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Haus-, Wald- und Feldmärchen Adele Schopenhauer - ie Vorlesung war beendet.»Vortrefflich!« sagte der Professor. Der Autor verbeugte sich gegen ihn und die übrige in weitem Kreise ihn umgebende Gesellschaft und faltete sein Manuskript.»Ein deliciöses Märchen! Charmant! Höchst originell!« versicherten die Damen. Die Wirtin des Hauses bedankte sich bei dem Autor; der Autor bedankte sich bei den Damen.»Ein Märchen?« fragte ein junger Mann. »Ich hätte das eher für eine Allegorie gehalten.«»Nun«, erwiderte ein ältliches Fräulein, »ist denn das Märchen etwas anderes als ein buntes, die wirklichen Gegenstände magisch färbendes Glas, durch welches wir die uns bekannte Welt erblicken? Und ist das nicht eine Art Allegorie?«
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Seitenzahl: 121
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Die Vorlesung war beendet.
»Vortrefflich!« sagte der Professor. Der Autor verbeugte sich gegen ihn und die übrige in weitem Kreise ihn umgebende Gesellschaft und faltete sein Manuskript.
»Ein deliciöses Märchen! Charmant! Höchst originell!« versicherten die Damen. Die Wirtin des Hauses bedankte sich bei dem Autor; der Autor bedankte sich bei den Damen.
»Ein Märchen?« fragte ein junger Mann. »Ich hätte das eher für eine Allegorie gehalten.«
»Nun«, erwiderte ein ältliches Fräulein, »ist denn das Märchen etwas anderes als ein buntes, die wirklichen Gegenstände magisch färbendes Glas, durch welches wir die uns bekannte Welt erblicken? Und ist das nicht eine Art Allegorie?«
»Ah so!« sagte der junge Mann; »ich hatte mir etwas anderes darunter gedacht.«
»Bei alledem«, sprach ein wohlwollender Kritiker, »liegt eine unergründliche Tiefe der Anmut in der Konzeption dieses Märchens und seiner fernen blauen Zauberberge.«
»Freund!« erwiderte ihm der Dichter, »ein Märchen ist überhaupt immer – die blaue Blume, die uns das blaue Wunder erschließt.«
»Ich hatte mir aber dennoch etwas anderes gedacht«, wiederholte der junge Mann vor sich hin. »Ich meinte, das Märchen ziehe fremdartige Lebensgestalten um die Gestaltung unseres Menschenlebens her.«
»Ein wunderliches Prinzip führt zur Einseitigkeit!« murrte der Professor.
»Ich verstehe von dem allen kein Wort«, sagte ein hübscher Jüngling – es war der Sohn vom Hause –, »ich denke mir aber, es ist mit dem Märchen wie mit der Liebe, die auch kein Weiser richtig definiert: jeder denkt sich etwas anderes darunter. Aber«, fuhr er zu mir und noch ein paar jungen Leuten gewendet fort, »kommt lieber mit mir ins Vorzimmer: da sitzt meine Schwester Linda unter den Kindern, die heute nicht in die Gesellschaftszimmer dürfen, und erzählt ihnen auch Märchen. Waldmärchen, Quellenmärchen – was weiß ich? Vielleicht ist dein anderes Märchen darunter«, lachte er seinem Freunde zu.
Wir waren im Gespräch weitergegangen; im ersten Salon saß wirklich ein junges Mädchen unter den Kindern und erzählte.
»Aber was in aller Welt ist denn ein Quellenmärchen?« fragte ich.
»Das weißt du nicht? Das weißt du nicht einmal?« riefen die Kinder durcheinander. »Ich will dir's sagen.« – »Nein, nein, ich!« überschrie eins das andere. »Drunten – nein doch! ganz hinten im Garten ist ein kleiner, ganz kleiner Quell, und mit dem kann Tante Linda reden.«
»Ich habe es oft angehört«, versicherte Cäcilie, die Hand aufs Herz legend. »Ich auch! ich auch!« die andern. »Und was er ihr erzählt, das erzählt sie uns alles wieder.«
»Ja«, sagte Edmund sehr ernsthaft, »und wenn der Quell die Geschichte anfängt, so legen sich die kleinen Veilchen auf die Erde unter die Blätter hin und hören zu, und die Grashälmchen spitzen die grünen Öhrchen. Und der Schmetterling schlägt hinten seinen bunten Frack zusammen und setzt sich – siehst du, so!« und er setzte sich als Schmetterling; »und dann, ja, dann kommt die huschliche, fahrige Libelle, die nie ordentlich achtgibt; und die Biene in ihren Honighöschen beeilt sich ganz unsäglich und möchte es gar zu gern mit anhören, läßt sich aber keine Zeit vor dem Feierabend; sie ist gar zu haushälterisch und übertreibt's ein bißchen – und dann –«
»Nun?« fragte ich sehr ergötzt weiter, »was sagt der Quell?«
»Oh! erst legen sich am Abend lange goldene Sonnenstrahlen über den Bach hin, darauf tanzen die Mücken, bis sie müde sind, und erst dann wird es still, so ganz still! Die Glühwürmchen zünden ihre Laternchen an, und der Quell beginnt sein Märchen.«
»Und wie ist denn das schöne Märchen?«
»Ei, das ist jedesmal anders, aber es gleicht sich; denn siehst du, es ist ein Familienmärchen; da erfahren wir immer mehr, und dann ist das Hübsche – es hat gar kein Ende.
Erst ist da der alte, uralte Ahn im Walde; der wohnt in der hohlen Eiche und ist älter und viel klüger als die kleinen Menschen um ihn her.« – »Er ist auch größer«, sagte Jenny.
»Freilich«, erwiderte Otto, »aber er ist nicht immer so klug gewesen. Er hat einmal etwas sehr Böses getan: er hat sich gegen die Gnomen vergangen, die an seinen Wurzeln zur Außenseite der Erde hinauf ans Licht klettern wollten.«
»Ja, und die Gnomen waren keine bösen Geister: es waren Leute von kleinem Volk und hatten es gut mit dem Grafen im Sinn, dem der Boden gehörte, auf dem die Eiche stand. Sie wollten seiner Tochter Hochzeitsgeschenke bringen und einen kleinen Hausgeist bei ihr zurücklassen, der sollte ihr Glück beschirmen.«
»Und ihre Kinder hüten«, sagte Jenny.
»Ja, aber sie hatte noch keine; das kommt viel später.«
»Also nun konnten die Erdgeister den Segen nicht hinaufbringen?«
»Nein, und die Familie verarmte, und alle Kinder des Hauses welkten hin und kamen um, so daß der Name ganz ausstarb.«
»Nun ist aber ein altes Gesetz«, nahm der älteste Knabe das Wort, »daß die Naturgeister keinem lebenden Wesen mutwillig schaden dürfen und besonders nicht den Menschen. Und als nun der Graf und seine wunderschöne Tochter Sismonde und alle ihre Geschwister, ja selbst alle ihre Kinder, dahinstarben und vergingen wie das Gras auf dem Felde, ward der Elfe gestraft: er verlor die Sprache und durfte den Baum nicht mehr verlassen.
Zu seiner Qual muß er nun still zusehen«, erzählte Edmund weiter, »wie unter ihm seine lieben Menschen – denn er liebt sie, und besonders alle auf dem Gute Geborenen – sich vergehen gegen die Natur und Unrecht untereinander tun. Aber er sitzt fest in seinem Baume, er darf nicht warnen, wenigstens nicht mit Worten. Da kommt der Jäger ganz übermütig und schießt das muntere Wild: das kränkt den Elfen, er rauscht mit den Zweigen, was er weiß und kann. ›Ein frischer Morgenwind heute!‹ spricht der Jäger und hetzt den Jagdhund. Böse Buben kommen, nehmen die Nester aus, verstümmeln die armen Vögelchen – da ächzt die Eiche in den Zweigen. ›Was das alte Holz knarrt!‹ lachten die Knaben; ›wär bald gut für den Ofen!‹ – Am schlimmsten aber war die Geschichte mit dem Oberförster.«
»Die will ich erzählen!« rief Otto. »Nein, nein, die Tante!« schrien und baten die Kleinen, »die liebe, liebe Geschichte mit dem Oberförster!«
Und die gute Tante fing an: »Es war also von dem gewaltigen Grafenstamme, dem der Boden eigen, auf welchem die alte Eiche stand, niemand mehr übrig. Da kam ein junger Mensch aus Ungarn in das Land und verdingte sich als Lehrbursche in die Försterei, die zum Gute gehörte, das nun an eine Seitenlinie des Hauses, entfernten Vettern, zugefallen war. Der alte Förster, ein eigensinniger, harter Mann, konnte die neue Herrschaft nicht leiden, darum vernachlässigte er auch alles in seinem Amte, was nicht eben ins Auge fiel, und tat nur das unumgänglich Nötige. Elmrich, der neue Lehrbursche, war flink, tätig, aber leichten Sinnes und tat das Notwendige am letzten; dagegen liebte er das Schöne und Wunderbare im Walde, pflegte und schonte die Blumen am Rain und freute sich der jüngsten Bäumchen, wenn sie nur schlank und frisch waren und anmutig so vom Hauch des Windes hin und her schwankten wie weiße Mädchen. Darum zog er auch die Erlen, Espen und Birken allen andern vor. Auch jagen mochte er gern, schoß aber nur das alte, kluge Wild, gegen das er einen Kampf zu bestehen hatte: am liebsten das wilde Schwein; die jungen Rehe aber fütterte er, zähmte sie leicht und unterhielt sich oft stundenlang mit ihnen. Bei all seinem Frohsinn war er ein Träumer, ging gern den ganzen Tag hindurch von einem Revier zum andern, saß aber dann auch oft stundenlang sinnend und träge am Fuße eines alten Stammes und sah ins Blaue.
Seltsam war es, daß, obschon der junge Bursch, lustig und träumerisch zugleich, oft unfleißig war, doch von dem Augenblicke an, da er in den Dienst kam, der Forst zu wachsen und zu gedeihen begann wie nie zuvor. Es hatten nie so viele Blumen zwischen Moosen und Farrenkräutern geblüht, der Rasen an den Lichtungen war nie so dicht und grün gewesen, die Bäume hatten nie so unbegreiflich schöne Kronen gehabt. Es war ordentlich, als wenn die Sonne wärmer scheine, wo er hintrat, so wunderbar gedieh alles um ihn her. Elmrich achtete nicht darauf. Er war gewohnt, sich dem Augenblick und seiner Forderung kräftig hinzugeben – oder zu träumen und gar nichts zu tun. Aber in seinen Träumen dachte er nicht an den Wald. Er dachte an prächtige Feste in goldblitzenden Schlössern, an schöne Frauen und zahllose Gäste, an Pferde und glänzenden Schmuck, an Sammet und Perlen, aber nicht an die weißen schwankenden Birken, nicht an den grünen Sammet des Rasens, auf dem er lag, nicht an die Tautropfen, die den Primeln wie Perlen in den bunten Blumenöhrchen hingen.
Eines Tages, als er auch so im Gehölze lag und seinen Gedanken sich hingab, fing er an, von einem innern Unmut getrieben, laut zu klagen. ›Warum‹, sprach er, ›bin ich ein Findling? ein Waisenkind, das nicht einmal seine Eltern kennt? Vielleicht ist mein Vater kein armer Landmann, kein Dorfbewohner: er kann reich sein und vornehm – und vielleicht weint er heiße Tränen um seinen ihm entrissenen Sohn. Als mich der Jäger in den Klauen eines Lämmergeiers hoch in den Wolken schweben sah und den bösen Gast, da er eben niederstieß, mit seiner Büchse traf, als der Räuber mit seiner Beute in den Fängen unter den Hirten sterbend niedersank, da jammerten vielleicht meine fernen Eltern um ihr verlorenes Kind, suchten mich und hielten mich endlich für tot – und mein Erbe ging über in andere, fremde Hand, und mein Schild ward zerbrochen, und mein Name verschwand von der Erde. Ist's aber nicht gerade, als lebe alles noch heimlich in mir fort und drängte mich unaufhörlich in die Bahn zurück, die ich unbewußt verlassen? Ach, daß ich ein armer, armer Forstlehrling bin!‹
Indem er so sprach, begann die alte Eiche über seinem Kopfe ganz seltsam zu wogen und zu rauschen; es war fast, als antwortete sie seinen Klagen, ja es schien ihm sogar, als senke sie die Zweige gegen ihn. Sogleich kehrte ihm der leichte, frohe Mut zurück und, sich aufrichtend und in die Höhe schauend, rief er lustig dem Baume zu: ›Nimmst du teil an mir, alter Freund? Ich danke dir, daß du so viel Gefühl für ein armes Menschenkind hegst. Freilich, freilich ist dein grüner Baldachin, den du so schön über mich hinwölbst, noch schöner als ein sammetner und obendrein mit echtem Sonnengold durchwirkt! Darum ist's gar hübsch von dir, du alte Waldperücke, daß du mir's nicht übel nimmst, daß ich an jenen denke, ja, daß du's dennoch immer gleich gut meinst mit mir!‹ Und die gute alte Eiche rauschte und rauschte und rauschte immer gewaltiger. Curios! dachte der Bursch: es weht doch gar kein Wind! Er sah die Eiche immer fester an, da fiel ein Zweiglein ab von ihr, daran saßen drei Blätter, und an der Stelle, wo das Zweiglein abgefallen war, schien es dem Jäger einen Augenblick, als blickten ihn ein Paar braune Augen an; wie er aber genau hinsah, waren es Blätterschatten. Das Zweiglein nahm er auf und steckte es an seinen Hut und sagte lachend: ›Schön Dank, alter Freund! und geb' dir Gott einen sonnigen Tag!‹ und damit ging er wieder an seine Arbeit.
Der Eichenbaum, oder vielmehr der Elfe in der Eiche, war sehr bewegt und betrübt. Er hatte den Lämmergeier persönlich gekannt, von dem der Jäger sprach, und ein Kuckuck, der bei einem Hänfling aus und ein ging, welcher in seinen Zweigen wohnte, hatte ihm erzählt, wie der böse Raubvogel in einem weit entlegenen Dorfe ein Kind seiner schlafenden Wärterin geraubt und daß dies des letzten Grafen erstgebornes Söhnlein gewesen. Der arme Vater kam kinderlos von einer weiten Reise zurück, die er in Ungarn mit seiner Gemahlin gemacht hatte. Im Dorfe war es verboten, viel davon zu reden, und man hoffte auf einen neuen Erben. Aber obschon die schöne Gräfin Sismonde wieder gesegnet ward und auch wirklich noch ein Jünkerlein gebar, so starb doch das arme Knäbchen schon in den ersten Tagen nach seiner Geburt. Der Graf trug aber den Kummer nicht lange, er und seine Gattin starben jung, und das Lehngut kam in andere Hände. Die tückische Undankbarkeit des Lämmergeiers gegen den Grafen, den die gute Eiche gewissermaßen als dessen Brotherrn betrachtete, hatte sie damals tief betrübt und empört. Nun sie aber die Strafe desselben, den schmählichen Tod des Kinderräubers, vernahm und den schönen Grafensohn frisch und gesund in ihrem Schatten liegen sah, dachte sie nur an das gegenwärtige Glück, und all ihr Dichten und Trachten ging darauf aus, ihm wieder zu seines Herrn Vaters Grafenhut und Erbe zu verhelfen. Nebenbei hoffte sie durch diese Vergütung, die Sprache wiederzuerhalten und sich nicht mehr ärgern zu müssen, wenn die Gräser und Blättchen, die ihr zu Füßen wuchsen, sich so heimlich flüsternd lange Geschichten erzählten, so leise, daß es nicht einmal das nächste Veilchen hörte.
Hätte der Elfe nur die Eiche verlassen dürfen, so hätte er seinen Zweck, sich mit dem schlanken Jäger zu verständigen, auch wortlos erreichen können; aber so konnte er ja nicht einmal seine Töchter besuchen, die ringsum in schönen Birken, Erlen und Espen wohnten, und mußte seine Botschaften durch die kleine Finkenpost an sie gelangen lassen.
Unter diesen ernsten Betrachtungen war es Abend geworden, und die Nacht nahm alles in ihren dunkeln Mantel. Da kamen drei versprengte Irrlichter durch den Wald getänzelt, die eine Herberge suchten. Es war leider liederliches Volk, das im Lande herumzog und ordentliche verständige Leute, wenn sie nachts vom Biere kamen, in den Sumpf lockte, weil jeder eins von ihnen für des Gevatters Laterne hielt. Sie traten vor die Eiche hin, machten ihre Reverenz und nahmen oben die Flammenspitze ab, die sie eine artige Weile in der Luft herumflattern ließen, ehe sie sie wieder aufsetzten: das sollte aber höflich sein; alsdann baten sie die Eiche um Nachtquartier.
Obgleich nun die Eiche nicht mehr auf unsere Menschenweise reden durfte, so hatte sie doch eine gewisse Art, sich den Naturgeistern, zu denen auch die drei Irrlichter gehörten, verständlich zu machen. Sie gestattete ihnen, ihr zur Seite an ihrem Fuße zu verweilen, und gab ihnen die gehörige Stärkung, die sie ganz hell und frisch aufleuchten machte; sie erzählte ihnen endlich auch des jungen Elmrichs trauriges Geschick und schenkte ihnen die Zeche mit der Bedingung: daß sie ihrerseits alles versuchen sollten, dem jungen Grafen begreiflich zu machen, wer er sei. Es ist traurig, dachte die Eiche, daß ich mich des guten Zweckes wegen mit all dem Lumpengesindel einlassen muß; mit dem Kuckuck, der auch kein sicherer Mann ist, werde ich ebenfalls noch reden müssen – indessen, ich muß denken, ich gehörte zum Elfenfrauen-Verein.