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In "Anna" präsentiert Adele, die Schwester von Arthur Schopenhauer, eine klassischen Entwicklungsroman rund um ihre gleichnamige Protagonistin.
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Seitenzahl: 455
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Anna
Ein Roman aus der nächsten Vergangenheit
Adele Schopenhauer
Inhalt:
Adele Schopenhauer – Biografie und Bibliografie
Anna
Erster Theil
Vorrede
1806
Zweiter Theil
1822
Anna, A. Schopenhauer
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783849635619
www.jazzybee-verlag.de
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Louise Adele S. war eine Tochter des 1793 von Danzig nach Hamburg verzogenen Kaufmanns Heinrich Floris S. und seiner Gattin Johanna und am 12. Juni 1797 in Hamburg geboren. Im J. 1803 unternahmen ihre Eltern eine große Reise durch Europa, während welcher die Tochter in ihrer Vaterstadt zurückblieb, und erst 1806 trafen alle Glieder der Familie wieder zusammen. Kurz darauf starb der Vater eines plötzlichen Todes, und die Mutter zog nun mit ihren Kindern im September 1806 nach Weimar. Hier wuchs Adele unter der Leitung und Pflege der geistreichen Mutter in gedeihlicher Weise heran, und die Eigentümlichkeit des mütterlichen Hauses, in welchem sich alle Berühmtheiten Weimars allwöchentlich zusammenfanden, gab ihrem Geiste die vorherrschende Richtung auf Wissenschaft und Kunst. In Goethe’s Hause war Adele ein häufiger Gast, und mit der Schwiegertochter des großen Dichterfürsten, Ottilie, verband sie eine dauernde Freundschaft. Leider war ihr Gesundheitszustand kein fester, und Rücksichtnahme darauf veranlasste wohl die Mutter, ein wärmeres Klima aufzusuchen und sich 1828 in Bonn anzusiedeln. Hier schloss sie Freundschaft mit der Dichterin Annette v. Droste-Hülshoff. Im J. 1837 kehrten Mutter und Tochter nach Weimar zurück, wo erstere im folgenden Jahre starb. Adele stand nun zwar verlassen, aber in ihrer geistigen Kraft doch selbständig in der Welt. Ein Akt der Pietät war es, dass sie 1839 den „Nachlass“ ihrer Mutter in zwei Bänden herausgab. In der Folge lebte sie bald hier, bald dort, zu wiederholten Malen in Italien, dessen milde Lüfte ihrem Brustleiden Heilung bringen sollten, am liebsten aber in Bonn, und hier starb sie auch in den Armen ihrer Freundin und Pflegerin, der Frau Sibylle Martens-Schaffhausen, am 25. August 1849. – Adele S. trat erst in ihren letzten Jahren als Schriftstellerin auf. Wir besitzen von ihr „Haus-, Wald- und Feldmärchen“ (1844); „Anna. Ein Roman aus der nächsten Vergangenheit“ (II, 1845); „Eine dänische Geschichte. Roman“ (1847). „Ihr schriftstellerisches Talent war mehr ein verarbeitendes, beschreibendes; die höhere schöpferische Kraft besaß sie nicht.“
Meiner Freundin Ottilie von Goethe geb. Freiin von Pogwisch gewidmet.
Indem ich diese Blätter dem Publikum übergebe, erlaube ich mir die Bitte, sie nicht für eine auf wirkliche Ereignisse basirte Erzählung anzusehen. Stadt, Straße, Umgebung und das nicht mehr vorhandene Haus, in welchem ich selbst meine frühste Kindheit verlebte, Sitten und Ansichten, die man damals in vielen Thüringischen Familien wiederfand, sind dem Erlebten entlehnt; ich wählte diesen Hintergrund, um meinen Schilderungen eine größere Wahrheit zu sichern; aber leider habe ich weder eine Familie von Waldau noch einen Bürgermeister Müller mit den Seinen in dieser Umgebung gefunden. Nur Sophie und Duguet sind, wie ich gern eingestehe, naturgetreue Portraits, auf denen ich sorglich geweilt, die ich zu meiner eigenen Freude in dankbarer Erinnerung ausgeführt; mögen sie im Bilde dieselbe wohlwollende Beurtheilung finden, die diesen trefflichen Menschen im Leben Keiner versagte, der sie kannte.
Wo aber ein blos zufälliges Zusammentreffen Aehnlichkeiten durch die sich vervielfältigenden Wiederholungen gleicher Zustände hervorruft, möge man mich nicht zur Portraitmalerin stempeln, ich verwahre mich dagegen: denn ich fühle, daß ich auch nicht die mindeste Anlage dazu habe und nur eine so bestimmt und scharf sich abzeichnende Persönlichkeit wie die unserer alten Diener mich zu einer Charakteristik wirklich gekannter und mir werther Menschen verlockt hat.
Das Allgemeine gewährt so vielfachen, so reichen Stoff, daß mir das Umbilden zur Einzelnheit zu angenehm und zu leicht scheint, um es gern mit einer Copie täglicher Begegnungen zu vertauschen.
Draußen wüthete der Krieg mit seinem gräßlichen Gefolge: Brand und Plünderung; in den Häusern, in denen die beängsteten Einwohner der Stadt sich vor körperlicher Mishandlung und dem Eindringen der feindlichen Krieger zu bergen suchten, herrschte die Beklommenheit eines noch ganz ungewissen Geschicks. Obgleich des Kaisers Befehl, die Erlaubniß zur Plünderung, seit gestern schon zurückgenommen, waren die entzügelten Soldaten nicht zu bändigen, die Ordnung noch nicht herzustellen möglich gewesen.
Noch blieben Thor und Thüren fest verrammelt, alle Fenster und Läden geschlossen; auf dem Steinpflaster der öden, nur von Soldatenhaufen durchzogenen Gassen mischten sich die Spuren des vergossenen Bluts mit den langen weißen Streifen des aus Uebermuth verstreuten Mehls – und immer noch wirbelten die schwarzen Dampfwolken aus dem großen Schutthaufen empor, zu dem eine Reihe Häuser geworden, die der Feind zuerst beim Eindringen über die Kegelbrücke auf Napoleons Befehl angezündet. Wunderbar genug hatte die Flamme, wie eine Riesenfackel, still und gerade fortgebrannt, ohne weiter um sich zu greifen. Ans Löschen hatte Niemand denken können im entsetzlichen Drange des Augenblicks, auch mochte es anfangs verwehrt worden sein – es wußte kaum Einer vom Andern in der Jeden aus allen Winkeln, einer Hydra gleich anstarrenden Angst!
An einem Erkerfenster der Windischen Gasse standen, furchtsam einander umfassend, zwei kleine Mädchen und sahen zu, wie des Nachbars Hofthor mit Flintenkolben eingeschlagen wurde; da kam die Amme der jüngeren Geschwister und riß die Kinder zurück, dann ließ sie rasch das grüne Rouleau vor den Scheiben nieder.
Aber eben jetzt war drüben das Thor gefallen und aus dem Innern des nachbarlichen Hauses erklang lautes Wehegeschrei. Mit einem Satz war die kleine Anna vom Stuhl am Fenster hinab und auf dem Boden, und ehe noch die Amme Leontinen, die ihr zunächst gestanden, aus den Armen zur Erde entlassen konnte, war jene ihrem Blick und Ruf entschwunden.
Die Amme scheute vor Allem lauten Verdruß; sie wandte sich sogleich zu den andern Kleinen, die ruhig in ihren Bettchen neben einander lagen und schlafen sollten, weil es Nachmittagszeit war – zu Mittag war freilich noch gar nicht gegessen worden.
Der Vater Anna's und der beiden Zwillingsschwesterchen war, als Bürgermeister, noch auf dem Rathhause, wo er sich selber keinen Rath wußte, denn er konnte kein Französisch; die Mutter stand draußen am Herd und sott Kartoffeln. Anna lief an ihr vorüber und durch den Gang, der das Vorder- und Hinterhaus verband; aber die Thüre am Ende desselben fand sie verschlossen. Aengstlich klopfte das Kind mit den kleinen Fäusten, rüttelte gewaltsam am Schloß und schrie aus Leibeskräften: Monsieur! monsieur Capitaine!
St. Luce hatte gehört, ein Zufall ließ ihn gerade in der Nähe sein; allein nun hinderte auch ihn die abgesperrte Thür, und er begann auf seiner Seite eben so laut zu rufen: Madame, Madame! öffnen Sie doch! Geschwind!
Jetzt brachte die vom Lärm geschreckte und aus der Küche hergeeilte Mutter den Schlüssel. St. Luce trat ein; aber eh' noch ein Wort unter ihnen gewechselt werden konnte, hatte Anna die Hand des jungen Offiziers erfaßt und riß ihn, in Thränen, Schmeicheleien und Bitten zugleich ausbrechend, heftig mit sich fort in das Vorderzimmer ans Fenster. Ein Blick genügte. Mit einem Sacre dieu! fuhr St. Luce die Treppe hinab auf die Straße, stieg ebenfalls durch die zerlöcherte Hofthür und trieb nach wenigen Minuten ein halbes Dutzend bärmütziger Kerls mit flachen Säbelhieben desselben Wegs wieder hinaus und vor sich her. Schurken! schrie er, und der Kaiser, der es verboten hat! Unsinnige!
Fluchend zerstreute sich das Gesindel; St. Luce ging wieder in des Bürgermeisters Haus zurück, verrammelte mit Hülfe der Mutter und der Amme die Außenthüre und es ward Alles auf ein Weilchen still.
Endlich ertönten drei leise Schläge an einem unteren Fensterladen und eine wohlbekannte Stimme forderte Einlaß. Es war der Vater, aber mit ihm ein Offizier, ein Regimentsarzt, der Majorsrang hatte, als Einquartierung. Der Bürgermeister hatte ihn sich selbst auf dem Bureau zugetheilt.
Der erschöpfte Mann setzte sich, noch innerlich bebend von all der Angst und der Sorge, in eine Ecke des Wohnzimmers; ihm war zu Muthe, als habe er in seinem eigenen Hause und Besitz kein Recht mehr. Die Mutter führte schüchtern den unwillkommenen Gast in die Putzstube, sah aber noch im Schließen der Thüre, wie der Ermüdete sich auf das gute, nur selten benutzte Sopha warf, und kehrte niedergeschlagen zu ihrem Gatten zurück. Und wir haben nichts für ihn zu essen im Hause, nicht einmal Brot! seufzte sie.
Diable! sagte Monsieur August, der Bediente des Regimentsarztes, ein baumlanger Grenadier. Er hatte die Klage errathen und halb verstanden. Und mein Herr will frühstücken! fuhr er fort.
Frühstücken um ein Uhr Nachmittags? schluchzte die Amme, die das eine französische Wort unterschied.
Gib, was du hast, daß nur Friede bleibt, sagte der geängstete Hausherr. Gib doch nur um Gottes willen! Du hast ja die eine Wurst und backe etwa einen Eierkuchen, nur mache mir den Major nicht verdrießlich! Er ist unsere Sauvegarde und schützt uns vor der Plünderung!
Die Mutter eilte fort. Und wir hatten seit gestern früh nur Kartoffeln, sprach Anna, da kann er auch wol zufrieden sein.
Unterdessen hatte der Major den Grenadier gerufen und fluchend den Befehl, ein Frühstück zu schaffen, wiederholt.
Die Bürgermeisterin nahm nun die sechsjährige kleine Leontine, die ruhig mit ihrer Puppe spielte, auf den Arm. Willst du wol dem Major sagen, Leontinchen, daß wir nichts Besseres im Hause haben, daß die Soldaten schon vorgestern Alles weggenommen?
Sie trug das Kind zum Major; das Dienstmädchen folgte mit Eiern, Wurst und einer sauern Gurke, dem Lieblingsessen der Thüringer. Laut lachend blickte der Major auf die Gruppe. Was will uns denn die Närrin? rief er aus.
Die Mutter brachte zitternd ihre Worte auf Deutsch an, der kleine Dolmetscher auf ihrem Arme wiederholte sie in reinem Französisch.
Schwere Bomben! sagte der Major, noch immer lachend, du fingerlanger Schatz sprichst Französisch?
Weil ma bonne eine Französin ist, erwiderte eifrig das Kind, und ich rathe dir sehr, dich nicht über dein Frühstück zu beklagen, sonst bekommst du Schelte!
Alle Wetter! Und wo ist denn diese saubre Bonne?
Nun, bei der Mama!
Und die Mama?
Drüben im Hinterhause, wo wir wohnen.
Und nun sehe mir einer den Dummkopf von Bürgermeister, der uns hier einquartiert!
Die Magd und die Hausfrau hatten indessen das spärliche Mahl auf den Tisch gestellt, Anna trat mit den Kartoffeln hinzu. Ich spreche auch Französisch, sagte sie, aber nur ein bischen. Der Offizier sah auf. Ich bitte sehr um Verzeihung! fuhr Anna mit unbeschreiblicher Anmuth fort, indem sie die Kartoffeln vor ihn hinstellte und mit der andern Hand eine kleine einladende Bewegung machte.
Kreuz Donnerwetter! August! sieh mir einmal nach, was all dies Geträtsch eigentlich soll?
Und August machte Kehrt, ward aber von Niemand zurechtgewiesen und brachte also nach zwei Minuten einen zitternden Beutlergesellen, der im Waschhause, hinter den Waschgefäßen versteckt gelegen, und mit ihm ein hübsches in Thränen zerfließendes Dienstmädchen, die er auch unten gefunden.
Ist das deine Mama? lachte der Major Leontine an.
Aber das war zu viel für Anna's Herz. Sag ihm doch, Leontine, bat sie, daß deine Mama eine fremde Dame ist, und daß ihr im Hinterhause nach der Esplanade zu wohnt, und sag ihm, daß dies nur eure Marie ist, und daß meine Mutter dich geholt hat, weil du Französisch sprichst.
Leontine that ihr Bestes. Ah! Deine Mutter ist eine vornehme Dame! und der da? fuhr der Major fort, indem er auf den Beutler zeigte.
Ei, das ist ja unser Liebhaber! erwiderte Leontine ganz ernsthaft.
Nun aber war es um des Herrn wie um des Dieners Fassung geschehen. Beide brachen in ein homerisch-unauslöschliches Gelächter aus. Eine Flut von Witzen und Zweideutigkeiten überschüttete den armen Beutlergesellen mit einer Verlegenheit, die ihm helle Schweißperlen ins Gesicht trieb und um so peinlicher war, da weder er noch die übrigen Anwesenden ein Wort von dem Allen verstanden. Nur die beiden Kinder belustigte die Scene und Anna lachte herzhaft mit.
Unterdessen hatte der Major gegessen und eine mitgebrachte Flasche Wein geleert; der gute Humor prädominirte. Rasch sprang er auf, nahm Leontine auf den Arm, gab dem Beutlergesellen einen Tritt in den Rücken und trieb ihn vor sich her zur Thür hinaus.
Komm, mein Liebchen, wir wollen deine Mutter besuchen!
In tödtlicher Angst folgte die Hausfrau mit Annen an der Hand. Auch die Annemarie wollte ihren Schatz nicht aus den Augen verlieren.
Man hatte, wie schon erwähnt, der Ordnung halber den Gang gesperrt, der oben die beiden Wohnungen verband; ungern wollte die Bürgermeisterin ihn anzeigen, dennoch konnte sie dem Fremden das Kind um so weniger allein überlassen, als es ihr anvertraut war. Mit bittenden sanften Vorstellungen suchte sie den Offizier, der sie nicht im mindesten beachtete, von seinem Vorhaben abzubringen; umsonst, und so gelangte die ganze Karavane auf die Hausflur, die zwar in Verbindung mit dem Gange stand, aber auch eine Treppe hatte, die, abgesondert von demselben, in den Hof führte.
Hier wohnt Wilhelm, sagte im Vorüberkommen Leontine. Sogleich machte der Major Anstalt, in die verschlossene Stube zu dringen. Der Liebhaber warf sich in Todesangst dem Helden zu Füßen und flehte um Schonung.
Imbécille! brüllte der Franzose, indem er ihm einen zweiten Fußtritt gab.
Monsieur August hatte dem Flehenden längst einen großen Stubenschlüssel aus der Tasche gezogen, mit dem er ganz gelassen das Zimmer öffnete. Außer dem Bett und Handwerkszeuge des armen Burschen, war nichts in der Kammer zu sehen, und nun wurde der in seinen Erwartungen getäuschte Major alles Ernstes böse, weil er sich genarrt glaubte; daß der arme Beutler sein Bischen Geld unter den Wurzeln eines abgeblühten Nelkenstockes verborgen, der im Winkel stand, fiel ihm eben so wenig ein wie Allen, die vor ihm da gewesen.
Unter vielen, von allen Seiten unverstandenen Reden rückte indessen der kleine Haufe, der jetzt muthig voraneilenden Leontine nach, durch Hof und Schuppen, eine andere Treppe hinan, und plötzlich standen Alle in dem von Frau von Waldau bewohnten Hinterhause, in einer Küche und vor einer appetitlichen dicken Französin von etwa sechs und dreißig Jahren, die mit Hilfe einer Magd Tassen und Gläser aufwusch.
Oho! sagte Madame Sophie, da bekomme ich ja viele Zuschauer beim Gläserspülen.
Ist das deine Mutter? fragte der Major.
Das ist ma bonne Sophie! jubelte Leontine ihr in die Arme laufend.
Mein Herr, Madame nimmt jetzt keinen Besuch an, sagte ganz trocken Madame Sophie.
Das wollen wir einmal sehen! donnerte der Major.
Sophie erschrak doch ein wenig; sie versicherte, sie wolle nachfragen, ob Madame zu sprechen sei – da öffnete sich eine gegenüberstehende Thüre.
Frau von Waldau! rief die Bürgermeisterin. Ach, es ist nicht meine Schuld, gnädige Frau!
Frau von Waldau trat den Eindringenden ruhig entgegen. Es war eine stattliche gelassene Erscheinung, nicht schön, nicht häßlich, mit der sichern und vornehmen Würde der Haltung, die man bei unserer weiblichen Aristokratie oft findet und die meistens sogar der Zügellosigkeit imponirt. Rasch hatte sie sich mit der Bürgermeisterin verständigt, und ehe noch der Major das Zudringliche seines Eintritts irgend bevorworten konnte, war diesem St. Luce aus einer offenen Nebenthüre entgegengekommen, hatte seine Hand ergriffen und ihn in aller Form der Frau Baronin von Waldau vorgestellt.
Die Scene auf dem Verbindungsgange, die Gewalt, mit welcher er sein Erscheinen hier erzwungen, Alles wurde durch das besonnene Betragen jener Beiden so gänzlich ausgelöscht, daß der Major selbst kaum sich dessen zu erinnern vermochte. Frau von Waldau versicherte sehr höflich, er sei ihr willkommen; und da in der jetzt Alles umwogenden Unruhe ein friedliches Asyl mehr denn je als Bedürfniß erscheine, so habe sie gesucht, ein solches in ihren Zimmern sich zu bewahren, wobei ihr die Galanterie und Ritterlichkeit seiner Landsleute zu Hilfe gekommen. Wenn es erst gelungen sein würde, die tobenden Massen noch in etwas mehr zu beschwichtigen, hoffe sie ihn bei längerem Verweilen auch bei sich in ihren kleinen Abendcirkeln zu sehen; für den Augenblick sei freilich noch Alles zu aufgeregt.
Der Major stotterte einige unbehülfliche Phrasen und begann Leontinens Liebenswürdigkeit zu preisen, was ihn glücklich in Zug und zu Erwähnung des Liebhabers brachte, der eigentlich sein Kommen veranlaßt haben sollte.
Die gnädige Frau lächelte, erklärte in zwei Worten, wie die Liebschaft des geängsteten Beutlergesellen zu einer ihrer Mägde diesem den Spitznamen verschafft habe; und ehe noch der Major es selbst wußte, hatten er und St. Luce sich beurlaubt und dieser ihn in sein Quartier zurückbegleitet.
Und nun, lieber Major, bitte ich Sie, der Baronin, die unter den ganz besondern Schutz des Prinzen Murat gestellt ist, im Nothfall jeden Beistand angedeihen zu lassen, wenn ich selbst meinem Regiment folgen muß, sagte St. Luce, sich anmuthig verbeugend; es scheint daß diese Dame in großem Ansehen steht!
Daß er selbst mit unsäglicher Mühe und Aufopferung Frau von Waldau den erwähnten Schutz und eine Sauvegarde verschafft, davon sagte er kein Wort.
Der Major biß sich in die Lippen und murmelte blos: Ich werde dir's gedenken, mein Bester!
Die nächsten Tage führten eine Art Stille herbei, die, wie ein trübes Wasser, ihre Tücke barg. Die Plünderer schienen zur Disciplin zurückgekehrt, auf den Straßen war Alles ruhig; nur geordnete Regimenter durchzogen sie und glänzende Offiziere des nun angelangten Generalstabes sah man auf- und niederreiten. In den Häusern aber blieb die rohe Gewalt noch eben so entfesselt, als sie früher es gewesen; einzelne Mishandlungen fanden immer noch statt, nur war der Unfug minder merkbar. In diesen einzelnen Fällen aber zeigten sich Kenntniß der Sprache und billiges Gewähren gleich unwirksam, da die jetzigen Forderungen nicht durch das Bedürfniß des Augenblicks, sondern nur durch Frechheit und Uebermuth erzeugt sein konnten.
Leontine war nicht wieder zu Bürgermeister Müllers hinübergekommen. Frau von Waldau ängsteten die rüden Späße und Liebkosungen des Majors, und Madame Sophie, die sich selbst mit vollem Recht Servante-maitresse im Hause titulirte, hatte schon gestern ihre Meinung gesagt, folglich blieb Leontine zu Hause, und Müllers mußten ohne Dolmetscher sich behelfen.
Anna war den ganzen Tag betrübt gewesen, am Morgen war St. Luce auf seinem schönen Schimmel fortgeritten mit seinem Regiment. Nun fiel ihr mit einem Male ein, daß er ein Franzose sei und also nach ihres Vaters Ausspruch zu den bösen Leuten gehöre, die das ganze Land unglücklich machten. Es war ihr unbegreiflich, daß er, so gut und schön, irgend Jemand unglücklich machen sollte; und sie wäre gern zu Waldaus hinübergegangen, um Leontinen zu fragen, die Mutter hatte ihr aber die Kleinen zu hüten gegeben, weil die Amme Kinderzeug wusch. Der Vater war wieder auf dem Einquartierungsbureau. Anna erzählte den Geschwistern, als sie nebenan den Major sehr lustig lachen und singen hörte. Leise schlich sie hinzu – die Thür war blos angelehnt – noch leiser schob die kleine Hand sie zurück.
Aber, Monsieur Major! was machst du denn mit der Mutter Shawl? und die Kette! und die weißen Spitzen – Mutter! Mutter! brach das arme Kind in lautes Weinen aus.
Die Mutter kam und blieb versteinert an der Schwelle stehen. Der Major ließ sich nichts anfechten. Das wird meiner kleinen Freundin Spaß machen! sagte er; und die Herrlichkeiten verschwanden in seinen Mantelsack.
Die arme Bürgermeisterin nahm ihr schluchzendes Kind in die Arme und beschwichtigte es mit Küssen; sie konnte nicht reden – kaum ein Seufzer entglitt den zitternden Lippen; es war ihr zu Muth, als sei sie nirgend mehr sicher in der Welt. Anna aber riß sich los: Böser Major, rief sie französisch aus, das gehört meiner Mutter! und streckte die Hand nach den verlornen Schätzen aus.
Ah, kleiner Naseweis! Was geht's dich an? schrie ihr der Major entgegen. Dich soll ja – – Eh noch die zagende Mutter das Kind an sich zu reißen vermochte, hatte es Monsieur August auf den Arm genommen und tänzelte mit ihm zur Thüre hinaus.
Nun, nun, mein Herzchen, stille! ich gebe dir etwas anderes. Da! sagte er, indem er sie niedersetzte und von einer Schnur, die er um den Hals trug, eine goldne Berlocke löste, die er ihr gab. Bah! nimm sie nur! Sie ist mit vollem Rechte mein! Der sie getragen, liegt auf dem Felde der Ehren! Nimm, nimm! und zur Mutter gewendet, fuhr er plötzlich ganz leise fort: Ah! nix sag, Madame! Monsieur le Major bös! bös! dazu machte er eine erklärende sprudelnd heftige Bewegung und war fort, ehe noch die Räthin vom Schreck sich erholte.
Mutter und Kind weinten. Anna hielt die Berlocke an's Licht. Mutter, Mutter! ob er die auch andern Leuten genommen hat? und die Kleine wollte hinaus, sie ihm wiederzugeben, aber Monsieur August war nirgends zu finden.
Als am Abend der Vater heim kam und die Mutter ihm den Unfall klagte, war auch der Major über alle Berge.
Anna hatte die Berlocke behalten; es war ein zierliches Posthörnchen von Gold, eine der damaligen Modespielereien, die man häufig an der Uhr trug; sie hatte fest beschlossen, sie Monsieur August zurückzugeben, wenn er wiederkäme, und sie deshalb an einem Bändchen um den Hals gehängt. Das Kind konnte sich gar nicht denken, daß man auf immer fortgehen, immer fortbleiben könne; sie hatte nie an Reisen oder Abschied gedacht.
Leontine war viel weniger entwickelt, als ihre kleine Freundin; die äußern Erlebnisse zogen noch wie Guckkastenbilder an ihrer Seele vorüber. Sie erzählte, daß jetzt alle Abende eine Menge Offiziere zur Mama, Thee zu trinken, kämen, und daß Madame Sophie ihn im Gesellschaftszimmer bereiten müsse. Und die alte Fräulein Wallstädt von oben kommt auch, schloß sie.
Aber wo ist denn dein Vater? fragte Anna.
Der sitzt noch im Dachstübchen, er kommt nicht und Mama hat mir streng verboten, von ihm zu reden.
Und Duguet?
O, Duguet soll sich gar nicht sehen lassen, versicherte die Kleine. Sophie hat gesagt, die Franzosen würden ihr ihn gleich wegnehmen, wenn sie ihn fänden, weil er auch ein Franzose sei.
Kurios, sagte Anna, daran habe ich noch nie gedacht!
So? fuhr Leontine altklug fort; sie sagt, er müßte dann Soldat beim Kaiser werden, und dann hätte sie keinen Mann mehr!
Lieber Waldau, ich bin's, sagte flüsternd eine weiche Stimme und ein leiser Finger klopfte an die Thür des Dachstübchens.
Wie lange, liebes Kind, willst du mich eigentlich hier gefangen halten? sagte Waldau, der Eintretenden herzlich die Hand bietend. Mich dünken die Gefahren dort unten für dich weit größer, als die mich bedrohenden.
Nicht im mindesten, erwiderte sie lachend, es sei denn, daß du für mein Herz fürchtest; denn allerdings muß ich, inmitten all der Angst und Unruhe, die liebenswürdige Wirthin machen und alle Abend fünf bis sechs Offiziere bei mir sehen, die mir unsre Einquartierung zuschleppt, und sehr schöne Leute obendrein!
O Josephine! seufzte Waldau, die Hand über die Augen legend, welch eine furchtbare Zeit! Dich unter den Feinden, den rohen Scherzen den Bravaden dieser Schergen unsers Vaterlandes ausgesetzt – und mich hier, im Dachkämmerchen, versteckt, wie einen Feigling, wie einen Hospitalkranken, Aussätzigen oder Narren!
Und bist du etwa nicht krank, Waldau?
O ja, an meinen sechsundsechzig Jahren und den tausend Erfahrungen, die sie mir aufgewälzt! – Aber hast du denn nun ordentlich warm zu Mittag gegessen, Kind?
Und ein wenig närrisch bist du auch, lieber Freund, fuhr sie, die Frage überhörend, fort. Deine Koblenzer Thorheit, die jugendliche Excentricität, die dich antrieb, dich als Beschützer der Emigranten auszusprechen, hat wie die meisten Kinderkrankheiten späte und böse Folgen hinterlassen.
Josephine! ich war damals ein Mann! Als ich nach Paris kam – doch, unterbrach er sich selbst, lassen wir das!
Wenn die gute alte Wallstädt, die ich, als einzige Dame meines Bereichs, nicht missen kann, mich nur nicht den ganzen Tag von dem unterhalten möchte, was die Soldaten bei ihr geplündert haben! – Die Langeweile ist auch keine kleine Qual, sagte, ablenkend, Josephine.
Ist ihr denn so viel weggekommen? fragte Waldau.
Keine Stecknadel! In unserm Hause ist gar nicht geplündert worden, und nur theilweise drüben bei Bürgermeisters, wo unter andern der saubre Major, den mir St. Luce noch zu guterletzt präsentirte, eine Kommode ausgeräumt hat. Glaube mir, Sophiens Kochen und Backen während der Schlacht, die Vorräthe, die wir aufgekauft hatten, und der überraschende Empfang, der den Plünderern ward, haben Wunder gethan. Nach einem Tage voll Blut und Kampf einen für sie gedeckten Tisch finden, das ist eine Verlockung, der es wahrhaftig schwer ist, bösen Willen entgegenzusetzen. Diese Frau ist unser guter Engel.
Aber du? du hattest bis gestern nur Kartoffeln?
Bewahre, lieber Freund, ich hatte auch eine Tafel Chokolade zum Nachtisch. –
Und heute? – fuhr er fort, in zärtlicher Bewunderung ihres heitern Muthes ihre Hände an sein Herz drückend – und heute?
Nun, heute mußt du Sophien fragen; du weißt, daß ich mich nicht um die Details der Wirthschaft bekümmern darf!
Ich habe aber gestern von Duguet gehört, daß sogar für unsre Herzogin –
Uebertreibung! Die Menge, denen die edle Frau den Schutz ihrer fürstlichen Nähe gewährte, hatte vielleicht die Vorräthe aufgezehrt; die Franzosen hatten die Bäckerläden geplündert und zerstört, die vorräthigen Mehlsäcke auf den Gassen ausgeleert – wo sollten die Leute sogleich das Brot hernehmen, oder den Muth, es zu backen? Bei uns hat man am ersten Tage für sie nach einer Flasche alten Wein gefragt; schade daß ihn die Kerls schon allen ausgesoffen!
Josephine! den ganzen Keller?
Oui, mon ami! Bis auf ein Fäßchen Malvasier und weißen Burgunder, den Sophie irgendwo, in ihrer Tasche glaube ich, versteckt hat.
Fünf hundert Flaschen!
Haben uns gerettet, Waldau! Das sind Nebendinge. Als ich dich glücklich überredet hatte, in dies Dachstübchen zu ziehen, da war alles gut! Nur einen Augenblick, als die Kanonenkugeln wie Scheeren die Bäume unter unsern Fenstern beschnitten und die Zweige gegen die Scheiben anschlugen, war mir bange!
Armes Kind! sagte Waldau bewegt, hätte ich dich nicht in mein Leben gerissen!
So würde ich auf andre Weise gelitten haben! Lieber Freund, wer darf in unsrer Zeit auf ruhige Tage hoffen? Daß du durch frühere Begünstigung der Emigrationen, durch deine Freundschaft mit Turgot und Chateaubriand die Augen auf dich gezogen, ist halb vergessen; das Schlimmste, glaube mir, sind deine Artikel im Tartarus. Indessen geht Mancher, dem das Herz ängstlich schlug, jetzt sorgenlos umher und spielt den Vermittler zwischen den Feinden und den der Sprache nicht mächtigen Stadtbehörden. Warum sollten wir mehr zu fürchten haben als sie?
Weil ich nicht so handeln werde.
Thut nichts, dafür hast du eine gar gescheite Frau! Habe nur noch ein klein wenig Geduld, ich habe dir bei allen Bekannten ein wunderschönes Podagra angelogen!
Und die Offiziere?
Halten mich für eine reiche Witwe. Sophie benimmt sich vortrefflich, sie ist abwechselnd die Hausfrau, wenn Gemeine kommen und Duguet gerufen wird, oder meine Gesellschafterin, meine Haushälterin, ich glaube sogar meine Duegna. Sie singt mit ihren Landsleuten Nationallieder in lüttich'schem Dialekt, die Gott verstehen mag.
Es klopfte wieder leise und Madame Sophie erschien mit der Hälfte eines gekochten Huhns, hinter ihr die beiden Kinder.
Eh! Sophie, wo hast du das her? riefen wie aus einem Munde beide Gatten.
Dame! erwiderte Sophie, mit großer Gewandtheit den Tisch mit Silber deckend, man ist nicht umsonst eine Lütticherin. Man hat seinen Landsmann.
Siehst du! sagte lachend Frau von Waldau, so macht sie es den ganzen Tag. Die gute Seele ist eine wahre Perle in dieser Zeit.
Ich glaube, sie fühlt sich im gewohnten Element, sie die Revolution erzeugte.
Die Kinder unterbrechen das Gespräch. Mitten in Kriegesnoth und allgemeiner Sorge breiteten Bildung und Anmuth eine Art Friedensasyl um die Leidenden. Aber auch das angenehme angewöhnte Gefühl der Wohlhabenheit hatte Theil an der Gestalt des Augenblicks.
Daheim traf die von Waldaus rückkehrende Anna die Mutter oft in Thränen. Seit dem Eindringen der feindlichen Truppen wollte das Wirthschaftgeld nirgend mehr zureichen. Manches war, in den ersten Tagen der Drangsale vernachlässigt, weggekommen, durch die Plünderer fortgeschleppt; nun zeigten sich von allen Seiten Bedürfnisse, es mußte Vieles neu angeschafft werden; alle Ausgaben hatten sich vergrößert und das Einkommen sich nirgend gemehrt.
Der Bürgermeister war ein ängstlicher Mann, rechtlich in hohem Grade, dagegen um den Pfennig handelnd und sorgend. Die Mutter war dadurch gewohnt, das Geld zu manchem kleinen Putz- oder Kleidungsstück von ihrem Wirthschaftsümmchen abzusparen, jetzt mußte es einzeln dem Vater für alles Fehlende abgefordert werden; es ward ihr ungern, oft mit Vorwürfen gegeben. Anna war erst acht Jahre alt, aber sie fühlte mit der Mutter; – und wenn sie eben drüben gewesen war bei Waldaus, fühlte sie es noch tiefer. Wenn ich groß bin, will ich reich sein! sagte sie.
Aber es hatte nicht den Anschein, als ob Anna das Talent des Reichseins oder Reichbleibens vom Himmel erhalten; kaum bekam sie irgend ein Stück Kuchen, ein Spielzeug, was es auch sein mochte, so trug sie es hinüber zu Leontinen. Nie fiel ihr ein, daß sie irgend etwas besitzen könne, das nicht eigentlich jener angehörte, und mit stillem Entzücken weidete sie sich an der Freude, die sie der kleinen Freundin bereitete.
Man sagt den glücklichen Stunden nach, daß sie Flügel haben; mir scheinen die unglücklichen in noch rascherem Flug zu entschwinden, nur ist eben ihr Vorüberziehen ein unmerklicheres, es gleicht dem lautlosen Schweben des Nachtvogels oder der Fledermaus, deren Bewegung man nicht hört. Jahre des Elends, die im Entstehen unerträglich schienen, liegen plötzlich in langer Reihe hinter uns. – Hast du das wirklich ertragen? fragt rückschauend das vor der eignen Leidensfähigkeit zusammenschreckende Herz – all das Entsetzliche erduldet – all die Schmach überdauert? Und vor Allem fragt so der Deutsche, der vor und nach dem Handeln so viel, ach, oft so nutzlos spricht! – aber im Augenblick des Leidens stille hält und Unermeßliches sich aufbürden läßt, eben weil er die Kraft des Ertragens und Hebens an sich kennt, und so erging es in jener kummervollen Zeit dem Einzelnen wie den Nationen. Es reihten Tage sich an Tage, sie wurden Monde, wurden Jahre der Erniedrigung, bis wir das Joch, das uns zu erdrücken schien, zu dem Ziele hinzutragen gelernt, das uns mit dem Bewußtsein unzerstörbarer Stärke den Vollgewinn der Freiheit wiedergeben sollte.
Nach und nach hatte man die Offiziere mit der Anwesenheit eines kranken Gemahls der Frau vom Hause bekannt werden lassen; als endlich Waldau unter sie trat, waren sie längst an ihn gewöhnt, hatten von ihren Vorgängern ihn erwähnen hören; Niemand spürte bei seinem Erscheinen seiner Vergangenheit nach, der Feuerbrände des Tartarus ward in jener kaleidoskopartig die Gegenwart stets umgestaltenden Zeit kaum mehr gedacht. Man erzählte, daß der Kaiser bei Waldau's Namennennung gefragt: Est-il auteur? aber die ihn zunächst Umgebenden gehörten insgesammt zu den immer brillanter werdenden Abendzirkeln des Waldauschen Hauses; ihnen war der Herr desselben so unschuldig, unbedeutend erschienen, daß die Antwort, verneinend oder ausbeugend, den Fall unerörtert ließ.
Und wer hätte denn auch in diesem schweigsamen, fast theilnahmlosen Mann den kaum vor wenig Jahren erst einer glänzenden Laufbahn entrückten Staatsmann und Politiker zu erkennen vermocht?
Waldau zeigte sich mit einem Male gänzlich umgewandelt: denn er war zurückgetreten in lautlose Stille und ließ das unselige Geschick seines Vaterlandes an sich vorüberziehen, wie einen verheerenden Lavastrom, ohne irgend ein äußeres Zeichen des Schmerzes. Er hatte sogar Stunden, in denen das ihm eigne große Combinationsvermögen ihn schon damals zu der festen Ueberzeugung trieb, daß nur ein allgemeines, grenzenloses Elend sein Volk allmälig wieder zu einem siegverheißenden Widerstande kräftigen werde. Waldau war ein gelehrter, tiefer Denker; der Glanz, der damals Preußens Jugend, besonders aber das Militair, bis zum Uebermuth gesteigert hatte, mußte seinen strengen Blick ungeblendet lassen. Jahre lang hatte er die bunten Erscheinungen seiner Zeit, wie eine rückwärts spiegelnde Fata Morgana betrachtet, die das Untere zu oberst kehrt. Noch vor kurzem hatte er es versucht, seine Stimme warnend zu erheben, jetzt war er verstummt; in dem ihm aller Wahrscheinlichkeit nach eng zugemessenen Kreis der Tage konnte er nun nichts Großes zu erleben erwarten!
Josephine hatte ihren Gatten sehr lieb; sie hatte den viel älteren Mann aus Enthusiasmus geheirathet. Wenn man jetzt die anmuthig gelassene Erscheinung in der Färbung sah, die ihr mannichfaches Erfahren, Zeitenwechsel und ganz aristokratische Gewöhnungen gegeben, konnte man sich gerade in ihr keine solche Aufregung möglich denken. Auch war sie deren nur noch im tiefsten Herzen fähig, und diese sehr seltenen inneren Erschütterungen der Seele nahmen immer eine so bestimmte äußere Form des Handelns an, daß man kaum umhin konnte, sie für Früchte einer großen Besonnenheit zu halten. Und eine solche Frucht der ihr ganzes Wesen durchzitternden Angst um Waldau war die Art und Weise, mit der die noch an der Jugendgrenze stehende Frau es möglich machte, sich dem allgemein lastenden Druck zu entziehen und um sich und ihren Gatten eine Gesellschaftsoase zu bilden, die ihm äußere Sicherheit und das geistige Lebenselement bot, von dem die Erhaltung körper- und gemüthskranker Menschen weit öfterer abhängt, als wir es uns eingestehen mögen.
Umsonst umgibt uns der weite Wesenkreis der auf unsere Geistesfragen ringsum antwortenden Natur mit analogen äußern, die inneren Erscheinungen unsers Lebens rückspiegelnden Erfahrungen; wir beachten sie nicht. Die Lösung so mancher quälenden Verworrenheit liegt in Riesenhieroglyphenschrift um uns her gebreitet; aber wir wenden unser Auge ab.
Der Cappflanze geben wir mit stets erneuter Fürsorge die ihr zusagende Erde; wir stellen sogar die Gewächse zu einander, deren Odem eine verwandte Atmosphäre um sie her bildet, ängstlich entfernen wir die fremdartigen, denen vielleicht gerade diese Ausströmung gefährlich werden könnte – nur den Menschen, die edelste Blüte der Schöpfung, stoßen wir kalt in eine ihn erdrückende, seinen besten Eigenschaften fremde Umgebung! Wir knicken die zarten Keime seines angebornen Empfindens und dann fodern wir eine Entwickelung von ihm, die kaum das günstigste Verhältniß zu sichern vermocht hätte.
Zum Glück gibt es Frauen, die allenthalben instinctmäßig das Amt der Pflegerinnen übernehmen. Wie man zuweilen Kinder eine Blume an die Lippen drücken und gleich darauf ein runzliches, altes Muhmengesicht mit gleicher Inbrunst herzen sieht, als leuchte dem frischen jungen Blick das Göttliche durch jede Hülle zu; eben so unbewußt verleihen jene edeln weiblichen Naturen der schwankenden Ranke den Stab, dem wankenden Schritt den Arm, dem zagenden wie dem erstarrenden Herzen die Umgebung, deren es zum Genesen bedarf!
Und eine solche geborene Soeur grise alles Lebens war Josephine.
Waldau hätte ohne sie das Dasein nicht zu ertragen vermocht. Sie wußte ihn von einem Tage zum andern hinzuhalten und durch stete Theilnahme und stets erneutes Interesse zu hindern, daß ihn diese Mitteltemperatur der Existenz, die so plötzliche Unthätigkeit, nicht vernichte.
Was damals Weimar an ungewöhnlich begabten Männern und anmuthigen Frauen in sich schloß, das verstand Josephine um sich und Waldau herzuziehen, das Störende suchte sie mehr und mehr zu entfernen, und ihr Haus ward bald mitten im Drang der drückenden Zeitumstände zum Sammelplatz aller wissenschaftlich Gebildeten und Künstler.
Fast möchte es unserer objectiven Zeit unmöglich scheinen, die jenen gewaltsamen Kriegsmomenten vorangegangnen stillen Jahre sich zu vergegenwärtigen. Fabelhaft klingt es, wenn die ergrauten Denker und Gelehrten jener Tage uns von der Abgeschlossenheit ihres damaligen geistigen Schaffens erzählen, unglaublich die Versicherung: daß in Jena selbst, am Vorabende der entscheidenden Schlacht, jeder von ihnen nur mit seinem wissenschaftlichen Zwecke beschäftigt, den Riesenschritt des Geschicks erst am Kanonendonner erkannte.
Und doch war dem so, und doch wurde eben durch diese Begrenzung so Vollständiges geleistet und sogar die Schöpfung einer Volksbildung durch eine bloße Theaterbühne möglich.
Von dieser jetzt untergegangenen Subjectivität, die so ganz verschieden von der unsern, nur in ihrer eignen Thätigkeit sich spiegelte, gab es in Josephinens Umgebung gar manche Beispiele. Was kümmerte diese die Politik! Freudig kehrten alle die von Außen ungern gestörten Naturen in das durch sie ihnen gebotene Lebenselement zurück. Ihre geselligen Kreise wurden bald land-, ja weltberühmt; im Grunde dachte sie nur daran, ihren Gatten zu erheitern, unbewußt aber fühlte sie selbst sich hingerissen, gefiel gern, lernte gern im lebendigen Geistesverkehr und ward bald zum Mittelpunkt desselben, denn sie verstand mit unnachahmlicher Grazie zuzuhören.
Auch Anna war jetzt viel bei Waldaus. Die kleine Leontine hatte eine Menge Lehrer, es fehlte ihr aber noch an Stätigkeit. Anna's Eltern schickten diese in eine öffentliche Mädchenschule, in der sie nichts lernen konnte, weil nichts in derselben gründlich gelehrt ward. Die Eltern kümmerte das wenig, schrieb doch die Mutter selbst nicht orthographisch. Auch waren die Brüder, die früher bei einem Verwandten, einem Landpfarrer, in Pension gewesen, nun heimgekehrt. Der Bürgermeister fand, daß deren Erziehung ihm täglich mehr kostete, und wandte um so weniger an Anna's Unterricht.
Die Buben aber waren wild und ungezogen; war der Vater im Rath, konnte die Mutter nicht mit ihnen fertig werden; und die Amme, die zur Wartung der Kleinen im Hause geblieben, machte ihr viel böse Stunden durch tägliches Anklagen derselben.
All diesen Uebelständen gründlich abzuhelfen, nahm endlich der Bürgermeister einen Gymnasiasten in's Haus, der den Knaben das nöthige Latein einbläuen sollte. Anna, meinte er, könne beim Repetiren der Weltgeschichte und Geographie gegenwärtig sein und die Krümchen der brüderlichen Gelehrsamkeit auflesen.
Es versteht sich, daß der achtzehnjährige Primaner die Buben ebenso wenig in Ordnung zu halten im Stande war als die Bürgermeisterin; höchstens vergaß er bei ihnen sein eignes Latein.
Der armen Anna ging es durch Mark und Bein, wenn Herr Schmied in seiner Verzweiflung die Jungen beim Papa verklagte und dieser sie mit väterlicher Hand fürchterlich durchprügelte; noch mehr widerte es sie an, wenn der Schüler mit so einer Execution den Knaben drohte und andere Male Versteckens oder Blindekuh mit ihnen spielte, zuweilen sogar zu seltsamen Bestellungen sie benutzte. Anna fühlte ein dunkles Unrecht, einen Schmerz in dem Allen und nahm mit doppelter Freude die Erlaubniß an, Leontinens Unterricht mit dieser zu theilen.
Aber wenn es nun nach langer Woche endlich Sonntag war und die Magd die Stube mit feinem Sand bestreut hatte, wenn die mit rothem Kattun bezogenen eichenen Meubles im Sonnenschein glänzten, Mutter und Kinder geputzt zur Kirche gingen, o dann war Anna weit lieber zu Hause, denn drüben merkte man ja den Sonntag gar nicht!
Sie freute sich an Allem, am Sonntagsbraten, am Tröpfchen Wein, das die Geschwister bekamen, an den frisch gefüllten Blumenvasen und vor Allem an der Mutter; denn an diesem Tage zog die Bürgermeisterin einen weißen, garnirten Rock an und ein Negligéejäckchen mit rosa Bandschleifen; und dann kam ihr alter Verehrer und Hausfreund, der Präsident Ballheim und machte ihr eine Morgenvisite.
Und das Alles war so feierlich und schlug wie eine Wünschelruthe aus Anna's poetischer Seele tausend Quellen des Glücks hervor!
Wer in jenen Tagen Thüringen und Weimar gekannt hat, muß sich erinnern, daß die jetzt so oft an einzeln uns erhaltenen Beispielen bewunderte Einfachheit der häuslichen Einrichtungen damals ganz allgemein war und der Luxus unser Ländchen weit später berührt hat. Dennoch waren die Stände durch Umgang und äußere Lebensbedingungen geschieden, das Waldau'sche Haus hielt die Mitte zwischen Hof-, Bürger- und Künstlerwelt.
Waldaus waren Fremde; sie hatten großstädtische Sitten, in ihrem Hause geschahen eine Menge Dinge, die »Bürgermeisters« für unpassend erklärt haben würden, wären sie je in diese Zirkel gekommen; das aber fiel beiden Familien auch nicht im Traume ein.
Josephine hatte eine Ahnung von Anna's Charakter; allein die tausend Nadelstiche des so früh gestörten Lebens konnte sie nicht gewahren, weil sie deren Häuslichkeit nicht kannte.
Wenn die Bürgermeisterin ohne Vorwissen ihres Mannes Kartoffeln oder Aepfel aus dem Garten verkaufte und sich von deren Erlös ein Tuch, eine Haube anschaffte, ahnete Niemand, daß Anna der Vergleich der Art und Weise, wie Waldau und seine Gattin lebten, so schmerzlich ins Herz schnitt, und doch, wenn ein ander Mal das Kind von seinem Bettchen aus die Mutter in tiefer Nacht, bei einem einzigen Licht, an der Christbescheerung für die Kleinen heimlich arbeiten sah, wenn es die tausend Ersparungen und Berechnungen bemerkte, durch welche die theure Frau den Geschwistern ein Spielzeug mehr auf den Weihnachtstisch legen konnte, dann fühlte es sich wieder tausendmal glücklicher als Leontine, deren Wünsche so leicht und nebenher erfüllt werden konnten. Annen ward dann Alles lieber, instinctmäßig empfand sie einen Vorzug ihres Geschicks und es ward ihr ernst und still beim Fest zu Muthe. Das schwarze Kleid der Mutter, das Kuchenbacken, ja sogar das vorangehende Fasten rührte sie durch einen geheimnißvollen beglückenden Zauber; aber Anna verstand sich selbst eben so wenig, als Frau von Waldau sie begriff.
Drüben zerfiel indessen das äußere Leben auch in zwei Hälften. Madame Sophie hatte eine eigenthümliche Atmosphäre, die eben so sehr von der ihrer Herrschaft, als von dem thüringisch-bürgerlichen Leben abwich. Man spricht so viel über das Festhalten der Engländer an ihren Sitten und Gebräuchen auf dem Continent, sie machen etwas mehr Umstände dabei, als die Franzosen, die am Ende dasselbe thun. Denn es bleibt höchst bemerkenswerth, daß selbst die Revolution mit ihren Folgen die eigentliche Familiensitte des Petit bourgeois nicht anzugreifen vermocht hat!
Madame Sophie wurde noch mit altväterischer Galanterie von ihrem Manne behandelt, der trotz seiner zahlreichen Infidélités sie entschieden als Hauptperson anerkannte und von seinen Landsleuten sich le mari de la femme de regret nennen ließ; liebte ihn doch diese Frau aus Herzensgrunde und verdeckte unermüdlich alle seine Schwächen!
In der höhern Gesellschaft war der Muth, mit welchem sie ihre Herrschaft vor der Plünderung bewahrt, zu allgemein bekannt, als daß man sie einer gewöhnlichen Dienerin hätte gleichstellen mögen.
Auch war sie eine durchaus angenehme Erscheinung, voller Witz und Verstand, ungezwungen und dennoch bescheiden. In ihrer rein bewahrten Nationalität lag ein so eigenthümlicher Reiz, daß beinahe keiner der berühmten Gäste des Waldau'schen Hauses an Madame Sophiens Thüre vorüberging, ohne auf ein Viertelstündchen bei ihr einzusprechen. Bei diesen Gelegenheiten entfaltete sie eine Menge durch Erfahrung erworbener Kenntnisse, und belustigte oft ihre Zuhörer durch die wunderlichsten Aufklärungen über Zeitumstände, die ihnen in ganz anderem Lichte erschienen waren.
Die Kinder waren viel um sie und hörten solchen Gesprächen gern zu, noch lieber aber ließen sie von ma bonne's eigener Vergangenheit sich erzählen. War die Gesellschaft oben beisammen und Duguet beschäftigt, nahm Sophie die beiden kleinen Mädchen auf den Schoos und erzählte ihnen: von Ludwig des Sechszehnten Tode, von der Emigration und wie sie damals als Kammerfrau im Dienst der schönen Gräfin D'Alvigni gestanden. Und Bild auf Bild drängte sich hervor aus dem tiefen Schacht ihrer Erinnerung.
Dann sprach sie weiter von den Clubs, den Jakobinern und der Zeit der Terreur, deren Greueln sie mit der gräflichen Familie entflohen; sie beschrieb den Kleinen den Stromübergang der Verbündeten über den Rhein bei Mühlheim und die herzzerreißende Trennung des Grafen von seiner Gemahlin, die erst nach Jahren erfuhr, daß auch ihn bald nachher das Beil der Guillotine getroffen. Dazwischen aber webte ihr heiteres Naturell humoristische Skizzen des Emigrantenlebens; Grafen und Marquis traten als Schneider und Schuster auf, um wiederum an Galatagen, bei ihren Zusammenkünften, mit den alten Abzeichen ihres Ranges zu glänzen.
Die bunte Mischung all dieser Bilder führte die Kinder in eine Realität des Lebens ein, die ihnen kein Geschichtslehrer geboten haben würde.
Nun malte Sophie die sich steigernde Noth aus; die Scenen wechselten immer geschwinder; schon hatte die Gräfin alles verkauft, was sie von Werth gerettet; ma bonne ward Wäscherin und ernährte sie und ihre beiden Kinder.
Anna ward sehr ernsthaft, sah sie freundlich an und fiel ihr endlich schweigend um den Hals.
Aber das Elend wuchs. Sophiens Erwerb reichte nur spärlich, Duguet war seinem Herrn gefolgt, mit ihm verkleidet über die französische Grenze zurückgegangen. Nun ward es Winter. Mit fürchterlicher Gewalt schwemmte der Eisgang seine Krystallblöcke daher, als Sophie zum zweiten Male mit ihrer Gebieterin Mühlheim berührte. In wilder Eile setzten eben Truppen über den theilweise freiwerdenden Strom. Das Gedränge war unbeschreiblich beängstigend; durch lange Gassen verschlossener Häuser irrten Sophie und die gräfliche Familie auf und nieder, ohne ein Unterkommen zu finden; den Kindern bluteten die zarten Füße und versagten den Dienst. Mühsam schleppte Sophie sie weiter; endlich ward eine schlechte Schlafstätte mit vielem Gelde erkauft – Mutter und Kinder ruhten. Sophie wagte noch einmal sich hervor, Nachrichten einzuziehen und Lebensmittel einzukaufen; auf diesem Wege aber ward ihr sehr unwohl. Die Unglückliche blieb in einem fremden Hause auf den Marmorquadern eines Vorplatzes liegen; als es ihre Kräfte gestatteten, kroch sie mühsam auf Händen und Füßen unter einen dunkeln Treppenvorsprung. – Niemand beachtete, niemand gewahrte sie, und dort gebar die Arme einen Sohn.
Wenn Sophie bis dahin erzählt hatte, brach sie in unaufhaltsames Weinen aus und schickte die kleinen Mädchen zu Bette.
Aber die Kinder konnten nicht schlafen; Leontine sah, wie Sophie eine seidne Schnur hervorzog, die sie um den Hals trug, und ein daran hangendes zerbrochenes Geldstück lange betrachtete. Als einmal Anna sie fragte, was denn aus ihrem Kinde geworden, sagte sie, es sei lange todt, man müsse nicht davon sprechen.
Längst hatten die Tage der Unterdrückung zu Jahren sich gereiht, Napoleon hatte den Kaiser Alexander zu sich nach Erfurt berufen und der spanische Feldzug bereitete sich daselbst vor.
Josephine saß allein in ihrem Zimmer. Waldau war seit einigen Wochen leidender und schwächer geworden. Beklommen sah sie dem Feind aller zehrenden Uebel, dem Herbst, in's bunte Blumenauge – ach! mit den Blättern und Früchten fallen die Menschen der Erde zu und die farbigen Blütensterne legen sich, Auferstehung verheißend, auf deren Gräber!
Josephine hielt eine Menge uneröffneter Briefe in der Hand. Sie erwartete weder Gutes noch Böses aus der Ferne, die nächste Nähe war's, die so beengend auf ihr lastete. Es ist etwas Entsetzliches um das unaufhörliche gespenstische Auftauchen der Angst um ein geliebtes Leben, wie man auch den Gedanken an das uns Drohende zu bannen suche: immer umschleichen uns die Schatten der Sorge mit ihren heimlichen Dolchen und überfallen uns in heitrer Gegenwart, wie Diener eines Vehmgerichts, mit plötzlichem Entsetzen.
Endlich fiel Frau von Waldau's trüber Blick auf die Briefe. Eine französische Handschrift? Aus Erfurt? Rasch erbrach sie das Siegel und las:
Gnädige Frau!
Wenn das Bild eines jungen Mannes, dem während der Tage der Schlacht bei Jena das Glück Ihrer Bekanntschaft ward, noch nicht ganz Ihrer Erinnerung entschwunden ist, so wird die milde Güte, die noch einem Sterne gleich in der seinen steht, diesem Schreiben gern Verzeihung gewähren. Denn wie ein Posaunenstoß des jüngsten Gerichts rufen meine Worte einen Todten aus dem Grabe und geleiten hoffentlich einen glücklichen Sohn in die Arme seiner gewiß noch glücklichern Mutter. Ohne Zweifel haben Sie, hochverehrte Frau, schon errathen, daß ich meine Erzengelschaft dem Zufall danke, den so lange beweinten Sohn Ihrer Madame Sophie gefunden zu haben, die, wie ich von meinen beneideten Kameraden erfahren, Ihr Hauswesen noch wie ehemals besorgt.
Der Kaiser hat mich in diesen zwei heißen Kriegsjahren zum Rang eines Obersten erhoben, und als Adjutant des Marschall Ney bin ich ihm nach Erfurt gefolgt.
Eben hier glaube ich in einem jungen Soldaten, der an den Folgen in Portugal empfangener Wunden krankt und von Lazareth zu Lazareth geschleppt wird, den in Mühlheim ausgesetzten Sohn der wackern Frau Duguet erkannt zu haben. Die Klagen des kaum dem Knabenalter entwachsenen Jünglings, der seiner Existenz fluchte, weil er, der weder Vater noch Mutter gekannt und Niemanden angehöre als nur seinem Kaiser, den Feldzug nicht mitmachen solle, zogen mich an; der Zorn, den er den ärztlichen Rathschlägen entgegensetzte, rührte mich tief; ich gewann mir sein Zutrauen. Jetzt, nachdem ich alle Details seiner Lebensgeschichte gehört, das Stück Taschentuch mit dem Zeichen Marc Duguet und die treubewahrte Hälfte des Fünfsous-Stücks gesehen, das er, wie seine Mutter, am Hals trägt, scheint mir unzweifelhaft, daß er wirklich das in Mühlheim ausgesetzte, so lang beweinte Kind sei. Sein Alter trifft auch zu. Wenige Stunden, nachdem Sie, verehrte Frau, diese Zeilen erhalten, hoffe ich selbst meinen Kranken bei Ihnen einzuführen, und als Belohnung das Glück zu genießen, Sie und Herrn von Waldau zu begrüßen und um die Fortdauer Ihres Andenkens und mir unschätzbaren Wohlwollens zu bitten.
Mit ausgezeichneter Achtung
und Verehrung
Ihr tief ergebener
St. Luce.
Sophie! rief aufspringend Frau von Waldau, großer Gott! ich habe die Briefe seit drei vollen Stunden! Sie können jeden Augenblick hier sein! Sophie, so komm doch!
Madame! erwiderte die Gerufene, den mit einem Foulard umwundenen hübschen Kopf zur Thüre hereinsteckend, es ist nur, weil ich das Bett mache –
Sophie! Monsieur de St. Luce ist Oberst geworden und wird vielleicht schon in einer Stunde hier sein!
Ach, Madame! welches Glück! der gute junge Mann! Aber da muß ich mich beeilen, Madame werden ihn zu Tische bitten, vielleicht logiren wollen. Pardon, Madame! charmanter junger Mann, und Oberst! Ja, ja, das sieht dem kleinen Korporal ähnlich, der kennt seine Leute! Wundert mich nicht, daß sie einen Gott aus ihm machen. Duguet, Duguet! rief sie im Gehen zur andern Thür hinaus; Du hilf mir – Monsieur de St. Luce ist Oberst geworden!
Die Freude kann sie tödten, sagte Josephine leise vor sich hin; der Schlag kann sie rühren, sie ist so heftig! Aber, Sophie, fuhr sie fort, sie beim Arm ergreifend, um sie zu halten; es ist noch eine andere Nachricht mitgekommen; es ist aber nur eine schwache Hoffnung! Der Oberst hat von einem jungen kranken Soldaten gehört, in Portugal, der den Namen Marc Duguet führt.
Sophie wandte den Kopf, kein Zug des sonst so regen Gesichts bewegte sich, mit starrem Auge blickte sie die Sprechende wie bewußtlos an, sie hatte, das sah man, keinen klaren Gedanken, all ihre Fähigkeiten hatte das eine Wort erschüttert.
Bald aber überflog ein leises Zittern die ganze Gestalt, die Brust hob sich langsam und schwer, ohne einen Laut ausströmen zu lassen, die bleichen Lippen bebten convulsivisch; endlich hauchte sie fragend: Madame?
Ja! erwiderte Josephine, indem sie nun auch den andern Arm ergriff, um die Schwankende wie zufällig zu stützen, er hat hingeschrieben, um Nachrichten einzuziehen.
Nachrichten! er lebt, er ist nicht in Portugal umgekommen, er lebt noch?
Wenn er es nur ist, sagte Frau von Waldau, um den Eindruck zu schwächen.
Es wäre möglich, schrie Sophie mit plötzlich freiwerdendem Jubel auf – möglich! mein Sohn! mein Sohn könnte leben, – ich wäre nicht seine Mörderin! O, setzte sie wieder ermattet hinzu, ihre Arme sanken und große Thränen perlten über ihr wieder erwärmtes Gesicht, ich könnte mir verzeihen, und Gott auch! Sie legte die Hände auf ihr Herz und wurde still.
Aber der junge Mensch soll verwundet sein, meint St. Luce.
Verwundet? Wollen sie sagen, todt? – Duguet, Duguet! rief sie, mit einem Mal wieder auf ihren Mann sich besinnend.
Waldau öffnete eben die Thüre, hinter ihm trat Duguet ein. Josephine hielt ihrem Gemahl den Brief entgegen; sie wußte, daß er keiner Unbesonnenheit fähig sei. Sophie sprang auf Duguet zu, sie wollte ihm um den Hals fallen, aber ihre Knie brachen zusammen, sie fiel ihm zu Füßen und brachte nur die Worte hervor: O jetzt, jetzt wirst du mir verzeihen!
Bis zu diesem Augenblicke hatte der wüthende hoffnungslose Schmerz zu harpyenartig an ihr Herz sich angekrallt, sie hatte nie begreifen können, daß sie auch an Duguet ein großes Unrecht gethan, indem sie ihn und sein Kind verlassen.
Ja, sagte Josephine zu Waldau, Schiller hat recht: ein glücklicher Mensch ist ein Heiliger!
Unterdessen hatte Waldau gelesen. Der junge Mann scheint mir sehr flüchtig, sagte er halblaut; ich fürchte, Josephine, du hast dich übereilt. Es ist so vieles unklar in dem Briefe.
Duguet hatte seine Frau aufgehoben und auf einen der Thüre nahen Stuhl niedergesetzt. Nun überschüttete er sie mit tausend Fragen, dazwischen bat er seine Herrschaft einmal um das andere um Verzeihung, Sophiens, nach seiner Ansicht, ganz unerklärlichen Betragens wegen, indem er, bald zu Waldau, bald zu Josephinen gewendet, sein unaufhörliches: Aber was ist ihr? wiederholte.
Sophie schluchzte nur: Mein Sohn, mein Sohn! und war durchaus keines andern Gedankens fähig.
Es war ein Glück, daß in eben diesem Augenblick St. Luce's Wagen vorfuhr. Die menschliche Natur erträgt solche Spannung nicht lange. Mit Blitzeseile war der kranke Waldau, hinter den mit einander beschäftigten Gatten weg, an der Hausthüre, vor welcher eine Extrapost hielt.
Oberst St. Luce hatte einen schönen schwarzäugigen, todtblassen Soldaten neben sich, die Bedienten halfen denselben herausheben und führten ihn langsam ins Haus. Der junge Mann ging sehr gekrümmt; es schien, als habe eine Kugel die inneren, edleren Theile verletzt, vielleicht die Lunge berührt.
St. Luce begrüßte die nun auch herbeigeeilte Josephine und sagte, indem er ihre Hand an seine Lippen zog: Ich habe gewollt, daß Sie selbst es ihm aussprechen, denn das Glück wird am besten durch einen Schutzengel den Menschen verkündigt.
Aber die Wunden werden am besten durch eine Soeur grise behandelt! lächelte sie ihm freundlich zu.
Beides, weil Sie beides sind, gnädige Frau.
Waldau hatte den Arm des jungen Kranken ergriffen. Fühlen Sie sich stark genug, eine heftige Erschütterung zu ertragen? fragte er sehr sanft.
Der Soldat sah ihn verwundert an. Ist der Kaiser hier? fragte er in zitternd jubelnder Hast.
Eben so schön, nein, noch viel schöner ist die Freude, die Sie erwartet, sagte Josephine. Haben Sie niemals etwas Anderes sich gewünscht?
Sie müssen weit zurückschauen, in ihre früheste Vergangenheit, setzte Waldau hinzu.
Gott! meine Mutter! rief außer sich der Kranke. O, Madame, Madame, Sie sind zu jung, um es selbst zu sein; aber, um Gottes willen, wenn Sie etwas von ihr wissen, o geschwind! geschwind! lassen Sie mich bei ihr sterben, da ich nicht bei ihr leben durfte!
Er schwankte. Waldau hielt ihn mit Mühe. Bitte, bitte, fuhr er fort, vor Josephine wie zum Gebet die Hände faltend.
Ei, junger Freund, drohte freundlich St. Luce, haben Sie denn nur dem Feinde gegenüber Courage? Haben Sie doch jetzt den Muth, für Ihre Mutter zu leben!
Aber des Sohnes Herz war nun mit Gewalt erweckt und vermochte die Ueberfülle eines geahneten Glücks nicht länger schweigend zu tragen. Mutter! Meine Mutter! rief er laut aufschreiend.
Und die Mutter hörte und erkannte beim ersten Laut die Stimme ihres Kindes. Mein Sohn, mein Sohn! klang es von drinnen, und im Augenblick lag sie an seiner Brust. Sie fragte nichts, untersuchte nichts, der Ton hatte wie ein Zauber gewirkt und sie herbeigezogen. Bewußtlos war sie ihm gefolgt, die Erschlaffung war verschwunden; sie hatte mit einem Male Kraft, Riesenkraft; aber ach, wie sie das Haupt hob, um nun auch die geliebten Züge zu sehen, fühlte sie die leblose Schwere des seinen auf ihrer Schulter. Der junge Krieger war ohnmächtig geworden.
Die Umstehenden versuchten, ihn aufrecht zu erhalten, das Zimmer war noch nicht erreicht, kein Stuhl auf dem Hausflur; sie vermochten die Last des hochgewachsenen, starken Jünglings nicht zu tragen und mußten ihn langsam auf den Boden sinken lassen; die Mutter aber hielt ihn fest und legte geschickt seinen Kopf auf ihren Schoos, indem sie neben ihm kniete. Es gibt kein schmeichelndes Liebeswort, mit dem sie ihn nicht nannte; sie riß ihm die Uniform auf, um ihm Luft zu verschaffen, und fand das Fünfsous-Stück, das sie lachend und weinend zugleich an die Lippen drückte.