah er die Schüler an. Da holte er aus und schlug einem von ihnen mit voller Wucht ins Gesicht.

„Das passiert mir nicht noch einmal!“

schrie er und verschwand.

Er wurde von allen Schüler*nnen gefürchtet, zumal sich bei ihm Brutalität und Sanftmut abwechselnd zeigten. Dieser Mathelehrer konnte durchaus liebevoll mit den Schülern und Schülerinnen sprechen, hatte Humor und konnte einige zum Schmunzeln, ja sogar zum Lachen bringen.

Doch sein Humor war meistens fehl am Platze, da seine Wortspiele mit Mathematik überhaupt nichts zu tun hatten. Er brachte zwar viele Standardsprüche, die zum Mathematik-Unterricht passten, so sagte er häufig:

„Ausnahmen bestätigen die Regel.“

Doch er äußerte auf der anderen Seite Phrasen wie

„Man lernt alles, auch den Genitiv.“

Berühmt-berüchtigt waren Denksprüche wie

„Was sind Blumento Pferde?“

Er sprach das Wort so aus, als handelt es sich dabei um Pferde. Doch die Lösung war „Blumentopf-Erde“ und nicht „Blumento Pferde“. Ein weiteres Rätsel, das er im Mathe-Unterricht aufgab, lautete:

„Was ist die Kuhliefumdenteich.“

Die Schüler und Schülerinnen verstanden „Die Kuhlie fumden Teich,“ und wunderten sich, was sich dahinter verbergen könnte. Die Schüler und Schülerinnen, die von ihm nie geschlagen wurden, freuten sich bereits, während seine potenziellen Opfer den nächsten Tobsuchtsanfall des sich ständig wandelnden Lehrers befürchteten. Schließlich verriet er die Lösung:

„Die Kuh lief um den Teich.“

Diese Witze, die er regelmäßig von sich gab, wirkten auf einige diabolisch. Es schien, als wollte er die nach einem seiner Tobsuchtsanfälle verspielte Aufmerksamkeit und Sympathie zurückbeordern. Doch es schlug fehl, auch wenn einige Schüler*nnen gezwungen lachten. Einer der Schüler wagte es einmal, nachdem er von ihm geschlagen wurde, im Affekt zurückzuschlagen. Er war von der Statur einer der größten in der Klasse und brachte endlich den Mut dazu auf. Er flog postwendend von der Schule. Keiner der Lehrer setzte sich für ihn ein, und er wurde auf die Realschule querversetzt. Ein damaliger Schüler behauptete, dass der Mathelehrer unter einem Kriegstrauma leide und deshalb regelmäßig seine Aussetzer habe. Er sagte es nicht ohne Furcht vor diesem Lehrer.

Doch das Fürchterlichste war, dass er den Schülern mit seiner kaputten Hand kleine Spielchen vorführte. Er hielt die Hand wie ein Puppenspieler vor den Oberkörper, sodass jeder sie sehen konnte. Jetzt nahm er die unversehrte Hand, knickte einen Finger ein und legte diesen auf die Abtrennstelle eines der verlorenen Fingerglieder, sodass es aussah, als säße ein neues Fingerglied auf dem Fingerrumpf. Jetzt hob er den unversehrten eingefalteten Finger mehrmals nach oben, sodass der Täuschungseffekt entstand, als trenne er fortwährend ein Fingerglied ab und setzte es danach wieder auf die Bruchstelle. Er sagte dazu einen Spruch auf, den ich vergessen habe, der im Nachhinein vom Rhythmus so klang wie „Das ist das Haus vom Nikolaus“. Dasselbe machte er schließlich mit einem anderen Finger an einem weiteren abgetrennten Glied. Er wirkte dabei wie Gerd Fröbe als Mitschnacker Albert Schrott mit der Fingerpuppe in „Es geschah am hellichten Tag“. Das war ein kleines Horrorszenario, und die Schüler wussten nicht so recht, wie sie darauf reagieren sollten. Einige Schüler*nnen lachten eher aus Anstand und Schamgefühl. Die meisten Jungen hingegen hüllten sich in Schweigen. Unmittelbar nach diesem makaberen Intermezzo ging es mit dem Mathematikunterricht weiter: Assoziativ- und Kommutativgesetz.

„Punktrechnung kommt vor Strichrechnung. Aber: erst die Klammer ausrechnen!“

Der schlagende Mathelehrer konnte bis zur Pensionierung an der Schule weiter unterrichten, zuletzt eben als Konrektor. Er lebte mit der Schulsekretärin zusammen und galt als die autoritäre Kraft in der Schule. Er vermochte das Lehrerkollegium mit seiner brutalen Art zu prägen, und er fand unter den männlichen Kollegen sogar Nachahmer. Kein Lehrer und keine Lehrerin wagten es, den Brutalo-Lehrer zu kritisieren. Niemand wollte zur Kenntnis nehmen, dass dieser Pauker sich regelmäßig strafbar machte, als sei die Schule ein Ort, an dem die Strafprozessordnung keine Gültigkeit besitzt. Wenn überhaupt, wagten es die Schüler*nnen sich erst nach dem Schultag über den Lehrer kritisch zu äußern. Andere verherrlichten seine Brutalität und lästerten über seine Opfer. Erst Jahre später wurde festgestellt, dass von den misshandelten Schülern nur die wenigsten ihr Abitur an dieser Schule schafften, sie alle galten als Außenseiter, die beim Lehrerkollegium unten durch waren. Die Bestrafungen vom Mathelehrer galten als fortwährender Makel. Und die misshandelten Schüler sahen wirklich depressiv aus. Sie waren richtig düster im Gesicht.

Es reichte damals aus, mit einem unakzeptablen Haarschnitt, einem politischen T-Shirt oder einem markanten Outfit in der Schule zu erscheinen, um den Zorn des Mathelehrers auf sich zu ziehen. Erst nach dem Tod des Lehrers fühlten sich viele der Ex-Schüler und Schülerinnen stark genug, über ihre Negativerlebnisse an der Schule zu berichten.

"r - e - f - r - i - g - e - r - a - t - o - r"

An der Schule in der Nähe des Marinestützpunktes unterrichtete ein Englischlehrer, der eine Beinprothese trug. Keiner der Gymnasiasten traute sich zu fragen, weshalb ihm das Bein fehlte. Doch die Schüler vermuteten, dass er es im Zweiten Weltkrieg verloren hatte, denn er war in einem Alter, indem er den gesamten Krieg als Erwachsener mitbekommen haben musste. Einige Schüler vermuteten, dass er sein Englisch in englischer Kriegsgefangenschaft erlernt hatte oder in einem Lazarett.

Der Lehrer kam ständig zu spät in den Unterricht, denn er rauchte vor jeder Englischstunde eine Ernte-23-Zigarette direkt in der Klassenzeile, in der sich drei Klassenzimmer befanden. Hier war das Rauchen zwar strengstens verboten, doch er konnte es sich erlauben. Alle hatten großen Respekt vor ihm, einige der Schüler sogar Angst, besonders, wenn sie in der ersten Reihe sitzen mussten und in der Reichweite dieses versehrten, aber kräftigen Mannes saßen. Er trug ständig braune Anzüge, hellgrüne und ockerfarbene Hemden, hatte einen grauen Vollbart, der am Kinn eckig zurechtgestutzt war. Sein graues Haar war zwar kurz, jedoch ein wenig gewellt, an einigen Stellen etwas gelb-blond eingefärbt. Im Sitzen schlug er sein gesundes Bein stets über das Holzbein. Seinen Gehstock stützte er währenddessen auf den Boden und faltete seine Hände auf dem Griff. In dieser Pose zitierte er häufig Shakespeare oder brachte unaufmerksame Schüler verbal zur Raison. Doch leider schlug er die Schüler, und das nicht nur wegen Disziplinlosigkeiten, sondern auch bei Lernproblemen. Er bestrafte die Schüler und zeigte dabei äußerste Brutalität. Am härtesten reagierte er auf fehlerhafte Aussprache, speziell wenn jemand Probleme mit dem „Ti-Ejtsch" hatte. Er siebte auf diese Art und Weise die Schüler heraus, die später an dieser Schule scheitern sollten. Da er Unterstufenlehrer war und nur Jungen und Mädchen im Alter zwischen 10 und 14 Jahren unterrichtete, waren seine Schelten besonders schwerwiegend. Die Schüler wurden zusammengeschrien und geohrfeigt. Einige entwickelten dadurch richtige Sprachhemmungen und Artikulationsprobleme, die sie später nicht mehr ablegen konnten. Jedes Mal, wenn ein Schüler das „Ti-Ejtsch“ nicht aussprach, obwohl es hätte artikuliert werden müssen, also in Wörtern wie “thing“, “cloth“ oder “thanks“, schrie er

„Vor den Spiegel!“

und zeigte in Richtung des Waschbeckens des Klassenzimmervorraums. Er erhob sich aus seiner relaxten Position, ging zur Tür und öffnete diese. Der Schüler oder die Schülerin musste in den Vorraum gehen. Dort befanden sich neben etlichen Kleiderhaken und kleinen Ablagefächern das besagte Waschbecken und darüber der Spiegel. Er schloss die Verbindungstür zum Klassenzimmer und ging mit dem Schüler oder der Schülerin vor den Spiegel. Dort sprach er Wörter mit „Ti-Ejtsch" vor, die exakt nachgesprochen werden mussten. Sprach ein Schüler das „Ti-Ejtsch“ falsch aus, schlug er ihm mit der flachen Hand ins Gesicht, erst leicht, danach immer härter. Das tat er auch mit einigen Mädchen, bis den jungen Menschen die Tränen übers Gesicht liefen. Das Spiel ging so lange weiter, bis entweder der Schüler dieses im Englischen häufige Phonem ausgesprochen hatte, oder der Schüler sich als „unfähig“ erwies. Der Lehrer stützte sich dabei auf den Schultern der betroffenen Person ab, drückte mit dem vollen Gewicht seines Oberkörpers die Schüler*nnen nach unten, sodass die Wirbelsäule am Becken schmerzhaft einknickte. Er ereiferte sich bei weiterem Versagen immer mehr. Der Lehrer schüttelte die jungen Menschen von hinten, drehte sie, schlug ins Gesicht, drehte die Person wieder zum Spiegel, gab wieder auszusprechende Wörter vor, schüttelte, schlug und schrie schon fast, sabberte manchmal sogar währenddessen. Mehrere Schüler*nnen berichteten, dass sie Speichel von ihm ins Gesicht bekamen, auch wenn es kein richtiges Anspucken war, sondern nur eine übertriebene „feuchte Aussprache“. Hinzu kam der penetrante Mundgeruch eines starken Rauchers. Der Schüler sah den übereifrigen Lehrer und dessen wutentbrannte Augen hinter sich im Spiegel. Es war der pure Horror. Der rechteckige Griff seines Krückstocks war am Rand des Waschbeckens eingehängt. Er brauchte den Stock gar nicht, denn er stützte sich von hinten auf den Schultern der Schüler und Schülerinnen ab. Langsam wurde er präziser, öffnete übertrieben seinen Mund, steckte die Zunge gerade heraus, legte die Zähne auf die Zunge und erzeugte diesen speziellen Zischlaut, der von Linguisten „alveolarer Frikativ“ genannt wird. Der Schüler hatte diesen Laut zu wiederholen, egal ob die Wange bereits feuerrot war oder die Augen vor Tränen schon fast blind. Das grenzte an Folter.