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Mieko Kawakami

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Beschreibung

Der vierzehnjährige namenlose Ich-Erzähler lebt ein einsames Leben bei seiner Stiefmutter – sein Vater fällt vor allem durch Abwesenheit auf. Von seinen Mitschülern wird er unerbittlich gequält, weil er eine Fehlstellung der Augen hat. Anstatt sich zu wehren, resigniert er und leidet stumm. Eines Tages findet er eine Nachricht in seinem Federmäppchen: »Wir gehören zur selben Sorte.« Es folgen weitere Botschaften; plötzlich ist da jemand, der ihn nach seiner Lieblingsfarbe fragt, nach seiner Leibspeise, der das Wetter kommentiert. Bald stellt sich heraus, dass die Nachrichten von seiner Klassenkameradin Kojima kommen, die selbst gemobbt wird. Die beiden Jugendlichen finden Trost in der Gesellschaft des anderen, doch ihre Freundschaft bleibt von ihren Peinigern nicht unbemerkt. Vielschichtig, fesselnd, philosophisch – mit ihrem Roman ›Heaven‹ unternimmt Mieko Kawakami eine literarische Tour de Force und erzählt von Einsamkeit und Ausgrenzung, von Gewalt und Hilflosigkeit, aber auch von Freundschaft, Hoffnung und dem Mut der Verzweifelten.

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Der vierzehnjährige namenlose Ich-Erzähler lebt ein einsames Leben bei seiner Stiefmutter – sein Vater fällt vor allem durch Abwesenheit auf. Von seinen Mitschülern wird er unerbittlich gequält, weil er eine Fehlstellung der Augen hat. Anstatt sich zu wehren, resigniert er und leidet stumm. Eines Tages findet er eine Nachricht in seinem Federmäppchen: »Wir gehören zur selben Sorte.« Es folgen weitere Botschaften; plötzlich ist da jemand, der ihn nach seiner Lieblingsfarbe fragt, nach seiner Leibspeise, der das Wetter kommentiert. Bald stellt sich heraus, dass die Nachrichten von der Einzigen stammen, die versteht, was er durchmacht: von seiner Klassenkameradin Kojima, die selbst gemobbt wird. Die beiden Jugendlichen treffen sich fortan regelmäßig, stets heimlich, in der Hoffnung, weitere Aufmerksamkeit zu vermeiden. Sie finden Trost in der Gesellschaft des anderen, doch ihre Freundschaft bleibt von ihren Peinigern nicht unbemerkt.

Vielschichtig, fesselnd, philosophisch − mit ihrem Roman ›Heaven‹ unternimmt Mieko Kawakami eine literarische Tour de Force und erzählt von Einsamkeit und Ausgrenzung, von Gewalt und Hilflosigkeit, aber auch von Freundschaft, Hoffnung und dem Mut der Verzweiflung.

Mieko Kawakami,  geboren in Osaka, ist die Autorin des internationalen Bestsellerromans ›Brüste und Eier‹ (DuMont 2020), der von der New York Times zu einem der bemerkenswertesten Bücher des Jahres gekürt und vom Time-Magazine unter die besten zehn Bücher 2020 gewählt wurde. 2006 debütierte Kawakami als Lyrikerin und veröffentlichte im Folgejahr ihren ersten Roman ›My Ego, My Teeth, and the World‹. Für ihr Werk wurde sie mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter der Akutagawa-Preis, der Tanizaki-Preis und der Murasaki-Shikibu-Preis. Sie lebt in Tokyo, Japan.

Katja Busson, geboren 1970, studierte Japanologie und Anglistik in Trier und Tokyo. Sie übersetzte u.a. Junichiro Tanizaki, Keigo Higashino, Shugoro Yamamoto, Nanae Aoyama, Ko Machida und Natsu Miyashita.

Mieko Kawakami

Heaven

Roman

Aus dem Japanischen von Katja Busson

Die japanische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel ›Hevun‹ bei Bungeishunju, Tokyo.

© Mieko Kawakami 2009

eBook 2021 © 2020 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln Alle Rechte vorbehalten Übersetzung: Katja Busson Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln Covermotiv: © Takako Noel/Mieko Kawakami Satz: Angelika Kudella, Köln eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, LeckISBN eBook 978-3-8321-7102-5

www.dumont-buchverlag.de

1

Eines Tages Ende April steckte zwischen den Bleistiften in meinem Federmäppchen ein mehrfach gefaltetes Stück Papier.

Ich faltete es auseinander.

»Wir gehören zur selben Sorte« stand mit Druckbleistift darauf geschrieben, mehr nicht. Die blassen Zeichen sahen aus wie Gräten.

Sofort legte ich den Zettel zurück ins Mäppchen, wartete, bis mein Atem sich wieder beruhigt hatte, und sah mich möglichst unauffällig um. In der Pause wurde wie immer laut geflachst und gequatscht. Um den Aufruhr in meinem Innern zu beruhigen, rückte ich Heft und Lehrbuch so lange hin und her, bis beides Kante auf Kante lag, und spitzte betont langsam meinen Bleistift.

Währenddessen klingelte es zur dritten Stunde, Stühle wurden gerückt, und als der Lehrer kam, begann der Unterricht.

Sollte das ein Scherz sein? Mit harmlosen Scherzen haben die sich doch noch nie abgegeben, seufzte ich innerlich und versank wie üblich in Trübsinn.

Von den Briefen hatte nur der erste im Federmäppchen gesteckt, die folgenden waren so in das Fach unter der Tischplatte geklebt, dass man sie sofort fühlen konnte, und kamen mittlerweile regelmäßig. Jedes Mal, wenn ich einen entdeckte, bekam ich eine Gänsehaut und sah mich vorsichtig um. Irgendjemand, bildete ich mir ein, wartete auf eine Reaktion. Aber ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Mich packte bloß undefinierbare Angst.

Auf den etwa postkartengroßen Zetteln standen immer nur kurze Fragen. »Was hast du bei dem Regen gestern gemacht?« oder »In welches Land würdest du gerne einmal reisen?« Ich las sie immer auf der Toilette und versteckte sie anschließend im dunkelblauen Einband meines Schülerausweises, da ich nicht wusste, wo ich sie hinwerfen sollte, wenn ich sie denn wegwerfen wollte.

Ansonsten war alles wie immer.

Ninomiya und die anderen zwangen mich wie immer, ihre Taschen zu tragen, traktierten mich wie selbstverständlich mit den Füßen, droschen mit ihren Blockflöten auf mich ein und scheuchten mich herum. Unterdessen kamen neue Briefe, die von Mal zu Mal etwas länger wurden. Vielleicht haben sie gar nichts mit Ninomiya und den anderen zu tun, dachte ich manchmal, wenn ich einen in der Hand hielt; nach wie vor stand kein Name darauf, weder meiner noch der des Absenders. Aber nein, das kann nicht sein, dachte ich, und je länger ich darüber nachdachte, desto weiter entfernte sich der Gedanke, was mich nur noch mehr deprimierte.

Trotzdem sah ich morgens, wenn ich zur Schule kam, immer zuerst nach, ob ein Brief da war. Es war schön, in dem noch leeren, friedlichen Klassenzimmer zu stehen, den Geruch von Bohnerwachs in der Nase, und die Grätenschrift zu lesen. Obwohl mir bewusst war, dass es sich wahrscheinlich um eine Falle handelte, hatten die Briefe etwas an sich, das mich in Sicherheit wog.

»Ich möchte mich mit dir treffen« stand in dem Brief, der gleich Anfang Mai gekommen war. »Zwischen fünf und sieben warte ich dort auf dich.« Ein Datum war auch angegeben. Ich las den Brief so oft, bis mir das Blut in den Ohren rauschte und ich die Zeichen selbst mit geschlossenen Augen sehen konnte. Eine kleine handschriftliche Skizze war ebenfalls dabei. Den Rest des Tages verbrachte ich damit, darüber nachzudenken, was ich mit dem Brief anfangen sollte. Auch über die Feiertage musste ich so oft daran denken, dass ich Kopfschmerzen bekam und den Appetit verlor. Dass dort niemand anders als Ninomiya und die anderen auf mich warten würden und ich ihnen, wenn ich hinginge, weil ich etwas anderes erwartet hatte, nur einen Vorwand dafür liefern würde, mich in Zukunft noch mehr zu schikanieren, schien mir auf der Hand zu liegen.

Ignorieren konnte ich den Brief aber auch nicht.

Als es so weit war, war ich den ganzen Tag über nervös.

In der Schule beobachtete ich Ninomiya und die anderen so vorsichtig wie möglich, allerdings ohne irgendeine Veränderung feststellen zu können. »Was glotzt du so blöd?«, sagte einer und warf einen Slipper nach mir. Der Slipper traf mich im Gesicht. »Aufheben und herbringen!«, befahl er. Ich gehorchte.

Je näher der Schulschluss rückte, desto schlechter fühlte ich mich. Als die letzte Stunde endlich vorbei war, floh ich förmlich nach Hause. Soll ich wirklich hingehen? Was soll ich tun?, fragte ich mich unterwegs, aber so sehr ich mir auch das Hirn zermarterte, ich kam zu keinem Schluss. Ich hatte das Gefühl, jede Entscheidung wäre falsch.

»Hallo«, sagte meine Mutter, als ich nach Hause kam, ohne aufzustehen; sie saß auf dem Sofa und sah fern.

»Hallo«, erwiderte ich. Nur die Stimme des Nachrichtensprechers war zu hören. Ansonsten war es still im Haus.

»Ich habe den ganzen Tag in der Küche gestanden«, sagte meine Mutter.

Ich nahm den Tetra Pak Grapefruitsaft aus dem Kühlschrank, füllte ein Glas und leerte es im Stehen.

»Du sollst dich zum Trinken doch hinsetzen«, sagte meine Mutter. Kurz darauf hörte ich, wie sie sich die Nägel schnitt.

»Fürs Abendessen, oder wie?«, fragte ich.

»Natürlich. Riechst du das nicht? Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben einen Rollbraten gemacht!«

Vielleicht kommt Papa ausnahmsweise nach Hause, dachte ich, fragte aber lieber nicht.

»Willst du früher essen?«

»Nein, ich geh noch kurz zur Bibliothek. Wir können ruhig später essen.«

In der Stadt, in der ich wohne, gibt es eine mehrere Hundert Meter lange Allee. Durch die gehe ich zur Schule. Ungefähr auf halber Höhe führt ein Weg zu einer Art Spielplatz, Park wäre zu viel gesagt. Das war der Treffpunkt.

Da ich schon um vier das Haus verlassen hatte, war niemand dort, als ich ankam, was mich erleichterte. Auf dem Platz gab es mehrere zu einer Bank umfunktionierte Autoreifen, einen Wal aus Beton und dazwischen einen etwa zwei mal drei Meter großen Sandkasten, aus dem hier und da leere Keksschachteln und Plastikbeutel ragten.

Auf dem Sand lag Hunde- oder Katzendreck. Die Köttel sahen aus wie paniert. Ich begann zu zählen, aber je länger ich zählte, desto mehr schienen es zu werden, möglicherweise war der ganze Kasten voller Kot. Den musst du nachher vielleicht essen, schoss es mir durch den Kopf, während ich auf den Sand starrte. Mir wurde heiß. Ich schnaubte, um die Vorstellung zu vertreiben, aber je konzentrierter ich atmete, desto schwerer wurden meine Glieder.

Das Maul des Wals war groß genug für zwei Personen meiner Größe. Seine ursprüngliche Farbe war fast bis zur Unkenntlichkeit abgeblättert, und Kopf und Rücken waren hier und da mit Filzstift beschmiert. Der Spielplatz lag hinter einer alten Hochhaussiedlung. Die Erde war feucht und unangenehm schwarz.

Ich beschloss, zur Allee zurückzugehen und mir dort die Zeit zu vertreiben.

Ich ließ mich auf einer der gusseisernen Bänke nieder, atmete aus und langsam wieder ein. Ich hätte nicht kommen sollen, dachte ich. Aber wenn ich nicht gekommen wäre, würden Ninomiya und die anderen mich fürs Nichtkommen bestrafen, letztlich war es also egal.

Seufzend sah ich auf. An den bis vor Kurzem noch kahlen Ästen hingen grüne Blätter, sie raschelten im Wind. Ich nahm die Brille ab, rieb mir die Augen und sah die Allee hinunter. Das Bild war wie immer ohne Tiefe, zweidimensional. Und wie alles, was ich sah, zerlegte ich es in eine Reihe von viereckigen Tafeln, die ich wie im Papiertheater Lidschlag für Lidschlag wegklappte.

Als ich nach einer Weile wie betäubt zurück zum Treffpunkt ging, sah ich jemanden auf den Reifen sitzen. Es war ein Mädchen in Schuluniform. Verblüfft blickte ich mich um – irgendwo müsste doch noch jemand sein –, aber außer ihr war weit und breit niemand zu sehen.

Zögernd ging ich weiter. Als ich beim Walfisch war, bemerkte sie mich. Abrupt drehte sie sich um. Es war Kojima, ein Mädchen aus meiner Klasse. Sie stand auf, sah mich an und deutete eine Verbeugung an. Automatisch verbeugte ich mich auch.

»Die Briefe …«

Kojima war klein, hatte einen etwas dunkleren Teint und war eine sehr stille Schülerin. Ihre Schuluniform war abgetragen, die Bluse nie gebügelt, und sie sah immer so aus, als hätte sie Schlagseite. Ihr volles schwarzes Haar stand wegen der vielen Wirbel darin in alle Richtungen ab. Ständig wurde über sie gelacht, weil sie etwas unter der Nase hätte, Dreck oder einen Bart, außerdem wurde sie von den anderen Mädchen in der Klasse gemobbt, weil sie arm und schmutzig sei.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du kommst«, sagte sie und lachte zaghaft. »Fandest du die Briefe creepy?«

Ich schüttelte den Kopf, auf Anhieb brachte ich kein Wort heraus. Eine Weile verharrten wir schweigend.

»Setz dich doch«, sagte Kojima. Ich nickte, blieb aber verlegen stehen.

»Ich dachte, ich würde gerne mal mit dir reden … nur so … über nichts Bestimmtes … nur du und ich … Ich dachte, das täte uns vielleicht gut … also, dir und mir … meine ich«, sagte sie stockend. Es war das erste Mal, dass ich ihre Stimme hörte oder sie überhaupt sprechen sah. Das erste Mal, dass ich ihr ins Gesicht sah. So direkt hatte ich einem Mädchen noch nie gegenübergestanden. Ich fing an zu schwitzen, wusste nicht, wohin mit meinem Blick.

»Danke, dass du gekommen bist.«

Kojimas Stimme war weder hoch noch tief, aber so fest, als hätte sie eine Mine. Ich nickte. Das schien sie zu erleichtern.

»Weißt du, wie dieser Park heißt?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Walpark. Guck … da ist doch ein Wal … Na ja, außer mir nennt ihn niemand so«, sagte sie und lachte.

Walpark, wiederholte ich stumm.

»Wie schon gesagt, ich dachte, ich würde gerne mal mit dir reden. Deshalb habe ich dir geschrieben. Aber ich hätte nicht im Traum gedacht, dass du kommst. Ich bin gerade ein bisschen verdutzt«, sprudelte sie hervor und strich sich über die Nase.

Ich nickte.

Kojima sah mich an. »Ich würde gerne Freundschaft mit dir schließen«, sagte sie, »natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast.«

Ich nickte mechanisch, auch wenn mir nicht klar war, was sie damit meinte. Kaum hatte ich genickt, tauchten schon die ersten Zweifel auf: Was sollte das heißen, »Freundschaft schließen«? Was genau war ein »Freund«? Doch fragen konnte ich nicht. Der Schweiß lief mir mittlerweile nur so den Rücken hinunter. Aber Kojima freute sich über meine Antwort, seufzte einmal und sagte: »Puh!« Dann stand sie auf und klopfte sich den zerknitterten Rock ab. Aus der ausgebeulten Tasche ihres Blazers ragte ein Papiertaschentuch.

»Freumin«, seufzte Kojima immer noch lächelnd und sah zu Boden. Freu… wiederholte ich im Kopf und wollte fragen, was sie damit meine, aber da ich nie wusste, wann und wie man solche Fragen am besten stellte, blieb ich stumm.

»Darf ich dir weiter schreiben?«

»Klar«, sagte ich. Meine Stimme klang so heiser, dass mir die Hitze ins Gesicht schoss.

»Und schicken darf ich sie auch?«

»Ja.« Ich nickte.

»Schreibst du zurück?«

»Ja«, sagte ich, erleichtert, dass meine Stimme diesmal normal klang.

Eine Weile sagten wir nichts. Weiter weg krächzte eine Krähe.

»Na dann«, sagte Kojima, verzog den Mund, sah mich einen Augenblick lang prüfend an, hob die Hand, drehte sich auf dem Absatz herum und rannte den Weg zur Allee hinunter.

Sie sah kein einziges Mal zurück. Ich blickte ihr nach. Binnen kürzester Zeit verschmolzen die beiden Gestalten zu einem kleinen Punkt. Und während ich noch überlegte, wie lange man jemandem bei solchen Gelegenheiten wohl nachschaut, war selbst der kleine Punkt verschwunden. Zurück blieb das viereckige Bild von Kojimas Rocksaum, der ihr gegen die Waden schlug. Selbst als sie schon nicht mehr zu sehen war, hatte ich noch dieses Schwappen vor Augen.

*

»Wo willst du denn hin, Schielauge?«, packte mich einer der anderen eines Tages nach Schulschluss am Genick und schleifte mich zurück ins Klassenzimmer. Das passierte ständig. »Da bist du ja wieder«, sagte Ninomiya, der sich auf einem der Tische in der Mitte niedergelassen hatte, und lachte. Ich hätte genau eine Minute Zeit, mir Kreide in die Nase zu stecken und ein Bild an die Tafel zu malen, das ihn und die anderen zum Lachen brächte, ein Bild, das sie »umhauen« würde. Die anderen quittierten die Idee mit dröhnendem Gelächter. Einer von ihnen bugsierte mich zur Tafel, der Rest umringte mich.

Ninomiya und ich kamen von derselben Grundschule. Schon dort hatte er den Ton angegeben. Er war der beste Sportler des Jahrgangs, hatte ausgezeichnete Noten und ein so ebenmäßiges Gesicht, das man nur als schön bezeichnen konnte. Seine Haare waren schulterlang, und seine Pullover hatten immer eine besondere Farbe. Außerdem hatte er einen drei Jahre älteren mächtigen Bruder, den ebenfalls jeder in der Schule kannte. Ninomiya war so besonders, dass die Schüler sich nur so um ihn scharten. An der Mittelschule war er dazu übergegangen, seine Haare zu einem Zopf zu binden und die Mädchen zu bespaßen, das heißt, eigentlich lachten alle, wenn Ninomiya einen Witz machte, nicht nur die Mädchen. Seine Leistungen waren so gut, dass er schon seit der siebten Klasse an eine Vorbereitungsschule für eine Eliteoberschule ging. Sogar die Lehrer schienen Respekt vor ihm zu haben.

»Wird’s bald?«

Schweigend stand ich da und rührte mich nicht.

»Dir ist echt nicht zu helfen! Und das bei all der Mühe, die ich mir gebe«, sagte Ninomiya und hob in gespielter Hilflosigkeit die Hände, woraufhin die anderen sich wieder vor Lachen krümmten. Momose, die Arme vor der Brust verschränkt, stand ein Stück abseits.

Momose hatte ich erst in der Mittelschule kennengelernt, er ging in meine Klasse. Auch er hatte so gute Noten wie Ninomiya und besuchte dieselbe Vorbereitungsschule. Ich hatte noch nie ein Wort mit ihm gewechselt. Er war zwar ständig mit Ninomiya zusammen, redete aber nicht viel und beteiligte sich, soviel ich wusste, nie an ihren Spielchen. Am Sportunterricht, ich wusste zwar nicht warum, nahm er auch nicht teil. Auch Momose war attraktiv, obschon nicht ganz so gut aussehend wie Ninomiya, und beide waren mindestens zehn Zentimeter größer als ich. Seine Miene war immer stoisch. Er legte nie Hand an, wenn sie mich quälten, stand immer nur da, die Arme vor der Brust verschränkt, und sah zu.

»Also gut, wenn du brav deine Kreide aufisst, lassen wir dich gehen«, sagte Ninomiya, »wir haben schließlich nicht ewig Zeit.«

Zwei Stück sollte ich mir zuerst in die Nase schieben, dann hielt er mir ein drittes hin. »Schön bitte bitte sagen!«, sagte er und trat mir mit dem Spann gegen das Knie.

Egal, ob sie mich traten, schlugen oder zu Boden stießen, jeder Stoß, Schlag oder Tritt war so dosiert, dass er keine Spuren hinterließ. Wo man so was wohl lernt, fragte ich mich manchmal, wenn ich anschließend meinen unversehrten Körper betrachtete.

Nach dem Knie war mein Oberschenkel dran, dann bohrte sich ein Absatz in meinen Bauch, als ob meine Bauchmuskeln getestet werden sollten; anschließend wurde ich von einem zum anderen geschubst. Ich donnerte gegen die Wand, krachte in einen Tisch und fiel hin. Halb so schlimm, das kennst du doch, sagte ich mir immer wieder, in der Hoffnung, dass sie bald fertigwürden.

An den Haaren zogen sie mich wieder hoch, pfropften mir rechts und links jeweils ein Stück Kreide in die Nase und legten mir ein drittes in die Hand. Ich führte es zum Mund und knabberte daran.

Ninomiya brach in schallendes Gelächter aus.

Ich hatte zwar schon Wasser aus dem Teich oder der Toilette trinken und Goldfische oder Gemüsereste aus dem Kaninchenstall essen müssen, aber Kreide hatte ich zum ersten Mal. Sie roch und schmeckte nach nichts. »Mach hin«, hörte ich Ninomiya. Ich schloss die Augen, schob mir das ganze Stück in den Mund und kaute. Schön mahlen, dachte ich, nur schön mahlen. Es knirschte und knackte, hier und da piekten mich Splitter in die Wange. Ich kaute und kaute, und als ich das Zeug endlich so weit zerkleinert hatte, dass ich es hinunterschlucken konnte, schluckte ich es.

Nachdem ich auch die zwei anderen verzehrt hatte, rief jemand »Nachspülen, nachspülen!«, woraufhin mir ein farbverkleckster Plastikbecher mit schmutzig-milchigem Wasser in die Hand gedrückt wurde. Kreidewasser. An die Wand gedrückt, den Kopf fixiert, trank ich. Brechreiz stieg in mir auf, und im nächsten Moment brach ich alles wieder aus. Hustend stützte ich mich auf den Boden, meine Augen tränten, die Nase lief. »Geht’s noch?«, sprangen Ninomiya und die anderen beiseite, bevor sie sich vor Freude auf die Schenkel schlugen. »Das musst du jetzt aber schön wieder auflecken«, sagte jemand und drückte mein Gesicht in die Lache. Die anderen lachten.

*

Ab dem Tag schrieben Kojima und ich uns regelmäßig.

Da ich nicht wusste, was und wie ich schreiben sollte, einen richtigen Brief geschrieben hatte ich noch nie, nahm ich einen frisch gespitzten Bleistift zur Hand, schrieb, was mir in den Sinn kam, radierte es wieder weg, schrieb wieder etwas hin und radierte es wieder weg. Mehr als eine Seite brachte ich trotz aller Mühe nie zustande. Doch so schlecht und unverbindlich meine Briefe auch waren, über die Zeit lernten Kojima und ich uns näher kennen. Damit uns niemand auf die Schliche kam, klebte ich morgens zuallererst meinen Brief in ihr Tischfach und nahm am darauffolgenden Morgen zuallererst ihre Antwort entgegen, die ich immer auf der Toilette las. Abgesprochen hatten wir uns nicht, aber über die Schule oder das Mobbing schrieb weder sie noch ich.

Als ich fertig war, nahm ich die Brille ab, senkte mein linkes Auge über den Brief und las ihn so oft, bis mir das Auge und der halbe Kopf wehtaten.

Ich schiele nämlich.

Das, was mein rechtes Auge mühevoll einfängt, legt sich über das linke, sodass ich praktisch alles doppelt sehe. Alles ohne Tiefe, was es für mich schwierig macht, Entfernungen richtig einzuschätzen, selbst bei Dingen in Reichweite. Immer, wenn ich etwas berühre oder in die Hand nehme, frage ich mich anschließend, ob ich es wirklich berührt oder richtig in der Hand gehabt habe.

»Guten Tag. Auch deinen Brief von heute habe ich wieder mehrfach gelesen. Du schreibst mit einem Druckbleistift, stimmt’s? Ich benutze einen Bleistift.

Um auf deine letzte Frage zurückzukommen. Ich habe zwar kein Lieblingsbuch oder ein Lieblingsgenre, aber ich lese gerne, würde ich sagen. Bis bald.«

»Hallo! Danke für deine Antwort. Unglaublich, wie es heute geregnet hat, oder? Das hat vielleicht geprasselt! Ich dachte, der Schirm platzt. Am Supermarkt hat mir ein LKW eine ordentliche Dusche verpasst. Ich war auf dem Weg nach Hause, und er ist so dicht an mir vorbeigedonnert, dass das Wasser nur so spritzte. Wie im Comic! Fehlt nur noch die Sprechblase. Ich schreibe jedenfalls gerne, Schrift oder Inhalt mal beiseite. Freue mich deine auf Antwort!«

»Guten Tag. Draußen ist es jetzt dunkel. Wie wäre es mit: Ganz schön windig.

Ich finde Schreiben schwer, fand ich schon immer. Schwerer als Sprechen vielleicht sogar. Ob man durch Übung besser wird? Ich gebe mir Mühe. Allein dieser Text hat mich über eine Stunde gekostet. Bis bald.«

»Loha. Danke für deine Antwort. Das Ergebnis der Zwischenprüfung hat mich geschockt. Ich habe gerade einmal 360Punkte geschafft. Wie du abgeschnitten hast, frage ich gar nicht erst. Natürlich viel besser als ich! Deine Sprechblase fand ich übrigens ziemlich gut. Wenn ich wieder einmal eine LKW-Dusche abbekomme, sage ich Bescheid, ja?

Das hier ist nebenbei bemerkt mein zweiter Anlauf. Mit dem ersten Brief habe ich mich so schwergetan, dass ich eine Pause eingelegt und gestickt habe. Nur Kreuzstich, ganz einfach, Nadel rein, Nadel raus. Eigentlich würde ich gerne eine Kissenhülle machen, aber ich habe keine Füllung. Weil ich aber Kreuzstich-Stoff hatte, sticke ich jetzt Blümchen. Sticken tue ich auch ganz gerne. Briefeschreiben und Sticken, das sind im Moment meine liebsten Beschäftigungen. Freue mich auf deine Antwort!«

»Guten Tag. Wie geht es dir? Ich weiß jetzt, was das mit deiner Stimme ist. In meinem letzten Brief konnte ich es ja nicht so gut erklären. Sie hat etwas von einem Bleistift.

Ich benutze häufig Stärke 6B, weil die so selten brechen, und dabei ist es mir aufgefallen. Deine Stimme ähnelt einem Bleistift der Stärke 6B. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es diesmal besser erklären kann, aber sie ist weich, zugleich stark und hat so etwas wie eine Mine. Entschuldige, dass ich es nicht besser ausdrücken kann. Aber ich wollte es wenigstens einmal versuchen.

Halb neun. Ich mache mich jetzt an die Umrisskarte, die wir für Erdkunde zeichnen sollen. Bis bald.«

»Lohaloha. Guten Abend! Wobei – wenn du das liest, ist es ja Morgen. Wie ist das Wetter bei dir? Bei mir regnet’s. Obwohl die Regenzeit noch nicht einmal angefangen hat, ist es draußen schwül. Und regnet.

Egal! Jetzt habe ich dich schon so oft nach deinen Lieblingsbüchern gefragt und nie eine Antwort bekommen. Geheimniskrämer! Es hat mich nur interessiert, weil ich selbst mit Büchern nichts anfangen kann. Ich kann mich gar nicht erinnern, was ich zuletzt gelesen habe … doch, warte, jetzt fällt es mir wieder ein, es war ein Buch aus der Grundschulbibliothek, ein Buch über chinesische Geschichte. Ohne diesen Brief hätte ich mich wahrscheinlich nie wieder daran erinnert.

Liest du eigentlich gerne? Das habe ich ganz vergessen zu fragen. Ich habe zwar schon Mühe, im Unterricht mitzukommen, aber wenn dir wieder ein interessantes Buch einfällt, sag Bescheid. Mir fällt zu Hause auch oft die Decke auf den Kopf. Dann habe ich komischerweise das Gefühl, gegen irgendetwas anzukämpfen, stur anzukämpfen. Wie lange das wohl so weitergeht, frage ich mich. Ich kämpfe im Bett. Ich kämpfe beim Gehen. Bis zum Abschluss der Mittelschule sind es jetzt noch anderthalb Jahre, wenn man die Oberschule mitrechnet, viereinhalb. Es geht immer weiter. Ist das nicht krass? Ich finde das krass.

Und was kommt danach? Darüber denke ich auch nach. Vielleicht geht die Welt, wie alle sagen, im Jahr 1999 ja wirklich unter. Aber selbst wenn nicht; viel verändern wird sich sicher nicht.

Mal was ganz anderes: Ich habe einen Vorschlag. Du kannst ruhig nein sagen, wenn du nicht willst.

Jetzt bin ich richtig nervös … Ich schreibe es trotzdem. Was hältst du davon, wenn wir uns nächsten Monat am zweiten Mittwoch noch einmal treffen? Zur Feier unseres ersten Treffens, sozusagen. Das war auch an einem Mittwoch. Absagen gilt nicht. Scherz! Du kannst ruhig nein sagen, wenn du nicht willst. Freue mich auf deine Antwort!«

»Guten Tag. Heute war es richtig sommerlich, fandest du nicht? Der Mai ist fast vorbei.

Zuerst möchte ich mich für das Briefpapier bedanken. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Wenn meins alle ist, nehme ich das.

Ich freue mich, dass du mit der Fluchttreppe einverstanden bist. Ich dachte, da hätten wir mehr Ruhe. Niemand stört uns, es ist still, und wir haben frische Luft. Du musst nur mit dem Aufzug ins oberste Stockwerk fahren und rechts die Tür öffnen. Dahinter ist die Treppe aufs Dach. Nicht zu verfehlen. Ich warte ganz oben auf dich. Noch zwei Wochen, dann ist es so weit. Ich freue mich schon. Bis bald.«

Natürlich hatte ich zu Kojima inzwischen ein anderes Verhältnis.

Zu sehen und zu hören, wie sie von den anderen Mädchen in der Klasse getriezt wurde, machte mir, auch wenn es mir nicht neu war, zunehmend mehr aus. Die Vorstellung, dass sie mitbekam, wie ich drangsaliert wurde, machte mir auch zu schaffen. Solange wir in derselben Klasse waren, sah und hörte sie alles, selbst wenn sie gar nicht wollte.

Ich wurde immer noch Schielauge genannt, nach draußen zitiert, wo ich irgendwelche sinnlosen Befehle befolgen musste, zu Boden geworfen und musste in den Pausen um den Sportplatz sprinten. Ninomiya und die anderen sahen vom Fenster aus zu und lachten. Kojima warf man Du stinkst!Du bist eklig! und andere Gemeinheiten an den Kopf. Manchmal musste sie einkaufen gehen. Dass man sie, wie mich, mit Fußtritten traktierte, hatte ich auch schon gesehen. Dass man sie – Was du brauchst, ist ’ne Dusche! – mit dem Kopf unter Wasser drückte, ebenfalls.

Die Kojima, die ich aus den Briefen kannte, war fröhlich und lebendig, völlig anders als die Kojima in der Schule. Jedes Mal, wenn ich sie so sah, tat es mir in der Seele weh, aber ich konnte nichts für sie tun. Weil sie nicht merken sollte, dass ich zusah, wandte ich den Blick stets ab und tat so, als sähe ich nichts.

*

Zur Vorbereitung des Chorwettbewerbs und diverser anderer Veranstaltungen wurde der Stundenplan auch dieses Jahr angepasst.

Da einige Stunden ausfielen, hatten Ninomiya und die anderen noch mehr Zeit, mich zu schikanieren. Inmitten des Treibens auf den Fluren und dem Schulhof ließ ich mich wie immer herumschubsen und herumkommandieren. In den Mittagspausen wurde ich zum Bäcker geschickt. Beim Essen war ich allein. Kojima auch.

»Deine Schielerei ist ja nicht zum Aushalten! Dafür gehörst du bestraft«, sagte Ninomiya eines Samstags nach dem Unterricht und verpasste mir mit dem Zeigestock einen Schlag auf den Kopf. Samstags mussten die Schüler, die keinem Schulclub angehörten, nach der letzten Stunde eigentlich nach Hause gehen, aber weil für den Nachmittag noch Chor- und Kostümproben angesetzt waren, durften ausnahmsweise alle bleiben. Ninomiya befahl mir, mich in den Putzspind zu stellen und mich so lange nicht zu rühren, bis er mir erlaube, wieder herauszukommen.

»Du bist eine Beleidigung fürs Auge«, sagte er, ließ sich auf einem der Tische nieder und band sich, ein schwarzes Haargummi zwischen den Zähnen, seinen Zopf neu. »Oder?«

Die zu den Unscheinbaren der Klasse gehörigen Mädchen, die er angesprochen hatte, erröteten, allein weil er sie angesprochen hatte, lächelten und nickten verlegen.

»Siehst du! Du verdirbst uns allen die Laune.«

Man fesselte mir mit einem Sprungseil die Hände, stopfte mir einen Putzlappen zwischen die Zähne und bugsierte mich in den Spind.

»Wehe, du lässt den fallen. Wenn du den fallen lässt, bleibst du ’ne Woche da drin«, sagte Ninomiya. Einer der anderen gab mir einen Schubs und knallte die Stahltür hinter mir zu.

In den Spind wurde ich nicht zum ersten Mal gesperrt. Im Gegenteil. Das staubige Halbdunkel kam mir richtiggehend vertraut vor. Ich fing an zu zählen, einfach zu zählen, bis hundert und dann wieder von vorne, ohne zu denken, so wie immer. Ich dachte weder darüber nach, wie oft ich schon bis hundert gezählt hatte, noch wie viel Zeit verstrichen war. Ich zählte einfach, ohne zu denken, ohne etwas zu fühlen, ohne mich an irgendetwas erinnern zu wollen, ich zählte bis hundert und dann wieder von vorn. Begleitet von den Stimmen meiner Klassenkameraden, die sich unterhielten oder für den Chor probten.

Wie lange ich so dagestanden hatte, wusste ich nicht, irgendwann war es im Klassenraum jedenfalls still geworden. Ich musste aufs Klo. Jedes Mal, wenn ich den Harndrang unterdrückte, bekam ich eine Gänsehaut. Um festzustellen, ob noch irgendjemand da war, hielt ich die Luft an und spitzte die Ohren. Nichts zu hören. Ich bildete mir ein, schon mindestens eine Stunde im Spind zu stehen, aber vielleicht waren es auch schon zwei oder noch länger. Ich hätte es nicht sagen können.

Vom Druck auf der Blase tat mir der Bauch weh. Vielleicht sollte ich mir einfach in die Hose pinkeln, überlegte ich bei dem Gedanken daran, was mir blühen würde, wenn Ninomiya mich sähe, aber dann trat ich doch vorsichtig die Tür einen Spaltbreit auf. Es quietschte. Draußen war es so hell, dass ich blinzeln musste. Der Klassenraum war leer. Ängstlich trat ich in den Flur und sah auf den Sportplatz hinunter. Dort spielten die mir nur allzu gut bekannten Mädchen und Jungen, die bis eben noch die Klasse unsicher gemacht hatten, ausgelassen Ball. Leider konnte ich nicht sehen, ob Ninomiya auch dabei war.

Ich löste das Seil von meinen Handgelenken und ging den leeren Flur hinunter zur Toilette. Damit mein Bauch sich wieder erholen konnte, setzte ich mich in eine der Kabinen und rührte mich nicht. Was wohl auf mich zukommt, wenn sie merken, dass ich den Spind verlassen habe? Was machen sie dann?, schoss es mir durch den Kopf. Was schon?, winkte ich innerlich ab. Ich war es so leid, darüber nachzudenken, allein die Vorstellung war eine Qual, aber sie ging mir nicht aus dem Sinn. Ich hatte dringend aufs Klo gemusst, das würden sie vielleicht als Entschuldigung gelten lassen. Vielleicht hatte Ninomiya mich auch einfach vergessen und war nach Hause gegangen.

Um mich abzulenken, dachte ich an die Verabredung mit Kojima. Ich konnte es kaum erwarten. Noch zehn Tage und dann war es endlich so weit. Ich zog ihren Brief heraus und las ihn erneut. All ihre Briefe hatte ich natürlich nicht dabei, aber die, die mir besonders gefielen, steckten nach wie vor im Einband meines Schülerausweises. Die übrigen hatte ich in meinem Zimmer in einem Wörterbuchschuber auf dem Bücherregal verstaut. Auch zu Hause nahm ich Kojimas Briefe gerne zur Hand.

Ob sie heute unbehelligt nach Hause gekommen war? Als ich in den Spind gesteckt wurde, hatte ich sie nicht gesehen. Vor meinem inneren Auge tauchte ihr widerspenstiges Haar auf. Ich erinnerte mich daran, dass man ihr bei der Chorprobe den Mund zugeklebt hatte, weil sie Mundgeruch hätte. Das gab mir einen Stich. Ich erinnerte mich auch, wie ein großes Mädchen ihr den Klebestreifen anschließend mit einem Lachen wieder abgerissen hatte. Ich hatte sogar noch ihr Wenigstens hier ist es jetzt sauber! im Kopf. Ich seufzte und steckte den Brief wieder zurück. Ob es Kojima wohl genauso zu schaffen machte, wenn ich drangsaliert wurde? Was für eine schreckliche Vorstellung!

In dem Moment hörte ich jemanden in die Toilette kommen. Unwillkürlich hielt ich den Atem an und versteifte mich. Damit mich niemand bemerkte, entriegelte ich nach einem winzigen Zögern die Tür, hielt sie, damit sie nicht aufschwang, vorsichtig fest und verharrte.

Jungenstimmen waren zu hören.

Die eine klang so anders als sonst, dass ich sie zunächst nicht zuordnen konnte, sie gehörte aber eindeutig Ninomiya. Mein Herz klopfte so laut, dass ich Angst hatte, man könnte es draußen hören. Um es zu beruhigen, biss ich die Zähne zusammen. In meinem Kopf schrillten alle Alarmglocken. Ich wagte kaum zu atmen.

Anscheinend waren sie zu zweit.

Die Stimme des anderen Jungen war allerdings so leise, dass ich sie nicht erkennen konnte. Ninomiya kicherte. Außer »Heh!« oder »Jetzt gib dir mal mehr Mühe!« oder »Nicht so!« konnte ich nichts aufschnappen. Pinkelgeräusche waren nicht zu hören. »Anfänger!«, sagte Ninomiya, aber es klang irgendwie komisch, neckend, als schäkerte er mit jemandem. Was der andere darauf erwiderte, war nicht zu hören. Überhaupt hatte ich nicht die geringste Ahnung, worum es eigentlich ging. Jemand drehte den Wasserhahn auf und wusch sich die Hände, Ninomiya lachte. Dann wurde es plötzlich mucksmäuschenstill. Ich spitzte die Ohren. Ninomiya lachte noch einmal. Ich verschmolz mit der Kabine. Hier ist niemand, sagte ich mir vor, die Augen zusammengekniffen, ich bin gar nicht da. Kurz darauf entfernten sich die Stimmen. Ich blieb sitzen. Sobald die Luft wieder rein zu sein schien, rannte ich zurück zum Klassenraum, vergewisserte mich, dass Ninomiya dort nicht auf mich wartete, packte meine Tasche und verließ die Schule.

*

Die erste Juniwoche ging zu Ende, und am darauffolgenden Mittwoch traf ich Kojima, wie verabredet, auf der Treppe zum Dach. Als sie mich entdeckte, winkte sie. Ich winkte zurück.

Entgegen meiner Befürchtung war ich kein bisschen nervös. Es kam mir eher so vor, als träfen wir uns dauernd. Wenn das daran lag, dass wir uns schrieben, wäre es geradezu unglaublich, was Briefe bewirken können.

»Kommst du oft hierher?«

»Ab und zu.«

Ein Windstoß machte Kojima schwanken, sie lachte. Ihre Wangen waren mit einem feinen Schmutzfilm überzogen, ihre Uniform zerknautscht. Sie sah kein bisschen anders aus als sonst. Ihr Haar schien ein regelrechtes Eigenleben zu führen. Aus leuchtenden Augen unter nach außen abfallenden Brauen sah sie mich an und lächelte. Wir starrten über das Geländer nach unten. Ein erneuter Windstoß brachte Kojima wieder zum Lachen. Eine Weile hatte ich ihr im Wind verwehendes Lachen im Ohr.

Wir ließen uns eine Stufe versetzt auf der Treppe nieder und unterhielten uns, völlig ungezwungen. Ich hätte mich stundenlang so mit ihr unterhalten können. Kojima schien es genauso zu gehen.

Auf ihren Wunsch hatte ich mein Japanisch-Heft mitgebracht.

»Da steht nichts Weltbewegendes drin.«

»Macht nichts. Ich gucke trotzdem«, sagte sie und streckte die Hand aus.

»Das lohnt sich nicht. Außerdem kennst du doch meine Schrift«, erwiderte ich, woraufhin sie entgegnete: »Aber nicht von oben nach unten!«

Kojima schnappte sich das Heft, zog mit der anderen Hand ihr eigenes aus der Tasche und schlug es mir aufs Knie. »Wir tauschen!«

Kojima schrieb, wie in ihren Briefen auch, mit Druckbleistift. Ihre Schrift war klein und zart. Die ausführlichen Notizen betrafen alles Mögliche.

Sie nahm mein Heft mit beiden Händen, breitete es auf ihren Knien aus und beugte sich darüber. Nachdem sie eine Weile konzentriert gelesen hatte, hob sie die Brauen, nickte vielsagend, sagte »Jetzt bin ich im Bilde« und lächelte. Auf die Frage, in welchem Bilde sie nun sei, entgegnete sie nur: »Das verrate ich nicht«, stand auf und gähnte so herzhaft, dass ich ihr bis in den Rachen sehen konnte. Unwillkürlich wandte ich den Blick ab.

In der Ferne grummelte es. »Es hat gedonnert«, flüsterte sie und drehte sich, das Kinn auf dem Geländer, wie in Zeitlupe zu mir. »Ja«, sagte ich.

»Erinnerst du dich an das Schnippeldrama? Der angeschnippelte Vorhang, das angeschnippelte Buch, die abgeschnippelte Schnur des Tafelwischers …«, fragte sie.

»Ja«, erwiderte ich fast automatisch. »Wieso?«

Ende April hatte man festgestellt, dass sich irgendjemand mit einer Schere unter anderem am Mobiliar zu schaffen gemacht hatte. Mir kam es so vor, als wäre die Sache Ewigkeiten her, tatsächlich lag sie erst zwei Monate zurück. Zuerst hatte man Schnitte im Vorhang entdeckt, dann am Turnbeutel eines der Mädchen, dann hatte es ein Buch erwischt, die Schnur des Tafelwischers und den Besen, dessen Borsten nunmehr zwei Zentimeter kürzer waren.

Jedes neue »Opfer« hatte in der Klasse einen Tumult ausgelöst. Dabei waren die Schnitte eher klein, ein paar Zentimeter nur, sahen aber so aus, als seien sie alle mit ein und derselben Schere »verübt« worden. Eine Zeit lang wurde wie verrückt nach dem Täter gesucht, aber da man letztlich niemandem etwas nachweisen konnte, geriet die Sache nach nur zwei Wochen, da hatte man die Sucherei längst satt, in Vergessenheit. Hoffentlich schiebt keiner mir die Schuld in die Schuhe, hatte ich seinerzeit bedrückt gedacht. Aber selbst daran hätte ich mich, wenn Kojima nichts gesagt hätte, nicht mehr erinnert.

»Das war ich.«

»Echt?«, fragte ich überrascht zurück. »Hat niemand gemerkt.«

»Stimmt.« Sie nickte.

»Willst du nicht wissen, warum ich das gemacht habe?«, fragte sie, nachdem sie eine Weile auf ihre Turnschuhe gestarrt hatte.

»Warum hast du?«, fragte ich.

»Du musst nicht fragen, wenn du nicht willst«, sagte Kojima und lachte. »Es gibt sowieso keinen richtigen Grund, aber … Ich weiß nicht … Wenn ich irgendwo reinschneide, was heißt irgendwo, es kommt natürlich nicht alles infrage, aber dieses schnipp, schnipp, das gibt mir irgendwie das Gefühl … wie soll ich sagen … im Normalzustand zu sein.«

»Im Normalzustand? Wie meinst du das?«

»Hm.«

»Runterzukommen?«, fragte ich.

»Eher das Gegenteil.«

»Das Gegenteil? Du meinst in Aufregung zu geraten?«

»Nein.«

Kojima wippte mit den Beinen.

»Ich … wie soll ich sagen … ich bin aus Angst eigentlich immer in Alarm. Zu Hause, in der Schule. Aber manchmal gibt es auch gute Momente, jetzt zum Beispiel, wenn ich mich mit dir unterhalte oder wenn ich dir schreibe. Das sind gute Momente. Momente, in denen ich mich sicher fühle. Momente, die mich glücklich machen. Aber weder diese Glücksmomente noch der Alarm, in dem ich mich zumeist befinde, ist der Normalzustand, sie sind die Ausnahme … will ich wenigstens glauben … Mein Leben soll doch nicht nur aus Alarm und ab und zu ein bisschen Glück bestehen. Meine Norm soll weder Glück noch Alarm sein, sondern der Zustand dazwischen«, sagte sie und presste die Lippen aufeinander.

»›Norm‹«, echote ich.

»Genau. Und wenn ich diese Norm nicht greifen kann, wenn ich sie nicht begreifen kann, dann … wie soll ich sagen … dann habe ich das Gefühl, dass wirklich alles den Bach runtergeht.«

»Und wenn du irgendwo hineinschneidest, stellt sich ein Gefühl von ›Norm‹ ein.«

»Ja. Ich mache schnipp, schnapp und wiederhole dazu im Kopf, Norm, Norm, und in dem Moment existiert weder Glück noch Alarm. Die Schere versetzt mich in den Zustand von Norm«, sagte Kojima und lachte.

»Und trotzdem hast du aufgehört«, stellte ich fest. Die Aufregung über die Schnippeleien hatte sich binnen kürzester Zeit wieder gelegt, und neue »Opfer« waren danach nicht mehr zu beklagen gewesen.

»In der Schule hätte ich gar nicht erst damit anfangen sollen«, seufzte Kojima. »Etwas so Persönliches und Kompliziertes nach außen zu tragen war ein Fehler.«

Ich nickte.